Ein Forschungsauftrag
Wir haben einen Sonderauftrag, Rita und ich. Der Auftrag ist von der Schule. Wir sollen Heimatgeschichte erforschen. Herr Lorbach schickte uns mit dem Rat, wir sollten eine gute Zigarre mitbringen, zum Opa Walter. Opa Walter ist der älteste Bürger von Kattenbach und hat Geschichte selbst erlebt.
Also haben wir zusammengelegt und eine gute Zigarre am Wasserhäuschen gekauft. Sie hat dreißig Pfennige gekostet. Die Schule hat uns unsere Unkosten nicht erstattet, unsere Eltern auch nicht. Aber Opa Walter hat sich gefreut. Er saß vor seinem windschiefen Haus in der Sonne und paffte einen Stumpen. Die gute Zigarre wollte er sich für eine besondere Gelegenheit aufheben. Er heißt eigentlich Herr Walter, aber im ganzen Ort wird er Opa genannt. Das kommt wohl auch daher, dass er ein Alt-Kattenbacher ist und viel Familie hat. Er hatte mal sechs Geschwister, die aber alle schon tot sind. Aber die hatten wieder Kinder. Außerdem haben auch seine eigenen Kinder schon Enkel. So alt sieht er eigentlich gar nicht aus. Gut, er hat ein paar Falten in seinem rosigen Gesicht, aber seine Schwiegertochter, bei der er wohnt, hat viel grauere Haare als er. Dabei sind zwei seiner Söhne schon im Ersten Weltkrieg gefallen, und ein Enkel im Zweiten.
Er hat sich ganz ehrlich gefreut, nicht nur über die Zigarre, sondern auch, weil er für uns so was ist wie ein lebendiges Geschichtsbuch. Wir brauchten gar nicht viel zu fragen. Er hat von sich aus erzählt.
Opa Walter ist sogar vier Jahre älter als Kattenbach. Sein Vater ist Forstarbeiter gewesen, deshalb war er schon immer hier. Hier gab es früher noch viel mehr Wald als heute. Und weil das so war, versteckte der deutsche Kaiser darin eine Pulverfabrik. Dafür brauchte man aber Arbeiter. Also wurden Häuser gebaut. Dann kamen die Leute mit ihren Familien von überall her. So entstand Kattenbach.
Es war aber immer etwas los hier.
Von Anfang an gab es Spione. Die zeichneten das Gelände. Allerdings konnte man ihnen nichts nachweisen, weil sie sich als Landschaftsmaler ausgaben. Richtige preußische Soldaten haben die Munitionsherstellung bewacht. Da hätte Peter Martin bestimmt nicht soviel stehlen können.
In der Pulverfabrik hatten sie aber auch selbst Explosionen. Einmal war es ganz furchtbar schlimm, weil es in einem Labor, in dem lauter junge Mädchen arbeiteten, brannte. Alle Mädchen, bis auf eins, sind umgekommen. Und diese kam nur mit dem Leben davon, weil sie Durst hatte. Ein paar Minuten, bevor das Unglück geschah, ist sie nämlich raus gegangen, um sich ein Glas Wasser zu holen.
So furchtbare Dinge können mit Waffen passieren, auch ohne Krieg. Was nützte den Mädchen das Denkmal auf dem Friedhof und der Dank des Vaterlands?
Auch ein furchtbarer Mord ist hier passiert, als Opa Walter noch lange kein Opa war. Der Mord wurde auf dem Schafott, wo jetzt die Schule für die Amikinder steht, gesühnt. Aber das war ein Justizirrtum!
Der Mörder war nämlich gar kein Mörder. Etliche Jahre nach dem Tod des Unschuldigen gestand der echte Mörder. Er beichtete seine Tat auf dem Totenbett. Jetzt konnten sie ihn ja nicht mehr köpfen und er bekam die Absolution, da brauchte er auch nicht in die Hölle.
Er hatte als Jugendlicher seinen Onkel mit einem Beil erschlagen. Der Onkel wollte anscheinend kein Geld herausrücken. Als der Onkel tot blieb, bekam es sein Neffe mit der Angst. Da verschaffte er sich ein Alibi, indem er schnell in die Stadt fuhr und in einem Wirtshaus so rumkrakeelte, dass er ziemlich auffiel. Die Gäste behaupteten später, er sei den ganzen Tag über schon da gewesen. Außerdem war er furchtbar entsetzt über die Bluttat und schwur dem Mörder sehr glaubhaft Rache.
Der Verdacht fiel auf einen alten Feind des Opfers, der einmal in aller Öffentlichkeit gebrüllt hatte: „Ich bringe Dich noch einmal um!“ Die Feinde waren mal ganz enge Freunde, bis sie sich in dasselbe Mädchen verliebten. Diese konnte natürlich nur einen heiraten. Sie nahm den, der später erschlagen wurde. Das merkte sie aber nicht mehr, weil sie zu dieser Zeit selbst schon lange tot war.
Jedenfalls machte einer den anderen schlecht, immer neues Gift wurde ausgestreut. Damals war Kattenbach auch noch viel kleiner als heute und die Leute kannten sich deshalb noch genauer. Es wurden Beweise gesucht und gefunden. Kurz und gut, dem Mann wurde der Prozess gemacht und er wurde hingerichtet.
Das war übrigens die letzte öffentliche Hinrichtung auf dem Schafott. Bis zum Schluss hat der arme Mann seine Unschuld beteuert. Als sich dann fünfzehn Jahre später herausstellte, dass er wirklich unschuldig war, war es zu spät. Sie haben ihn danach allerdings in die geweihte Friedhofserde umgebettet.
Ich hätte gern gewusst, wie die Leute geheißen haben, ich meine den Täter und sein Opfer. Aber Opa Walter rückte mit den Namen nicht heraus. Darum glauben Rita und ich, dass es in Kattenbach noch Verwandte von ihnen gibt. Wir wollen deshalb auch weiterforschen. Es müssen also Leute sein, deren Familien schon bei, oder vor der Gründung der Pulverfabrik hier gelebt haben. Da gab es zum Beispiel die Forstleute. Weil es bei uns so viel Wald gibt, haben wir immer noch zwei Försterfamilien. Da ist einmal Haralds Vater an der alten Flörsbacher Chaussee. Dessen Vater und Großvater waren schon Förster dort. Das hat Harald jedenfalls schon oft erzählt. Außerdem ist das Haus, in dem sie wohnen, schon ziemlich alt, noch älter als die Pulverfabrik. Auch das Forstamt Samendarre gibt’s schon ewig. Ja, das Haus ist sogar mal ein Lustschlösschen gewesen, also muss es schon an die zweihundert Jahre alt sein. Die Leute da drin kennen wir nicht. Sie wohnen einfach zu weit weg und haben keine Kinder in unserem Alter.
Dann gibt es noch eine dritte Möglichkeit: das Bahnhaus!
Bosses scheiden aus, sie wohnen ja erst ein paar Jahre da drin. Aber Herr Merkel, der Bahnhofsvorstand, hat seine Wohnung schon von seinen Eltern übernommen. Der Bahnhof ist ja schon in Betrieb, seit die Pulverfabrik gegründet wurde.
Da wir unseren Forschungsauftrag sehr ernst nehmen, haben wir einen Plan gemacht. Zuerst wollten wir die Familie vom Förster Grunz überprüfen. Dabei kam uns der Zufall zu Hilfe. Harald Grunz hat die Masern bekommen, und seinen Geburtstag musste er im Bett verbringen. Ach, er tat uns ja so leid! Ich schlug also vor, dass wir für ihn sammelten. Unser Lehrer fand die Idee geradezu rührend. Wir bekamen sogar etwas über zwei Mark zusammen. Dafür wurde ein Buch gekauft. Es hieß „Frühling im Försterhaus“, passte also sehr gut in ein Försterhaus. Jetzt mussten wir nur noch durchsetzen, dass Rita und ich ihn besuchen durften. Wir durften, weil ich ja die Idee gehabt hatte, für ihn zu sammeln. Und das auch noch während der Schulstunden! Rita hoffte außerdem, dass sie sich bei ihm anstecken würde. Sie wollte sich mal ein paar Tage von der Schule erholen. Ich hatte die Masern ja leider schon gehabt.
Harald kam aus dem Staunen gar nicht heraus, dass er Besuch hatte. Besonders überrascht war er natürlich auch, weil ausgerechnet Rita und ich die Besucher waren. Sonst hatten wir ja nie groß was miteinander zu tun. Helga, seine große Schwester, führte uns in den verdunkelten Raum, in dem Harald lag. Sie achtete auch darauf, dass wir Abstand von ihm hielten. Nachdem wir ihm gratuliert hatten und auch die Klassengrüße ausgerichtet hatten, lud uns Helga zu einem Glas Limonade ein.
Wir haben uns ganz unauffällig umgesehen. In dem dunklen Flur hingen massenhaft Schädel. Aber die waren nur von Rehen und Hirschen, denn es waren noch Geweihe dran. Wir saßen in der großen Wohnküche auf einer hellen Holzbank vor einem ebenso hellen Holztisch, auf dem eine rotkarierte Tischdecke lag. Auch hier hingen Geweihe an den Wänden, dazwischen aber Fotografien von Menschen. Zum Teil waren sie schwarz-weiß und sehr altmodisch.
„Wann heiratet Ihr denn?“ fragte ich so ins Blaue hinein. Ich wusste nämlich, dass Helga mit Lothar Keller verlobt ist. Und der ist Geselle bei meinem Vater. Helga blickte zu Boden. „Wahrscheinlich im Frühjahr, wenn wir bis dahin eine Wohnung haben. Lothar möchte nämlich nicht, dass wir in der Mansarde bei seinen Eltern wohnen. Und hier ist es zu eng, wegen der Jungen.“
Das konnte ich verstehen. Frau Keller, Lothars Stiefmutter, hat sich immer für was Besseres gehalten. Nur weil sie einen riesigen Busen und einen Pelzmantel besitzt. Helga ist dagegen ein liebes, unkompliziertes Mädchen, das ihr Leben lang ihrer Mutter bei der Aufzucht ihrer sieben Brüder geholfen hat. Klar, dass sie endlich mal ein eigenes Heim haben möchte. Da mein Vater den Lothar öfter mal mit zu uns nach Hause bringt, weiß ich auch, dass Helga es viel ruhiger haben wird, wenn sie verheiratet ist. Lothar ist nämlich zu faul zum Reden. Er verausgabt sich vollkommen beim Arbeiten, sagt Papa, da hat er keine Energie mehr für was anderes.
Selbst zum Waschen und Rasieren reicht’s kaum. Er müffelt immer so ein bisschen. Als er noch Lehrling war, und das ist noch gar nicht so lange her, hat er wohl mal zu stark gemüffelt. In der Mittagspause fielen auf einmal die anderen Lehrlinge über ihn her und was hast du, was kannst du, haben sie ihn an einen Baum gebunden. Dann wurde er gründlich eingeseift und rasiert. Anschließend haben die Burschen den armen Kerl von oben bis unten mit einem Schlauch abgespritzt. Da schlotterte er in seinen nassen Klamotten rum, aber die Wäsche hatte sich trotzdem gelohnt. Da kam ein viel hübscherer Lothar raus.
Wir haben die Fotos zwischen den gehörnten Schädeln bewundert. Eines zeigte die ganze Familie mit Hund vor der Scheune, als sie (die Scheune) noch nicht abgebrannt war. Da gab es Bilder von den ersten Schultagen der Grunzbuben, ja sogar eins von Helga. Wir fragten sie zu den einzelnen Bildern ein bisschen aus. Helga war ziemlich überrascht, dass wir uns auch für ihre Onkel und Tanten, ja sogar für ihren Urgroßvater interessierten.
Rita seufzte auf, als sie ein Bild betrachtete, das einen jungen Mann mit hochgezwirbeltem Schnurrbart und verwegenem Gesichtsausdruck zeigte.
„Der arme Mann!“
„Wieso der arme Mann?“ fragte Helga verwundert. „Ich meine wegen seines späteren Schicksals …“ Rita konnte so überzeugend getragen und tragisch sprechen. „Was soll er denn für ein Schicksal gehabt haben?“ „Man hat ihn doch erschlagen, weißt Du das nicht?“ Ich versuchte, genauso unverfänglich zu klingen wie Rita, aber es gelang mir wohl nicht so ganz. Denn Helga lachte jetzt: „So ein Blödsinn, der ist über neunzig Jahre alt geworden. Meine Mutter sagt immer, der Onkel Heinrich sei der Methusalem in der Familie gewesen.“
„Na, dann war’s wohl der hier!“ Rita tippte auf ein anderes Bild. Diesmal war der Mann älter, hatte eine Glatze und eine dicke Zigarre im Mund. Das Foto war reichlich vergilbt, es musste schon uralt sein. „Das soll mein Urgroßonkel Otto sein. Er ist als junger Mann nach Amerika gegangen. Überhaupt, was soll das? In meiner Familie ist noch nie jemand erschlagen worden, jedenfalls nicht in den letzten hundert Jahren. Es hat auch keiner einen anderen erschlagen, es sei denn einen Baum!“ Helga musste bei ihrem Witz unwillkürlich kichern.
Also Fehlanzeige! Unsere ganze Diplomatie war für die Katz’.
Da wir jetzt kein großes Interesse mehr an der Familie Grunz hatten, weil das ganz normale Menschen zu sein schienen, verabschiedeten wir uns bald. Zurück zur Schule zu gehen, lohnte sich auch nicht mehr, da wir nur noch zwei Schulstunden hatten. Der Heimweg dauerte ohnehin fast eine halbe Stunde.