Wir forschen weiter

Am nächsten Nachmittag standen wir vor dem Bahnhaus. Ich hatte Herzklopfen. Rita bestimmt auch. Ich klingelte bei Merkels.

Nichts!

Ich klingelte nochmals.

Wieder nichts.

Ich war schon irgendwie erleichtert, da bummerte Rita gegen die Tür.

Das hatte Erfolg. Wir hörten schlurfende Schritte und die Tür wurde geöffnet.

Frau Merkel stand in Kittelschürze und Pantoffeln vor uns. Sie hatte eine lange dürre Nase und weiße Haare auf dem Kinn. Fehlte nur noch die Warze.

„Guten Tag, Frau Merkel, bitte entschuldigen Sie die Störung, aber wir sind von der Schülerzeitung und führen eine Befragung durch!“ Diesen Satz hatten wir auswendig gelernt und so klang er auch.

„Hä …?“

„Ihre Familie gehört doch zu den Gründern von Kattenbach und da …“

„Hä …?“

Frau Merkel legte ihre Hand hinter die Ohrmuschel. Da brüllte meine Freundin: „Wir sind von der Schülerzeitung und wollen was über die Geschichte von Kattenbach schreiben!“

„Was für ‘ne Geschichte?“

„Von Kattenbach!“

„Alois …!“

„Ist was?“ Ein kleiner Mann mit einem Vollmondgesicht stand plötzlich auf der Schwelle.

„Da sind zwei!“

„Das sehe ich, bis zwei zählen kann ich noch! Was wollt Ihr?“

„Guten Tag, Herr Merkel, bitte entschuldigen Sie die Störung. Wir sind von der Schülerzeitung und führen eine Befragung durch.“

„Zeitung, Befragung …?“

„Wir möchten gerne ein Interview mit Ihnen machen. Dürfen wir rein kommen?“

„Ich soll in die Zeitung?“ schnarrte er. „Warum?“

Jetzt ergriff ich das Wort: „Weil Ihre Familie zu den Gründern von Kattenbach gehört und wir einen Bericht über diese Leute schreiben wollen.“

Endlich saßen wir im Wohnzimmer, das genau so aussah, wie ich mir das Wohnzimmer bei meiner Handarbeitslehrerin vorgestellt habe. Spitzendeckchen, Nippes und ein Rosshaarsofa. Sie hatten auch viele Fotos an den Wänden. Herrn Merkel als Bahnhofsvorsteher in Uniform, Herr Merkel als Soldat mit Pickelhaube, Herr Merkel als Bräutigam mit Braut. Bei diesem Bild nehme ich an, dass es auch Frau Merkel zeigt. Dann gab es noch Herrn Merkel im Matrosenanzug und einige Fotos, die Herrn Merkel am Bahnhof mit anderen Leuten zeigten. Das waren auch recht alte Bilder. Sie wirkten furchtbar steif und Herr Merkel so liebedienerisch darauf.

Herr Merkel schrie: „Hol ein paar Plätzchen, Sieglinde!“

Sieglinde schlurfte in Richtung Küche und kam mit einer Dose zurück. Die war bunt und darauf stand: Feines Gebäck. Sie stellte die Dose vor uns ab und öffnete sie.

„Nehmt Euch tüchtig was, Kinder, die hat meine Frau selbst gebacken!“

Das „feine Gebäck“ war nicht nur steinhart, es schmeckte auch verbrannt. Die Krümel, die mir im Hals steckten, trieben mir die Tränen in die Augen.

„Sehr gut“, lobte Rita. „Vielen Dank Frau Merkel!“

„Hä …?“

„Ihr müsst wissen, dass meine Frau schwerhörig ist“, erklärte uns Herr Merkel.

„Dürfen wir ein Bild von Ihnen und Ihrer Frau machen?“ Rita hatte extra den Fotoapparat von ihrem Bruder entliehen. Sie meinte, so würden wir glaubhafter wirken.

„Komm her, Sieglinde, die wollen ein Bild von uns machen!“ schrie Herr Merkel. Sie setzten sich steif auf die Kante des Rosshaarsofas. „So, jetzt gucken Sie ganz natürlich, so, ja, ein bisschen mehr in meine Richtung. Ja, das ist gut, prima. Achtung!“ Dann machte es klick, aber das machte nichts, Rita hatte ja keinen Film in der Kamera. Sie war recht großzügig mit ihren Aufnahmen und machte mindestens sechs, von verschiedenen Gesichtspunkten aus, wie sie Merkels erklärte.

Dann war ich an der Reihe. Ich zückte Block und Bleistift und fragte nach Eltern und Großeltern und nach der Pulverfabrik. Herr Merkel gab mir bereitwillig Auskunft über alles, was ich wissen wollte. Er konnte natürlich nicht soviel wissen wie Opa Walter, weil er so ungefähr zehn Jahre jünger als dieser ist. Aber sein Vater und sein Großvater hatten auch schon bei der Bahn gearbeitet. Je mehr ich Herrn Merkel ansah, um so mehr erinnerte mich sein Gesicht an jemand, den ich auch kannte. Wer war das nur?

Er holte zwei dicke Fotoalben und fing an zu blättern. Er zeigte uns die Fotos und erzählte uns bei jedem, wer das war. Es war furchtbar langweilig. Die Bilder unterschieden sich kaum von denen an den Wänden. Nur, dass Vater und Großvater Merkel in der Bahnhofsvorsteheruniform oder im Hochzeitsanzug steckten.

„Das ist meine Tante Rosalinde, sie war eine schöne Frau.“ Das Foto zeigte eine junge Frau mit blonden hochgesteckten Haaren und einem künstlich aufgesetzten Lächeln. Zu meiner Überraschung war die Frau wirklich hübsch. Auch dieses Gesicht kam mir bekannt vor. „Sie heiratete einen Studienrat in der Stadt und schenkte ihm neun Kinder!“ Herr Merkel blätterte weiter. „Hier, meine Mutter, eine geborene Martin. Sie und Rosalinde sind Schwestern gewesen …“

Jetzt fiel´s mir wie Schuppen von den Augen. Martin! Daher das Mondgesicht. Es erinnerte mich an Peter Martin, das war’s. Und die Tante, die sah der Barbara so ähnlich. Ich platzte heraus: „Sind Sie mit den Martins aus der Kaiserstraße verwandt?“

Die nichtvorhandenen Augenbrauen zogen sich zusammen, als mich Herr Merkel sehr genau fixierte. „Ja, leider!“

Er schien mir ziemlich sauer zu sein. Ich stieß Rita unbemerkt an. Das war unser Zeichen. Sie deutete unbekümmert auf einen Herrn mit Zwicker und gestärkter Hemdbrust: „Wer ist denn das? Ist das nicht der berühmte Bahnbeamte, der sich so sehr um Kattenbach verdient gemacht hat?“ Herrn Merkels Miene glättete sich wieder, soweit sie sich bei seinen Runzeln glätten ließ.

„Richtig, das war mein Onkel Philipp von der Merkelseite. Er hat sich in der Tat um Kattenbach verdient gemacht. Er hat den Turnverein ins Leben gerufen und sich in der Schädlingsbekämpfung der Schrebergärtner hervorgetan.“ Ehe er noch von weiteren Vorzügen des Onkels von der Merkelseite berichten konnte, ließ Rita einfließen. „Dass so ein Mann ein solches Ende nehmen musste …“

„Ein solches Ende, allerdings“, echote Herr Merkel. „Verflixt, was wisst Ihr davon?“

Ich krallte Rita ins Bein, sie trat mir auf den Fuß. Wir konnten’s vor Spannung kaum aushalten. Endlich, endlich waren wir am Ziel.

Ich kritzelte in meinen Block, irgendwas. Den alten Leuten hatte ich erzählt, das wäre eine Kurzschrift, die wir speziell für unsere Zeitung entwickelt hätten, damit nur wir sie lesen könnten. Aber das war in Wirklichkeit nur Fantasiegekritzel, das ich auch nicht hätte lesen können. Schließlich ist das auch egal, denn wir brauchen es ja gar nicht für die Schülerzeitung, weil es keine gibt.

„Ich habe gefragt, was Ihr von meinem Onkel wisst, dass Ihr so von seinem Ende reden könnt!“ Wir wussten darauf keine Antwort und drucksten herum. „Naja, es war halt so schrecklich, wie …“ Herr Merkel unterbrach mich: „Ich will auf keinen Fall, dass Ihr darüber schreibt, verstanden? Über das, was er alles für die Leute hier getan hat, könnt Ihr berichten, auch über mich und meine Eltern und Großeltern.“

„Er konnte doch gar nichts dazu“, meinte Rita.

„Natürlich konnte er nichts dazu“, schnauzte Herr Merkel. „Es liegt auch nicht in der Familie, aber genau das könnten die Leute meinen, falls Ihr das druckt!“

„So was liegt doch nie in der Familie, und wenn, dann bestimmt sehr selten.“ Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mehrere Familienmitglieder unschuldig geköpft werden. Außer natürlich in der Französischen Revolution, und das ist noch länger her.

Jetzt waren wir an der Quelle und das musste genutzt werden. Also sagte ich ganz ruhig: „Am besten erzählen Sie uns mal, wie es wirklich passiert ist, Herr Merkel. Sie wissen, die Leute reden halt und was morgens noch ein Bällchen ist, hat sich am Nachmittag zu einem Wasserball ausgewachsen.“ Ich kam mir bei dieser Rede ungeheuer erwachsen vor. So ähnlich habe ich nämlich meine Mutter sprechen hören. Es ist manchmal ganz gut, wenn man zuhört, auch wenn man nicht selbst angesprochen wird.

Herr Merkel schrie so plötzlich, dass wir beide unwillkürlich zusammenzuckten: „Soll ich es Ihnen erzählen?“ Er meinte Sieglinde!

„Hm!“

„Na gut, also, es fing alles mit den Schädlingen an.“

„Der Streit? Nicht mit dem Mädchen?“

„Was für ein Streit? Mein Onkel war ein äußerst friedfertiger Mensch!“

„Nichts, ich dachte …!“

„Denken soll man den Pferden überlassen, die haben einen größeren Kopf! Also, wie gesagt, die Schädlinge …, er hat sich doch so dafür eingesetzt, die Schädlinge zu bekämpfen. Er hatte auch viel Erfolg damit. Die Schrebergärtner waren ihm wirklich dankbar. Aber als es dann keine Schädlinge in den Gärten mehr gab, da …, na, da fehlte ihm halt was. Da fehlte ihm eben etwas, das er bekämpfen konnte.“

„Und deshalb hat er sich mit seinem Freund verkracht?“

„Wieso mit seinem Freund? Mit sich selbst!“ Er erntete gerade Bohnen, da kam er zum ersten Mal zu der Erkenntnis, dass der größte Schädling des Gartens der Mensch sei. Also er selbst. Stand er nicht hier und entriss der Erde alles, was sie hervorgebracht hatte? Viel schlimmer als eine Blattlaus! Also musste er sich selbst vernichten. Er ging in seinen Schuppen und holte Rattengift und Mausefallen. Das Gift schüttete er sich in seinen mitgebrachten Tee und die Mausefallen legte er in den Bohnen aus. Es waren Buschbohnen. Er erntete natürlich weiter - und eine Falle schnappte zu. Er schrie auf und sofort kam ein Nachbar angelaufen. Er wollte die Falle wegmachen, aber mein Onkel ließ es nicht zu. So begann es also.“

Herr Merkel seufzte: „Er versuchte es halt wieder, weil er sich wirklich für einen Schädling hielt, der unbedingt vernichtet werden musste. Das Schlimmste war aber, dass er auch so redete. Nun, dann haben sie ihn halt in die Klinik gebracht. Praktisch, um ihn vor sich selbst zu schützen. Das ging zwei Jahre gut. Dann starb er von selbst“.

„Das war alles?“ Rita klang genauso enttäuscht, wie ich es war. Die Geschichte ist ja ganz interessant, aber es passiert sicherlich öfter, dass jemand verrückt wird, als das ein Unschuldiger geköpft wird.

Wir waren froh, wieder an der frischen Luft zu sein. Diese dumpfe Stube mit den etwas merkwürdigen alten Leuten hatte uns doch bedrückt. Jetzt waren wir jedoch genauso schlau wie zuvor.

Wir hatten jetzt aber keine Lust mehr, weiter zu forschen. Wer weiß, was da noch alles rauskommen würde, was wir gar nicht wissen wollten.

 

Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?
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