8
Gisbert von Donaustauf war ein Jüngling mit blonden, schulterlangen Haaren, einem kaum sichtbaren Bartflaum und gepflegten Händen. Die Ähnlichkeit mit seinem älteren Bruder war erkennbar, drängte sich jedoch nicht auf. Gisberts Gesicht hatte eine gesündere Farbe und war nicht so abgehärmt, aber auch ihm war jene beinahe überhebliche Selbstsicherheit eigen, die Sandro auch schon bei Johannes aufgefallen war. Bei Johannes hatte sich der Dünkel auf das Bewusstsein seiner »Auserwähltheit« bezogen; er war über die Maßen stolz darauf gewesen, fromm zu sein und eines Tages im Auftrag seiner Erleuchtung Chinesen zu Christen zu machen. Wenn man Gisbert dabei zusah, wie er sich mit den Händen durch die Haare fuhr, wurde offensichtlich, dass sein Dünkel sich auf etwas anderes gründete.
Gisbert glich ihm - dieser Gedanke kam Sandro ganz plötzlich. Gisbert glich dem achtzehn-, zwanzigjährigen Sandro, dem verwöhnten und ein wenig eitlen römischen Kaufmannssohn, der Sandro vor dem Eintritt in den Orden gewesen war. Damals hatte er sich fast unentwegt mit dem Erobern von Frauen seines Standes beschäftigt, denn in seiner Eitelkeit war er darauf aus gewesen, sich unentwegt in Nichtigkeiten zu beweisen. Traf dasselbe auf Gisbert zu? Eine skurrile Parallele zumindest gab es: Sandro hatte damals seinen Halbbruder aus Eifersucht niedergestochen, und Gisbert gehörte zum Kreis der Verdächtigen an der Ermordung seines Bruders.
»Unsere Eltern sind tot«, sagte Gisbert mit leiser Stimme. »Ich hatte wenig mit Johannes gemeinsam, aber er war der letzte Blutsverwandte, den ich noch hatte. Ich trauere nicht um einen geliebten Bruder, ich trauere um meinen einzigen Bruder. Jetzt bin ich ganz allein.«
Dieses so offenherzig anmutende Bekenntnis hatte Gisbert mit leerer, erschütterter Miene gemacht, sitzend, mit nach vorn gebeugtem Oberkörper und die Unterarme auf den Oberschenkeln ruhend. Es fehlte nur noch der Zügel, und er hätte einen übermüdeten Kutscher abgegeben.
»Ich weiß so gut wie nichts über Euren Bruder«, sagte Sandro. »Was ist das für eine Familie, die Donaustaufs?«
Gisbert machte eine gleichgültige Geste. »Vor allem eine reiche Familie. Wir hatten ein Jahrhundert lang die Konzession, Zölle von den Flussschiffern zu erheben, die in Regensburg anlegen wollten. Vor siebzehn Jahren, etwa zurzeit meiner Geburt, wurde uns die Konzession entzogen, weil wir angeblich zu viel in die eigene Tasche wirtschafteten. Warum sage ich ›angeblich‹? Es war so. Mein Vater hat uns gegenüber damit angegeben, so wie sein Vater ihm gegenüber damit angegeben hat, und dessen Vater und so weiter. Hätte mein Vater die Konzession nicht verloren, wer weiß, dann würde heute ich es vielleicht sein, der genötigt wäre, zu betrügen und damit anzugeben.«
»Wieso Ihr? Johannes war der Ältere. Wird das Geschäft nicht immer an den ältesten Sohn weitergegeben?«
»Meistens. Aber mein Vater konnte Johannes nicht leiden, weil er, bis er zehn Jahre alt war, gestottert hat. Überhaupt war er ein schüchterner Junge, während ich … Was soll ich’s lange erklären?« Gisberts Tonfall wurde leicht ungeduldig. »Ich entsprach dem Bild, das mein Vater sich von einem Sohn machte. Ist das wichtig?«
»Wenn ich danach frage, wird es schon seinen Grund haben«, entgegnete Sandro knapp.
Gisbert lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Johannes hat mir nie vorgeworfen, dass ich der Bevorzugte war, und weil es keine Konzession mehr gab, gab es auch kein Geschäft zu vererben. Wir stritten also nicht darüber.«
»Und worüber habt Ihr gestritten?«
Gisbert von Donaustauf warf Sandro einen kurzen Blick zu, bevor er zu Boden starrte, als liege dort die Antwort. »Über gar nichts. Johannes war sehr genügsam.«
»Ihr meint, er räumte schnell das Feld, wenn ein Schlagabtausch mit Euch drohte.« Sandro ließ Gisbert, der etwas einwenden wollte, nicht zu Wort kommen. »Kam es nie zu Rivalitäten? Wegen eines Mädchens vielleicht?«
Gisbert lachte kurz auf. »Johannes interessierte sich nicht für Mädchen. Und damit keine Missverständnisse aufkommen: Er kannte überhaupt kein Begehren, kein körperliches jedenfalls. Er mied die Nähe von Frauen, und wenn eine Frau anfing, sich für ihn zu interessieren - er machte zwar nicht viel her, war aber der künftige Erbe eines Vermögens -, dann stellte er sich dumm. Das war mir nur recht. Die meisten dieser Mädchen machten danach mir schöne Augen, auch wenn ich nur einen kleinen Teil des Familienvermögens erben sollte.«
Sandros erster Eindruck von Gisbert bestätigte sich. Der junge Mann hielt große Stücke auf sein Aussehen.
»Was hat es mit dem religiösen Erlebnis Eures Bruders auf sich?«
»Ach das.« Gisbert atmete geräuschvoll ein und ebenso geräuschvoll wieder aus. »Johannes hatte einen Traum gehabt, der sich einige Male wiederholte. Darin sah er sich, eine schwarze Kutte tragend, fremdartig aussehende Heiden taufen. Und bald darauf kam er von einem Spaziergang zurück und sagte, er habe diesen Traum am helllichten Tag im Wald vor sich gesehen wie ein Theaterstück und es sei ihm befohlen worden, ihn wahr zu machen.«
»Wann war das?«
»Im Frühling dieses Jahres. Unsere Eltern waren zu diesem Zeitpunkt schon beide tot. Meine Mutter starb vor vier Jahren, mein Vater bei einem Reitunfall im letzten Winter. Johannes forschte nach, welche Orden schwarze Kutten tragen und zugleich in ferne Länder reisen, um Heiden zu taufen. Nur ein einziger Orden tut das.«
»Die Jesuiten.«
»Die Jesuiten«, echote Gisbert. »Als er dann noch erfuhr, dass in Rom eine jesuitische Schule für Deutsche eröffnete, sah er darin ein weiteres Zeichen und meldete sich an. Er sagte, diese Schule sei die erste Etappe seines Weges nach China. Das ist die ganze Geschichte.«
»Seine ganze Geschichte«, korrigierte Sandro. »Ihr seid ebenso Schüler des Collegium Germanicum geworden. Eure Anmeldung traf eine Woche nach der Eures Bruders ein. Hattet Ihr ebenfalls ein religiöses Erlebnis?«
Sandro hatte seine Frage absichtlich mit einem ironischen Unterton gestellt, der Gisbert offenbar gefiel und auf den er sich sofort einließ.
»Mit Sicherheit nicht«, antwortete er grinsend. »Ehrlich gesagt, habe ich Johannes für einen Spinner gehalten - ein schlechter Witz, dass man ihn bereits für mündig erklärt hat und mich noch nicht. Er ist seit einem Jahr mein Vormund, dabei bin ich wesentlich erwachsener als er. Außerdem hatte er ein bisschen zu viel Wein getrunken, bevor er sich auf seinen Spaziergang begeben hatte. Sicherlich hat er geglaubt, was er über sein Erlebnis erzählte, aber es hat nur in seiner Einbildung stattgefunden. Davon bin ich fest überzeugt. Und Ihr auch.«
Sandro kommentierte das nicht, aber er gab mit einer Geste zu verstehen, dass er Gisbert in diesem Punkt zustimmte. Tatsächlich hielt er nichts von Visionen und dergleichen, weil sie nach seiner Überzeugung in den meisten Fällen in irgendeine Katastrophe mündeten.
»Andererseits«, sagte Gisbert, »muss ich dankbar sein, dass Johannes an seine Vision glaubte und unbedingt hierher nach Rom gehen wollte.«
»Wieso? Weil er jetzt tot ist und Ihr der Alleinerbe eines gro ßen Vermögens seid?«
Diese plötzliche Wendung des Gesprächs erschreckte Gisbert. Er war zunächst unfähig, auf Sandros unterschwelligen Vorwurf zu reagieren. Dann brauste er auf: »So habe ich das nicht gemeint.«
»Wie sieht das Testament Eures Vaters aus?«
»Was hat denn das mit …? Worauf wollt Ihr hinaus? Es gab kein Testament. Er starb völlig überraschend mit nur achtunddreißig Jahren bei einem Reitunfall. Und das bedeutet, dass mein Bruder das Herrenhaus, die Gehöfte und den größten Teil des Geldes geerbt hat.«
»Und was habt Ihr geerbt?«
»Ihr irrt Euch, wenn Ihr meint, mir würde etwas an dem Geld liegen. An meinem zwanzigsten Geburtstag hätte mein Bruder mir zehn Prozent des Erbes auszahlen müssen, also etwa zehntausend Goldgulden sowie ein Gut. Damit hätte ich bequem leben können. Ich habe nirgendwo Schulden, das könnt Ihr gerne überprüfen. Auch falls Ihr nach anderen Motiven sucht, werdet Ihr keine finden. Vermutet Ihr, Johannes habe mich gezwungen, mit ihm nach Rom zu kommen? O nein! Es war meine freie Entscheidung, weil ich die Gelegenheit sah, eine Stadt kennenzulernen, die Stadt schlechthin. In Rom, so sagte ich mir, würde es mir wesentlich besser ergehen. Das war es, was ich vorhin meinte, als ich sagte, ich müsse Johannes dankbar für seine Vision sein. Denn ich fühle mich tatsächlich ausgesprochen wohl hier.«
Sandro hatte Gisbert von Donaustauf mit voller Absicht provoziert, weil wütende Menschen mehr preisgeben als gefasste. Und seine Hoffnung hatte sich erfüllt. Vor allem Gisberts letzter Satz gefiel Sandro.
»Schön«, sagte er. »Sprechen wir über gestern. Wie habt Ihr und Euer Bruder den Tag verbracht?«
»Jedenfalls nicht gemeinsam. Ich habe ihn gestern kaum gesehen, eigentlich habe ich ihn überhaupt selten gesehen, auch bei uns in Donaustauf. Er blieb immerzu in seinem Zimmer und las Bücher, mittags, abends, bei Sonnenschein, zur Erntezeit … Keine Ausritte, kein Bad im Fluss, kein Interesse an Festmahlen, zu denen wir eingeladen wurden. Ich habe ihm mehrmals gesagt, er würde eines Tages sterben, ohne was vom Leben gehabt zu haben …« Gisbert stutzte. »Seltsam, erst gestern habe ich ihm das noch einmal gesagt.«
»Also habt Ihr ihn doch gesehen.«
»Ich sagte, dass ich ihn selten gesehen habe, nicht dass ich ihn nicht gesehen habe«, erwiderte Gisbert gereizt. Es war aufschlussreich, zu beobachten, wie er mehr und mehr seine Fassung verlor. »Nach der Frühmesse hatten wir zusammen Latrinendienst. Er hat sich völlig hineingesteigert in die Putzerei, hat jede Stelle zehnmal gebürstet, als würde eine saubere Latrine ihn direkt ins Himmelreich befördern. Ich habe mich zurückgelehnt und ihn die Arbeit machen lassen, und nur, wenn Birnbaum kurz vorbeikam, der uns beaufsichtigen sollte, aber die meiste Zeit in der Küche zugange war, habe ich so getan, als würde ich arbeiten. Johannes hat mich nicht verraten, der Dummkopf. Er musste immer den Heiligen spielen. So war Johannes.«
So ist Gisbert, dachte Sandro.
»Was war nach dem Latrinendienst?«
»Er ist wieder in sein Zimmer gegangen, und ich bin ein bisschen durch Rom geschlendert. Ich war auf dem Markt, die römischen Märkte sind viel größer als die in meiner Heimat, ich kann mich gar nicht sattsehen an so viel Trubel. Zum Mittagsmahl kehrte ich wieder ins Collegium zurück. Ich saß neben Johannes, habe aber kein Wort mit ihm gesprochen. Den Nachmittag habe ich auf meinem Bett gelegen und gedöst, die Hitze war unerträglich.«
»War Johannes in seinem Zimmer?«
»Weiß nicht. Im ganzen Haus war es ruhig. Wartet, da fällt mir ein, dass ich einmal ein Geräusch von nebenan gehört habe, so als - als bürste er den Boden. Ich dachte noch, jetzt ist er völlig närrisch geworden. Später hatte ich Küchendienst. War nicht schlimm. Birnbaum ist von allen hier der Beste, eine Stunde mit ihm vergeht wie nichts. Er spricht die ganze Zeit von Innsbruck und dem Armenhaus, in dem er gedient hat, er schwärmt vom Inn, vom Essen, vom Heimatlichen. Hat immer ein tröstliches Wort zur Hand - und in der anderen Hand ein Schweinswürstel.« Gisbert lachte. »Man kann es schlecht übersetzen, aber in meiner Heimat nennt man einen Menschen wie Birnbaum einen Pfundskerl.«
»Ihr wart also die ganze Zeit über bis zur Messe mit dem Pfundskerl zusammen? Unentwegt? Weder Bruder Birnbaum noch Ihr habt kurz die Küche verlassen?«
»Sagte ich doch.«
»Sagtet Ihr nicht.«
»Dann sage ich es jetzt. Birnbaum ist nur einmal rausgegangen, und zwar in den Saal, ganz kurz. Er hat das Lesepult abgewischt, denn da sollte er später während des Essens etwas vorlesen. Er war mächtig nervös deswegen - vorlesen vor so vielen Gästen. Also hat er ganz plötzlich Halsschmerzen bekommen. Ich hab mich darüber amüsiert.«
»Wie lange war er weg?«
»Ihr hört nicht zu. Ganz kurz, habe ich gesagt.«
»Könnt Ihr das verdeutlichen?«
»Etwa so lange, wie ich brauche, um meine Blase leer zu kriegen. Deutlich genug?«
»War sonst noch jemand in der Küche?«
»Nein. Bis Giovanna kam.«
»Sonst niemand? Vielleicht nur ganz kurz - so kurz, wie es dauert, die Blase leer zu kriegen?«
»Herrgott noch mal! Soll ich es erst in Lettern gießen, damit Ihr es versteht? Ich sage: Nein. Eure Fragen sind penetrant und voller Unterstellungen.«
»Und es wird noch schlimmer. Nachdem Euer Bruder zusammengebrochen und von mir und Magister Duré in sein Zimmer gebracht worden war, kam ich noch einmal heraus, und da fiel mir auf, dass nur noch ein roter Talar sich im Speiseraum befand. Tilman Ried sagte …«
Gisbert sprang auf. »Dafür hat er eine aufs Maul gekriegt.«
»Also log er?«
»Ich bin mal kurz rausgegangen, na und? Ich war in der Latrine. Was hätte ich tun sollen? In den Talar scheißen? Gut, mein Bruder lag im Sterben, aber man kann sich den Augenblick nicht aussuchen, in dem man scheißen muss. Ist doch so. Seit einer Woche scheißen Johannes, Ried und ich wie die Gäule, das liegt an dem Italienerfraß, und zufällig war es da eben gerade ich, der dran war.«
»Dann hat Ried doch nur die Wahrheit gesagt. Welchen Grund hattet Ihr, ihm an die Gurgel zu gehen und ihm zu drohen, er sei der Nächste?«
Gisbert blickte zu Boden und sagte leise: »Dass er der Nächste sein würde, das war sicherlich übertrieben - im ersten Zorn eben, weil der Feigling mich geschlagen hat, als der Hauptmann mich festhielt.« Gisberts Stimme wurde wieder laut. »Aber dass ich auf ihn losgegangen bin, bereue ich nicht. Ich hab ihm eine verpasst, weil er es in so einem genüsslichen Ton ausgeplappert hat, als … als … als sei ich es gewesen, der Johannes umgebracht hat. Keiner darf so was behaupten.« Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Sandro. »Keiner. Das meine ich ernst.«
»Ach so ist das?«
»Ja, so ist das. Mit einem Jesuiten nehme ich es allemal auf.«
Sandro verkniff sich ein Lächeln und wich Gisberts Blick aus, um ihn nicht noch weiter zu provozieren. Er hatte keine Angst vor diesem Jungen, aber ein Handgemenge im Collegium Germanicum zwischen einem Schüler und dem Visitator Seiner Heiligkeit wäre nicht nur unbesonnen, sondern so überflüssig wie ein Kropf.
»Ich habe für den Augenblick keine weiteren Fragen«, sagte er und löste damit ein Mienenspiel überheblicher Genugtuung bei Gisbert aus, der annehmen durfte, Sandro habe sich von seiner Drohung beeindrucken lassen.
»Dachte ich mir. Schönen Tag noch, Exzellenz«, sagte Gisbert.
Sandro fasste den Türknauf, wandte sich aber noch einmal um. »Nur eins noch. Wisst Ihr irgendetwas über das Mädchen?«
Mit diesem Wort löste er bei Gisbert Erstaunen und Irritation aus. Jede Aggressivität fiel von dem jungen Mann ab und wandelte sich in Nachgiebigkeit.
»Mädchen? Welches Mädchen?«
»Magister Duré erwähnte, dass er Euren Bruder kürzlich im Gespräch mit einem Mädchen gesehen habe, irgendwo auf der Straße.«
Gisbert brauchte eine Weile, bis er zahm fragte: »Wie sah es denn aus, das Mädchen?«
»Danach habe ich den Magister nicht gefragt. Gab es denn so viele Mädchen im Bekanntenkreis Eures Bruders, dass es eine Rolle spielt, wie es aussah?«
»Von einem Mädchen hat er nie etwas erzählt. Ich kann mir das nicht erklären. Er war ja immer sehr - sehr schüchtern.«
Sandro lächelte und nickte. »Das habt Ihr bereits genüsslich erwähnt. Vielen Dank, Signore von Donaustauf.«
Im nächsten Moment gefror Sandros Lächeln, denn in der geöffneten Tür tauchte der Pater General auf, und obwohl nichts an seinem Gesichtsausdruck verriet, was in ihm vorging, spürte Sandro, dass Ignatius nicht vorbeikam, um sich nach dem Fortgang der Ermittlungen zu erkundigen.
Sandro spürte eine Gefahr.
»Bitte, Bruder«, sagte der Ehrwürdige zu Sandro. »Folge mir in mein Zimmer.«
 
Es war nicht leicht, Giovanna von etwas abzuhalten, das sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Ein voluminöser Körper, ein loses Maul, die Furchtlosigkeit vor Respektspersonen und ein Kochlöffel taten normalerweise ihre Wirkung und veranlassten sogar gestandene Mannsbilder dazu, sich ihrem Willen zu fügen. Ihr Mann hatte es zu seinen Lebzeiten nicht leicht mit ihr gehabt, darüber war sie sich im Klaren, und sie hatte nach seinem Tod gewiss zweihundert Kerzen angezündet, um die Verzeihung der Gottesmutter zu erbitten, obwohl er ein Trunkenbold und Schürzenjäger gewesen war und sie es mit ihm auch nie leicht gehabt hatte.
In Bruder Königsteiner traf sie allerdings auf einen, der sich von römischer Streitlust und Kochlöffel nicht beeindrucken ließ.
»Ich muss Bruder Sandro sprechen«, drängte sie.
Königsteiner stand mitten auf der Treppe ins Obergeschoss. Die Arme ausgebreitet, so als wolle er sich gleich wie eine Harpyie in die Lüfte schwingen, versperrte er Giovanna den Weg.
»Ihr kennt die Regel«, wiederholte er wortgetreu, was er zuvor schon einmal gesagt hatte. »Ihr dürft den Hinterhof, die Küche und den Speisesaal betreten. Die anderen Räumlichkeiten des Collegiums sind für Euch …«
»Tabu, ich weiß.«
»Was tut Ihr dann hier?«
»Geht das nicht in Euren Schädel: Ich muss ihn sprechen. Es ist wichtig. Wenn ich nicht zu ihm darf, dann holt ihn.«
»Wie ich schon sagte: Ihr habt Bruder Sandro knapp verpasst. Er ist eben beim Ehrwürdigen eingetreten.«
»Und?«
Königsteiner war fassungslos. »Ihr erwartet doch wohl nicht, dass ich eine Besprechung des ehrwürdigen Pater Generals unterbreche, weil die Köchin ein Anliegen hat?«
»Doch.«
»Bete um etwas Bescheidenheit, meine Tochter.«
Gleichfalls, dachte Giovanna. Aber sie musste einsehen, dass sie - wenn sie Königsteiner nicht über den Haufen rennen wollte, was ihr zweifellos gelungen wäre - den Rückzug antreten musste.
Als sie sich umdrehte, lief sie Luis de Soto in die Arme. Er musste direkt hinter ihr gestanden haben.
»So was«, sagte sie in einem für sie untypischen irritierten Tonfall. »Ich habe Euch gar nicht bemerkt.«
Luis de Soto war der einzige Mensch, den sie kannte, der ihr wirklich unheimlich war. Dabei war es noch nicht einmal so, dass sie ihn nicht mochte, oder besser gesagt, sie hatte nichts Konkretes an ihm auszusetzen. Er war stets freundlich, und wenngleich er sich gerne selbst reden hörte, musste sie zugeben, dass er mehrmals ihre gute Küche gelobt hatte - was ihn selbstverständlich als kulinarischen Fachmann auswies. Den direkten Vergleich mit Königsteiner gewann er in Giovannas Augen haushoch. Bruder de Soto war gelassen, wo Königsteiner verbissen und streng war, und entgegenkommend, wo Königsteiner schroff wurde. Und doch … Spaniern sagte man zwar ein gefühlsbetontes Wesen nach, aber Giovanna fand die Augen dieses Spaniers einfach nur kalt. Sie konnte es sich nicht erklären, aber tief in ihr drin hob eine warnende Stimme an, wenn sie Luis de Soto erblickte.
»Ich hörte unfreiwillig zu«, sagte er. »Bruder Königsteiner meint es sicher gut, aber er erkennt offenbar nicht, wie dringlich Euer Anliegen ist. Wenn Ihr mir sagt, worum es geht, werde ich hinaufgehen und Bruder Sandro unterrichten.«
»Das werdet Ihr keineswegs«, korrigierte ihn Königsteiner, bevor Giovanna das Angebot de Sotos zurückweisen konnte, denn sie hatte nicht vor, ihm das anzuvertrauen, was ihr letzte Nacht eingefallen war.
»Wer sollte mich daran hindern, Bruder?«
»Ich betrachte es als meine Pflicht, den Pater General vor irrelevanten Störungen zu bewahren, Bruder.«
»Die gute Frau möchte Bruder Carissimi sprechen, nicht den Ehrwürdigen, Bruder.«
»Dann möge die gute Frau sich gedulden, bis Bruder Carissimi aus dem Zimmer des Ehrwürdigen herauskommt, Bruder.«
»Bruder, ich möchte Euch darauf hinweisen, dass …«
Giovanna stand zwischen dem einen und dem anderen, und die Worte flogen wie Katapultgeschosse über sie hinweg. Nach einer Weile entfernte sie sich, und keiner von beiden schien es zu bemerken, zumal es schon längst nicht mehr um Giovanna und ihr Anliegen ging, sondern nur noch um den Machtkampf zweier Gockel um ein Revier.
Kaum in der Küche, machte sie ihrem Verdruss Luft. Sie holte Töpfe, Pfannen und Kannen hervor, knallte sie auf Tische und Arbeitsplatten, stieß Schimpfwörter aus, bekreuzigte sich nach jedem, sprach mit dem Gemüse, das sie wusch, und stellte sich schließlich vor, ein Mann zu sein, ein Bischof oder besser noch ein Kardinal, und Bruder Königsteiner zusammenzustauchen, bis er mental die Größe einer Feldmaus erreicht hätte.
»Dio mio«, brummte sie. »Madonna mia. Möge ihn der Fußpilz befallen und bis ans Ende seiner Tage quälen. Mögen die Hautlappen seines Hinterns bis zu den Kniekehlen schaukeln. Mögen seine Augenbrauen …« Giovanna fand etliche Verwünschungen, die, würden sie sich erfüllen, dem Königsteiner ganz schön zu schaffen gemacht hätten. Und fast das ganze Collegium hätte sich darüber gefreut, allen voran der Birnbaum.
»Möge er jeden Morgen mit einem Mund aufwachen, so trocken wie ein Stück Schiefer im August. Und möge er immerzu einen Geschmack auf der Zunge haben, als habe er eine Stunde lang auf einer alten Unterwäsche gekaut.«
Sie warf das klein geschnittene Gemüse in einen großen Kessel und gab zwei Rinderknochen hinzu. Von gestern waren noch einige Zwiebeln, Pfefferschoten und Oliven übrig geblieben, die sie nicht hatte verwerten können und die sie nun zu den anderen Zutaten warf. Mal sehen, wie den ehrwürdigen Brüdern eine heiße, scharfe Suppe an einem römischen Julimittag bekommen würde.
Sie ging auf die andere Seite der Küche, wo auf einer anderen Feuerstelle ein Kessel brodelte. Sie nahm an, Birnbaum habe ein wenig mitgedacht und am Vormittag Wasser aufgesetzt, denn sie hatte ihm schon gestern gesagt, dass sie heute eine Suppe zubereiten wollte.
Aber natürlich - kein Wasser! Irgendeine mehlige Soße, die überdies roch, dass es einem die Nasenhaare kräuselte, blubberte wie ein heißes Schlammloch vor sich hin.
»Madonna mia.« War sie denn die Einzige mit Verstand in diesem Haus? Jetzt würde sie mit zwei leeren Eimern zum Brunnen in der Via Sabini laufen müssen und mit zwei vollen Eimern zurück. Sie war über fünfzig, eine alte Frau, kein Maulesel.
»Birnbaum, du Faulpelz«, murmelte sie. »Möge dein Wanst dir des Nachts zur Seite rutschen.«
Auf der Suche nach Eimern ging sie auf die Knie, was in ihrem Alter und mit diesen zahlreichen Röcken und Unterröcken gar nicht so leicht war. Plötzlich hörte sie ein Geräusch hinter sich. Sie drehte langsam den Kopf und sah den Saum eines Gewands. Ihr Blick glitt an der Gestalt empor.
»Dio mio.«
Sie schluckte, und im nächsten Moment spürte sie … Nein!
Sie spürte, hörte und roch es gleichzeitig. Feuer.
Sie stand auf und schrie.
Ihre Kleider brannten. Die Flamme züngelte ihren Rücken empor, ergriff ihre Haare, bohrte sich wie tausend Lanzen in die Hüften, die Schultern …
Giovanna lief, wankte.
Sie war nicht allein in der Küche, doch das spielte jetzt keine Rolle.
Wasser. Wasser.
Ihre Ärmel fingen Feuer.
Die Glut fraß sich in sie hinein. Fraß Giovanna auf. Sie sah nichts mehr, und ihr Körper verwandelte sich in einen Klumpen aus Schmerz, den man hasste und loswerden wollte.
Sie wankte. Eine wankende Fackel. Sie taumelte irgendwohin. Sie schrie nicht mehr.
Der Schwarze Papst
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