20
Wieder diese Schwüle. Diese satte, feuchte
Luft, die von den Dächern zu tropfen schien, und das schon beim
ersten Hahnenschrei. Rom würde kochen an diesem Tag. Der Adel und
das reiche Bürgertum - zu dem Sandro einst gezählt hatte - ließ
früh in diesem Sommer die Kutschen anspannen und sich auf die
Landsitze nach Ostia, Tivoli, Tuscolo und Palestrina bringen.
Sandro hätte große Lust gehabt, einfach liegen zu
bleiben und abzuwarten, bis die heiße Jahreszeit vorüber war. Die
Aussicht, in seine Soutane zu schlüpfen - die im Übrigen mal
gewaschen werden müsste -, löste Widerwillen aus. Doch es gab drei
zu gute Gründe, aufzustehen. Er musste sich nach dem Stand der
Fahndung nach Milo erkundigen. Forli, der die Fahndung
koordinierte, kam gewiss sehr gut allein zurecht, aber Sandro
konnte es nicht erwarten, Carlottas Mörder gegenüberzutreten und
dem Verhör beizuwohnen. Außerdem hatte er beschlossen, die Katze
aus dem Sack zu lassen und ein strenges Verhör in puncto
Verschwörerwohnung anzusetzen, aber er wollte nicht Luis verhören,
der viel zu beherrscht, gewandt und erfahren war, sondern Miguel
Rodrigues. Er war die Schwachstelle, die ungeschützte Flanke des
großen de Soto, und mit vereinten Kräften - Sandro, Forli, Angelo -
müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn man nicht etwas aus ihm
herausbekäme.
Der dritte Grund, weshalb Sandro nicht einfach
liegen blieb, war, dass Antonia nicht einfach liegen blieb. Sie war
schon halb angezogen, als Sandro aufwachte.
»Guten Morgen, Liebster.«
Es tat ihm gut, so genannt zu werden, und er
lächelte. Dann beobachtete er, wie sie mit ruhigen, geübten
Handgriffen ihr Haar bürstete, ein paar Sachen aufräumte und eine
Schale mit Kirschen auf den Tisch stellte.
»Ich will heute sehr früh in der Santo
Spirito sein, bevor die Steinmetze die Luft einstauben.«
Ihr Satz brachte ihn erneut zum Lächeln. Eigentlich
war nichts Lustiges daran. Er wusste, wie wichtig für einen
Glasmaler das Morgenlicht war. Und weil er es wusste und weil
Antonia ihre Bemerkung so nebenher gemacht hatte, überfiel ihn ein
angenehmes Gefühl, so als lebten sie schon sehr lange zusammen.
Alles erweckte den Eindruck von Normalität, von langer Beziehung,
großer Nähe. Ja, sie waren sich nah.
»Magst du ein paar Kirschen? Ansonsten - wir haben
noch ein Viertel Brot da, und Honig.«
Außer Lächeln brachte er nichts zustande.
Wir haben Brot da - das war unübertrefflich.
»Was ist? Warum lächelst du?« Sie stellte das Brot
und den Becher mit Honig auf den Tisch. »Jetzt hör auf damit und
komm her.«
Er stand auf und ging zu ihr. »Ich mag, wie du
sprichst.«
»Ich mag auch, wie du sprichst. Wenn du es ab und
zu tun würdest, hätte ich auch was zum Lächeln. Aber wenn du immer
nur lächelst, wie komme ich da auf meine Kosten?«
»Ein Dilemma. Wie durchbrechen wir es?«
Sie zuckte gespielt gleichmütig mit den Schultern.
»Indem wir tun, was alle Paare tun: Wir essen.«
Sie lachten, verbunden durch einen Blick. Sandro
schnitt sich ein Endstück vom Brotlaib ab, träufelte Honig darauf,
biss ein großes Stück ab und kaute lange auf ihm herum, während
Antonia seine Soutane holte. Als sie zurückkam, war die
Leichtigkeit verflogen, aber er glaubte nicht, dass das etwas mit
ihm zu tun hatte.
»Du solltest dein Kleid ein bisschen sauber
machen«, sagte sie. »Dort drüben steht ein Wassereimer, daneben
liegt eine Bürste. Ich werde jetzt gehen. Sehen wir uns heute
Abend?«
»Aber ja.«
Sie ging zur Tür. »Steht ein Wachmann da
draußen?«
Er nickte. »Er wird dich den ganzen Tag begleiten.
Nur zur Vorsicht.«
Milo war in ihre Köpfe zurückgekehrt, und Sandro
hielt es für unklug, so zu tun, als gäbe es ihn nicht. Sandro
ahnte, was in Antonia vorging.
»Er war ein Blender«, sagte Sandro. »Ganz gewiss
der raffinierteste Blender von Rom. Ich habe ihn nie gemocht, aber
nur, weil ich eifersüchtig und auch neidisch war auf seine
unbeschwerte Lebensart, auf seine Abgebrühtheit und seine
Fischerhosen und vor allem auf seine Wirkung auf dich … Ich hielt
ihn für einen tollen Kerl, von dem ich mir eine Scheibe abschneiden
könnte. Er hat mich getäuscht, so wie alle anderen auch.«
Antonia wandte sich zu Sandro um. »Keiner war ihm
so nahe wie ich. Ich hätte erkennen müssen …«
»Was denn? Dass er ein Mörder ist? Ein böser
Mensch? Wir alle haben mehrere Seiten, und wenn einer nur die eine
Seite zeigt und die andere verbirgt, ist man ausgeliefert. Was wäre
denn die Alternative? Dass wir alle einander nur noch mit
Misstrauen begegnen? Es ist ein großer Irrtum, zu glauben, dass die
Aufrichtigen und die Gefühlvollen die Fähigkeit besitzen, in die
Herzen der anderen hineinzusehen. Seine eigene Mutter hat nichts
geahnt, und Carlotta hat ihm vermutlich die Tür geöffnet und ihn
bis zum letzten Atemzug nicht als das erkannt, was er tatsächlich
ist. Nur Leute seines Schlags haben es gewusst. Tücke erkennt
Tücke, so sieht es nämlich aus. Meine Arbeit würde sehr viel
einfacher sein, wenn es anders wäre.«
Antonia schien ein wenig beruhigt, aber es würde
noch eine Zeit brauchen, bis sie sich selbst vergeben hätte.
Sandro bat Antonia: »Würdest du nachher, wenn du
etwas Zeit hast, ins Stift der Clarissen gehen und dich dort nach
einer Clelia erkundigen? Ihre Mutter, eine Köchin des Collegium
Germanicum, ist vorgestern ermordet worden.«
»Wie furchtbar!«
»Clelia ist elf Jahre alt. Die Nonnen sind
fürsorglich, aber leider schüchtern die Nonnen wegen ihrer Tracht
die Kinder ein wenig ein. Ich denke, für das Mädchen wäre es gut,
wenn sie auch eine weltliche Frau in ihrer Nähe hätte.«
Antonia nickte. »Ich gehe zu ihr, ganz bestimmt,
verlass dich drauf.«
»War mir klar.«
»Ich weiß.«
Sie kam noch einmal zurück und küsste ihn. »Bis
heute Abend.«
Sandro säuberte seine Soutane nicht. Er verließ
das Haus und ging in Begleitung einer Wache, die ihn vor einem
möglichen Anschlag Milos schützen sollte, zum Collegium. Als er
dort ankam, hörte er Gesang, der aus der Kapelle kam. Dann erklang
die kräftige Stimme Königsteiners, der vermutlich den Vorbeter
machte und die Messe las, so wie am Abend von Johannes’ Tod.
Im Collegium war alles ruhig. Sandro warf einen
Blick in das »Hauptquartier«, Johannes von Donaustaufs altes
Zimmer, wo Angelo die Nacht verbracht hatte - oder besser gesagt,
verbrachte, denn er schlief noch. Seine zerwühlten Haare und die
vom Bett herabgeschobene Decke zeugten von einer wenig erholsamen
Sommernacht. Forli war nicht da; er hatte wohl noch mit der
Fahndung nach Milo zu tun.
Sandro beschloss, zum Brunnen in den Hinterhof zu
gehen
und sich frisches Wasser zu holen, denn das Honigbrot hatte ihn
durstig gemacht. Solange die Frühmesse andauerte, Forli unterwegs
war und Angelo schlief, konnte er ohnehin nichts anderes tun, als
warten. Rodrigues würde ihm ja nicht weglaufen.
Ein Gedanke ließ ihn nicht mehr los, seit er eben
an die Kommunion gedacht hatte. Wie war das noch? Johannes war auf
die Latrine gehetzt … war eine Weile fort gewesen … in der Kapelle
hatte die Kommunion stattgefunden, das Brot … Königsteiner hatte
auf Johannes gewartet …
Und dann ging es wieder von vorn los: Johannes war
auf die Latrine gehetzt …
Sandro hörte, wie jemand die Treppe herunterkam,
und zwar sehr langsam. Es war also tatsächlich jemand im Haus
geblieben; dem gemächlichen Gang nach zu urteilen, handelte es sich
um Ignatius von Loyola. Sandro wäre ihm lieber ausgewichen, doch
das löste die Probleme nicht, und früher oder später würde er ihm
ja doch über den Weg laufen.
Er wartete am Fuß der Treppe, und es erschien -
Tilman Ried. Sandro erinnerte sich nicht, jemals in ein derart
blutleeres Gesicht geblickt zu haben.
Ried sah ihn ausdruckslos an. »Er ist tot«, sagte
er.
Sandro schluckte. »Wer?«
Ried, zur Säule erstarrt, antwortete nicht.
»Der Pater General?«, fragte Sandro. »Der
Ehrwürdige?«
Ried verneinte mit einem schwachen Kopfschütteln.
Sandro hatte einen Verdacht: Miguel Rodrigues. »O nein.« Er ging an
Tilman Ried vorbei die Treppe hinauf, ohne zu eilen. Einer Leiche
rannte man nicht entgegen, dafür gab es wahrlich keinen Grund. Er
passierte den ersten Stock, ging weiter. Vor Rodrigues’ Zimmertür
im zweiten Stock blieb er stehen, zögernd streckte er seine Hand
nach dem Knauf aus.
Ein dritter Mord, dachte Sandro. Eine Katastrophe
für jeden
Ermittler. Die brutalste Form des Scheiterns. Was würde er
antreffen? Ein von Gift verzerrtes Gesicht? Eine blutverschmierte
Brust? Schließlich fasste er sich ein Herz und öffnete die
Tür.
Leer. Kein Rodrigues.
Sandro verließ den Raum wieder und ging die Treppe
hinunter. Im ersten Stock fiel ihm eine angelehnte Tür auf, an der
er vorhin achtlos vorbeigegangen war.
Er wusste, wer in diesem Zimmer wohnte. Wieder
stand er davor, zögerte und war auf alles gefasst.
Nur nicht auf das, was er dann sah.
Sie waren zu siebt. Alle fünf, die in der Kapelle
gesungen hatten, hatten sich im Raum versammelt, und vier von ihnen
starrten entsetzt auf den Leichnam. Ignatius von Loyola hatte sich
im Angesicht des Erhängten dem Kruzifix an der Wand zugewandt, sich
niedergekniet und die Augen geschlossen.
Sandro hatte Angelo geweckt, der, notdürftig
bekleidet und mit struppigem Haar, auf den Tisch stieg.
»Ich löse den Strick«, sagte Angelo. »Jemand muss
die Beine des Toten festhalten. Ein Zweiter hilft, den Leichnam
aufzufangen.«
Königsteiner hielt die Beine fest, Birnbaum half
ihm. Dann sägte Angelo mit einem Messer an dem Strick. Als er riss,
kippte Luis’ Körper nach vorn. Königsteiner und Birnbaum mühten
sich, doch schließlich verloren sie das Gleichgewicht. Luis de
Sotos toter Körper berührte Ignatius von Loyola und schlug
unmittelbar neben ihm auf dem Boden auf. Birnbaum, Königsteiner,
Rodrigues, Duré und Angelo schlossen vor Entsetzen die Augen, und
in diesem Moment blickte Loyola auf. Sein Blick ruhte lange auf dem
verrenkten Leichnam. Seine Philosophie war es immer gewesen,
hinzusehen, dem Bösen in die Fratze zu gucken, dem Ekel die Stirn
zu bieten. Nichts auf
Erden war so hässlich und gemein und abscheulich, dass man ihm
ausweichen durfte. Das war Teil seiner Lehre.
Ignatius schaute hin, dann stand er auf, schickte
die Brü - der aus dem Raum und forderte sie auf, in ihre Zimmer zu
gehen. Alle sahen elend aus, aber am schlimmsten schien es Miguel
Rodrigues getroffen zu haben sowie den jungen Tilman Ried, der,
noch immer benommen, sich auf die Treppe gesetzt hatte.
Als alle gegangen waren, sagte Loyola, an Sandro
gewandt: »Tu deine Arbeit, Bruder. Gott stehe dir bei.« Dann ging
auch er.
Als Sandro die Tür schließen und zusammen mit
Angelo die Untersuchung beginnen wollte, kam Gisbert von Donaustauf
die Treppe heraufgelaufen, wobei er einige Mitbrüder beinahe
umrannte.
»Ich werde heiraten«, rief er überglücklich. »Denkt
Euch, ich werde heiraten. Ha, heiraten.« Und dann führte er einen
irren Tanz auf.
Über mangelnde Spuren konnten Sandro und Angelo
sich nicht beklagen. Im Gegenteil, Luis’ Tod ließ sich
nachvollziehen wie eine mathematische Berechnung: ein Deckenbalken,
ein Strick, ein umgekippter Stuhl, Würgemale am Hals, keine
sonstigen Verletzungen. Es kam noch besser. Auf dem Schreibtisch
lag die Bibel, aufgeschlagen auf einer Seite, in der es um Schuld
und Reue ging. Ein Absatz war angestrichen, darin ging es um die
Schuld und Bestrafung des Volks Juda.
Und damit nicht genug, fand sich neben der Bibel
ein Stück Pergament, auf dem geschrieben stand: »Das Gift befand
sich im Wasserbecher auf dem Lesepult.«
»Seine Schrift?«, fragte Angelo.
Sandro nickte. Er hatte Jahre als Luis’ Assistent
verbracht, sodass er dessen Schrift aus tausend anderen erkannte.
Nur ein
meisterhafter Fälscher hätte Sandro täuschen können. Nein, Luis
hatte diese Worte geschrieben, davon war auszugehen.
Was Sandro irritierte, war nicht so sehr das Stück
Pergament, sondern die Bibel, im Grunde genommen der ganze
Selbstmord. Luis, der Eitle, der Geniale, der Egoist, der
Gefeierte, der Ellenbogen - dieser Mann sollte sich umbringen, sich
erhängen? Und vorher noch die Heilige Schrift durchblättern
auf der Suche nach einem passenden Zitat, das auf sein Motiv
hinwies? Das passte nicht zu ihm. Das war nicht der Luis, den
Sandro kannte.
Warum brachten schuldbeladene Menschen sich um? Aus
Angst vor Entdeckung, oder weil sie erpresst wurden oder weil ihr
schlechtes Gewissen sie in die Verzweiflung trieb. Luis hatte wenig
zu fürchten. Er hätte mit Hilfe seiner hervorragenden Beziehungen
gegen jedwede Anschuldigung gekämpft, und das mit guten Aussichten
auf Erfolg. Was immer man ihm vorgeworfen hätte und so stichhaltig
der Vorwurf gewesen wäre - seine Unterstützer hätten dafür gesorgt,
dass es dem Ankläger schlechter ergangen wäre als dem Angeklagten.
Hinter den Kulissen hätte Luis unter Tränen und Gelöbnissen einen
Kniefall gemacht, und die Sache wäre für ihn erledigt
gewesen.
Was die Möglichkeit einer Erpressung anging: Luis
hätte eher den Erpresser umgebracht als sich selbst.
Und um ein schlechtes Gewissen zu haben, musste man
zunächst einmal überhaupt ein Gewissen haben, und woher hätte Luis
es auf die Schnelle herbekommen sollen? So etwas zu denken, war
nicht schön, aber um Luis war es nicht schade, und Sandro heuchelte
auch keine Trauer.
Drei Dinge machte Sandro sich in diesem Moment
klar. Erstens: Luis war tot. Zweitens: Es gab keinen Grund, sich
darüber zu grämen, und keinen, sich darüber zu freuen. Was an
schlechten Gefühlen zwischen ihnen vorhanden gewesen war,
war mit Luis gestorben. Drittens: Luis war ermordet worden. Und
Sandro klärte Morde auf. Auch den Mord an Luis.
»Keiner hat daran gedacht«, sagte Angelo.
»Woran?«
»An den Becher auf dem Pult, Exzellenz. Jetzt, wo
ich darüber nachdenke, fällt mir ein, dass da tatsächlich ein
Becher gestanden und Johannes daraus getrunken hatte, kaum dass er
ans Pult getreten war. Wenn Luis de Soto also eine extrem hohe
Dosis ins Wasser getan hätte …«
»Hat er nicht.«
»Mit Verlaub, auf dem Zettel steht etwas
anderes.«
»Mit Verlaub, auf dem Zettel steht nicht: ›Ich habe
Gift in den Wasserbecher auf dem Lesepult getan‹, sondern: ›Das
Gift befand sich im Wasserbecher auf dem Lesepult‹. Den zweiten
Satz hätte genauso gut ich schreiben können, wäre ich auf die Idee
mit dem Wasserbecher gekommen.«
»Ihr meint, Luis de Soto hat eigene Ermittlungen
angestellt?«
»Möglich wär’s.«
»Wieso sollte er das tun?«
»Um mir eins auszuwischen zum Beispiel. Wir hatten
noch eine Rechnung offen. Auf dem Konzil von Trient habe ich und
nicht er die Mordserie an Bischöfen aufgeklärt. Einen de Soto
ärgert das.«
Angelo räumte mit einer Geste ein, dass Sandro
recht haben könnte. »Trotzdem ist der Zettel höchst interessant,
auch wenn er kein Schuldeingeständnis darstellt. Nachdem Doktor
Pinetto festgestellt hat, dass kein Gift im Essen oder in den
Getränken an Donaustaufs Platz war, haben wir uns auf die Stunde
zwischen fünf und sechs Uhr konzentriert. Nun stellt sich heraus,
dass das Gift im Wasserbecher auf dem Pult war, und wir müssen
herausfinden, wer ihn dort platziert hat beziehungsweise wer
Gelegenheit gehabt hätte, das Wasser zu vergiften.«
Sandro nickte. »Finde es heraus.«
»Ich?«
»Ja, wieso nicht? Als offizieller Assistent des
Visitators Seiner Heiligkeit.«
»Als … Ihr scherzt.«
»Mein Humor hält sich im Angesicht einer
Galgenleiche in Grenzen. Hab ich’s dir gestern nicht
versprochen?«
»Schon, aber ich dachte, das sei nur so dahingesagt
gewesen.«
»Na, du hast ja eine hohe Meinung von dem, was ich
sage. Ich habe den Papst gefragt, und er hat zugestimmt. Doppelter
Lohn fürs Erste. Später mehr, wenn du dich bewährt hast.«
»Diese Ehre, Assistent des Visitators Seiner
Heiligkeit zu sein - danke, vielen Dank. Ihr seid - Ihr seid
unübertroffen.«
»Ich bin nur schnell. Forli ist drauf und dran,
dich mir wegzuschnappen. So, gefeiert wird ein andermal. Deine
Delinquenten warten. Aber zieh dir ein bisschen mehr an, bitte. Ein
Beamter des Vatikans mit freiem Oberkörper - das könnte man als
Anspielung verstehen oder, noch schlimmer, als neue Mode ernst
nehmen.«
»Und was macht Ihr?«
»Ich bleibe ebenfalls angezogen.«
»Sagtet Ihr nicht, im Angesicht einer Leiche wären
Scherze unangemessen?«
»Das ist kein Scherz. Ich bleibe wirklich
angezogen.«
Angelo schnitt eine Grimasse, dann lächelte er und
verließ den Raum.
Sandro trat hinter den Toten. Er hatte Luis nie
berührt; deshalb kam es ihm fremd und unwirklich vor, als er Luis
unter den Achseln packte und versuchte, ihn hochzuheben. Er war
nicht schwer, dennoch war er als Mann von mittlerer Größe kein
Leichtgewicht. Um ihn aufhängen zu können, musste man ihn zunächst
wehrlos machen. Auf Luis’ Hinterkopf befand sich eine Prellung, die
jedoch auch vom Aufprall auf den Boden
herrühren konnte. Wie auch immer, der Besinnungslose - oder Tote -
bekam einen Strick um den Hals gebunden, dann wurde das andere Ende
des Stricks über den Deckenbalken geworfen. Und nun kam der
schwierigste, anstrengendste Teil für den Mörder: Er musste Luis so
hoch hinaufziehen, dass dessen Füße etwa eine Handbreit über dem
Boden schwebten, denn so hatten Ried und Sandro die Leiche
aufgefunden. Und zusätzlich musste der Mörder auch noch die Kraft
haben, das Gewicht so lange zu halten, bis er das Ende des Seils um
den Eisenhaken in der Wand, auf dem man allabendlich vor dem
Zubettgehen seine Gewänder aufhängte und lüftete, gewickelt und
festgeknotet hatte.
Sandro musste wissen, wie schwierig das zu
bewerkstelligen war, also band er einen neuen Strick, legte ihn
Luis um den Hals, warf den Strick über den Balken und zog daran. Es
war makaber, Leichenschändung, und deswegen hatte er Angelo auch
nicht dabeihaben wollen. Aber Sandros Wille, endlich den dreifachen
Mörder, der einen jungen Mann vergiftet, eine liebenswerte Frau und
Mutter in Brand gesteckt und einen Mitbruder erhängt hatte, zu
entlarven und zur Strecke zu bringen, war größer als alle
Skrupel.
Es war mühsam, Luis hochzuhieven, und noch
schwieriger, dieses Gewicht zu halten, um das Seil zu befestigen.
Aber es war möglich. Völlig erschöpft beendete Sandro sein
widerliches Experiment, auf das er nicht stolz war, das ihn jedoch
weiterbrachte.
Wenn es Sandro nur mit großer Kraftanstrengung
gelang, Luis aufzuhängen, wer noch besäße dann diese Kraft?
Rodrigues sicher nicht, Tilman Ried und Gisbert von Donaustauf
ebenfalls nicht. Birnbaum, Königsteiner und Duré kämen jedoch in
Frage.
Oder man hatte es mit zwei Mördern zu tun.
»Ich war doch letzte Nacht überhaupt nicht hier«,
schrie Gisbert von Donaustauf Angelo an, als Forli das
»Hauptquartier« im Collegium Germanicum betrat. »Ich war bei
Rosina, sie kann’s bezeugen. Wir haben beschlossen, zu heiraten.
Also habe ich mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun.«
Forli grüßte Angelo. »Ich hab’s gehört, das von de
Soto. Die Wache draußen hat’s mir erzählt.«
»Gibt’s was Neues von Milo?«, fragte Angelo über
Gisberts Kopf hinweg.
Forli schüttelte den Kopf. »Wo ist
Carissimi?«
»Oben.«
»Und der da, was ist mit dem?«
»Erstens bin ich nicht ›der da‹«, rief Gisbert,
»und zweitens ist gar nichts mit mir. Ich weiß nichts. Mir steht’s
bis hier. Ich will nur noch meine Sachen packen und gehen.
Ja?«
»Nein«, antwortete Angelo, erfrischend kurz und
streng, wie Forli fand. Der Junge ging es richtig an. Nur keine
Blöße zeigen. Nur nicht erkennen lassen, dass man nervös war. Und
Angelo war nervös, jeder war bei seiner ersten Befragung
nervös. Deswegen ließ Forli sich auch nur kurz und stichwortartig
von Angelo auf den neuesten Stand bringen und überließ ihm dann das
Feld. Er legte sich samt Stiefeln auf das Bett, verschränkte die
Arme hinter dem Kopf und sah unentwegt zur Decke - wobei er
natürlich gleichzeitig ganz Ohr war.
»Es geht nicht um gestern Abend«, setzte Angelo dem
Befragten auseinander, »sondern um den Abend, als Euer Bru - der
getötet wurde. Ihr und Birnbaum habt die Tafel vorbereitet.«
»Ich habe ein bisschen geholfen, und das auch bloß,
weil ich helfen musste.«
»Wer hat das Wasser aufs Pult gestellt?«
»Wasser? Pult? Was soll denn das? Warum sollte ich
mich für Wasser auf dem Pult interessieren?«
»Vielleicht, weil dieses Wasser Euren Bruder
umgebracht hat.«
Gisbert wurde plötzlich ganz still und wusste nicht
recht, wohin mit seinen Händen und Beinen.
»Erinnert Ihr Euch jetzt an das Wasser?«
»Ja«, sagte Gisbert kleinlaut.
»Weiter.«
»Na ja, der Birnbaum war’s. Als er das Pult
abwischte und so weiter. Der hat den gefüllten Becher mit
hinausgenommen. Wenn er was anderes behauptet, lügt er.«
»Werden wir sehen. Wer hat den Becher in der Küche
gefüllt?«
»Ich war’s. Ich hab ihn gefüllt, und zwar mit
Wasser aus einem Krug, den wir später noch auf die Tafel gestellt
haben. Davon ist keiner umgekippt.«
»Und wer hat den Becher, wenn überhaupt noch etwas
drin war, ausgeleert?«
»Die Giovanna, schätze ich. Die hat am nächsten Tag
alles abgeräumt.«
»Fassen wir zusammen: Sowohl Ihr als auch Birnbaum
hättet Gelegenheit gehabt, den öligen Extrakt der Poleiminze in den
Becher zu tun.«
Gisbert richtete sich auf. »Moment mal, so nicht,
Freundchen. Ihr wollt mir da was anhängen, weil Ihr zu blöd seid,
den Täter zu finden. Das Spiel kenne ich, das spielt man überall,
auch in meiner Heimat. Aber nicht mit mir. Birnbaum hat das Wasser
eine gute halbe Stunde, bevor wir zur Messe gingen, aufs Pult
gestellt. Da kann sonstwer was reingekippt haben. Außerdem - ich
hatte ja gar keinen Grund, Gift da reinzutun.«
»Einhunderttausend Gulden und ein Schloss sind
Grund genug.«
Gisbert von Donaustauf sah Angelo einen Augenblick
entgeistert an, dann lachte er schrill. »So was von dämlich
begegnet
man selten. Der Becher, von dem wir reden, war nicht für Johannes
gedacht, sondern für Birnbaum.«
»Für - Birnbaum?«
»Kapierst du’s nicht? Dann erkläre ich’s für ganz
Doofe. Der Birnbaum, der hätte am Eröffnungsabend lesen sollen,
aber er war nervös, weil der Pater General da war und so viele
andere Gäste. Birnbaum liest sowieso schlecht vor, unbetont und
holprig, aber wenn noch Herzklopfen dazukommt, dann ist es ganz
aus. Er schwitzte wie ein Schwein. Sein Mund war so trocken, da
hätte man Wäsche drin aufhängen können. Also stellte er sich den
Wasserbecher raus. Als die Messe zu Ende war und wir aus der
Kapelle über die Straße ins Collegium zurückkehrten, da hat er dem
Pater General gesagt, er hätte Halsschmerzen, ob nicht ein anderer
lesen könne. Er schlug meinen Bruder vor, was ziemlich klug war,
weil Johannes sich gerne wichtig gemacht hat und die Ehre genoss.
Johannes stimmte zu, der Pater General stimmte zu - und so
kam’s.«
Gisbert stand auf und hielt sich den Bauch vor
Lachen. »Weißt du, was das bedeutet? Capito, amico? Mann, ihr
Italiener habt euern Kopf von Gott wohl nur bekommen, weil ihr ja
irgendwo das Essen reinstopfen müsst. Soll ich’s erklären? Ja?« Er
schlug Angelo mit der flachen Hand mehrmals leicht auf die Stirn.
»Wer immer Gift in den Becher getan hat, der wollte nicht Johannes,
sondern Birnbaum umbringen. So sieht’s aus. Und ich? Wieso sollte
ich Birnbaum umbringen, hä?«
In der Sache gab Forli ihm recht, aber der junge
Donaustauf wurde allzu übermütig, als er Angelo einen Klaps links
und einen Klaps rechts auf die Wangen gab, ihn zurückstieß und
rief: »So, und jetzt mach Platz, Freundchen, meine Verlobte
wartet.«
Angelo war perplex über seinen plötzlichen
Autoritätsverlust gegenüber einem Jüngeren, und Forli hielt es für
besser, aufzustehen, um Gisbert aufzuhalten. Solange die
Untersuchung
nicht abgeschlossen war, hatte niemand das Haus zu verlassen, auch
Gisbert nicht. Und Angelo wusste das ebenfalls. Er packte Gisbert,
der bereits nach dem Türknauf griff, am Kragen und zog ihn so
kräftig zurück, dass Gisbert quer durch den Raum stolperte und
rücklings gegen die Wand prallte.
»Bravo«, rief Forli. »Gut gemacht, Angelo.«
Angelo ging entschlossen auf Gisbert zu, um
nachzusetzen, falls nötig, aber Gisbert gab sich mit einer Geste
geschlagen. In dem Moment, als Gisbert einen Schritt nach vorn
machte, löste sich hinter ihm auf Schulterhöhe ein ganzer Stein aus
der Wand und fiel krachend zu Boden.
Zur Überraschung aller tat sich in der Wand ein
kleiner Hohlraum auf.