Rock oder Hose?

Unser Lehrer hat Herrn Bollmann, in seiner Eigenschaft als Bürgermeister natürlich, dazu überreden können, Geld für eine Bibliothek rauszurücken. Diese Bücherei soll nicht nur der Schule, sondern allen Einwohnern zugutekommen. Herr Lorbach möchte sich Verdienste um die Bildung der Kattenbacher schaffen.

Es gibt eine Kartei, in der die Titel nach Alphabet geordnet sind und feste Sprechstunden bei Herrn Lorbach. Ich finde das gut, denn ich bekomme ja immer nur zu Weihnachten und zum Geburtstag ein Buch, und immer die Fortsetzung von „Elke“. So schnell wie diese Elke, die mittlerweile selbst schon Kinder hat, kann ich überhaupt nicht wachsen.

In der Schule leihen sich viele Kinder Bücher aus. Es gibt sogar welche für Erstklässler, aber auch für die Großen. Sogar Erwachsene kommen in die Bibliothek. Natürlich leihen sich unsere Nieten und Blasen keine Bücher. Aber das hat Herr Lorbach vorausgesehen. Nun wollte sich eine davon, die Brünhilde Budzinski nämlich, doch tatsächlich was ausleihen. Ich habe hinter ihr gewartet und bin ehrlich gesagt, genauso verwundert gewesen wie Herr Lorbach. Sie wollte „Wem die Stunde schlägt“ haben. Da hat Herr Lorbach gesagt, das sei noch nichts für ein Kind. Brünhilde meinte jedoch, dass ihre Mutter das Buch lesen wolle. „Die kapiert das genauso wenig, wie Du“, schnauzte unser Lehrer. „Das ist kein Lore Roman, sondern Literatur!“

Brünhilde ging ganz bedrückt weg, natürlich ohne das Buch. Sie kann ja nichts dazu, dass sie zu den „Nieten“ gehört. Sie hört schlecht, seit sie mal eine Mittelohrentzündung hatte, die ihre Eltern nicht bemerkten. Es gibt aber auch Leute, die glauben nicht so recht an die Mittelohrentzündung. Die behaupten, Brünhildes Vater hätte sie mal so schlimm geohrfeigt, dass dem armen Kind buchstäblich das Hören verging, jedenfalls auf der Ohrfeigenseite. Deshalb ist der Unterricht für sie schwierig. Die Aufgaben kann sie auch nur selten machen, da sie auf ihre drei kleinen Geschwister aufpassen muss, weil ihre Mutter dauernd Migräne hat. Brünhilde sah ganz unglücklich aus. Ich fand Herrn Lorbach in diesem Moment auch ziemlich gemein.

Neulich hat er Hildegard Holler heimgeschickt, weil sie nicht passend angezogen war. Es war ein recht kühler Tag und Hildegard hatte einen Rock und noch eine lange Hose drunter an. Da hat er sich so darüber aufgeregt, als wäre sie nackt in die Schule gekommen.

„Wie Du aussiehst! Entweder trägt man als Mädchen eine Hose oder einen Rock, wer hat denn den schlechten Geschmack? Du oder Deine Mutter?“

Jedenfalls musste Hildegard nach Hause und etwas ausziehen. Er ließ ihr großzügigerweise noch die Wahl, ob sie den Rock oder die Hose ausziehen wollte.

Wenn er so in Zorn gerät, flüstert mir Rita immer zu: „Seine Silberplatte kocht wieder mal!“

Dann müssen wir immer so kichern. Wenn er das aber merkt, wird er noch wütender.

Er hat sogar mal seinen Liebling, die artige Anita, nach Hause geschickt. Da war er superwütend.

Das ist im letzten März gewesen. Wir hatten Musik und sollten singen. Und zwar ausgerechnet „Der Winter ist vergangen“. Da hat Anita ganz vergessen, dass sie ja ein braves Mädchen ist und gemault: „Was für ein Blödsinn, ausgerechnet dieses Lied, wenn’s draußen schneit!“ Es hat wirklich geschneit, die Flocken wirbelten nur so rum. Seine Silberplatte muss unerträglich heiß geworden sein, denn er brüllte fürchterlich: „Was bildest Du Dir eigentlich ein? Verschwinde und lass Dich heute nicht mehr hier sehen!“

Anita verschwand, sie war kein bisschen traurig. Später erzählte sie, ihre Mutter hätte gerade Wäsche aufgehängt und sei ganz froh gewesen, dass sie so unerwartet Hilfe bekommen habe.

Aber das Tollste hat sich Herr Lorbach mit mir geleistet.

Er hat gemerkt, dass ich öfter mal meine Aufgaben nicht hatte. Da wollte er mal mit meinem Vater oder meiner Mutter sprechen. Da ich meiner Mutter die Aufregung ersparen wollte, habe ich zu Hause nichts davon gesagt. Unserem Lehrer aber habe ich erzählt, meine Eltern hätten keine Zeit. Das, fand ich, war die beste Lösung. Und es ging ja auch eine ganze Weile gut.

 

 

Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?
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