Jedes Jahr ein neuer Kopf 

1949

Es war ja sehr schön, das Krippenspiel und wir waren ja auch sehr wichtig, aber richtig Weihnachten zuhause ist noch viel schöner. Man freut sich ja schon so lange drauf. Genauer gesagt, seit der Zeit, wenn die Tage kürzer werden. Wenn ich dann abends im Bett liege, sehe ich immer schon, wie sich das Christkind mehr und mehr ankündigt. Jeden Tag erscheint am Fenster etwas mehr von seinem goldenen Faltengewand. Mir ist dann immer ganz komisch. Ich freue mich, aber ich möchte auch weinen, jedenfalls ist es schön, dass der Schein da ist.

Neulich ist etwas ganz Furchtbares passiert, der Schein war auf einmal nicht mehr da. Und das kam so: Ich wurde ganz schlimm ausgeschimpft, weil ich im Hausgang Ball gespielt habe.

Frau Mühlbauer, die neben Mohrs oben wohnt, hatte sich über mich beschwert. Sie konnte wegen des Krachs nicht einschlafen. Dabei war es heller Mittag und mir war’s draußen einfach zu kalt zum Spielen. Außerdem verstehe ich nicht, dass sich über sie niemals jemand beschwert. Wenn sie nämlich niest, dann wackelt das ganze Haus, obwohl es noch vor dem Ersten Weltkrieg gebaut wurde, also solide ist. Alle Leute erschrecken jedes Mal und fahren zusammen, wenn ihr erschütterndes „Hatschiiii“ ertönt. Ich glaube, die Leute in unserem Haus fürchten sich deshalb mehr vor der Erkältungszeit als der Rest von Kattenbach. Mein Ballspiel ist lange nicht so laut wie Frau Mühlbauers Niesen.

Jedenfalls gab’s fürchterliches Geschimpfe. Ich war so traurig, dass ich sterben wollte. Denn dann würden sich alle Erwachsenen vorwerfen müssen, wie unrecht sie mir getan hätten. Ich musste lange darüber nachdenken und weinte auch ein bisschen über mich, weil die grausame Welt mich so jung in den Tod schickte.

Da kam mir der Gedanke mit dem Schrank.

Im Schlafzimmer steht ein Schrank, der hat vier Türen. In den kroch ich hinein, machte mich ganz klein und versteckte mich hinter den Handtüchern.

Dann habe ich gewartet. Es war natürlich ziemlich ungemütlich. Es war schon dunkel und langsam wurde ich gesucht. Meine Eltern machten auch die Schranktür, hinter der ich saß, flüchtig auf und leuchteten mit einer Taschenlampe hinein. Aber ich hatte mich gut getarnt, niemand sah mich. Ich genoss es, zu hören, was für ein liebes Kind ich auf einmal war, bis Mama mich draußen suchen wollte. Da stellte ich mich doch lieber freiwillig; denn wer weiß, was sonst noch aus der Sache geworden wäre. Zu meiner Überraschung wurde ich nicht ausgeschimpft, Mama war nur ganz traurig, dass ich das gemacht hatte. Ich musste ihr versprechen, so was nie wieder zu tun.

An diesem Abend blieb der goldene Schein weg. Selbst das Christkind war traurig über meinen bösen Streich. Geschimpfe wäre mir viel lieber gewesen.

 

Am Heiligen Abend gibt’s immer Würstchen mit Kartoffelsalat. Da hat Mama nicht soviel Arbeit damit. Sie hat ja genug zu tun mit all den anderen Vorbereitungen. Wir essen außerdem gerne Würstchen. Gegessen wird in der Küche, weil im Wohnzimmer das Christkind rumschwirrt.

Im Wohnzimmer ist nämlich an Weihnachten ausnahmsweise der Ofen an. Es ist so richtig gemütlich warm und festlich. Am Christbaum hängen silberne Kugeln, Lametta und sogar elektrische Kerzen. Mama findet zwar Wachskerzen schöner, die elektrischen aber sicherer. Inge hat nämlich mal den Weihnachtsbaum umgeworfen, mit brennenden Kerzen dran. Inge war zwar damals noch ein Baby, aber es hätte ein richtiger Brand daraus werden können. Deshalb hat Mama immer noch Angst vor richtigen Kerzen. Wenn meine Mutter klingelt, ist das Christkind immer schon fort. Es riecht im Wohnzimmer auch so gut. Überhaupt sieht alles ganz anders aus als sonst.

Außer dem bunten Teller bekomme ich für meine Puppe jedes Jahr einen neuen Kopf. Es ist eine echte Schildkrötpuppe aus Zelluloid. Ich habe sie gern. Obwohl sie immer einen neuen Kopf bekommt, sieht sie genauso aus wie vorher. Die Puppe hat früher mal Inge gehört, deshalb heißt sie auch Inge.

Am Heiligen Abend spielt meine Inge das Christkind. Jedes Jahr nach der Bescherung spiele ich nämlich ganz stumm die Weihnachtsgeschichte nach. Dazu habe ich eine Decke und die Puppe. Vor der Geburt des Jesuskinds hülle ich mich in die Decke, nach der Geburt hülle ich Inge rein, weil sie ja das Christkind darstellt. Das macht mir genauso viel Freude wie das Singen der Weihnachtslieder.

Außer dem Puppenkopf bekomme ich jedes Jahr einen Unterrock, ein Paar Hausschuhe, etwas zum Spielen (das meine Eltern meistens selber basteln), und neuerdings auch ein Buch. Dieses Buch heißt: „Heran, heran, wer lesen kann.“ Es hat einen bunten Umschlag und viele schöne Geschichten drin. Ich habe nämlich endlich das Lesen kapiert! Meine Mutter ist ganz erleichtert. Und es macht mir Spaß, weil ich sogar die kleinen Buchstaben lesen kann. Herr Göring hat die großen Buchstaben an die Tafel gemalt und sie von einem Strichmännchen mit einer Axt klein hacken lassen.

Alle in unserer Klasse haben gelacht, sogar der Frieder. Der fühlt sich nämlich immer so erhaben, weil er schon lesen konnte, bevor er in die Schule kam. Und weil er der Beste im Rechnen ist.

Sofort am ersten Feiertag habe ich angefangen, das Buch zu lesen. Am besten hat mir die Geschichte mit der Familie Pfifferling gefallen. Das ist eine richtige Familie, die im Wald unter Bäumen lebt. Ich habe selbst auch schon viele richtige Pilze gesehen. Schade ist nur, dass diese Familien von den Leuten gegessen werden, aber das steht in dem Buch nicht drin.

Die Hausschuhe sind meistens schon am zweiten Feiertag kaputt. Daran ist Inge schuld. Sie will immer, dass ich auf Spitzen laufe und das geht am besten in Hausschuhen. Dazu ziehe ich auch den neuen Unterrock an, damit ich aussehe wie eine richtige Tänzerin. Das möchte ich nämlich mal werden. Der Unterrock bleibt beim Tanzen ganz. Aber Mama ringt die Hände, weil die Hausschuhe nicht mal bis Sylvester halten.

 

 

Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?
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