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Glück im Unglück nannte man das. Milo hatte
gehofft, Carissimi beim Collegium Germanicum anzutreffen, war sich
jedoch nicht sicher gewesen. Eine ganze Weile hatte er in der Nähe
des Gebäudes gelauert, ohne feststellen zu können, ob Carissimi
sich darin befand. Selbst wenn er darin war - es wimmelte von
Soldaten. Wie sollte er also an ihn herankommen? Und dann,
als er ihn endlich aus der Ferne entdeckt hatte, war er in die
Sänfte des Papstes gestiegen, und Milo hatte sich jeder Gelegenheit
beraubt gesehen.
Doch der Teufel hatte ein Einsehen. Nun lief ihm
Carissimi geradewegs entgegen, bog in genau jene Gasse ein, in der
Milo sich hinter einem kleinen Brunnen verbarg. Die Wache
begleitete Carissimi nicht, nur ein Bürschchen, mit dem er ein
Gespräch begann.
Milo überlegte, ob er gleich angreifen oder noch
warten sollte. Immerhin müsste er eine Strecke von ungefähr zwanzig
Schritt ohne Deckung zurücklegen, in der Carissimi oder das
Bürschchen auf ihn aufmerksam werden könnten. Das würde Carissimi
die Möglichkeit zur Flucht geben, vielleicht würde er nach einer
Wache rufen.
Milo entschied sich, nichts zu überstürzen. Aber
sobald Carissimi allein wäre, oder wenn die beiden sich umdrehen
würden, um die Gasse wieder zu verlassen …
Als Sandro vorhin an der Tafel des Collegiums die
Andeutung gemacht hatte, dass das Mittagsmahl vielleicht für zwei
der Anwesenden eine Art Henkersmahlzeit sein könnte, hatte er zum
einen natürlich Duré gemeint, zum anderen Gisbert von Donaustauf.
Nicht, dass der junge Mann ein Verbrechen begangen hätte - im
Gegenteil, Sandro glaubte, dass Gisbert schon bald Opfer eines
Verbrechens werden würde.
Nur jemand, der in Rom groß geworden war, nur
jemand, der seit langer Zeit in einer Stadt lebte, die irr war vor
Sonne, irr vor Sünden, konnte die Gefahr spüren, in der dieser
halbflügge Junge aus der Provinz schwebte. Rosina, die ihn nicht
liebte, würde ihn heiraten. Ried, den Rosina liebte, würde in Rom
bleiben. Franco, der für ein paar Dukaten seine Mutter verkaufen
würde, hatte den Plan ausgetüftelt. Nach der Hochzeit würden
Gisbert und Rosina in Rom bleiben, und zwar bis
weit ins nächste Jahr hinein, in dem Gisbert mündig würde … Ein
paar Wochen später, vielleicht auch erst auf der Reise gen Norden,
würde Gisbert Opfer eines Verbrechens werden, dessen Täter man nie
ermitteln würde. Franco hätte gewiss ein Alibi. Der Mörder würde
Tilman Ried heißen. Der Liebe wegen - und weil diese Stadt ein
Höllenschlund war - würde aus einem anständigen ein schlechter
Mensch werden.
Sandro bemühte sich, so deutlich wie möglich zu
werden, aber Gisbert von Donaustauf lachte ihn aus.
»Rosina liebt mich nicht? Hört auf, Ihr habt ja
keine Ahnung. Soll ich Euch sagen, wie sehr sie mich liebt? Soll
ich Euch mal meinen Rücken zeigen? Soll ich Euch beschreiben, wie
Liebe sich anfühlt? Ich spüre, dass sie mich liebt.«
»Ihr wünscht es zu spüren, daher …«
»Schweigt. Ich muss Euch nicht länger zuhören, Ihr
habt mir nichts mehr zu befehlen. Da drin im Collegium konntet Ihr
den großen Kommandanten mimen, aber damit ist Schluss. Was seid Ihr
denn schon? Was wisst Ihr denn schon? Die Leute sind reihenweise
gestorben, und hätte der Mörder sich nicht erhängt, würdet Ihr noch
immer im Dunklen tappen. Was waren das für große Reden vorhin an
der Tafel: Ich werde an eine Tür klopfen … Und jetzt? Jetzt ist
derjenige, der sich erhängt hat, der Mörder. Eine großartige
Leistung. So jemanden wie Euch nenne ich einen Versager. Und nun
lebt wohl.«
Gisbert von Donaustauf machte sich auf den Weg, und
Sandro sah ihm nach. Leb du auch wohl, dachte er, glaubte aber
nicht daran.
Bloß keine große Sache daraus machen, dachte Milo
und kam aus seiner Deckung hervor. Er war so leise, dass er seine
eigenen Schritte nicht hörte. Das Pflaster war sauber und trocken.
Milo spürte keine Nervosität, keine Erregung. Fast war es ihm egal,
ob er die Tat nun beginge oder nicht. Doch der kleine
Machtkampf zwischen Carissimi und ihm war nun einmal entstanden
und musste zu Ende gebracht werden.
Ein Schritt noch. Carissimi hatte ihn nicht
bemerkt.
Das war’s.