20
Wieder diese Schwüle. Diese satte, feuchte Luft, die von den Dächern zu tropfen schien, und das schon beim ersten Hahnenschrei. Rom würde kochen an diesem Tag. Der Adel und das reiche Bürgertum - zu dem Sandro einst gezählt hatte - ließ früh in diesem Sommer die Kutschen anspannen und sich auf die Landsitze nach Ostia, Tivoli, Tuscolo und Palestrina bringen.
Sandro hätte große Lust gehabt, einfach liegen zu bleiben und abzuwarten, bis die heiße Jahreszeit vorüber war. Die Aussicht, in seine Soutane zu schlüpfen - die im Übrigen mal gewaschen werden müsste -, löste Widerwillen aus. Doch es gab drei zu gute Gründe, aufzustehen. Er musste sich nach dem Stand der Fahndung nach Milo erkundigen. Forli, der die Fahndung koordinierte, kam gewiss sehr gut allein zurecht, aber Sandro konnte es nicht erwarten, Carlottas Mörder gegenüberzutreten und dem Verhör beizuwohnen. Außerdem hatte er beschlossen, die Katze aus dem Sack zu lassen und ein strenges Verhör in puncto Verschwörerwohnung anzusetzen, aber er wollte nicht Luis verhören, der viel zu beherrscht, gewandt und erfahren war, sondern Miguel Rodrigues. Er war die Schwachstelle, die ungeschützte Flanke des großen de Soto, und mit vereinten Kräften - Sandro, Forli, Angelo - müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn man nicht etwas aus ihm herausbekäme.
Der dritte Grund, weshalb Sandro nicht einfach liegen blieb, war, dass Antonia nicht einfach liegen blieb. Sie war schon halb angezogen, als Sandro aufwachte.
»Guten Morgen, Liebster.«
Es tat ihm gut, so genannt zu werden, und er lächelte. Dann beobachtete er, wie sie mit ruhigen, geübten Handgriffen ihr Haar bürstete, ein paar Sachen aufräumte und eine Schale mit Kirschen auf den Tisch stellte.
»Ich will heute sehr früh in der Santo Spirito sein, bevor die Steinmetze die Luft einstauben.«
Ihr Satz brachte ihn erneut zum Lächeln. Eigentlich war nichts Lustiges daran. Er wusste, wie wichtig für einen Glasmaler das Morgenlicht war. Und weil er es wusste und weil Antonia ihre Bemerkung so nebenher gemacht hatte, überfiel ihn ein angenehmes Gefühl, so als lebten sie schon sehr lange zusammen. Alles erweckte den Eindruck von Normalität, von langer Beziehung, großer Nähe. Ja, sie waren sich nah.
»Magst du ein paar Kirschen? Ansonsten - wir haben noch ein Viertel Brot da, und Honig.«
Außer Lächeln brachte er nichts zustande. Wir haben Brot da - das war unübertrefflich.
»Was ist? Warum lächelst du?« Sie stellte das Brot und den Becher mit Honig auf den Tisch. »Jetzt hör auf damit und komm her.«
Er stand auf und ging zu ihr. »Ich mag, wie du sprichst.«
»Ich mag auch, wie du sprichst. Wenn du es ab und zu tun würdest, hätte ich auch was zum Lächeln. Aber wenn du immer nur lächelst, wie komme ich da auf meine Kosten?«
»Ein Dilemma. Wie durchbrechen wir es?«
Sie zuckte gespielt gleichmütig mit den Schultern. »Indem wir tun, was alle Paare tun: Wir essen.«
Sie lachten, verbunden durch einen Blick. Sandro schnitt sich ein Endstück vom Brotlaib ab, träufelte Honig darauf, biss ein großes Stück ab und kaute lange auf ihm herum, während Antonia seine Soutane holte. Als sie zurückkam, war die Leichtigkeit verflogen, aber er glaubte nicht, dass das etwas mit ihm zu tun hatte.
»Du solltest dein Kleid ein bisschen sauber machen«, sagte sie. »Dort drüben steht ein Wassereimer, daneben liegt eine Bürste. Ich werde jetzt gehen. Sehen wir uns heute Abend?«
»Aber ja.«
Sie ging zur Tür. »Steht ein Wachmann da draußen?«
Er nickte. »Er wird dich den ganzen Tag begleiten. Nur zur Vorsicht.«
Milo war in ihre Köpfe zurückgekehrt, und Sandro hielt es für unklug, so zu tun, als gäbe es ihn nicht. Sandro ahnte, was in Antonia vorging.
»Er war ein Blender«, sagte Sandro. »Ganz gewiss der raffinierteste Blender von Rom. Ich habe ihn nie gemocht, aber nur, weil ich eifersüchtig und auch neidisch war auf seine unbeschwerte Lebensart, auf seine Abgebrühtheit und seine Fischerhosen und vor allem auf seine Wirkung auf dich … Ich hielt ihn für einen tollen Kerl, von dem ich mir eine Scheibe abschneiden könnte. Er hat mich getäuscht, so wie alle anderen auch.«
Antonia wandte sich zu Sandro um. »Keiner war ihm so nahe wie ich. Ich hätte erkennen müssen …«
»Was denn? Dass er ein Mörder ist? Ein böser Mensch? Wir alle haben mehrere Seiten, und wenn einer nur die eine Seite zeigt und die andere verbirgt, ist man ausgeliefert. Was wäre denn die Alternative? Dass wir alle einander nur noch mit Misstrauen begegnen? Es ist ein großer Irrtum, zu glauben, dass die Aufrichtigen und die Gefühlvollen die Fähigkeit besitzen, in die Herzen der anderen hineinzusehen. Seine eigene Mutter hat nichts geahnt, und Carlotta hat ihm vermutlich die Tür geöffnet und ihn bis zum letzten Atemzug nicht als das erkannt, was er tatsächlich ist. Nur Leute seines Schlags haben es gewusst. Tücke erkennt Tücke, so sieht es nämlich aus. Meine Arbeit würde sehr viel einfacher sein, wenn es anders wäre.«
Antonia schien ein wenig beruhigt, aber es würde noch eine Zeit brauchen, bis sie sich selbst vergeben hätte.
Sandro bat Antonia: »Würdest du nachher, wenn du etwas Zeit hast, ins Stift der Clarissen gehen und dich dort nach einer Clelia erkundigen? Ihre Mutter, eine Köchin des Collegium Germanicum, ist vorgestern ermordet worden.«
»Wie furchtbar!«
»Clelia ist elf Jahre alt. Die Nonnen sind fürsorglich, aber leider schüchtern die Nonnen wegen ihrer Tracht die Kinder ein wenig ein. Ich denke, für das Mädchen wäre es gut, wenn sie auch eine weltliche Frau in ihrer Nähe hätte.«
Antonia nickte. »Ich gehe zu ihr, ganz bestimmt, verlass dich drauf.«
»War mir klar.«
»Ich weiß.«
Sie kam noch einmal zurück und küsste ihn. »Bis heute Abend.«
 
Sandro säuberte seine Soutane nicht. Er verließ das Haus und ging in Begleitung einer Wache, die ihn vor einem möglichen Anschlag Milos schützen sollte, zum Collegium. Als er dort ankam, hörte er Gesang, der aus der Kapelle kam. Dann erklang die kräftige Stimme Königsteiners, der vermutlich den Vorbeter machte und die Messe las, so wie am Abend von Johannes’ Tod.
Im Collegium war alles ruhig. Sandro warf einen Blick in das »Hauptquartier«, Johannes von Donaustaufs altes Zimmer, wo Angelo die Nacht verbracht hatte - oder besser gesagt, verbrachte, denn er schlief noch. Seine zerwühlten Haare und die vom Bett herabgeschobene Decke zeugten von einer wenig erholsamen Sommernacht. Forli war nicht da; er hatte wohl noch mit der Fahndung nach Milo zu tun.
Sandro beschloss, zum Brunnen in den Hinterhof zu gehen und sich frisches Wasser zu holen, denn das Honigbrot hatte ihn durstig gemacht. Solange die Frühmesse andauerte, Forli unterwegs war und Angelo schlief, konnte er ohnehin nichts anderes tun, als warten. Rodrigues würde ihm ja nicht weglaufen.
Ein Gedanke ließ ihn nicht mehr los, seit er eben an die Kommunion gedacht hatte. Wie war das noch? Johannes war auf die Latrine gehetzt … war eine Weile fort gewesen … in der Kapelle hatte die Kommunion stattgefunden, das Brot … Königsteiner hatte auf Johannes gewartet …
Und dann ging es wieder von vorn los: Johannes war auf die Latrine gehetzt …
Sandro hörte, wie jemand die Treppe herunterkam, und zwar sehr langsam. Es war also tatsächlich jemand im Haus geblieben; dem gemächlichen Gang nach zu urteilen, handelte es sich um Ignatius von Loyola. Sandro wäre ihm lieber ausgewichen, doch das löste die Probleme nicht, und früher oder später würde er ihm ja doch über den Weg laufen.
Er wartete am Fuß der Treppe, und es erschien - Tilman Ried. Sandro erinnerte sich nicht, jemals in ein derart blutleeres Gesicht geblickt zu haben.
Ried sah ihn ausdruckslos an. »Er ist tot«, sagte er.
Sandro schluckte. »Wer?«
Ried, zur Säule erstarrt, antwortete nicht.
»Der Pater General?«, fragte Sandro. »Der Ehrwürdige?«
Ried verneinte mit einem schwachen Kopfschütteln. Sandro hatte einen Verdacht: Miguel Rodrigues. »O nein.« Er ging an Tilman Ried vorbei die Treppe hinauf, ohne zu eilen. Einer Leiche rannte man nicht entgegen, dafür gab es wahrlich keinen Grund. Er passierte den ersten Stock, ging weiter. Vor Rodrigues’ Zimmertür im zweiten Stock blieb er stehen, zögernd streckte er seine Hand nach dem Knauf aus.
Ein dritter Mord, dachte Sandro. Eine Katastrophe für jeden Ermittler. Die brutalste Form des Scheiterns. Was würde er antreffen? Ein von Gift verzerrtes Gesicht? Eine blutverschmierte Brust? Schließlich fasste er sich ein Herz und öffnete die Tür.
Leer. Kein Rodrigues.
Sandro verließ den Raum wieder und ging die Treppe hinunter. Im ersten Stock fiel ihm eine angelehnte Tür auf, an der er vorhin achtlos vorbeigegangen war.
Er wusste, wer in diesem Zimmer wohnte. Wieder stand er davor, zögerte und war auf alles gefasst.
Nur nicht auf das, was er dann sah.
 
Sie waren zu siebt. Alle fünf, die in der Kapelle gesungen hatten, hatten sich im Raum versammelt, und vier von ihnen starrten entsetzt auf den Leichnam. Ignatius von Loyola hatte sich im Angesicht des Erhängten dem Kruzifix an der Wand zugewandt, sich niedergekniet und die Augen geschlossen.
Sandro hatte Angelo geweckt, der, notdürftig bekleidet und mit struppigem Haar, auf den Tisch stieg.
»Ich löse den Strick«, sagte Angelo. »Jemand muss die Beine des Toten festhalten. Ein Zweiter hilft, den Leichnam aufzufangen.«
Königsteiner hielt die Beine fest, Birnbaum half ihm. Dann sägte Angelo mit einem Messer an dem Strick. Als er riss, kippte Luis’ Körper nach vorn. Königsteiner und Birnbaum mühten sich, doch schließlich verloren sie das Gleichgewicht. Luis de Sotos toter Körper berührte Ignatius von Loyola und schlug unmittelbar neben ihm auf dem Boden auf. Birnbaum, Königsteiner, Rodrigues, Duré und Angelo schlossen vor Entsetzen die Augen, und in diesem Moment blickte Loyola auf. Sein Blick ruhte lange auf dem verrenkten Leichnam. Seine Philosophie war es immer gewesen, hinzusehen, dem Bösen in die Fratze zu gucken, dem Ekel die Stirn zu bieten. Nichts auf Erden war so hässlich und gemein und abscheulich, dass man ihm ausweichen durfte. Das war Teil seiner Lehre.
Ignatius schaute hin, dann stand er auf, schickte die Brü - der aus dem Raum und forderte sie auf, in ihre Zimmer zu gehen. Alle sahen elend aus, aber am schlimmsten schien es Miguel Rodrigues getroffen zu haben sowie den jungen Tilman Ried, der, noch immer benommen, sich auf die Treppe gesetzt hatte.
Als alle gegangen waren, sagte Loyola, an Sandro gewandt: »Tu deine Arbeit, Bruder. Gott stehe dir bei.« Dann ging auch er.
Als Sandro die Tür schließen und zusammen mit Angelo die Untersuchung beginnen wollte, kam Gisbert von Donaustauf die Treppe heraufgelaufen, wobei er einige Mitbrüder beinahe umrannte.
»Ich werde heiraten«, rief er überglücklich. »Denkt Euch, ich werde heiraten. Ha, heiraten.« Und dann führte er einen irren Tanz auf.
 
Über mangelnde Spuren konnten Sandro und Angelo sich nicht beklagen. Im Gegenteil, Luis’ Tod ließ sich nachvollziehen wie eine mathematische Berechnung: ein Deckenbalken, ein Strick, ein umgekippter Stuhl, Würgemale am Hals, keine sonstigen Verletzungen. Es kam noch besser. Auf dem Schreibtisch lag die Bibel, aufgeschlagen auf einer Seite, in der es um Schuld und Reue ging. Ein Absatz war angestrichen, darin ging es um die Schuld und Bestrafung des Volks Juda.
Und damit nicht genug, fand sich neben der Bibel ein Stück Pergament, auf dem geschrieben stand: »Das Gift befand sich im Wasserbecher auf dem Lesepult.«
»Seine Schrift?«, fragte Angelo.
Sandro nickte. Er hatte Jahre als Luis’ Assistent verbracht, sodass er dessen Schrift aus tausend anderen erkannte. Nur ein meisterhafter Fälscher hätte Sandro täuschen können. Nein, Luis hatte diese Worte geschrieben, davon war auszugehen.
Was Sandro irritierte, war nicht so sehr das Stück Pergament, sondern die Bibel, im Grunde genommen der ganze Selbstmord. Luis, der Eitle, der Geniale, der Egoist, der Gefeierte, der Ellenbogen - dieser Mann sollte sich umbringen, sich erhängen? Und vorher noch die Heilige Schrift durchblättern auf der Suche nach einem passenden Zitat, das auf sein Motiv hinwies? Das passte nicht zu ihm. Das war nicht der Luis, den Sandro kannte.
Warum brachten schuldbeladene Menschen sich um? Aus Angst vor Entdeckung, oder weil sie erpresst wurden oder weil ihr schlechtes Gewissen sie in die Verzweiflung trieb. Luis hatte wenig zu fürchten. Er hätte mit Hilfe seiner hervorragenden Beziehungen gegen jedwede Anschuldigung gekämpft, und das mit guten Aussichten auf Erfolg. Was immer man ihm vorgeworfen hätte und so stichhaltig der Vorwurf gewesen wäre - seine Unterstützer hätten dafür gesorgt, dass es dem Ankläger schlechter ergangen wäre als dem Angeklagten. Hinter den Kulissen hätte Luis unter Tränen und Gelöbnissen einen Kniefall gemacht, und die Sache wäre für ihn erledigt gewesen.
Was die Möglichkeit einer Erpressung anging: Luis hätte eher den Erpresser umgebracht als sich selbst.
Und um ein schlechtes Gewissen zu haben, musste man zunächst einmal überhaupt ein Gewissen haben, und woher hätte Luis es auf die Schnelle herbekommen sollen? So etwas zu denken, war nicht schön, aber um Luis war es nicht schade, und Sandro heuchelte auch keine Trauer.
Drei Dinge machte Sandro sich in diesem Moment klar. Erstens: Luis war tot. Zweitens: Es gab keinen Grund, sich darüber zu grämen, und keinen, sich darüber zu freuen. Was an schlechten Gefühlen zwischen ihnen vorhanden gewesen war, war mit Luis gestorben. Drittens: Luis war ermordet worden. Und Sandro klärte Morde auf. Auch den Mord an Luis.
»Keiner hat daran gedacht«, sagte Angelo.
»Woran?«
»An den Becher auf dem Pult, Exzellenz. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt mir ein, dass da tatsächlich ein Becher gestanden und Johannes daraus getrunken hatte, kaum dass er ans Pult getreten war. Wenn Luis de Soto also eine extrem hohe Dosis ins Wasser getan hätte …«
»Hat er nicht.«
»Mit Verlaub, auf dem Zettel steht etwas anderes.«
»Mit Verlaub, auf dem Zettel steht nicht: ›Ich habe Gift in den Wasserbecher auf dem Lesepult getan‹, sondern: ›Das Gift befand sich im Wasserbecher auf dem Lesepult‹. Den zweiten Satz hätte genauso gut ich schreiben können, wäre ich auf die Idee mit dem Wasserbecher gekommen.«
»Ihr meint, Luis de Soto hat eigene Ermittlungen angestellt?«
»Möglich wär’s.«
»Wieso sollte er das tun?«
»Um mir eins auszuwischen zum Beispiel. Wir hatten noch eine Rechnung offen. Auf dem Konzil von Trient habe ich und nicht er die Mordserie an Bischöfen aufgeklärt. Einen de Soto ärgert das.«
Angelo räumte mit einer Geste ein, dass Sandro recht haben könnte. »Trotzdem ist der Zettel höchst interessant, auch wenn er kein Schuldeingeständnis darstellt. Nachdem Doktor Pinetto festgestellt hat, dass kein Gift im Essen oder in den Getränken an Donaustaufs Platz war, haben wir uns auf die Stunde zwischen fünf und sechs Uhr konzentriert. Nun stellt sich heraus, dass das Gift im Wasserbecher auf dem Pult war, und wir müssen herausfinden, wer ihn dort platziert hat beziehungsweise wer Gelegenheit gehabt hätte, das Wasser zu vergiften.«
Sandro nickte. »Finde es heraus.«
»Ich?«
»Ja, wieso nicht? Als offizieller Assistent des Visitators Seiner Heiligkeit.«
»Als … Ihr scherzt.«
»Mein Humor hält sich im Angesicht einer Galgenleiche in Grenzen. Hab ich’s dir gestern nicht versprochen?«
»Schon, aber ich dachte, das sei nur so dahingesagt gewesen.«
»Na, du hast ja eine hohe Meinung von dem, was ich sage. Ich habe den Papst gefragt, und er hat zugestimmt. Doppelter Lohn fürs Erste. Später mehr, wenn du dich bewährt hast.«
»Diese Ehre, Assistent des Visitators Seiner Heiligkeit zu sein - danke, vielen Dank. Ihr seid - Ihr seid unübertroffen.«
»Ich bin nur schnell. Forli ist drauf und dran, dich mir wegzuschnappen. So, gefeiert wird ein andermal. Deine Delinquenten warten. Aber zieh dir ein bisschen mehr an, bitte. Ein Beamter des Vatikans mit freiem Oberkörper - das könnte man als Anspielung verstehen oder, noch schlimmer, als neue Mode ernst nehmen.«
»Und was macht Ihr?«
»Ich bleibe ebenfalls angezogen.«
»Sagtet Ihr nicht, im Angesicht einer Leiche wären Scherze unangemessen?«
»Das ist kein Scherz. Ich bleibe wirklich angezogen.«
Angelo schnitt eine Grimasse, dann lächelte er und verließ den Raum.
Sandro trat hinter den Toten. Er hatte Luis nie berührt; deshalb kam es ihm fremd und unwirklich vor, als er Luis unter den Achseln packte und versuchte, ihn hochzuheben. Er war nicht schwer, dennoch war er als Mann von mittlerer Größe kein Leichtgewicht. Um ihn aufhängen zu können, musste man ihn zunächst wehrlos machen. Auf Luis’ Hinterkopf befand sich eine Prellung, die jedoch auch vom Aufprall auf den Boden herrühren konnte. Wie auch immer, der Besinnungslose - oder Tote - bekam einen Strick um den Hals gebunden, dann wurde das andere Ende des Stricks über den Deckenbalken geworfen. Und nun kam der schwierigste, anstrengendste Teil für den Mörder: Er musste Luis so hoch hinaufziehen, dass dessen Füße etwa eine Handbreit über dem Boden schwebten, denn so hatten Ried und Sandro die Leiche aufgefunden. Und zusätzlich musste der Mörder auch noch die Kraft haben, das Gewicht so lange zu halten, bis er das Ende des Seils um den Eisenhaken in der Wand, auf dem man allabendlich vor dem Zubettgehen seine Gewänder aufhängte und lüftete, gewickelt und festgeknotet hatte.
Sandro musste wissen, wie schwierig das zu bewerkstelligen war, also band er einen neuen Strick, legte ihn Luis um den Hals, warf den Strick über den Balken und zog daran. Es war makaber, Leichenschändung, und deswegen hatte er Angelo auch nicht dabeihaben wollen. Aber Sandros Wille, endlich den dreifachen Mörder, der einen jungen Mann vergiftet, eine liebenswerte Frau und Mutter in Brand gesteckt und einen Mitbruder erhängt hatte, zu entlarven und zur Strecke zu bringen, war größer als alle Skrupel.
Es war mühsam, Luis hochzuhieven, und noch schwieriger, dieses Gewicht zu halten, um das Seil zu befestigen. Aber es war möglich. Völlig erschöpft beendete Sandro sein widerliches Experiment, auf das er nicht stolz war, das ihn jedoch weiterbrachte.
Wenn es Sandro nur mit großer Kraftanstrengung gelang, Luis aufzuhängen, wer noch besäße dann diese Kraft? Rodrigues sicher nicht, Tilman Ried und Gisbert von Donaustauf ebenfalls nicht. Birnbaum, Königsteiner und Duré kämen jedoch in Frage.
Oder man hatte es mit zwei Mördern zu tun.
»Ich war doch letzte Nacht überhaupt nicht hier«, schrie Gisbert von Donaustauf Angelo an, als Forli das »Hauptquartier« im Collegium Germanicum betrat. »Ich war bei Rosina, sie kann’s bezeugen. Wir haben beschlossen, zu heiraten. Also habe ich mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun.«
Forli grüßte Angelo. »Ich hab’s gehört, das von de Soto. Die Wache draußen hat’s mir erzählt.«
»Gibt’s was Neues von Milo?«, fragte Angelo über Gisberts Kopf hinweg.
Forli schüttelte den Kopf. »Wo ist Carissimi?«
»Oben.«
»Und der da, was ist mit dem?«
»Erstens bin ich nicht ›der da‹«, rief Gisbert, »und zweitens ist gar nichts mit mir. Ich weiß nichts. Mir steht’s bis hier. Ich will nur noch meine Sachen packen und gehen. Ja?«
»Nein«, antwortete Angelo, erfrischend kurz und streng, wie Forli fand. Der Junge ging es richtig an. Nur keine Blöße zeigen. Nur nicht erkennen lassen, dass man nervös war. Und Angelo war nervös, jeder war bei seiner ersten Befragung nervös. Deswegen ließ Forli sich auch nur kurz und stichwortartig von Angelo auf den neuesten Stand bringen und überließ ihm dann das Feld. Er legte sich samt Stiefeln auf das Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah unentwegt zur Decke - wobei er natürlich gleichzeitig ganz Ohr war.
»Es geht nicht um gestern Abend«, setzte Angelo dem Befragten auseinander, »sondern um den Abend, als Euer Bru - der getötet wurde. Ihr und Birnbaum habt die Tafel vorbereitet.«
»Ich habe ein bisschen geholfen, und das auch bloß, weil ich helfen musste.«
»Wer hat das Wasser aufs Pult gestellt?«
»Wasser? Pult? Was soll denn das? Warum sollte ich mich für Wasser auf dem Pult interessieren?«
»Vielleicht, weil dieses Wasser Euren Bruder umgebracht hat.«
Gisbert wurde plötzlich ganz still und wusste nicht recht, wohin mit seinen Händen und Beinen.
»Erinnert Ihr Euch jetzt an das Wasser?«
»Ja«, sagte Gisbert kleinlaut.
»Weiter.«
»Na ja, der Birnbaum war’s. Als er das Pult abwischte und so weiter. Der hat den gefüllten Becher mit hinausgenommen. Wenn er was anderes behauptet, lügt er.«
»Werden wir sehen. Wer hat den Becher in der Küche gefüllt?«
»Ich war’s. Ich hab ihn gefüllt, und zwar mit Wasser aus einem Krug, den wir später noch auf die Tafel gestellt haben. Davon ist keiner umgekippt.«
»Und wer hat den Becher, wenn überhaupt noch etwas drin war, ausgeleert?«
»Die Giovanna, schätze ich. Die hat am nächsten Tag alles abgeräumt.«
»Fassen wir zusammen: Sowohl Ihr als auch Birnbaum hättet Gelegenheit gehabt, den öligen Extrakt der Poleiminze in den Becher zu tun.«
Gisbert richtete sich auf. »Moment mal, so nicht, Freundchen. Ihr wollt mir da was anhängen, weil Ihr zu blöd seid, den Täter zu finden. Das Spiel kenne ich, das spielt man überall, auch in meiner Heimat. Aber nicht mit mir. Birnbaum hat das Wasser eine gute halbe Stunde, bevor wir zur Messe gingen, aufs Pult gestellt. Da kann sonstwer was reingekippt haben. Außerdem - ich hatte ja gar keinen Grund, Gift da reinzutun.«
»Einhunderttausend Gulden und ein Schloss sind Grund genug.«
Gisbert von Donaustauf sah Angelo einen Augenblick entgeistert an, dann lachte er schrill. »So was von dämlich begegnet man selten. Der Becher, von dem wir reden, war nicht für Johannes gedacht, sondern für Birnbaum.«
»Für - Birnbaum?«
»Kapierst du’s nicht? Dann erkläre ich’s für ganz Doofe. Der Birnbaum, der hätte am Eröffnungsabend lesen sollen, aber er war nervös, weil der Pater General da war und so viele andere Gäste. Birnbaum liest sowieso schlecht vor, unbetont und holprig, aber wenn noch Herzklopfen dazukommt, dann ist es ganz aus. Er schwitzte wie ein Schwein. Sein Mund war so trocken, da hätte man Wäsche drin aufhängen können. Also stellte er sich den Wasserbecher raus. Als die Messe zu Ende war und wir aus der Kapelle über die Straße ins Collegium zurückkehrten, da hat er dem Pater General gesagt, er hätte Halsschmerzen, ob nicht ein anderer lesen könne. Er schlug meinen Bruder vor, was ziemlich klug war, weil Johannes sich gerne wichtig gemacht hat und die Ehre genoss. Johannes stimmte zu, der Pater General stimmte zu - und so kam’s.«
Gisbert stand auf und hielt sich den Bauch vor Lachen. »Weißt du, was das bedeutet? Capito, amico? Mann, ihr Italiener habt euern Kopf von Gott wohl nur bekommen, weil ihr ja irgendwo das Essen reinstopfen müsst. Soll ich’s erklären? Ja?« Er schlug Angelo mit der flachen Hand mehrmals leicht auf die Stirn. »Wer immer Gift in den Becher getan hat, der wollte nicht Johannes, sondern Birnbaum umbringen. So sieht’s aus. Und ich? Wieso sollte ich Birnbaum umbringen, hä?«
In der Sache gab Forli ihm recht, aber der junge Donaustauf wurde allzu übermütig, als er Angelo einen Klaps links und einen Klaps rechts auf die Wangen gab, ihn zurückstieß und rief: »So, und jetzt mach Platz, Freundchen, meine Verlobte wartet.«
Angelo war perplex über seinen plötzlichen Autoritätsverlust gegenüber einem Jüngeren, und Forli hielt es für besser, aufzustehen, um Gisbert aufzuhalten. Solange die Untersuchung nicht abgeschlossen war, hatte niemand das Haus zu verlassen, auch Gisbert nicht. Und Angelo wusste das ebenfalls. Er packte Gisbert, der bereits nach dem Türknauf griff, am Kragen und zog ihn so kräftig zurück, dass Gisbert quer durch den Raum stolperte und rücklings gegen die Wand prallte.
»Bravo«, rief Forli. »Gut gemacht, Angelo.«
Angelo ging entschlossen auf Gisbert zu, um nachzusetzen, falls nötig, aber Gisbert gab sich mit einer Geste geschlagen. In dem Moment, als Gisbert einen Schritt nach vorn machte, löste sich hinter ihm auf Schulterhöhe ein ganzer Stein aus der Wand und fiel krachend zu Boden.
Zur Überraschung aller tat sich in der Wand ein kleiner Hohlraum auf.
Der Schwarze Papst
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