21
Jemand hatte irgendwann den Stein aus der Wand
gelöst und dahinter eine Mulde in den Lehm gegraben, dann den Stein
wieder eingesetzt und auf diese Weise ein Geheimfach geschaffen.
Nun war der Hohlraum jedoch gerade so groß, dass Sandros oder
Angelos Faust hineinpasste, Forlis Faust bereits nicht mehr.
»Na, Carissimi, was sagt Ihr?«
Forli ließ absichtlich jenen Teil weg, der sich mit
der Art und Weise der Entdeckung befasst hätte. Das hätte den Ruhm
geschmälert und Angelo in Erklärungsnot gebracht, weil er Gisbert
hart angepackt hatte. Forli warf Angelo einen verschwörerischen
Blick zu. »Eigentlich hat Angelo den größeren Anteil an der
Entdeckung als ich. Der Junge hat Talent und Mut, das richtige
Händchen sozusagen. Einen besseren Assistenten hättet Ihr nicht
kriegen können. Wenn Ihr nicht aufpasst, läuft er
Euch den Rang als Schürzenjäger ab. Haha. Die Weiber sind ganz
wild auf Jungs wie ihn.«
Weder Carissimi noch Angelo sahen aus, als würden
sie das Thema vertiefen wollen, also blickte Forli zum zehnten Mal
in das Loch.
»Vielleicht hat Johannes Geld da drin versteckt
gehabt«, schlug er vor.
»Schwerlich, Forli«, widersprach Carissimi. »Wir
wissen, er hatte dreihundertfünfzig Dukaten in Gold geholt, von
denen er dann fünfzig an Rosinas Bruder Franco zahlte, und zwar im
Hinterhof. Blieben dreihundert Dukaten, und die passen nicht in die
kleine Mulde.«
»Der Beutel, den ich bei Rodrigues gesehen habe«,
ergänzte Angelo, »war bedeutend größer als die Mulde.«
Forli sagte: »Wein kann es auch nicht gewesen sein,
der passt noch viel weniger da rein. Wie wär’s mit Briefen? Oder
ein früherer Bewohner hat das Geheimfach gegraben, und Johannes
wusste nichts davon. Wäre doch möglich.«
Möglich war viel. Jeder neue Hinweis schien die
Ermittlungen eher zurückzuwerfen, als voranzubringen. Die Mulde,
das Geld, die konspirative Wohnung, Giovannas letzte Worte - wer
hatte wem nicht geholfen? wobei nicht geholfen? - und nun auch noch
die Sache mit Birnbaum.
»Ich habe das Gefühl, wir sind nahe dran«,
behauptete Carissimi.
»So? Das sehe ich anders. Wenn Birnbaum das Opfer
werden sollte, dann müssen wir sowieso wieder ganz von vorn
anfangen«, murrte Forli. »Andererseits - warum hat der Mörder
später nicht ihn, sondern Giovanna und de Soto umgebracht?« Forli
hasste Verbrechen, die nicht stark und mächtig und übersichtlich
wie ein Baumstamm waren, sondern sich verästelten wie
Brombeergestrüpp. Und er hasste zu langes Schweigen, so wie
jetzt.
»Ich sage euch was. Wir lassen den Wasserbecher und
die Mulde einfach mal beiseite und nehmen uns jetzt, wie wir’s
vorhatten, diesen Rodrigues vor.«
Glücklicherweise waren alle mit seinem Vorschlag
einverstanden.
Unglücklicherweise fieberte Miguel Rodrigues. Als
sie in sein Zimmer traten, lag er schweißgebadet auf dem Bett und
warf den Kopf hin und her. Seine Augen waren geöffnet, doch er
schien nichts von dem wahrzunehmen, was um ihn herum passierte.
Gelegentlich stieß er unzusammenhängende Wörter aus: tausend
Lichter, herrlich, herrlich, die Leute, Ehrfurcht, großes Schweigen
in der Nacht, heilig, Wunden, fünf Wunden, der Schmerz, der Rücken
aus Feuer, tausend Lichter, Gesang der Engel, Zahn des Heiligen,
wunderbar, o wunderbar, aber was, was ist das, ah, ah, nein, nein,
bitte nicht, Judas, Spaltung, Onkel, will nicht, o bitte, Bruder
Luis, will nicht, Johannes, das Kainsmal, Rache des Herrn,
Ungehorsam, schrecklicher Ungehorsam.
»Der hatt’se schon vorher nicht mehr alle gehabt«,
sagte Forli und tippte sich an die Schläfe. »Bei Fieber ist es dann
ganz aus.«
Der Zustand von Miguel Rodrigues war so bedenklich,
dass man Magister Duré rief, der dem Kranken eine Salbe aus Malven-
und Holunderblüten auftrug und kalte Umschläge machte. Einen
Aderlass lehnte er zu diesem frühen Zeitpunkt ab, weil das Fieber
nicht körperlicher, sondern geistiger Natur sei.
»Und der Quacksalber«, sagte Forli, als Duré
gegangen war, »sollte sich auch gleich mal was auf die Brust
schmieren. Blödes Gerede. Geistiges Fieber, wo gibt’s denn das? Nur
bei Mönchen, wie? Die sind alle zu weich.«
»Rodrigues hat gerade seinen Mentor verloren,
Hauptmann«, wandte Angelo ein.
»Na und? Wenn ich einen Mentor hätte - schon das
ist ein lächerlicher Gedanke, ich bin mein eigener Mentor, aber
angenommen, ich hätte einen -, würde ich wegen dessen Tod doch kein
geistiges Fieber kriegen. Angenommen, einer von euch beiden stürbe,
na, dann ginge ich drei Tage und Nächte in die Taverne, leerte ein
Fass, und fertig.«
»Das ist uns ein großer Trost, Hauptmann. Jetzt
sehe ich meinem Tod gleich viel gelassener entgegen.«
»Fein, Angelo, ich meine ja bloß. Gib mir drei
Monate. Wenn ich den Portugiesen drei Monate unter meinen Fittichen
hätte, hätte es sich ein für alle Mal ausgefiebert, ganz
bestimmt.«
Doch auch Forli musste zugeben, dass sie keine drei
Monate Zeit hatten und Durés Salbe im Moment das bessere Mittel
war, um Rodrigues verhörfähig zu kriegen.
Forli fiel auf, dass Carissimi noch fast nichts
gesagt hatte, seit sie das Zimmer betreten hatten.
»Dieses Schweigen kenne ich, Carissimi. Ihr sitzt
wie ein Sumpfhuhn auf dem Ei. Da schlüpft bald was.«
Ohne die Bemerkung zu kommentieren, sagte
Carissimi: »Angelo, bleib bitte bei Miguel Rodrigues und schreib
mit, was er im Fieber redet. Forli, Ihr passt auf, dass
Königsteiner, Birnbaum, Tilman Ried und Gisbert von Donaustauf in
ihren Zimmern bleiben. Niemand darf irgendwohin gehen, außer auf
die Latrine. Nur der Ehrwürdige und der Magister dürfen sich frei
bewegen.«
»Und Ihr?«, fragte Forli. »Wohin geht Ihr?«
»Ich«, sagte Carissimi, »gehe zum Papst.«
Milos Stadt war zu seinem Kerker geworden. Er
kannte sich bestens darin aus, kannte zahllose Leute, die mit ihm
darin lebten, konnte aber weder einem von ihnen trauen noch die
Mauern überwinden.
Die ganze Nacht und den Morgen hatte er damit
verbracht,
zuerst Schlupflöcher und dann einen Unterschlupf zu suchen. Durch
die Tore zu kommen versuchte er erst gar nicht, die wurden penibel
bewacht, und jeder Wagen wurde so gründlich durchsucht, dass keine
Schabe unentdeckt blieb. Die Lücken in der Stadtmauer waren ebenso
mit Wachen besetzt, was die Schmuggler gewiss zum Schimpfen
brachte, und zahlreiche Streifen stellten sicher, dass sogar der
halsbrecherische Versuch, irgendwo das Bollwerk zu überwinden,
scheitern musste. Zusätzlich zur Stadtwache patrouillierte die
Schweizergarde durch die Gassen.
Milo war bei einem Bekannten untergekommen, was
bedeutete, bei einem Verbrecher. Dort fühlte er sich am sichersten,
denn Leute seines Schlages hatten wenig Neigung, ihn an die Polizei
zu verraten. Jeder könnte schließlich mal in Milos Lage kommen und
wäre dann froh, ein Versteck zu haben. Milo hatte im Laufe der
Jahre gewiss sieben oder acht Flüchtlingen Obdach im Teatro
gewährt, und sei es nur für eine Nacht.
Trotzdem hatte er nicht geschlafen. Nicht
Misstrauen hielt ihn wach und auch nicht Angst, sondern etwas
Neuartiges, ein unbekannter Gast, der sich in Milos Gedanken und
Gefühle hineinfraß. Denn was war es anderes, wenn ein Bild, wenn
ein Augenblick einem wieder und wieder vor Augen stand? Diese Frau
ließ ihn nicht los.
Antonia? Wäre es doch bloß Antonia! Nein, sie
nicht, eine andere Frau, deren Namen er nicht kannte, die er bloß
ein einziges Mal gesehen hatte und der er auf der Straße nicht
einmal nachgeblickt hätte. Es handelte sich um die mädchenhafte
Frau, mit der er gestern auf der Flucht vor den Wachen an der Porta
San Paolo zusammengestoßen war.
Dann der Schuss. Ihre Augen, diese jungen Augen,
sahen ihn vorwurfsvoll an, so als sei er ihr Mörder. Genauso hatten
seine Opfer ihn im Moment ihres Todes angesehen. Doch von denen
kannte er Namen und Alter, er hatte einen Auftrag erhalten
und ihn ausgeführt. Mit diesem Mädchen hatte er nichts zu
schaffen, er hatte sie nicht umgebracht. Ein Soldat hatte sich als
schlechter Schütze erwiesen; was konnte denn er, Milo, dafür? Und
doch kam die Frau immer wieder zurück.
Sie war seine Tote, sein Opfer. Sie war die Einzige
seiner Getöteten, die er nicht selbst getötet hatte und deren Tod
ihn belastete. Dieser einen Frau wegen entwickelte sich ein
Gewissen in ihm, ein Gewissen nur für sie, seiner einzigen
Last.
Wie viele Menschen hatte er umgebracht? Zwanzig,
fünfundzwanzig? So viele, wie er Jahre zählte? Es war sein
Schicksal, Menschenleben zu verschlingen, sogar noch im eigenen
Untergang, sogar noch, wenn er nichts anderes tat, als
wegzulaufen.
Im Morgengrauen waren die Ausrufer auf die Straßen
und Plätze gegangen und hatten eine Belohnung für die Ergreifung
Milos ausgesetzt - fünfhundert Dukaten. Damit kam eine Großfamilie
durchs Jahr. Für eine solche Summe wurde auch ein Verbrecher zum
Verräter an seinesgleichen. Milo hatte dem Mann, bei dem er
Unterschlupf gefunden hatte, nicht länger vertraut, war abgehauen
und zum ersten Mal in seinem Leben mit gesenktem Kopf durch Rom
gegangen. Er hatte befürchtet, von jeder Wäscherin, jedem
spielenden Kind, erkannt zu werden. Da hatte er angefangen,
Carissimi zu hassen.
Nun stand er vor der Stätte seiner Kindheit und
Jugend, seinem Heim, dem Teatro. Von einem ruhigen Winkel
aus - der Vordereingang war bewacht - sah er zum Fenster seiner
Mutter hinauf, und tatsächlich erblickte er sie, als sie die Läden
öffnete. Kurz schien es so, als spüre sie seine Nähe, und ihr Blick
suchte nach ihm, doch er drückte sich hinter einen Mauervorsprung.
Gewiss war die Wachmannschaft als Erstes bei ihr gewesen, hatte sie
befragt und informiert, und nun sorgte sie sich um ihn. Ja, so viel
Gefühl billigte er ihr zu. Mehr aber auch nicht. In all den Jahren
hatte sie keinen Wimpernschlag lang erwogen, dass ein Hurenhaus ein
ungeeigneter Ort war, um
ein Kind großzuziehen. Bereits mit vier Jahren hatte er
mitbekommen, wie die Frauen des Hauses Nacht für Nacht von anderen
Männern besprungen wurden. Er hatte durch die dünnen Wände des
Hauses die Lust hören müssen, die Schreie, die Beschimpfungen, die
Erniedrigung und so manchen Schlag. Mit dreizehn Jahren schließlich
war er Teil des Inventars gewesen und hatte erste Aufgaben
übernommen. Natürlich war das Teatro immer auch ein Zuhause
gewesen, zugleich aber eines, das ihn anwiderte; so manche Hure war
eine Freundin geworden, aber eine, die ihm und der er gleichgültig
war; so mancher »ehrenwerte« Gast war zum Geschäftspartner für ihn
geworden, aber einer, der ihn und den er verachtete. Das
Teatro war eine Schule der Heuchelei, des Betrugs, der
Geringschätzung und der niedrigen Gesinnung gewesen.
Milo gelangte auf das Dach des Teatro, indem
er die Ruine des Marcellus-Theaters hinaufkletterte. Von dort war
es nur noch ein Sprung. Auf allen vieren bewegte er sich vorsichtig
und geschmeidig über das Dach. Dort, wo unterhalb von ihm das
geöffnete Fenster seiner Mutter lag, kletterte er über den Rand des
Daches und landete auf dem Sims des Fensters. Im nächsten Moment
befand er sich im Zimmer seiner Mutter.
Er war sich nicht sicher gewesen, ob er sie dort
antreffen würde. Eigentlich saß sie zu dieser Stunde bereits im
Arbeitszimmer über ihren Büchern, doch heute, an so einem Tag, an
dem nach dem Sohn gefahndet wurde … Sie hatte sich offenbar nicht
davon beirren lassen, und im Grunde war es ihm lieber so.
Das Haus schlief noch. Die Huren hatten erst vor
vier, fünf Stunden, beim ersten Morgengrauen, den letzten Kunden
verabschiedet oder waren neben ihm eingeschlummert. Auf seinem Weg
in die Küche begegnete Milo niemandem. Er holte sich Zündstein und
Lampenöl, ging wieder nach oben und verteilte
das Öl in seinem Zimmer und im Zimmer daneben, dem seiner Mutter.
Dann entzündete er es.
Milo vergeudete keine Zeit damit, sein Werk zu
betrach - ten. Er kletterte auf demselben Weg zurück, den er
gekommen war, wobei er sich nicht sicher gewesen war, ob er die
Kraft und das Geschick hätte, sich vom Fenster auf das Dach zu
ziehen. Als er die Ruinen des Marcellus-Theaters hinabstieg, stand
bereits das oberste Stockwerk des Teatro in Flammen. Er
hörte die Rufe. Und dann sah er, wieder gut verborgen, die Huren
aus dem Haus rennen, darunter auch seine Mutter. Fassungslos
schauten sie zu, wie das bekannteste Hurenhaus Roms vollständig vom
Feuer erfasst wurde.
Niemand kam in den Flammen ums Leben. Gut so,
dachte er. Genug der Opfer. Nur ein Letztes noch, das musste
sein.
Als sein Privatsekretär durfte Sandro den Papst zu
jeder Zeit und bei nahezu jeder Beschäftigung stören, ob er nun
schlief, aß, hohe Gäste empfing, sich bei Mummenschanz vor Lachen
schüttelte, mit Bauchschmerzen auf dem Krankenlager lag, vor
Trunkenheit nicht mehr gerade gehen konnte … Außer auf der Latrine
und im Liebesbett hatte Sandro den Heiligen Vater schon in jeder
Situation aufgesucht, und so war es auch nichts Neues für ihn,
Julius in einem Waschzuber sitzen zu sehen. Ein Diener holte
unentwegt frisches, warmes Wasser, während ein zweiter Julius’
Rücken und Schultern schrubbte.
Sandro fand, dass der Bischof von Rom und
Stellvertreter Christi, wenn man ihn ohne Gewänder sah, einfach nur
ein dicker nackter Mann war, der ohne Hilfe nicht mehr aus dem
Zuber herauskäme. Das hätte er natürlich nie ausgesprochen,
aber ein feines Lächeln konnte er sich nicht verkneifen.
»Sandro, schön dich zu sehen. Du lächelst, also
hast du gute Laune?«
»Es geht so, Eure Heiligkeit.«
»Gibt es etwas Neues von diesem - wie hieß er noch
gleich?«
»Milo, Eure Heiligkeit. Nein, leider nicht, seit er
gestern versucht hat, durch die Porta San Paolo zu gelangen. Er hat
eine Wache getötet, und eine unbeteiligte Frau ringt noch mit dem
Leben. Wir kriegen ihn. Irgendwann kriegen wir ihn.«
»Lieber Sandro, Rom ist ein Ameisenhaufen. Dein
Mörder könnte sich monatelang versteckt halten, aber wir können
nicht monatelang Stadtwache und Schweizergarde in höchster
Bereitschaft halten. Diese peniblen Kontrollen … An den Toren
werden sich allmorgendlich die Wagen stauen. Ich bin kein
Wahrsager, wenn ich dir prophezeie, dass heute Mittag die ersten
Gilden protestieren werden. In drei Tagen musst du deinen
Verbrecher gefasst haben, ansonsten hast du Pech gehabt. Ich kann
nicht das Wohl der - nach Jerusalem - bedeutendsten Stadt der Welt
wegen eines einzelnen Mörders gefährden. Das siehst du doch
ein.«
Sandro sah es ein. Er hätte Milo gerne gefasst und
den Richtern übergeben, nicht nur wegen Carlotta oder weil es sich
so gehörte, sondern auch wegen sich selbst. Die »Causa Milo« wäre
ansonsten eine nicht geschlossene Akte, etwas, woran er ständig
würde denken müssen. Für Antonia wäre ein Schlussstrich ebenfalls
besser - sie müsste sich dann nicht vorhalten, Milo bis zum letzten
Moment, also noch gestern Abend in der Kirche Santo Spirito,
ahnungslos bei seiner Flucht geholfen zu haben. Aber Julius hatte
recht, eine Stadt wie Rom ließ sich nicht länger als ein paar Tage
in einem Ausnahmezustand halten.
»Möchtest du ein Bad nehmen, Sandro? Wie du siehst,
steht hier ein zweiter Zuber.«
Es gab Angebote, die von dem, der sie machte, als
überaus verlockend und von dem, der sie bekam, als überaus fad
angesehen wurden. Dieses war ein solches.
»Vielleicht ein anderes Mal, Eure Heiligkeit. Jetzt
muss ich über ein heikles Thema mit Euch sprechen.«
»Wie überraschend! Wo du doch sonst nie über
heikle Themen mit mir sprichst.«
Sandro gab den beiden Dienern ein Zeichen, dass er
mit dem Papst allein zu sein wünsche, wartete, bis sie gegangen
waren, und stellte sich neben den Zuber. »Unsere Besprechung ist
für die Ohren von Domestiken ungeeignet, Eure Heiligkeit.«
»Und wer schrubbt mir nun den Rücken?«
»Ich werde das machen.«
Sandro ergriff sogleich die Bürste, beugte sich
über den Zuber und begann mit der Reinigung der päpstlichen Haut.
Nach einer kurzen Weile sagte er: »De Soto ist tot.«
Julius fuhr herum, und ein Schwall Badewasser
platschte auf Sandros Soutane.
»Erhängt. Es sieht nach Selbstmord aus. Da jedoch
Visitatoren ebenso wie Päpste sehr wohl wissen, dass fast nichts so
ist, wie es zu sein scheint, glauben wir natürlich keinen Lidschlag
lang an Selbstmord, nicht wahr, Eure Heiligkeit? Wir kannten Luis
de Soto zu gut.«
»Willst du damit andeuten, ich wüsste etwas über
seinen Tod?«
»Nein.« Und das stimmte auch. Über seinen Tod
beziehungsweise das Motiv seiner Ermordung war Julius gewiss nicht
im Geringsten im Bilde. Über Luis’ Treiben zu Lebzeiten jedoch …
»Ich will nur sagen, dass er weit mehr als ein beliebiger
Geistlicher für Euch war. Immerhin, Eure Heiligkeit, habt Ihr ihm
wichtige Missionen übertragen. Zum Beispiel war er Euer Wortführer
auf dem Konzil von Trient. Ihr habt ihn gefördert, ähnlich wie
mich.«
Julius fuhr erneut herum, ein zweiter Schwall
Wasser landete auf Sandros Sandalen.
»Das war nicht dasselbe«, sagte Julius. »Darauf
lege ich
großen Wert. De Soto war Diplomat, ein politischer Kopf, ich habe
ihn gebraucht, um die Interessen der einzig wahren Kirche und des
Heiligen Stuhls zu wahren.«
»Ihr hättet ihn gerne als Nachfolger Loyolas
gesehen.«
»Das gebe ich zu. De Soto wäre ein General ohne
Format geworden, aber genau deshalb hätte man mit ihm über alles
reden können. Loyola ist - wie sage ich es? - ein rechter
Dickschädel. Er tut immer so, als sei er der Diener des Papstes,
tatsächlich gelingt es ihm, alles so zu machen, wie er es will. Und
er hat in allem seine Finger drin: Konzil, Missionierung der
Heiden, Kampf gegen den Protestantismus, Ausbildung der
Geistlichen, Schulwesen … Das sind wichtige Bereiche der Zukunft,
Sandro. Weißt du, dass es sein erklärtes Ziel ist, dass die
Jesuiten eines Tages die Beichtväter sämtlicher Fürsten stellen?
Ohne den Jesuitengeneral werden Päpste schon bald keine
Machtpolitik mehr betreiben können, ja, wir werden auf seinen
Nachrichtendienst angewiesen sein, während er alles mitkriegt, was
wir reden und tun.«
»Vergesst nicht, dass Ihr einen Jesuiten im
Vorzimmer sitzen habt.«
»Erstens bist du viel zu ungehorsam, um als
richtiger Jesuit zu gelten, und zweitens sitzt du kaum im
Vorzimmer, weil du entweder Mörder jagst oder Kranke
wäschst.«
»Manchmal auch Päpste.«
»Da du es erwähnst - mein Rücken ist keine
Werkbank, Sandro. Wenn du weiter so darauf herumschmirgelst, habe
ich bald keine Haut mehr.«
Sandro legte die Bürste beiseite, ging um den Zuber
herum und lehnte sich mit den Armen auf dessen Rand. Der heiße
Dampf schlug ihm ins Gesicht.
»De Soto hatte irgendetwas vor. Ich habe mir den
Kopf zermartert, was es gewesen sein könnte, aber ich komme immer
wieder auf meinen ersten Einfall zurück: Er wollte um jeden
Preis Rektor des Germanicums werden, damit er, wenn es eines Tages
um die Nachfolge Loyolas geht, eine gute Ausgangsposition hätte.
Denn trotz seines Rufs als tüchtiger Diplomat bekleidete er bis
zuletzt kein Amt im Orden. Er war einer von vielen, doch er wollte
der Erste werden. Ich weiß nur noch nicht, wie, und auch nicht, was
es mit diesen portugiesischen Briefen auf sich hat.«
Sandro erkannte an der Art, wie Julius ihn durch
den Dampf hindurch ansah, dass er gleich die Wahrheit erfahren
würde. Er traute Julius manches zu, so allerlei graue Händel, die
ein Papst kaum vermeiden konnte. Doch Sandro war sich sicher, dass
Julius ihm mittlerweile vertraute und ihn nicht anlügen
würde.
»Du liegst richtig, Sandro, und doch auch wieder
nicht. Hilf mir aus diesem Bottich heraus, sonst schrumple ich noch
wie eine Dörrpflaume zusammen.«
Sandro reichte dem Papst die Hand, zog ihn hoch,
holte das große Leinentuch und spannte es mit beiden Armen
auf.
»De Soto«, sagte Julius, während Sandro ihn
abtrocknete, »wusste schon seit längerem, dass Loyola ihn nicht zum
Rektor des Germanicums machen würde.«
»Aber der ehrwürdige Pater General hat doch
…«
»Lass mich ausreden, Ungestümer! Ich will es ja
erklären. De Soto bat mich vor Monaten, bei Loyola ein gutes Wort
für ihn einzulegen, damit man ihn zum Rektor des in Planung
befindlichen Collegiums ernenne. Daraufhin schrieb Loyola mir
zurück, dass er zwar daran gedacht und de Soto in die engere Wahl
gezogen habe, jedoch davon abgerückt sei, weil er de Soto für
charakterlich ungeeignet halte. Man kann über Loyola sagen, was man
will, aber er hat ein gutes Gespür. Er zweifelte an de Sotos Demut,
worin du ihm - wie ich deinem heftigen Nicken entnehme -
zustimmst.«
»Und hat der Ehrwürdige seine Entscheidung de Soto
mitgeteilt?«
»Ja, und da er offene Worte liebt, stelle ich mir
vor, dass er de Soto auch die Gründe darlegte. Doch bat er sowohl
ihn als auch mich, die Entscheidung einem gewissen Bruder
Königsteiner noch nicht bekannt zu machen, da er gerne beobachten
wolle, wie sich Königsteiner, der in Unkenntnis gelassen wurde,
verhalte, ob es zu Rivalitäten käme und so weiter.«
Der Papst wickelte sich das Leintuch um den Körper
und setzte sich auf seinen Schemel - sehr zu Sandros Verdruss, der
gehofft hatte, sie würden den feuchtwarmen Waschraum
verlassen.
»Ein Rückschlag für Luis«, sagte Sandro. »Aber sein
Ziel, General der Jesuiten zu werden, hatte er deswegen bestimmt
nicht aufgegeben.«
»Wie wahr!«
»Was hatte er geplant? Werdet Ihr es mir verraten,
Eure Heiligkeit?«
»Du hättest es ohnehin bald erfahren. In zwei, drei
Wochen, schätze ich.«
»Distribuicao?«, fragte Sandro.
Julius zog die Augenbrauen hoch. »Ich sehe, du
warst schon nahe dran. Ja, Sandro. Distribuicao.«