12
Forli betrat Johannes von Donaustaufs Zimmer, das er und Angelo zu ihrem Hauptquartier gemacht hatten, und warf die Tür mit lautem Krachen hinter sich zu.
»Verdammt«, schimpfte er. Sein Fluch galt nicht Angelo, auch wenn er ihn dabei ansah. »Ich habe gerade Gespräche mit zwei Eseln geführt. Nicht, dass ich das nicht häufiger täte, aber selbst die Dümmsten, mit denen ich es in meiner bisherigen Laufbahn zu tun hatte, sind Gelehrte gegen die beiden Esel des Collegiums, denn in diesem Fall könnte ihre Dummheit zum Tod führen.«
Vergeblich hatte Forli darauf gepocht, das Collegium Germanicum vorläufig zu schließen und die Brüder und Schüler auf verschiedene Einrichtungen der Jesuiten in Rom zu verteilen, zum Beispiel auf das Hospital und das Collegium Romanum, die Schule für die Kinder armer Römer. Doch der Ordensgeneral Ignatius von Loyola war, wie Forli sich hatte überzeugen können, in einem labilen, dämmrigen Zustand, und sein Arzt riet dringend davon ab, ihn von Giovannas Tod zu unterrichten. Ausgerechnet in dieser Frage waren sich die selbsternannten Rektoren, Nikolaus Königsteiner und Luis de Soto, ausnahmsweise einig gewesen, dass nämlich eine so gravierende Maßnahme wie die Schließung des Collegiums ohne das Einverständnis des Ehrwürdigen in keinem Fall gerechtfertigt wäre. Sie hielten es, so behaupteten sie, für ebenso wahrscheinlich, dass Giovannas Tod ein Unfall war wie dass sie ermordet worden war, und nannten das Ganze neutral einen »tragischen Todesfall«. Was die anderen Brüder darüber dachten, spielte keine Rolle. Es war dieser verdammte Gehorsam, der sie alle dazu verdonnerte, in der Mördergrube zu verharren.
Es war doch haarsträubend, dachte Forli, dass diejenigen, die meinten, Gott am nächsten zu sein, in puncto Befehl und Gehorsam den Soldaten ähnelten, von denen man sagte, die Hölle sei ihnen gewiss. Es schien, dass beide Gruppen, die Mönche und die Soldaten, etwas gemeinsam hatten, wobei der Gehorsam der Jesuiten sogar für Forlis Maßstäbe außergewöhnlich war. Ignatius von Loyola hatte einst das Wort Kadavergehorsam geprägt, um die widerspruchslose Fügsamkeit auf den Punkt zu bringen. Kadavergehorsam bekam in diesem Zusammenhang einen ganz neuen Sinn.
»Zwei Ehrgeizlinge, die sich nicht trauen, ohne Erlaubnis ihres Generals die richtige Entscheidung zu treffen. Weißt du, was ich ihnen gesagt habe? Dass ich ab sofort im Collegium schlafen würde und dass mal einer versuchen soll, mich umzubringen. Dem würde ich eines vor die Glocke geben, dass die Petersglocke dagegen eine Türschelle ist.«
Leider, dachte Forli, würde der Mörder ihm diesen Gefallen wohl nicht tun, und der Gedanke an einen schönen Faustschlag, der sein Blut in Wallung gebracht hatte, versank nun in der Trübsal des anbrechenden Abends. Die Hausdurchsuchung und die Aufregung, die sie unter den Jesuiten des Collegiums verursacht hatte, waren für Forli wie Rauschmittel gegen die Bedrückung gewesen, die noch immer über dem Tag und dem Ort lag, und zugleich ein Befreiungsschlag gegen die Umklammerung der Vorschriften und Ordensregeln. Carissimis Entscheidung war richtig und mutig gewesen, auch wenn man noch nicht wusste, was bei der Hausdurchsuchung, die noch andauerte, herauskommen würde, wohingegen man kein Prophet sein musste, um zu wissen, dass es auf jeden Fall Ärger geben würde. Die Hausdurchsuchung verstieß in mehreren Punkten gegen die Auflagen Loyolas, zum einen darin, dass sie überhaupt durchgeführt wurde, und zum anderen, dass sie von Leuten der Stadtwache durchgeführt wurde. Die Ungewissheit über Loyolas mögliche Reaktion, wenn er davon erführe, und der in der Stille des Zimmers wiederkehrende Gedanke an Giovanna veränderten die Stimmung.
»Ich habe Giovanna abholen lassen«, sagte Angelo, der Forlis plötzliches Schweigen richtig gedeutet hatte. Er zündete eine Öllampe und zwei der in bauchigen Weinkrügen steckenden Kerzen an, denn der Abend kam früh in dieses sonnenscheinlose Zimmer mit dem kleinen Fenster. »Ein Priester von au ßerhalb des Collegiums hat das Totengebet gesprochen, damit nicht womöglich ihr Mörder …« Er brach ab. »Jeder aus dem Haus hätte es tun können. Giovanna umbringen, meine ich.«
»Ja«, stimmte Forli ihm zu und setzte sich auf den zweiten Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
Es verging einige Zeit.
»Sie waren alle allein, jeder Einzelne«, sagte Angelo. »Außer Ignatius von Loyola, der gerade mit Bruder Carissimi gesprochen hat.«
»Ja«, stimmte Forli ihm wieder zu.
Und wieder verging einige Zeit.
Als es klopfte, öffnete Angelo die Tür und nahm einen Brief entgegen, den ein Wachmann überreichte. Der gesiegelte Brief war an der Pforte von einem Lakai abgegeben worden.
»Vom Leibarzt des Papstes«, sagte Angelo.
Forli richtete sich ein wenig im Stuhl auf. »Gib her.«
»Adressiert an«, fügte Angelo hinzu, »Seine Exzellenz, Sandro Carissimi, Visitator Seiner Heiligkeit.«
»Verdammt.« Forli sah zu, wie Angelo den Brief auf den Tisch legte.
Erneut kehrte Stille ein. Der Brief übte eine geradezu erotische Anziehung auf Forli aus, und schon bald starrte er auf ihn, als läge eine nackte Amazone vor ihm auf dem Tisch.
»Wo bleibt Carissimi so lange, verdammt?« Forli sprang auf. »Ich halte es nicht länger aus, die Hände in den Schoß zu legen. Das liegt einfach nicht in meiner Natur. Dafür hat Gott die alten Frauen erschaffen.«
»Was wollt Ihr denn tun?«, fragte Angelo.
»Den Brief öffnen. Wenigstens das.«
»Dafür haben wir keine Erlaubnis.«
»Verflucht, wenn ich für alles auf eine Erlaubnis warten würde, wäre ich nicht besser als diese Kriecher in Kutten.«
»Aber - der Brief ist versiegelt.«
»Ich weiß ja nicht, wie es bei dir aussieht, mein Junge, aber ich bin in der Lage, einen Eichenknüppel mit bloßen Händen zu zerbrechen. Da werde ich mich von einem bisschen Wachs nicht aufhalten lassen. Machst du mit?«
Angelo setzte zu einem empörten Ausruf an, hielt dann jedoch inne und lächelte. »Worauf warten wir noch?«
Sie stürzten beide gleichzeitig auf den Brief zu und prallten mit den Köpfen zusammen, was Angelo weitaus größere Schmerzen verursachte als Forli, der Kopfschmerzen nur dann bekam, wenn er am Abend zuvor ein Fässchen Bier getrunken hatte. Erwartungsgemäß war es also er, der den Brief in die Finger bekam und das Siegel brach.
»Was steht denn drin?«, fragte Angelo.
»Immer mit der Ruhe.« Forli hatte zwar in seiner Jugend von seinem Vater das Schreiben beigebracht bekommen, und als Offizier war es nötig, Berichte verfassen und lesen zu können, aber für gewöhnlich hatte er dafür alle Zeit der Welt. Er kam nur langsam voran. Manche Wörter in diesem Brief hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gehört, und manche Sätze waren lang wie Schlangen - und ebenso giftig.
Angelo riss ihm schließlich den Brief aus den Händen, worüber Forli insgeheim weit weniger ärgerlich war, als er tat.
»Das ist doch ganz einfach«, sagte Angelo, nachdem sein Blick wie ein Wind über das Papier gefegt war. »Doktor Pinetto hat hungrigen Ratten von dem gestrigen Abendmahl zu fressen gegeben, und keine ist erkrankt. Er schließt aus, dass das Gift im Essen, im Wasser oder im Wein war - jedenfalls nicht in den Speisen, die er von Johannes’ Teller und Becher entnommen hat. Ferner hat er Magister Durés Arzttasche überprüft und keine verdächtigen Flüssigkeiten gefunden.«
Angelo ließ den Brief sinken, und Forli begann, im Kreis zu laufen.
»Wenn das Gift nicht im Essen war, kann Johannes es nur vor der Messe zu sich genommen haben, richtig?«
Angelo nickte. »Denn nach der Messe setzte man sich sofort an die Tafel, und dort gab es nichts anderes als das, was aufgetischt wurde.«
Forli klopfte Angelo auf die Schulter, dass es ihn beinahe zu Boden warf. »Du bist ja schon ein richtiger Ermittler.« Forli wurde nachdenklich. »Wir kommen immer wieder auf diese Stunde zurück. Wo war Johannes? Wer war bei ihm? Und worin war …?«
Forlis Fragen wurden von einem eintretenden, rangniederen Offizier unterbrochen.
»Die Untersuchung ist abgeschlossen, Hauptmann.«
»Was wurde gefunden?«
Der Offizier überreichte Forli ein Buch.
»Ist das alles? Ein Buch?«
»Das ist der einzige Gegenstand, der uns verdächtig vorkam. Wir haben das Buch in der Bibliothek gefunden. Es stand nicht mit dem Buchrücken zwischen den anderen Büchern, sondern war hinter ihnen versteckt.«
Im ersten Moment war Forli enttäuscht. Dieser Wirbel und der zu erwartende Ärger nur wegen eines Buches. Doch dann entdeckte er nach und nach das Interessante daran. Denn immerhin handelte es sich um ein Buch über Heil- und Giftpflanzen, in dem zahlreiche Zeichnungen und Beschreibungen zu finden waren. Und außerdem …
»Nur die Pflanzennamen sind auf Latein geschrieben, der Rest auf Deutsch«, sagte Forli erstaunt und reichte es Angelo weiter. »Ich bin in Trient großgeworden, ich kenne die Sprache ein wenig.«
»Hier fehlt eine Seite, Hauptmann«, sagte Angelo. »Man sieht noch ein paar Zacken im Bruch. Auf der Seite davor ist die mentha piperita beschrieben und auf der nachfolgenden Seite die mentha rotundifolia. Das bedeutet, dass auf der Seite, die herausgerissen worden ist, die mentha pulegium gezeichnet und beschrieben sein könnte - Poleiminze.«
»Da brat mir einer einen Storch«, rief Forli. Er wandte sich an den Offizier. »Wurden Hinweise gefunden, wem das Buch gehört?«
Statt des Offiziers antwortete Angelo. »Ich habe mir kürzlich den Lehrplan des Collegiums angesehen. Medizin soll auch unterrichtet werden, und der Lehrer heißt Nikolaus Königsteiner.«
Forli lächelte breit und klopfte Angelo anerkennend auf den Rücken.
»Nicht schlecht, Kleiner, gar nicht schlecht. Mach so weiter, und ich nehme dich bei meiner Polizei auf - als mein Schüler, versteht sich.«
 
Sandro schlief schon seit Stunden, und Antonia setzte sich auf die Bettkante, sah ihn an und suchte nach Antworten.
Wer hatte sie geküsst? Eine aufgewühlte Seele? Ein vom Anblick eines Verbrechens kurzzeitig verwirrter Verstand? Ein müder Mensch, der auf der Suche nach etwas Trost war? Oder ein Liebender?
Und von wem hatte sie sich küssen lassen? Von einer Erinnerung? Von einem Mann, dessen Geliebte sie einst sein wollte? Oder von einem Mann, den sie sich noch immer als Liebhaber wünschte?
Ein einziger Kuss machte nicht vergessen, was sie gelitten hatte: die Monate des Wartens im winterlichen Rom; die Traurigkeit im Herzen, während um sie herum die Natur erwachte; das Hin und Her; die Missverständnisse; Sandros Ausflüchte. Das alles saß fest, ja, aber nicht wie Fels, nein, es saß fest wie Eis und war in der Lage zu schmelzen. Ein Sonnenstrahl war heute darauf gefallen. Nicht mehr. Nicht weniger.
Ihr Herz schlug in einem anderen Takt, als sie Sandro beim Schlafen zusah. Doch sie wusste nicht, ob es getrieben war von Mitleid, von starker Zuneigung oder von Liebe.
Wann weiß man so etwas?
 
Milo steckte seinen Kopf durch den Türspalt.
»Wieso schläft er noch? Du wolltest ihn doch wecken, Antonia.«
»Ja, ich hatte es gerade vor.«
»Und wieso hast du die Tür hinter dir zugemacht?«
»Weil - ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich bin ein bisschen aufgeregt.«
»Weshalb?«
»Wegen unseres Ausflugs zu diesem Lello.«
»Du kommst nicht mit.«
»Selbstverständlich komme ich mit.«
»Ausgeschlossen.«
»Milo!«
»Ausgeschlossen.«
»Milo! Ich will dabei sein. Es geht um meine Freundin, die umgebracht wurde. Ich will ihrem Mörder in die Augen sehen.«
Milo sah sie an. »Wenn du das nur nicht bereust.« Er klatschte in die Hände, und Sandro wachte auf.
 
Rom hatte am Tage Ähnlichkeit mit einer alten Frau: Es erwachte allmorgendlich mit einer gewissen Mühe, erledigte gleichgültig das, was getan werden musste, und fiel am Nachmittag in Schlummer. Mit dem schwindenden Licht verwandelte die alte Frau sich in eine alte Hure - mit allen Wassern gewaschen und mit einer rauen Fröhlichkeit, die ebenso faszinierte wie befremdete. Man hörte Paare sich zanken und sich lieben, Burschen streiten und singen, sah Geschäftemacher in Hinterhöfe eintauchen und Dirnen daraus hervorkommen. Der Tag der Ewigen Stadt, das war die Nacht.
Antonia, Milo und Sandro erreichten die südliche Stadtmauer, als der Horizont noch weißlich leuchtete, während Rom schon unter einer graublauen Glocke lag. Die Gegend war schwach besiedelt, hier und da ragten Baracken aus einer verdorrten Weide hervor, die auch als Müllhalde diente. Man musste aufpassen, wohin man trat - aber das musste man in Rom immer. Es gab viel Platz, es stank nicht mehr als anderswo auch, und die Grillen zirpten unermüdlich, als feierten sie ein Fest. Am Abendhimmel durchkreuzten Fledermäuse das Grau.
Dieser Ort, dachte Antonia, war friedvoller als die von Fuhrwerken und Menschen bebenden Straßen und Plätze, zugleich jedoch auch unheimlicher. Die spezielle Stille der Natur war Antonia nicht mehr gewohnt. In der Stadt war sie nie allein, selbst wenn sie sich einsam fühlte, denn die Wände der Behausungen waren meist so dünn, dass die Geräusche der Nachbarn und die Geräusche von draußen von der Menschheit kündeten. Hier am Stadtrand, wo sogar die Baracken sich mehr und mehr entfernten und die letzten Lichter erloschen, waren sie plötzlich nur noch zu dritt auf der Welt: Antonia, Milo und Sandro. Der Müll war nichts anderes als der Dreck von gestern, und die zerfallene Südmauer war das Überbleibsel einer vorvorgestrigen Welt.
Sie streiften an diesem Bollwerk der Antike entlang. An manchen Stellen war die baumhohe Mauer noch von beeindruckender Festigkeit, an anderen in ruinösem Zustand, geschliffen von der Zeit und einer bewegten Geschichte voller Belagerungen.
Milo gab den Weg vor, Sandro lief hinten und Antonia zwischen ihnen. Die Luft war heiß und feucht. Der Abend hatte keine Kühlung gebracht. In der Ferne fiel ein Vorhang aus Regen, von West nach Ost ziehend, an Rom vorbei, die Hoffnung mit sich nehmend.
»Wir sind bald da«, sagte Milo und drehte sich um. »Da vorn kommt eine Senke, dort steht Lellos Hütte.« Er lächelte Antonia an. »Alles in Ordnung?«
Sie erwiderte abwesend sein Lächeln. Heute war ein merkwürdiger Abend. Ihr kam es vor, als gehe sie auf einer dicken Schicht Stroh, in einer Art Nebel gefangen, und als sei die Wirklichkeit um sie herum ein bisschen unwirklich und sie, Antonia, kein Ganzes mehr. Antonias Blick war nach vorn gerichtet, auf Milo. Das Hemd klebte auf seinem Rücken, machte die Konturen des Oberkörpers sichtbar, die Muskeln, die schlanke Hüfte. Locker spielte die dreiviertellange Fischerhose um seine Beine. Da er - wie fast immer - barfuß ging, waren die Fußsohlen schmutzig. Antonias Blick blieb auf diesem Körper haften. Zugleich aber spürte sie, wie zwischen ihr und dem Bereich hinter ihr, wo sie Sandros Schritte und seinen Atem vernahm, eine intensive Verbindung bestand, die ohne Blicke und Worte funktionierte. Antonia hatte sich verfangen in der Leidenschaft der Nächte, in geflüsterten Worten, in den Gesten der Liebe, in alten Hoffnungen und in Begehren, in der Kraft, die von dem einen Mann ausging, der sie mit großer Selbstverständlichkeit nahm und sich ihr ebenso selbstverständlich hingab, und in der Kraft des anderen Mannes, dessen verbotene Liebe seit Monaten gewachsen war und der die Ketten, die ihn banden, gesprengt hatte.
Zwei Kräfte, die auf Antonia einwirkten. Zwei Männer.
Lello wartete an der vereinbarten Stelle. Hoch oben lag er flach auf der Mauerkante und sah die Nacht kommen. Noch war sie grau, nicht schwarz, noch sah er die Konturen des Landes um sich herum, sah sein Häuschen, das von oben betrachtet ein Haufen aus Holz und Lehm zu sein schien, sah die Fledermäuse, die in den Nischen der Mauer ihre Höhlen hatten. Bald wäre es zu dunkel, um irgendetwas erkennen zu können. Dann wäre es nicht sein Fehler. Wenn Milo zu spät käme, durfte er ihn, Lello, nicht dafür verantwortlich machen. Ein bisschen musste er schon noch sehen können, um die Steine, die er aus der Mauer gebrochen hatte, treffsicher hinunterwerfen und den Jesuiten damit erschlagen zu können.
Bei dem Gedanken, einen Menschen zu töten, wurde ihm schlecht, und Lello wäre jetzt viel lieber in den Armen einer seiner vier Frauen gelegen, in denen der fülligen Lucia vielleicht, deren weiße, weiche Haut sich wie Rahmkäse anfühlte, oder in denen der kleinen Beata, der er zur Feier ihres morgigen Namenstags einen hübschen Kamm gestohlen hatte, eigens für sie, als Beweis seiner Wertschätzung. Das Leben war zu kurz, fand Lello, um es mit Morden zu verbringen.
Insgeheim hoffte er, das Opfer nur zu verletzen, wenn auch so schwer, dass Milo ihm keinen Vorwurf machen konnte. Milo hatte schon gesagt, wie er in diesem Fall die Tat zu Ende bringen würde: indem er einen der Steine aufheben und dem Jesuiten damit den Schädel einschlagen würde.
Nur noch wenige Augenblicke, dann würde er von der Mauer herabklettern. Schließlich brauchte er noch genug Licht, um heil hinunterzukommen, und Milo konnte ja wohl nicht erwarten, dass Lello die Nacht auf einer Mauer verbrachte oder sich beim Abstieg den Hals brach.
Gerade als Lello erleichtert dachte, er sei, zumindest für heute, vom Morden verschont geblieben, sah er drei Gestalten, die sich näherten.
Aber wieso drei? Lello erschrak. Von einer dritten Person war nicht die Rede gewesen. Wer war denn nun das Opfer?
Milo ging vornweg, wie angekündigt. Die Gestalt in der Mitte war etwas kleiner als die beiden anderen und trug, genauso wie die Person ganz hinten, ein ziemlich weites Gewand. Milo hatte nichts über die Körpergröße des Jesuiten gesagt. Was dachte er sich eigentlich, so spät noch aufzukreuzen, wo man fast nichts mehr sehen konnte? Und von so weit oben war es doppelt schwierig, zu erkennen, wer von den beiden hinter Milo der Jesuit war.
Lello musste sich entscheiden. Sie waren jetzt fast unter ihm. Milo ging vorüber. Und sechs, sieben Schritte hinter ihm folgte die zweite Gestalt.
Wenn Lello nicht alles täuschte …
 
Laurenzio Massa konnte die Nacht nicht ausstehen. Das hing mit der Zeit seines Noviziats zusammen. Die anderen Novizen hatten ausgerechnet ihn zum Ziel ihrer Streiche gemacht, und da am Tage die Frömmigkeit zu obwalten hatte, gingen sie des Nachts gegen ihn vor. Sie legten, während er schlief, ekelhafte Tiere in sein Bett, sie sägten einen Bettpfosten an oder streuten Holzsplitter in seine Laken, oder sie verkleideten sich als Dämonen … Ihnen war stets etwas Neues eingefallen, und oft war er so aus tiefstem Schlaf in den größten Schrecken gerissen worden, bis er sich kaum noch einzuschlafen traute. Bis heute gönnte er sich Nacht für Nacht nicht mehr als fünf Stunden Schlaf. In der übrigen Zeit arbeitete er, umringt von einem Dutzend Kerzen, bis die Müdigkeit ihn übermannte und er dem Körper das Minimum an Erholung gönnte. Unentbehrlich zu sein, das war sein Ziel gewesen von dem Moment an, als er in den Vatikan gekommen war. Ein unentbehrlicher Schreiber, ein unentbehrlicher Sekretär, ein unentbehrlicher Kammerherr für Julius, dessen Vergnügungen er organisierte, die Geldmittel beschaffte und die Drecksarbeit erledigte. Was klebte nicht schon alles an seinen, Massas, Händen: Hurengeld, erpresstes Geld, Bestechungsgeld, Blutgeld … Ja, Blutgeld. Nicht jedoch Blut. Massa hatte töten lassen, nie selbst getötet. Das wäre neu.
Was Massa Angst machte, war die Ausführung der Tat. Bei Milo hatte er es mit einem Mann zu tun, der sich auskannte im Metier des Tötens, so wie ein Organist sich auskennt im Metier des Orgelspielens. Wer seine Klaviatur derart beherrschte, war in der Lage, feinste Schwingungen und falsche Töne wahrzunehmen. Anzeichen von Nervosität, Furcht und jedes auch nur geringfügig veränderte Verhalten Massas würden umgehend zu Misstrauen und erhöhter Wachsamkeit bei Milo führen, und Massa kannte sich zu gut, um zu glauben, er könne Milo auch nur kurz hinters Licht führen. Die Tat würde darum schnell und aus dem Hinterhalt erfolgen müssen. Und wenn möglich noch heute.
 
»Sandro!«
Milo hörte Antonias Warnruf und im nächsten Moment die Steine, die auf dem Boden aufschlugen. Wie wenig spektakulär es klang! Ein Dutzend schwere Steine stürzten herunter, und doch war alles, was sie an Geräuschen hervorbrachten, ein dumpfes Pochen. Das Gras und die bröselige Erde machten aus diesem gewaltsamen Tod ein gedämpftes, beinahe stilles Ereignis.
Als Milo sich umdrehte, lag Sandro Carissimi bereits reglos zwischen vertrockneten Halmen. Aus seinem Haar strömte Blut, das langsam über das Ohr floss und von dort ins Gras tropfte.
Antonia kniete neben ihm.
Milo hatte sich nie überlegt, was er unmittelbar nach der erfolgreichen Tat sagen, was er tun würde. Normalerweise war er mit seinen Opfern allein. Kein Mensch, geschweige denn seine ahnungslose Geliebte, war je dabei gewesen.
Aber was das Theaterspielen betraf, war er auch nicht schlechter als andere.
»Ein Teil der Mauer ist eingestürzt«, rief er und eilte mit großen Schritten an den Tatort. »Geht es dir gut? Bist du verletzt?«
»Die Mauer ist nicht eingestürzt, da war ein Mann«, rief Antonia.
»Du musst dich irren.«
»Ich habe ihn gesehen. Ich habe ein leises Geräusch gehört und nach oben geblickt …«
»Es ist viel zu dunkel …«
Sie schrie: »Milo, ich habe ihn gesehen. Er ist da oben.«
»Ich sehe nach.«
»Sei vorsichtig.«
Milo rannte. Die nächste Möglichkeit, auf die andere Seite der Mauer zu gelangen, war eine halbe Meile entfernt. Dort war das Bauwerk in einem ruinösen Zustand, mehr Steinhaufen als Befestigung, und Milo war gewandt genug, es im Nu zu überwinden. Lello hatte die Mauer inzwischen verlassen und rannte ihm geradewegs in die Arme.
»Milo!«
Milo presste ihm die Hand auf den Mund. »Nicht so laut, du Schwachkopf. Antonia könnte dich hören. So hoch ist die Mauer nun auch wieder nicht, und die Nacht ist still.«
Langsam löste er seine Hand wieder von Lellos Mund und wischte sie, weil Lellos Speichel daran klebte, an seiner Hose ab.
»Habe ich ihn getroffen?«, fragte Lello leise.
»Ja.«
»Da war noch eine dritte Person, eine Frau, glaube ich. Milo, du hast mir nichts von einer Frau gesagt.«
Die wimmernde Stimme dieses Schwächlings machte Milo aggressiv. Allerdings trat dieses Gefühl bei ihm immer unmittelbar nach einem Mord auf. Vor seinem ersten Mord hatte er noch geglaubt, danach trete ein Gefühl von Erleichterung ein, oder im Gegenteil, das schlechte Gewissen würde an ihm nagen. Stattdessen war er stets übellaunig, als sei er soeben bestohlen worden.
Was er jetzt tat, hatte nichts mit seiner Aggressivität zu tun. Er hätte es ohnehin getan.
Noch einmal presste er die Hand auf Lellos Mund, presste dessen ganzen Körper mit seinem eigenen gegen die Mauer und stieß ihm, ohne auszuholen, den Dolch in den Unterleib, zog ihn heraus, stieß wieder zu und achtete darauf, dass seine Hose und das Hemd nicht von Blut befleckt würden. Lello sank zwischen das kniehohe Gras. Hier würde ihn so schnell niemand finden, außer die Wildhunde, und die würden sich freuen.
Seltsam, dachte Milo. In der schwach vom aufgehenden Mond beschienenen Dunkelheit sah der Leichnam des langhaarigen, ungepflegten, mageren Lello ein bisschen so aus wie der des Christus am Kreuz.
 
Wieder lag Sandro neben Antonia, wie vor einer Stunde. Er hatte die Augen geschlossen, sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, und sein Mund stand ein wenig offen.
Täuschte sie sich, oder kam ein wenig Wind auf? Sie war nicht sicher. Der Schweiß stand auf ihrer Stirn, und zugleich war ihr eiskalt. Wieder betrachtete sie Sandro, doch alles war anders. Ein kurzer Augenblick hatte die Welt auf den Kopf gestellt. Mit ihr war etwas geschehen. Erklären konnte sie das nicht. Es war, als hätten diese Steine etwas eingerissen, das sie noch von ihm trennte. Von dem Mann, der jetzt vor ihr lag.
Antonia hob seinen blutenden Kopf leicht an, ihre Hand färbte sich rot, aber sie hielt seinen Kopf und bettete ihn auf ein paar Halme.
Sie beugte sich über ihn. Ihre Lippen glitten über seine unrasierte Wange, seine kurzen, glatten, schwarzen Haare, seine feuchte Stirn. Sie schmeckte plötzlich Blut, doch das machte nichts, es störte sie nicht. Sie schloss die Augen, so wie seine Augen geschlossen waren. In diesem Moment entstand etwas, das sie für immer mit ihm verbinden würde.
Sie sagte nichts, sprach nicht. Niemand sollte sie und ihn stören, auch nicht ihre Stimme. Nichts bewegte sich.
Er öffnete seine Augen. Als würde er spüren, was in diesem Moment das einzig Richtige ist, schwieg er. Sandro hatte immer gewusst, wie er sie beeindrucken konnte, dieser Schuft.
»Ich habe gleich gewusst, dass du nicht tot bist. Als ich, nach oben blickend, deinen Namen rief, bist du spontan zur Seite gesprungen, und nicht ein Stein hat dich getroffen. Aber du bist gestolpert und mit dem Kopf gegen die Mauer geprallt. Manchmal bist du ein Held, und dann wieder ein Tollpatsch.«
Antonia legte ihre Hand auf Sandros Stirn. Sie lächelten einander nicht an, weil sie wussten, wie schwer das werden würde, was noch vor ihnen lag.
 
Milo erkannte schon von Weitem, was passiert war. Nicht nur, dass Carissimi den Anschlag überlebt hatte, sondern auch, dass Antonia ihn liebte. Es war die Art, wie sie neben ihm kniete und ihn ansah. Als Milo sich näherte, veränderte sie ihre Haltung, aber da hatte er sie bereits durchschaut. Ihre Augen bestätigten gegen ihren Willen seinen Verdacht.
Von nun an war sie für ihn ein Mensch wie alle anderen. Er liebte sie noch immer, aber er konnte sie nicht mehr von dem Hass, den er für jeden empfand, ausnehmen. Er liebte und hasste sie.
Natürlich ließ er sich nichts anmerken.
»Ich habe niemanden gefunden«, sagte er. »Vermutlich war das, was du als Umriss auf der Mauer gesehen hast, eine Katze gewesen. Sogar möglich, dass die Katze den Steinschlag ausgelöst hat.«
Antonia widersprach ihm nicht, und Carissimi war noch zu benebelt, um irgendetwas beizutragen. Milo half ihm auf die Beine und stützte ihn. Der Gedanke kam ihm, der Sache ein schnelles und überraschendes Ende zu bereiten, den Dolch zu ziehen und Carissimi vor Antonias Augen niederzustechen, und ihr es dann zu überlassen, die Braut und Mitverschworene eines Mörders zu werden oder ihrem Geliebten in den Tod nachzufolgen. Den ganzen Weg zurück über die Wiese und sogar noch in der Stadt erging er sich in derartigen Fantasien, die nur durch den Mordrausch zu erklären waren.
Es wäre töricht gewesen, den Fantasien nachzugeben. Carissimi sollte - so hatte Massa es bestimmt - einem Unfall zum Opfer fallen, und einen so mächtigen Auftraggeber enttäuschte man besser nicht. Und was Antonia betraf: Sie würde ihn niemals zum Mann nehmen, wenn sie wüsste, was er tat. Sie war eben nicht hier inmitten des Verbrechens aufgewachsen. Römerinnen waren in dieser Hinsicht entspannter. Fast jede Frau in der Ewigen Stadt hatte einen Vater, einen Sohn oder Bruder, der in irgendeine Fehde verwickelt war. Das war nichts Besonderes. Solange nur genug Geld für die Einkäufe und die Miete und den Opferstock in der Kirche dabei heraussprang … Weil Antonia nicht eine dieser Frauen war, hatte er sich in sie verliebt und sie so nahe an sich herangelassen wie noch keinen Menschen zuvor.
Deswegen tat es so weh, sie vielleicht zu verlieren.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht, wenn Carissimi stürbe …
In Carissimis Räumen im Vatikan angekommen, war Milo müde. Müde von einem langen Tag, von einem Fehlschlag, von seinen Fantasien und davon, Antonia zu hassen. Als Antonia sagte, sie werde noch Sandros Wunde versorgen und dann direkt in ihre Wohnung gehen, versuchte er nicht, sie umzustimmen, damit sie mit ihm im Teatro übernachtete. Obwohl ihn die Vorstellung, Antonia und Carissimi allein zu lassen, fast verrückt machte und es ihm ein Leichtes gewesen wäre, nicht von Antonias Seite zu weichen, bis er sie zu ihrer Wohnung gebracht hätte, gab er seiner Müdigkeit - und dem Wunsch, allein zu sein - nach. Im Übrigen war es auch viel klüger, den nächsten Schritt in Ruhe zu überdenken, um nicht erneut zu scheitern.
»Ich versorge Sandros Wunden«, sagte Antonia.
»Wie du willst.«
Er verabschiedete sich - jedoch nicht, ohne sich von Anto - nia einen intensiven Kuss zu nehmen. War ihr dieser Kuss peinlich? Milo jedenfalls kostete die Verlegenheit, in die er sie vor Sandro brachte, in vollen Zügen aus und Carissimis mühsam verborgene Eifersucht ebenfalls.
Unter freiem Himmel verflog der kleine Triumph schnell. Und da er mit jedem Schritt eine größere Distanz zwischen sich und das Liebespaar brachte, wuchs seine Wut über den Rückzug, der zwar vernünftig gewesen war, aber auch etwas Schändliches hatte. Mit Antonia hatte das nichts mehr zu tun. Er hörte auf, sie zu hassen. Aber Carissimi …
Als er die Tiberbrücke überquerte, blieb er plötzlich stehen. Er lauschte. Rom war wieder in seinem nächtlichen Wahnsinn gefangen. Auf der einen Seite feierte das Trastevere, auf der anderen Seite Milos einziges Zuhause, das Teatro, die Sünde. Die Brücke war immer eine Insel für ihn gewesen, ein Ort zum Luftholen. Hier war er auch Antonia zum ersten Mal nahegekommen. Der Gedanke an sie zerriss ihm fast das Herz. Was sie jetzt wohl gerade machte mit ihm, dem anderen, der eigentlich hätte tot sein sollen? Das Gefühl von Eifersucht war er nicht gewöhnt, und es irritierte ihn.
Schließlich ging er weiter. Nur noch ein paar Schritte zum Teatro, nur noch um eine Ecke biegen …
Der Schwarze Papst
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