Das Haus der sieben Sünden
Seit einiger Zeit haben wir wieder unser Schlafzimmer. Unsere Frieda wohnt in der Mansarde. Mein Vater hat sie hergerichtet. So haben wir alle mehr Platz. Vor ein paar Tagen hat mich meine Mutter gefragt, ob ich gern ein Baby im Hause haben würde. Ich fand das eine tolle Idee. Also habe ich Zucker aufs Fensterbrett gelegt und über Nacht war er tatsächlich weg. Jetzt heißt es nur noch warten.
Die Schule hat wieder angefangen und nur drei Tage gedauert. Wir haben nämlich Läuse, das heißt, die meisten in meiner Klasse. Es juckt zwar fürchterlich und ist scheußlich, wenn Mama mir die Läuse rauskämmt und das stinkende Zeug in mein Haar reibt, aber wir haben schulfrei. Die Läuse vergehen, die Schule nicht! Ein Junge, der noch gar nicht in der Schule ist und außerdem ein Cousin von Edgar, bekam sogar alle Haare abgeschnitten. Jetzt ist er berühmt und heißt Glatze. Leider dürfen wir Läuseträger nicht aus dem Haus und das wird auf die Dauer langweilig. Aber auch die lausigen Zeiten gehen vorbei.
Jetzt habe ich gelegentlich nur noch Hühnerflöhe, aber damit muss ich trotzdem in die Schule. Ich habe Hühner gern und unseren Hühnerfuttermann auch. Der kommt uns alle paar Wochen besuchen und redet mit meiner Mutter. Sie kocht ihm immer Kaffee, aber echten, keinen Muckefuck, weil das der Hühnerfuttermann zu schätzen weiß.
Mir hat er beigebracht, wie man Hühner hypnotisiert. In ganz Kattenbach bin ich die Einzige, die Hühner hypnotisieren kann. Aus Großmut habe ich Paul auch gezeigt, wie das geht. Der hat zuhause aber keine Hühner und kann deshalb nicht üben.
Ich gebe auch Vorstellungen. Als Eintrittspreis nehme ich drei leere Fünferpackungen Zigaretten.
Dadurch habe ich schon ein dickes Kartenspiel zusammengekriegt. Wir schneiden uns nämlich immer die Deckel ab und spielen damit Karten. Trumpf ist Juno, weil da draufsteht „Aus gutem Grund ist Juno rund“. Da ich beim Spielen immer so schnell meine Karten verliere, und auch nie so viel finde wie die andern, verdiene ich eben welche durch Hühner hypnotisieren.
Ich stelle immer ein leere Bierflasche zwischen mich und das Huhn. Dann bewege ich die Finger hin und her und schaue das Huhn ganz konzentriert durch die Flasche an. Da macht das Huhn genau das, was ich will. Es bleibt nämlich ganz ruhig liegen.
Maria Martin hat das nicht gepasst. Sie wollte ihre Zigarettenpackungen zurück. Gleich fing auch Gisi Simoneit an: „Das doofe Vieh macht ja gar nichts. Das ist Betrug!“ Ihre Mutter sagt immer, sie hätte für ihr Alter so einen reichhaltigen Wortschatz. Da habe ich gesagt, das sei ja die Kunst, dass das Huhn nichts mache. Es würde sich erst wieder rühren, wenn ich es ihm erlauben würde. Aber die Zwei haben weiter rumgemeckert.
Da hat mich Paul beschützt, indem er erzählte, er habe genau so was mal im Zirkus gesehen. Nur hätte der Hypnotiseur keine Flasche gehabt, sondern eine Peitsche und das Tier sei ein Löwe gewesen und kein Huhn. Aber sonst war es genauso. Daher versteht Paul was vom Hypnotisieren, auch wenn er es selbst nicht kann. „Weil“, sagte er noch, „das ist nicht jedem gegeben. Wenn Ihr weiter so einen Mist erzählt, sieht jeder, dass Ihr von nichts eine Ahnung habt.“
Damit hat Paul mich und die Zigarettenschachteln gerettet; denn weder Gisi noch Maria waren je in einem Zirkus. Natürlich wollten sie das nicht zugeben und taten deshalb lieber so, als glaubten sie Paul.
Ich bin auch noch nie in einem Zirkus gewesen, aber fast. Im Herbst kam ein Zirkus in die Stadt. Mama hat an einem Sonntag Inge Geld für den Zirkus gegeben, sogar für den Bus. Das war für uns beide.
Im Bus war Angelika Wolf, die meiner Schwester ganz aufgeregt erzählte, sie ginge ins Kino. Wir sollten auch ins Kino, falls der Zirkus ausverkauft wäre.
Er war´s.
Also sind wir ins Kino gegangen, aber nicht in Schneewittchen, sondern in das Kino, wo Angelika auch drin war. Inge hat mich so beschwatzt, dass ich auch noch auf Schneewittchen verzichtet habe. Der Film hieß „Das Haus der sieben Sünden“. Ich habe mich furchtbar gelangweilt. Bis dahin dachte ich nämlich immer, Sünden seien interessant, weil sie doch verboten sind. Ich sollte auch sündigen, weil ich Inge versprechen musste, zuhause zu sagen, wir hätten den Märchenfilm gesehen.
Dann habe ich aber doch die Wahrheit gesagt und meine Schwester hat einen großen Krach gekriegt. Danach war Inge noch lange wütend auf mich und hat mich eine alte Petze genannt. Dabei habe ich das nur erzählt, weil ich sonst geplatzt wäre.
Mama hat Inge ganz schön rangenommen. „In so einen vulgären Film zu gehen und noch dazu Deine kleine Schwester mitzuschleppen“. … Vulgär ist ein herrliches Wort, das muss ich mir merken.
8. Bild
Wie hypnotisiert man Hühner?