40 Maggie
Caleb weiß nicht mal, dass Mrs Reynolds tot ist. Als ich ihm heute Morgen auf dem Gang begegnet bin, wollte ich es ihm erzählen. Aber dann habe ich Caleb und Kendra zusammen erwischt. Ehe wir eine Beziehung hatten, konnte ich es verstehen. Aber ich war davon ausgegangen, er hätte mich so gern, dass er niemand anderen brauchte. Ich dachte, was wir hätten, sei echt. Bäh. Ich will nicht an Kendra Greene und ihr perfektes blondes Haar und ihre perfekten Brüste denken oder an ihren perfekten Gang.
Aber ich kann nicht anders.
Weil ich nicht perfekt bin.
Dass ich im Zimmer der Krankenschwester sitze, beweist es. Und seit dem Moment, als Caleb wie angewurzelt dastand und die Narben auf meinem Bein anstarrte, wollte ich nur eines: weg hier. »Darf ich jetzt zurück in den Unterricht?«
Die Schulkrankenschwester steht über mein Bein gebeugt da und untersucht es. Ihre Hände stecken in Latexhandschuhen. Sie sieht hoch. »Tut es weh?«
Meinen Sie mein Herz? »Nein, gar nicht«, sage ich. »Ehrlich.«
»Es blutet ein bisschen. Ich mache mir Sorgen, dass es innere Verletzungen geben könnte.«
»Es ist nur ein kleiner Kratzer«, sage ich, während die Frau ein Antiseptikum auf einen Wattebausch träufelt und das Blut von meinem Knie wischt. »Viel Lärm um nichts.«
Ich weiß, wieso Caleb zu mir gelaufen kam und so besorgt getan hat. Es war, weil er Schuldgefühle hatte, dass ich Einzelheiten über seine Beziehung zu Kendra mitbekommen habe. Drew hat nur die Wahrheit gesagt, dass ich ihm das Gefängnis beschert habe. Caleb und ich hätten nie anfangen dürfen, uns zu unterhalten. Wir hätten uns in Mrs Reynolds’ Haus weiter ignorieren sollen.
Denn wenn wir uns nicht unterhalten hätten, würde ich jetzt nicht diese Verbindung zu ihm spüren.
Wenn wir uns nicht unterhalten hätten, hätte ich ihn nie geküsst und mich nach mehr gesehnt. Ich hätte nicht zugelassen, dass er mich manipuliert.
Schwester Sandusky sieht nicht besonders glücklich aus, als ich von ihrem Behandlungstisch rutsche und vorsichtig mein Hosenbein runterkremple. Aber ich werde nicht den ganzen Tag hier rumsitzen und schmollen. Ich werde aufstehen und mich behaupten – gegenüber Caleb, Drew, Kendra … und jedem anderen, der beschlossen hat, sich mir in den Weg zu stellen.
Als ich angezogen bin, atme ich erleichtert auf. Meine Narben sind bedeckt. Also warum fühle ich mich dann so entblößt? Weil Caleb die Narben der Wunden gesehen hat. Wunden, die er mir beigebracht hat.
Die ewigen Narben, die mich jeden Tag meines Lebens an ihn und den Unfall erinnern werden.
Blöderweise muss ich auf dem Weg nach draußen an Meyers Zimmer vorbei. Caleb sitzt vor dem Sekretariatstresen, den Kopf in den Händen vergraben.
Als sei ihm bewusst, dass ich ihn beobachte, hebt er den Kopf. Sein Blick saugt sich an meinem fest, als suche er dort nach Wärme oder Einvernehmen. Hält er mich für eine dumme Gans, die nach Demütigung lechzt? Ich wende den Blick ab, warte darauf, dass die Krankenschwester mir einen Zettel schreibt, und verlasse das Sekretariat so schnell ich kann.
Als wäre der Tag nicht schon schlimm genug, kommen jetzt auch noch Kendra und Hannah den Schulflur entlang. Sie haben mich noch nicht bemerkt. Ich husche in die Mädchentoilette … Für heute reicht es mir.
Ich betrachte mich im Spiegel. Langweilige haselnussbraune Augen, Haare, die sich nicht entscheiden können, ob sie hell oder dunkel sein wollen, und eine Nase, die zu groß für mein Gesicht ist. Und um diesen Schönheitsfehlern noch die Krone aufzusetzen, hinke ich außerdem.
Wie habe ich je glauben können, ich könnte mit der perfekten Kendra Greene konkurrieren?
Die Toilettentür geht auf. Ich verstecke mich rasch in einer der Kabinen und kurz darauf höre ich Kendra sagen: »Ich kann mir die beiden nicht beim Küssen vorstellen. Du etwa?«
»Igitt, Kend, sei nicht so widerlich. Caleb ist so was wie der raue Hollywoodtyp und Maggie ist ne verklemmte Loserin. Sie küsst wahrscheinlich mit zusammengepressten Lippen und behält die Hände an den Seiten.«
»Genau. Du hättest sie heute Morgen sehen sollen. Ich dachte schon, sie heult mitten im Gang los.«
Die beiden lachen.
Ich möchte sterben. Vergesst das mit dem Mich-Behaupten, tief in meinem Inneren bin ich wirklich eine Loserin und ein Feigling.
Ich luge durch den Spalt zwischen Tür und Kabine. Hannah legt Lippenstift auf, während Kendra mit ihren dicken blonden Haaren spielt.
»Er wird dich ewig lieben. Ihr zwei seid für immer miteinander verbunden«, sagt Hannah.
Kendra hört auf, mit ihrem Haar zu spielen, und lehnt sich an eins der Waschbecken. »Caleb hat Brian gesagt, er sei an Maggie interessiert, um ihn auf eine falsche Fährte zu locken.«
»Wieso Maggie? Ist sie nicht die Letzte, die ihn interessieren sollte? Schließlich hat er sie mit seinem Auto angefahren. Und sie zieht so viel Nutzen daraus, wie sie kann.«
Kendra zögert.
»Was ist?«, fragt Hannah.
»Hast du die Kabinen gecheckt?«
Ups. Ich bin geliefert. Mit einem kaputten Bein auf dem Toilettensitz zu balancieren, kommt nicht infrage.
Die Tür einer anderen Kabine öffnet sich quietschend. Oh nein. Ich versuche, an der Tür vorbeizuspähen, aber ich möchte nicht stolpern oder ein Geräusch machen, das die anderen auf mich aufmerksam macht.
»Ihr zwei seid erbärmlich. Ihr hättet nachsehen sollen, bevor ihr anfangt, über euer mitleiderregendes Leben zu plaudern.«
Es ist meine Cousine Sabrina.
»Was hast du gehört?«, fragt Kendra.
»Was denkt ihr denn? Ich habe alles gehört.«
»Und du wirst es für dich behalten, oder, Sabrina?«
Sabrina stemmt die Hände in die Hüften. »Ich weiß nicht genau. Wieso hört ihr nicht damit auf, Gerüchte über meine Cousine zu verbreiten? Sie hinkt vielleicht, aber an ihr ist mehr bewundernswert als an euch zwei zusammen.«
Die anderen Mädchen starren Sabrina an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen, total schockiert, dass jemand aus ihrem Gefolge zu guter Letzt doch noch eine eigene Meinung besitzt.
»Krieg dich wieder ein, Sabrina. Vergiss nicht, du warst ein Niemand und Maggie war vor einem Jahr noch an deiner Stelle. Nur weil du mit Brianne und Danielle befreundet bist, bedeutet das nicht, dass du plötzlich angesagt wärst.«
Sie hat recht. Ich war nicht besonders nett zu Sabrina, als ich noch dazugehörte und sie darum kämpfte, Freunde zu finden, die sich nicht in der Mittagspause in der Bibliothek verstecken mussten. Ich gehe davon aus, dass Kendras Worte Sabrina den Wind aus den Segeln nehmen werden, aber meine Cousine verzieht keine Miene.
»Kendra, ich habe den Boden angebetet, auf dem du gewandelt bist, weil du hübsch und beliebt warst und einen Freund hattest, von dem wir übrigen Mädchen nur träumen konnten. Ich wollte beliebt sein, so wie du. Jetzt finde ich dich nur noch erbärmlich.«
»Pass besser auf, Sabrina. Sonst bist du so schnell wieder ein Niemand, dass dir schwindelig wird.« Kendras Augen sind weit aufgerissen, ihr Blick ist wild und ich glaube, wenn sie Superkräfte hätte, würde er Sabrina glatt zum Schmelzen bringen. Aber sie hat keine Superkräfte. Hannah steht hinter Kendra, mit Daumen und Zeigefinger bildet sie ein L, das sie sich an die Stirn hält und anschließend auf Sabrina richtet.
Während Sabrina mich verteidigt und bedroht wird, kauere ich wie ein Feigling in meinem Versteck. Ich beobachte, wie meine Cousine sich für mich einsetzt, und mir ist klar, dass es kein schönes Ende für sie nehmen wird. Ich spüre, wie der Gedanke an Mrs Reynolds mir Mut macht.
Ich stoße die Tür der Toilettenkabine weit auf, das alarmierende Quietschen macht alle auf meine Anwesenheit aufmerksam.
Sabrina wirkt genauso schockiert wie Kendra und Hannah.
Kendra lacht nervös, erholt sich aber rasch. »Ist die Toilette hier der Losertreff und ich habe bloß noch nichts davon gehört?«
»Du bist genau wie deine Cousine«, sagt Hannah zu mir. »Eine, die immer nur Mädchen wie Kendra und mich kopieren wird.«
Ich humple zu meiner Cousine und stelle mich neben sie. »Hannah, du und Kendra, ihr habt einfach alles. Und dennoch … seid ihr beide bloß leere Hüllen ohne nennenswerten Inhalt. Ich würde euch selbst dann nicht kopieren, wenn ich dafür zwei gesunde Beine geschenkt bekäme.«
»Ich befürchte, der Unfall hat dein Hirn in Mitleidenschaft gezogen.« Kendra spuckt die Worte aus wie ein Drachen, der seinen Feinden Feuer entgegenspeit.
Sabrina sieht mich sprachlos an. Ich weiß, ich war seit dem Unfall nicht besonders stark. Ich habe niemandem die Stirn geboten und mich auf meine Schwächen anstatt auf meine Stärken konzentriert. Zeit mit einer starken Frau wie Mrs Reynolds zu verbringen, muss auf mich abgefärbt haben. Und die Zeit, die ich in den letzten Monaten mit Caleb verbracht habe, hat mir das Gefühl gegeben, attraktiv und schön zu sein. Die Sache ist … tief in meinem Inneren glaube ich einfach nicht, dass er mich angelogen hat. Bewunderung leuchtete in den Tiefen seiner Augen. Seine Finger bebten, wenn er meine Lippen nachzog oder mein Gesicht berührte. Ein Junge wie Caleb, der seine Gefühle vor allen verbirgt, könnte diese starken Reaktionen nicht vortäuschen, selbst wenn er es wollte.
Kendra schüttelt den Kopf und sieht mich verächtlich an. »Wenn Caleb sich mit dir abgegeben hat, dann nur aus Mitleid.«
Ich bin sicher, er hatte Mitleid, aber was wir miteinander geteilt haben, ging weit darüber hinaus. »Ich würde nicht so verächtlich gucken, wenn ich du wäre«, sage ich zu Kendra. »Es steht dir nicht gut zu Gesicht.«
Meine Cousine wendet sich mir zu. »Caleb? Du hast was mit Caleb? Ist das tatsächlich wahr?«
Ich nicke.
»Der Caleb Becker? Leah Beckers Bruder, Caleb Becker?«
Ich neige den Kopf zur Seite und nicke wieder.
Sabrina klappt die Kinnlade herunter und ihre Augen werden groß.
Die Erkenntnis erfasst mich wie eine gewaltige Welle. Caleb hatte die ganze Zeit über recht. Nach Spanien zu gehen wäre feige – es wäre eine Möglichkeit, vor allen Leuten zu fliehen und den Unfall für eine Weile zu vergessen. Aber der Unfall ist passiert. Das werde ich niemals vergessen können. Und ich hinke. Ich muss der Tatsache ins Auge blicken, dass ich nie wieder dieselbe sein werde.
Das ist okay. Ich bin okay. Während ich tief Luft hole, wird mir etwas klar …
Ich fühle mich stärker und lebendiger als vor dem Unfall.
Die Tür der Mädchentoilette öffnet sich. Mrs Gibbson kommt herein. Ihre Augenbrauen schießen nach oben, als sie unsere kleine Auseinandersetzung bemerkt. »Solltet ihr nicht alle im Unterricht sein?«
Keine von uns antwortet. Kendra starrt mich an, Hannah guckt immer wieder von Kendra zu mir und zurück zu Kendra, Sabrina steht noch immer der Mund offen und ich gebe nichts preis.
»Also schön. Machen wir alle einen kleinen Spaziergang in Mr Meyers Büro, damit er der Sache auf den Grund gehen kann.«
»Damit habe ich kein Problem«, sage ich.
»Ich auch nicht«, sagt Sabrina und stärkt mir damit den Rücken. Ich schulde ihr eine ernsthafte Entschuldigung, weil ich vor dem Unfall so bescheuert zu ihr war. Manchmal muss man sich von der Masse entfernen, um ein besserer Mensch zu werden. Es ist nicht immer einfach, das steht fest. Aber es ist das Richtige. Und manchmal fühlt es sich dermaßen gut an, das Richtige zu tun. Selbst wenn es einen Spaziergang in das Büro vom Direx bedeutet.
Kendras Augen sprühen immer noch Feuer. »Was immer.«
»Ja, was immer«, sagt Hannah und gibt damit eine peinliche Kopie ihrer besten Freundin ab. Ich habe beinah Mitleid mit ihr.
Wir alle folgen Mrs Gibbons ins Sekretariat. Sabrina sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Ist nicht wahr! Caleb Becker?«, bilden ihre Lippen stumm.
Es ist nicht Kendras Schuld, dass sie so wunderschön und hübsch ist. Es ist nicht einmal Calebs Schuld, dass er sich zu ihr hingezogen fühlt. Das alles spielt überhaupt keine Rolle.
Was eine Rolle spielt, ist, dass ich keine Gefühle von Hass oder Verrat mit mir rumschleppen werde. Das ist viel zu anstrengend. Mrs Reynolds hatte recht.
Ich hasse Kendra nicht.
Ich hasse Leah nicht.
Ich hasse Caleb nicht.
Ich fühle mich stärker, als ich mich seit … nun, ich kann mich nicht einmal daran erinnern, seit wann gefühlt habe. Alles, was ich weiß, ist, dass ich mich gut fühle. Nein, besser als das. Ich fühle mich stark.