9
Sandro und der Ehrwürdige saßen sich gegenüber in
Loyolas Zimmer. Auf dem Tisch neben dem Bett glitzerte das Wasser
einer Karaffe im Tageslicht, das durch das kleine Fenster drang,
und warf zitternde Lichtreflexe an die Wand.
Draußen war es ruhig, die Straßen waren leer, die
Fensterläden geschlossen: Es war die Zeit der schweren Stille
zwischen Mittag und der sechsten Stunde, in der alles Leben
ermattete. In den Gassen waberte die Hitze des Julis, die Hitze
eines jeden Sommers, seit es diese unbarmherzige Stadt gab. Den
Alten brachte sie oft sogar den Tod. Auch heute Abend würde wieder
ein Karren, beladen mit gefüllten Leinensäcken, das Stadttor
passieren und vor einer Grube haltmachen. Sandro konnte sie nicht
zählen, die Alten von Rom und Neapel, denen er in den letzten
Jahren die Hand gehalten, deren letztes Wort er empfangen, deren
Augen er geschlossen hatte. Er hatte sie gewaschen, in Leinen
gehüllt und auf dem Karren zur Mulde begleitet. Dann war er
zurückgekehrt, hatte eine Andacht gehalten, manchmal nicht länger
als drei Atemzüge lang, und hatte die nächste Hand ergriffen, die
nach ihm verlangte und bald darauf ihre Kraft verlor.
In jenen Wochen und Monaten nach dem nicht ganz
freiwilligen Eintritt in den Orden und der Arbeit im Hospital war
er demütig geworden. Seine anerzogene Geringschätzung für niedere
Stände, seine Ignoranz gegenüber dem Elend verschwanden. Es waren
gerade die Schwächsten der Schwachen, die wehrlos Leidenden, die
seine Großtuerei zerschmetterten, und es traten Charakterzüge bei
ihm hervor, die immer schon vorhanden gewesen waren: das Mitleid
und der Wunsch, zu helfen; die Freude an der einfachen Dankbarkeit
anderer Menschen; der Genuss der Stille in einer Kapelle. Das alles
war nicht anzuerziehen, es war ein Teil seines Wesens, der ans
Licht geholt wurde.
Allerdings hatte der Einsturz seines früheren
Lebens auch einen unerwünschten Teil von ihm freigelegt: seine
Unsicherheit und sein fehlendes Selbstvertrauen. Das Geld des
Vaters, die übermäßige Liebe der Mutter, die Zugehörigkeit zu einer
Gruppe Standesgleicher hatten verhindert, dass er Herausforderungen
annahm, und dafür gesorgt, dass ihn das nicht zu kümmern brauchte.
Münzen, zärtliche Worte und die Freundschaft derjenigen, die
genauso verwöhnt waren wie er, wirkten wie Ambrosia, machten
unverletzlich. Der plötzliche Entzug dieser Sicherheiten ließ ihn
erkennen, dass er nichts konnte, dass er nichts geleistet und
niemanden um seiner selbst willen geliebt hatte. Idee, Wille, Mut,
Beharrlichkeit, Kraft - das waren
Worte wie aus einer fremden Sprache, die man nicht schon deswegen
beherrscht, weil man anfängt, ein paar Buchstaben
aneinanderzureihen.
Sandro fütterte die Kranken und las den Blinden
vor, er reinigte Bettpfannen und flüsterte den Sterbenden an der
Schwelle ihres Todes die Vergebung ins Ohr, aber er selbst vergab
sich nicht, dass er beinahe seinen Halbbruder getötet und die Liebe
der Mutter verloren hatte. Im Hospital tat er Gutes, tat das
Richtige. Trotzdem, das wusste er heute, war der Eintritt in den
Orden eine Flucht gewesen, ein weiteres Davonstehlen vor der
Verantwortung. Seine Mutter hatte dies verlangt, und er hatte es
getan, teils aus Ergebenheit, teils aus Angst vor den Konsequenzen
seiner Bluttat. Die Einordnung in das Gefüge des Ordens war auch
nicht dazu angetan, seinen Willen zu stärken, und der Dienst an den
Hilflosen gab ihm keinen Mut. Er war zufrieden, weil er etwas Gutes
und Nützliches tat, genauso wie er als verwöhnter Kaufmannssohn
zufrieden gewesen war, nichts zu tun. Was fehlte, war das Feuer,
das so viele Namen hatte: Liebe, Begabung, Ziel, Überzeugung,
Erfolg, Sieg …
Luis de Soto, der große jesuitische Rhetoriker, war
so ein begabter, siegreicher, von sich selbst überzeugter Mann.
Deswegen hatte Sandro ihn jahrelang verehrt, ihm assistiert …
Der junge Rodrigues war Sandros Nachfolger. Nicht
nur Nachfolger in der Funktion für Luis de Soto, Nachfolger auch im
Irrtum, in der Verblendung, in der Dummheit.
Dieser Vormittag - das fiel ihm wie Schuppen von
den Augen - war eine Reise zurück durch sein Leben gewesen. Miguel
Rodrigues und Gisbert von Donaustauf: Beide jungen Männer
verkörperten gleichsam Abschnitte von Sandros Vergangenheit.
Ähnelte Gisbert dem oberflächlichen und zur Gewalt fähigen Prahler,
so stellte Miguel die Analogie zu dem naiven und unsicheren
Jungmönch Sandro dar, der Halt und Anerkennung bei einem falschen
Idol, bei Luis de Soto, suchte.
Dem Prahler in sich hatte Sandro mittlerweile
verziehen: Er hatte seine Arroganz und seine Bluttat mit der Arbeit
in den Hospitälern des Ordens gesühnt. Dem Dummkopf zu verzeihen
war wesentlich schwieriger, schon deshalb, weil er - im Gegensatz
zum Prahler - aus bestem Glauben heraus gehandelt hatte, aus
Begeisterung und ehrlicher Bewunderung. Das Gute in ihm hatte sich
jahrelang an der Nase herumführen lassen. Und das machte ihn
wütend.
Er hatte vorhin nicht Miguel Rodrigues beschimpft,
er hatte Sandro Carissimi beschimpft, und der Zorn galt nicht dem
jungen Portugiesen, sondern sich selbst. Miguel war nur das
Spiegelbild, das er anschrie.
»Mein Gott«, flüsterte er, und es tat ihm leid, wie
er Miguel behandelt hatte.
Ignatius von Loyola, der lange geschwiegen hatte,
als bereite er sich auf eine ungeheure Aufgabe vor, griff Sandros
Wort auf.
»Darf ich das so verstehen, dass du deinen Fehler
einsiehst, Bruder Carissimi?«
Wovon sprach der Pater General? War Miguel zu ihm
gegangen?
»Ich - bin nicht sicher, worüber Ihr sprecht,
ehrwürdiger Pater General.«
»Bruder Carissimi, ich bat darum, bei allen
Befragungen dabei zu sein.«
»Oh, darum geht es.« Der Ehrwürdige hatte
tatsächlich darum gebeten, es also befohlen.
»Verzeiht, Pater General, die Befragung hatte sich
so ergeben.«
»Und jene von Bruder Rodrigues?«
»Eine zufällige Begegnung. Daraus entspann sich ein
Gespräch.«
»Dir ist klar, dass du damit gegen die wichtigste
Ordensregel verstoßen hast? Gehorsam ist nicht verhandelbar. Er ist
unbedingte Voraussetzung, um sich frei zu machen von den Zwängen
eigenen Wollens. Eine unfreie Seele vermag nicht, zu atmen.«
Ignatius von Loyola sprach, wie meist, mit einer Sanftheit, die
leicht über seine Strenge hinwegtäuschte. Im Ton verbindlich, ja,
freundlich, blieb er in der Sache stets fest, und heute hatte er
Sandros Tätigkeit im Collegium zu seiner Sache gemacht.
»Nicht ich bin das Problem, ehrwürdiger Pater
General. Unter Eurem Dach, unter unser aller Ordensdach, schläft
womöglich ein Mörder.«
»Bruder Birnbaum hast du ebenfalls befragt.«
Ignatius war gut unterrichtet, und er war ganz und
gar gefangen davon, den Ungehorsam Sandros aufzuspüren und zu
stellen, als handele es sich um eine Schlange, die sich ins
Collegium geschlichen hatte.
»Bruder Birnbaum«, erklärte Sandro, »wies mich auf
die Möglichkeit hin, dass vielleicht doch kein Mörder unter uns
ist, weil jemand ins Haus eingedrungen sein könnte.«
»Drei Befragungen, und keine davon in meiner
Anwesenheit. Keine, die du mir angekündigt hast oder die ich
gestattet habe.«
»Keine, die Aufschub geduldet hätte«, entgegnete
Sandro. »Ihr habt mir lediglich einen Tag zugestanden, in denen die
Schüler und Mitbrüder das Haus nicht verlassen dürfen. Ein Tag ist
nicht viel Zeit, weniger als Jesus Christus sich für die
Auferstehung nahm.«
»Deine leicht ironische Wortwahl, Bruder, bestätigt
all meine Befürchtungen: Du stehst unter schlechtem Einfluss und
bist zu schwach, ihm zu widerstehen. Die Ironie würde noch
hinzunehmen sein, wenn dein Ungehorsam nicht wäre. Du sagst, nicht
du seist das Problem. Doch genau das ist der Fall. Für den Bestand
des Ordens, Bruder, ist der Ungehorsam weitaus gefährlicher als ein
Verbrechen.«
Gehorsam, Ungehorsam: Wie oft waren Sandro in den
Jahren des Noviziats und vor der Priesterweihe diese Worte
begegnet. Von der ersten Stunde des Ordens an bildeten sie den
Angelpunkt in Loyolas Philosophie. Die beiden Begriffe verkörperten
für ihn das Zentrum jeder inneren menschlichen Auseinandersetzung,
sie waren Himmel und Hölle im Herzen, waren Maßstab für die
Gemütslage der Seele. Der Gehorsame galt als stark, wobei der
Gehorsam nicht heuchlerisch sein durfte. Man sollte gerne gehorsam
sein: »Immer mit einem Fuß in der Luft bereitstehend«, so lautete
ein im wahrsten Sinn geflügeltes Wort des Pater General. Der
Ungehorsame war seelisch unfrei.
»Ich möchte offen sprechen«, sagte Sandro. »Eure
Anwesenheit bei den Befragungen wäre nachteilig gewesen. Als
Visitator hat man ohnehin damit zu tun, die Befragten zum Reden zu
bringen, denn auch jene, die sich nichts haben zu Schulden kommen
lassen, überlegen sich alles dreimal, bevor sie es aussprechen.
Eure Anwesenheit würde die Schüler und Mitbrüder zusätzlich hemmen.
Das hätte etwas von einem - einem Tribunal.«
Ignatius von Loyola verharrte reglos auf dem Stuhl,
eine Statue, gemeißelt aus Prinzip und Dogma. Nicht verbissen,
nein, aber felsenfest. Ein Petrus.
»Du verstehst nicht, Bruder, was ich sage, was das
Wesen der geistigen Gemeinschaft unserer Gesellschaft Jesu ist. Mag
sein, du hast es nie verstanden. Wahrscheinlicher ist, dass dir das
Wissen abhandenkam. Unentwegt versuchst du, mich auf die Ebene der
Argumentation hinabzuziehen.«
Schon dieses Wort hinabziehen ärgerte
Sandro. Als seien Argumente glitschige Stufen am Rande des
Höllenkessels. »Ich erläutere lediglich«, entgegnete Sandro, »was
passiert wäre, wenn ich Eure Teilnahme an den Befragungen
zugelassen hätte.« Sandro merkte, dass der Satz unglücklich
formuliert war, aber er gab tatsächlich seine Meinung wieder.
»Es steht dir nicht zu, eine Entscheidung darüber
zu fällen, was von Vorteil oder Nachteil wäre.«
»Als Visitator ist es sogar meine Pflicht, alle
Schritte zu unternehmen, um die Untersuchung zu einem erfolgreichen
Ende zu führen.«
»Siehst du, Bruder, genau dort liegt das
Missverständnis. In erster Linie bist du nicht Visitator und
päpstlicher Sekretär, vorrangig bist du auch nicht ein Mann, ein
Italiener, ein Carissimi oder was sonst noch. Du bist vor allem
Jesuit, Teil der Bruderschaft der Societas Jesu. Und als solcher
erfüllst du die Bitten deiner Vorgesetzten. Diese grundlegende
Lektion, die jeder Novize in der ersten Woche lernt, ist dir
abhandengekommen.«
»Ehrwürdiger Pater General. Wenn Ihr meine
Argumente in Ruhe prüft, werdet Ihr feststellen, dass sie fundiert
und nicht von der Hand zu weisen sind.«
»Das ist ohne Belang.«
»Ohne …« Sandro konnte kaum glauben, was er da
hörte. »Wir haben es mit einem Mörder zu tun.«
»Ja. Und wir haben es mit einem selbstherrlichen
Bruder zu tun, der sich verstockt jedweder Belehrung entzieht. Ich
muss sagen, dass ich zunächst nicht glauben wollte, was Bruder de
Soto mir schon vor einigen Tagen über dich berichtet hat. Und auch,
als er mir vorhin hinterbrachte, dass du ohne meine Anwesenheit
Verhöre durchführst, sagte ich mir, du habest vielleicht nur ein
oder zwei belanglose Fragen gestellt. Ich bin Bruder de Soto sehr
dankbar, denn nun kann ich handeln, bevor größerer Schaden
entsteht.«
Luis, dachte Sandro. Wieder einmal Luis. Ein
Karrierist. Ein Intrigant. Es war doch ein Hohn, dass man ihn,
Sandro, als selbstherrlich bezeichnete, während Luis sich in Trient
wie ein Inquisitor gebärdet und Unschuldige gefoltert hatte. Wenn
Sandro nur reden dürfte, wenn er dem Pater General erzählen
dürfte, was in Trient geschehen war. Aber der Papst hatte ihn zu
immerwährendem Schweigen verurteilt - und ihn letzte Nacht erneut
gemahnt, die Person von Luis nicht anzutasten.
Selbstherrlich! Er und selbstherrlich! Hatte Sandro
je mit seinen Erfolgen geprahlt? Hatte er seine Stellung als
Sekretär und Visitator missbraucht? Hatte er seinen Einfluss
benutzt, um jemandem zu schaden oder jemanden zu protegieren? Hatte
er sich Privilegien herausgenommen? Nicht ein einziges Mal! Hatte
er jede freie Stunde genutzt, um für die Armen und Kranken im
Hospital da zu sein? Hatte er sie in seine Gebete eingeschlossen?
Stellte er sein Tun auf den Prüfstand? Immerzu!
Und plötzlich bezeichnete ihn die höchste Instanz
des Ordens als selbstherrlich, während Luis, der in seinem ganzen
Leben noch keinen Kranken berührt, geschweige denn gepflegt hatte,
als Bewahrer der Bescheidenheit und Demut hingestellt wurde.
Sandro hatte stets zu Ignatius aufgeblickt,
wenngleich er ihm nie begegnet war. Ein spanischer Soldat war durch
unsagbaren Schmerz zu Gott gelangt und hatte einen ungewöhnlichen,
volksnahen, barmherzigen Orden gegründet, eine geistliche
Gesellschaft, die Hospitäler und Schulen statt Klöster und
Kathedralen baute, die auf Prunk und Bischofstitel verzichtete, auf
Weltmeeren fuhr und die Wissenschaften unterstützte. Jedwede
übertriebene Form von Religiosität oder Zurschaustellung, wie sie
in manch anderem Orden üblich war, lehnte Loyola ab: Kasteiungen,
spektakuläre Teufelsaustreibungen, ein ins Maßlose gesteigerter
Reliquienkult, Fackelumzüge bei Nacht mit mystischen Gesängen und
überhaupt jede Form von theatralischer Zurschaustellung, die
imponieren sollte, galten ihm als primitive Selbstinszenierung. Ein
verehrungswürdiger Mann, zweifellos. Von immenser geistlicher
Bedeutung, und Papst Julius an Spiritualität und Erkenntnis weit
überlegen.
Und doch … der Papst war Sandro zugetan, der
schwarze Papst war von ihm enttäuscht. Der Papst würdigte Sandros
Talent, der schwarze Papst empfand es als belanglos. Beide gaben
Luis de Soto eine herausragende Stellung - der eine als päpstlicher
Gesandter für das Konzil von Trient, der andere als Rektor einer
Schule -, aber während Julius sich über Luis’ Wesen keine
Illusionen machte und ihm nicht über den Weg traute, ließ Loyola
sich Sand in die Augen streuen.
Überrascht stellte Sandro fest, dass er Julius
näher stand als dem ehrwürdigen und verehrungswürdigen General der
Jesuiten.
Hier und heute stieß Sandro mit Loyola und dem
unbedingten Gehorsam zusammen. Loyola verstand nichts von Sandros
Arbeit, von Morden und deren Aufklärung. Für ihn bestand das Böse
hauptsächlich in der Verführung des Menschen, und er beschäftigte
sich damit, wie man der Verführung entgegenwirken konnte, nicht,
wie man einen bereits zum Bösen Verführten, einen Mörder,
bekämpfte. In Loyolas Augen war dieses Haus nichts anderes als eine
Stätte geistlichen Wirkens der Brüder. Was er nicht wahrhaben
wollte, war, dass jedes Haus, ausnahmslos jedes, eine Ansammlung
von Geschichten war, von Biografien, Leidenschaften und Ängsten,
die von den Bewohnern hereingetragen wurden und sich unter der
Oberfläche verfingen.
»Bruder Carissimi, ich halte es für notwendig, dich
neuen Aufgaben zuzuführen. Ich werde dich nach Coimbra schicken, wo
du ein Schiff in die Neue Welt besteigen wirst. Wir bauen dort
derzeit mehrere Hospitäler auf. Deine Erfahrung bei der Pflege der
Kranken wird außerordentlich nützlich sein, und ich glaube, dass du
in dieser Funktion zu einer neuen Klarheit gelangen wirst.«
Sandro beugte sich auf dem Stuhl nach vorn, und
sein Gesicht verzerrte sich, wobei er ignorierte, dass er damit
gegen Loyolas Regel der Körperbeherrschung verstieß.
»Ihr schickt mich - in die Neue Welt?«
»Wenn du lieber nach Indien möchtest, bin ich
bereit …«
»Ich will nicht nach Indien«, unterbrach er. »Ich
will auch nicht in die Neue Welt. Ich habe hier und jetzt eine
Aufgabe zu erledigen.«
»Von der ich dich entbinde, Bruder.«
»Ich stehe in den Diensten Seiner
Heiligkeit.«
»Selbstverständlich werde ich mit ihm sprechen«,
sagte Loyola, ungerührt von Sandros Aufregung.
»Das werde ich ebenfalls«, erwiderte Sandro. Er war
als Visitator erfolgreich, und er war nicht bereit, sich das wieder
nehmen zu lassen. Von niemandem. Auch nicht vom Ordensgeneral. Und
schon gar nicht von Luis. »Dann werden wir sehen, wie der Papst
entscheidet.«
»Es handelt sich um eine innere Angelegenheit des
Ordens. Der Heilige Vater wird das einsehen.«
»Da ich nicht als Jesuit in Eurem Auftrag ein
Hospital im Dschungel aufbauen und gleichzeitig als Visitator des
Papstes einen Mord im Collegium Germanicum aufklären kann, handelt
es sich eben nicht nur um eine Ordensangelegenheit.«
Ignatius von Loyola saß starr auf seinem Stuhl, die
Hände gefaltet. »Bruder Carissimi, niemand sollte sich so wichtig
nehmen, wie du es gerade tust. Ein anderer kann den Tod des jungen
Johannes aufklären.«
Sandros Ton wurde bitter. »Wer schwebt Euch vor?
Luis de Soto?«
Sie sahen sich eine Weile an. »Nein, aber es steht
außer Frage, dass Papst Julius meinen Wunsch dich betreffend
respektieren wird.«
»Er wird ihn respektieren - und ablehnen. Es wird
Euch nicht gelingen, mir den Fall und mein Amt zu nehmen,
ehrwürdiger Pater General.«
Nachdem Sandro diese Worte ausgesprochen hatte,
wurde
er seltsam ruhig. Er hatte sich selbst überzeugt: Man konnte ihm
nichts anhaben. Julius würde ihn schützen. Dieses Gefühl war
Balsam, das Schmerzen aus der Welt schaffte und zusätzliche Kraft
verlieh. Er musste weder Ignatius noch seine Abberufung
fürchten.
Er erhob sich und ging, die Hände auf dem Rücken
verschränkt, zum Fenster, wo die Sonne sein Gesicht in zwei Hälften
teilte, eine helle und eine dunkle, und er spürte und genoss die
plötzliche Wärme auf der Haut ebenso wie die dämmrige Kühle des
Schattens.
»Ihr werdet feststellen«, hörte er sich großmütig
und versöhnlich sagen, »dass es besser ist, wenn ich die
Untersuchung weiterführe. Besser auch für Euch. Ihr könnt Euch
sagen, dass Ihr von Eurer Seite alles getan habt, um das Verbrechen
zu sühnen. Und womöglich weitere zu verhindern. Bedenkt: Was, wenn
der Mörder kurz nach meiner Abberufung ein zweites Mal zuschlüge?
Ihr würdet Euch schreckliche Vorwürfe machen.«
Sandro warf einen eher beiläufigen Blick über die
Schulter - und sah, dass Ignatius auf seinem Stuhl zusammengesunken
war.
»Pater General? Geht es Euch gut?«
Ignatius antwortete nicht.
Sandro ging zu ihm und sah, dass seine Augen fest
zusammengepresst und seine Hände auf der Höhe der Brust ins Gewand
gekrallt waren. Der Mund stand halb offen.
»O mein Gott.«
Er berührte die Schulter, woraufhin der Körper nach
vorn kippte und beinahe zu Boden gestürzt wäre, hätte Sandro ihn
nicht aufgefangen. Der alte Mann war leicht wie ein Kind, leicht
auch wie die vielen Sterbenden, die Sandro vor ihrem letzten Gang
gewaschen und in Tücher gewickelt hatte.
»Ehrwürdiger? Ehrwürdiger Pater General?«
Loyola antwortete nicht. Das Gesicht war eine graue
Maske, die Lippen waren wie mit Asche überzogen.
Sandro schnürte es die Kehle zu. Für einen kurzen
Moment wusste er nicht, was er tun sollte. In den Hospitälern von
Neapel und Rom hatte er gelernt, Wunden zu versorgen, Sieche zu
kräftigen und Trost zu spenden, kurz, die Spuren der Krankheiten zu
beseitigen, nicht die Krankheit selbst zu erkennen und zu besiegen.
Das hatten Ärzte oder kundige Mitbrüder getan.
Fassungslos berührte er die Wangen des
Greises.
Dann legte er Loyola sacht auf den Boden und rannte
aus dem Raum. Ohne anzuklopfen, stürzte er in das benachbarte
Zimmer hinein.
Magister Duré war gerade dabei, einen Brief zu
falten, und als er Sandro entgeistert ansah, begriff er sofort, was
geschehen war.
»Wo?«, fragte Duré, griff nach seiner Tasche und
eilte an Sandro vorbei.
»Nebenan.«
Als sie das Zimmer betraten, hatte der Pater
General sich ein wenig aufgerichtet, sah aber immer noch aus wie
ein vom Tod Gezeichneter.
»Gott sei Dank«, sagte Sandro.
Magister Duré kniete sich neben Loyola und tastete
mit gro ßer Routine dessen Brust, Handgelenke, den Hals und die
Schläfen ab.
»Wir legen ihn auf das Bett.« Als Loyola dort lag,
wo Johannes gestern gelegen hatte, zog Duré ein zusammengeknülltes
Tuch aus seinem Gewand hervor und entfaltete es. Zum Vorschein kam
eine verschrumpelte Knolle. Mit einem kleinen Messer, das er
ebenfalls mit sich führte, schnitt Duré eine dünne Scheibe ab und
legte sie dem Kranken unter die Zunge.
»Hört Ihr mich, ehrwürdiger Pater General?«, fragte
Duré.
Loyola, die Augen noch immer geschlossen,
nickte.
»Einen Moment warten, dann gut kauen«, ordnete der
Magister an. »Nicht runterschlucken.«
Loyola wollte etwas sagen, aber Duré verbot es ihm:
»Vor allem nicht sprechen.« Als Ignatius die Augen öffnete, legte
er die Hand darüber und schloss sie wieder. »Stellt Euch nicht
dumm. Ihr wisst genau, was Ihr zu tun habt. Ruhen. Nicht bewegen.
Kein Wort. Die Augen bleiben geschlossen.« Er sprach mit dem großen
Loyola wie mit einem unartigen Kind, das man liebt, dem man aber
Manieren beibringen muss.
Duré wandte sich an Sandro. »Geht bitte zu Bruder
Birnbaum und sagt ihm, was geschehen ist. Er weiß dann schon, was
er zu tun hat. Ach ja, Bruder Carissimi, noch etwas.« Duré sah ihn
einen kurzen Moment intensiv an. »Der Pater General benötigt jetzt
absolute Ruhe. Sein Zustand ist noch immer ernst.«
Sandro nickte betroffen. Die Spitze galt natürlich
ihm. Sicher war es dem Leibarzt und Vertrauten Loyolas nicht
verborgen geblieben, dass Sandro dem General Sorgen machte.
Außerdem war der Zusammenbruch während eines Gesprächs mit ihm
erfolgt. Was Duré sagen wollte, war: Bleibt ihm fern, Ihr seid
schlecht für ihn.
Keiner mag es, so etwas gesagt zu bekommen, aber
der Arzt hatte recht. Sandro hatte einem Mann, dem seit Jahrzehnten
niemand im Orden wiedersprach, den sogar die Päpste mit
Samthandschuhen anfassten, Widerstand geleistet, mehr noch, er
hatte ihn in seiner Macht und Handlungsfreiheit beschnitten. Nie
wäre er darauf gekommen, dass er Loyola damit in eine
lebensbedrohliche Lage brachte, einen Geistlichen, der die Ruhe
selbst war und der für seinen Gleichmut gerühmt wurde. Und doch war
es geschehen.
Er überbrachte Birnbaum, was der Arzt ihm
aufgetragen hatte. Birnbaum war im Bilde und entschwand in die
Küche;
offenbar wusste der deutsche Schulkoch etwas, das anderen
entgangen war. Oder nur Sandro entgangen war? War nicht
offensichtlich, dass jemand, der ständig von einem doctor
medicinae und magister regentes begleitet wurde, nicht
gesund sein konnte?
Nur keine Selbstvorwürfe, dachte Sandro, als er
langsam die Treppe ins Obergeschoss hinaufging. Nicht er hatte das
Gespräch gesucht, sondern Loyola. Nicht er hatte einen Streit vom
Zaun gebrochen. Er war vielleicht ein wenig zu selbstgefällig
geworden und hatte seine Überlegenheit demonstrieren wollen. Aber
er hatte sich nur verteidigt.
Ohne nachzudenken, ging er in Durés Zimmer und
setzte sich auf einen Schemel, wo er auf gute Nachricht wartete,
dass Ignatius von Loyola sich erholt habe. Sandro betete dafür.
Dieser Tod käme entschieden zu früh. Gewiss, für die Seele des
Ignatius würde es keinen Unterschied machen, ob sie heute oder in
zehn Jahren zum Himmel fahren würde. Aber für den Orden bräche eine
schwere Zeit an. Wer könnte den Platz des großen Gründers
einnehmen? Und wohin würde er den Orden führen? In zwölf Jahren
hatten sich die Statuten noch nicht festigen können. Im Übrigen
stand immer noch die endgültige Bestätigung des Ordens aus. Zwar
hatten frühere Päpste den Orden genehmigt. Was jedoch fehlte, war
eine päpstliche Gründungsbulle, deren Ausfertigung und Verkündigung
auch Julius III. mit fadenscheinigen Ausreden verzögerte.
Ausgerechnet diejenigen, denen die Jesuiten unbedingten Gehorsam
gelobten, zierten sich, so als fürchteten sie, dass ein so großer
Orden und eine so enge Bindung auch ein Verlust an Freiheit und
Hoheit zur Folge hätte.
Alles gute Gründe, den Tod des verehrten Generals
zu fürchten. Für Sandro kam noch ein weiterer, ein zugegeben
egoistischer Grund hinzu: Wenn Ignatius heute stürbe, würde Sandro
als die Schaufel gelten, die einen der größten Söhne der Heiligen
Römischen Kirche unter die Erde gebracht hat. Sein Name,
Carissimi, wäre ein Kainsmal für den Rest seines Lebens.
Sandro betete an diesem Mittag im Zimmer des Arztes
nicht nur für Ignatius, er betete auch für sich.
Eher zufällig streifte sein Blick Durés
Schreibtisch, auf dem akademische Ordnung herrschte. In der Mitte
und gut sichtbar lag ein Brief, der von Duré geschrieben und von
Loyola unterzeichnet worden war. Daran wäre nichts Interessantes
gewesen - Loyola diktierte täglich gewiss ein halbes Dutzend
Briefe, und Duré war nicht nur der Arzt, sondern auch der Vertraute
und Sekretär des Generals. Das Besondere an diesem Brief war der
Adressat: »Geliebter Bruder Rodrigues«.
Der Name ließ aufmerken.
Kurz zögerte er, den Brief zu lesen. Seine Eltern
hatten ihn einst Respekt vor den Briefen anderer Leute gelehrt, vor
dem persönlichen Eigentum insgesamt, und auch die Jesuiten räumten
dem privaten Freiraum der Mitbrüder große Bedeutung ein.
Doch dieser Respekt war nun einmal der größte Feind
des Ermittlers, und da Geheimnisse die bedauerliche Eigenschaft
hatten, sich nicht von allein zu lüften, musste er Erziehung und
Ordenslehre beiseiteschieben.
Ungeniert trat Sandro näher und las. Der Brief galt
nicht dem jungen Miguel, sondern dessen Onkel Simon, dem Provinzial
von Coimbra. Allgemein gehaltene Hinweise bezüglich der Wichtigkeit
des Ordens und der wohlüberlegten Statuten lösten sich mit
umständlich formulierten Fragen ab, wie die Bruderschaft in Coimbra
wachse und gedeihe. Alles in allem ein freundlicher Brief, der
keinen rechten Zweck zu haben schien. Und doch: Zwischen den Zeilen
meinte Sandro eine diffuse Mahnung herauszulesen.
»Tut Euch keinen Zwang an, öffnet die Laden, ich
habe keine Geheimnisse.« Magister Durés Stimme klang nur ein ganz
klein
wenig beleidigt. Er murrte etwas vor sich hin und öffnete die
oberste Lade des Schreibtisches.
Sandro verneinte mit einer Geste. »Ich wurde nur
wegen des Adressaten aufmerksam. Der Name Rodrigues …«
»… steht auf Eurer Liste.«
»Wieso glaubt jeder, ich habe eine Liste?«
»Bruder Carissimi« - Duré seufzte und atmete tief
ein - »sollte einer der Brüder oder Schüler dieses Hauses glauben,
er stehe nicht unter Verdacht, ist er ein Schwachkopf. Was diesen
Brief angeht: Der ehrwürdige Vater hat ihn mir heute Morgen
diktiert, kurz bevor er von Bruder de Soto über Eure - Eure
Aktivitäten informiert wurde. Es ist der Brief eines alten
Weggefährten an einen anderen. Mehr nicht.«
»Das sehe ich genauso.«
»Wie schön.«
»Dennoch - eine leise Kritik des ehrwürdigen Vaters
an seinem Weggefährten meine ich wahrzunehmen. Was soll
beispielsweise die seltsam vorsichtig formulierte Frage nach dem
Wachsen der Provinz Coimbra?«
Duré schloss die Lade wieder und rollte den Brief
zusammen. »Ich kann nur spekulieren, denn ich schreibe zwar die
Worte des Ehrwürdigen auf, kenne aber nicht die Gedanken, die
dahinterstecken.«
»Nun, so spekuliert bitte.«
Duré atmete tief durch. »Vermutlich hängt seine
Frage damit zusammen, dass die Bruderschaft in Coimbra über die
Maßen stark wächst. Der Zulauf ist doppelt so groß wie in anderen
Provinzen, und der Ehrwürdige sorgt sich, dass die …« Duré suchte
nach einem passenden Wort. »Dass die Qualität der Bruderschaft
dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Führung durch den
ehrwürdigen Simon Rodrigues ist manchmal zu lasch. Er lässt gerne
die Zügel schleifen und ist ein derart spiritueller Mensch, dass er
darüber vergisst, auf welchen
Richtlinien die Societas Jesu sich gründet: Bildung,
Barmherzigkeit, Gehorsam. Solche Vergesslichkeit wäre in jeder
Provinz problematisch, aber in Coimbra, der alle Provinzen in
Übersee unterstehen, würde es sich zehnmal so schlimm auswirken.
Der Brief ist lediglich eine freundschaftliche Erinnerung, die
Statuten streng anzuwenden, eventuelle Auswüchse zu unterbinden und
nicht jeden Beliebigen in den Orden aufzunehmen.«
»Verstehe.«
»Ich bezweifle«, sagte Duré, »dass die Kenntnis
dieses Briefes Euch bei den Ermittlungen voranbringen wird.«
»Wohl nicht.«
»Demnach darf ich ihn siegeln und
abschicken?«
Sandro lächelte. »Natürlich.«
Sandro war mit dem ordenseigenen System des
Nachrichtenaustauschs vertraut. Es gab in allen Provinzen Brüder,
die nur dazu abgestellt waren, Schriftstücke in andere Provinzen zu
bringen, wo sie an die Adressaten verteilt wurden. Simon Rodrigues
würde den Brief in einer Woche in Coimbra in Händen halten.
Sandro räusperte sich und sah zu Boden. »Aus
unserer zwanglosen Unterhaltung schließe ich, dass der Ehrwürdige -
dass es dem ehrwürdigen Pater General - dass er …«
»Es geht ihm bedeutend besser, ja«, sagte Duré
sachlich, aber kurz. Er bereitete das Siegeln vor. »Bruder
Königsteiner wacht bei ihm, er versteht ein wenig von Medizin und
kann rasch eingreifen, sollte der Ehrwürdige einen Rückfall
erleiden.«
»Wenn Ihr wieder zu ihm geht, würdet Ihr ihm bitte
von mir ausrichten, dass …«
»Offen gestanden, Bruder Carissimi, habe ich
medizinische Einwände dagegen, dass der Ehrwürdige heute oder
morgen mit Eurem Namen konfrontiert wird, egal, in welchem
Zusammenhang. Er hatte einen Herzanfall, und Ihr seid nicht ganz
unschuldig daran.«
Duré entzündete eine Öllampe und erwärmte das
Siegelwachs über der Flamme. Seine Hände zitterten leicht. Er
verteilte das Wachs mit schnellen Bewegungen auf der Plombe.
»Was habt Ihr ihm eigentlich unter die Zunge
gelegt?«, fragte Sandro.
Das Siegel in Durés Faust wurde kraftvoll auf die
Plombe gedrückt.
»Poleiminze, was sonst?«, erwiderte Duré. »Ich habe
ihm Poleiminze unter die Zunge gelegt. Das wollt Ihr doch hören,
nicht wahr? Darauf zielt Eure Frage doch ab. Ein Arzt im Besitz
medizinischer Kenntnisse und zahlreicher Mittelchen in Flakons,
dazu ein Toter und ein Herzanfall. Offensichtlich, ganz
offensichtlich. Ihr dringt in mein Zimmer ein, lest die
Korrespondenz, stellt scheinheilige Fragen …«
Duré hielt inne, atmete tief durch, stützte sich
auf den Schreibtisch und sank langsam auf einen Stuhl nieder. Er
rieb sich die Augen, und dann, nach einem Augenblick der Starre,
wischte er mit den Händen über sein Gesicht, als streife er Schmutz
ab.
»Galgantwurzel«, sagte er müde und leise, ohne
Sandro anzusehen. »Ich gab ihm Galgantwurzel. Ein Rezept der
Heiligen Hildegard bei Herzbeschwerden, die von Magen und Galle
herrühren. Ich trage immer eine Knolle bei mir.« Er schwieg einen
Augenblick. »Mir scheint, ich muss mich bei Euch entschuldigen,
Bruder Carissimi.« Er blickte noch immer an Sandro vorbei. »Der
Zusammenbruch des Ehrwürdigen hat mich sehr mitgenommen. Ich
dachte, er sei auf dem Weg der Besserung, er hätte seine
Beschwerden überwunden, aber nun … Ich habe mich vor Euch zum
Narren gemacht, Bruder, und war äußerst ungerecht.«
Sandro setzte sich dem Arzt gegenüber auf den
Schemel. Duré sah mehr als mitgenommen aus, er wirkte geradezu
verstört wie jemand, der mitten in der Nacht erwacht und
feststellt, dass das Haus in Flammen steht.
»Ich bin ganz anderes gewöhnt, macht Euch darüber
keine Gedanken«, beschwichtigte Sandro. »Ihr erwähntet Herz, Magen
und Galle. Die Aufzählung ließe auf einen schwerkranken Greis
schließen. Aber der Ehrwürdige ist das Gegenteil davon, er scheint
immer so gesund, so beherrscht und - unverwüstlich.«
Duré nickte. »Ja, das ist wahr. Aber was glaubt
Ihr, Bruder, um wie viele Dinge er sich kümmert und sorgt, wie
viele Entscheidungen er trifft, wie viele Hiobsbotschaften er
erhält, wie viel Feindschaft ihm entgegenschlägt, welche
Stolpersteine dem Orden in den Weg gelegt werden? Könige wachen
eifersüchtig darüber, dass die Jesuiten nicht zu viel Einfluss in
den Neuen Welten des Westens und Ostens bekommen. Mitbrüder werden
von Eingeborenen massakriert. Die Gegenreformation soll praktisch
vom Ehrwürdigen allein bestritten werden, den Fürsten und Bischöfen
ist das viel zu anstrengend. Diese Schule beispielsweise: Wer
bezahlt sie, wer bringt das Geld auf? Es ist nie genug, was man
tut, immer bleibt etwas ungetan. Der Ehrwürdige nimmt alles auf
sich, sechzehn Stunden an sechs Tagen in der Woche. Er ist
beherrscht, wie wahr! Besonnen, gleichmütig. Doch niemand kann eine
Last tragen, ohne deren Gewicht zu spüren. Einen Teil lädt der
Ehrwürdige im Gebet ab, den anderen Teil jedoch vergräbt er tief in
seinem Innern. Nur so kann er die Fassung, für die er gerühmt wird,
bewahren. Die Folge: Koliken, Ohnmachten, Herzanfälle. Wie Schlacke
setzen die Sorgen sich auf seine Organe. Es ist ein Wunder, dass er
noch lebt. Jeder andere wäre schon vor Jahren tot
umgefallen.«
»Nun, er hat Euch. Ihr sagtet, es sei ihm in
letzter Zeit besser gegangen. Das hat sicher auch mit Eurer
ärztlichen Unterstützung zu tun.«
Duré winkte ab. »Ich habe ihm eine Diät und
Mittagsschlaf verordnet, das ist alles. Nein, mein Anteil ist
gering. Seit seiner Bekehrung wohnt diese besondere Kraft in ihm.
Sie hielt ihn
zusammen, als er schwer verwundet ein Jahr lang Qualen litt, sie
schenkte ihm Erkenntnis, als er nicht wusste, welchen Weg er
einschlagen sollte, und gab ihm Kraft und Standhaftigkeit in den
Jahren des Aufbaus. Das kommt von Gott, das ist eindeutig, aber da
ist noch mehr, er ist nicht nur ein Werkzeug, er arbeitet auch aus
eigenem Willen. Der Wille hält ihn zusammen.«
Duré schien weitersprechen zu wollen, aber dann
wandte er sich wieder dem Brief zu, den er bedächtig in den Beutel
steckte. Der Arzt schien um Jahre gealtert.
Sandro ahnte, was Duré seinem letzten Satz hatte
hinzufügen wollen - ein Wort: noch.
Noch wurde Ignatius von seinem Willen
aufrechterhalten. Aber er war mittlerweile dünn und zerbrechlich
wie das Porzellan, das Jesuiten aus China mitgebracht hatten, und
der Tod eines Schülers war eine schwere Erschütterung
gewesen.
Und dann hatte er, Sandro, auch noch eine
Machtprobe angedroht. Er würde vorsichtiger sein müssen. Am besten,
er ginge ihm aus dem Weg. Ein Gutes allerdings hatte der
Herzanfall: Ignatius würde für einige Tage das Krankenlager
hüten.
»Ich werde mein Verhalten bei dieser Untersuchung
dem Zustand des Ehrwürdigen anpassen«, versprach Sandro dem Arzt.
»Und ich setze meine Ankündigung sofort in die Tat um, indem ich
Euch, nicht dem Ehrwürdigen, ins Gesicht sage, dass ich von ihm in
einem sehr wichtigen Punkt belogen wurde. Ihr werdet mir nun die
Wahrheit erzählen, Magister Duré.«