34 Maggie

Ich summe ein altes Lied, das meine Mutter mir früher immer vorgesungen hat, wenn sie mich ins Bett gebracht hat. Damals, als ich noch Angst im Dunkeln hatte und mich weigerte, schlafen zu gehen. Zu der Zeit war das Leben noch viel einfacher. Mein Dad lebte bei uns und Moms einziger Job war, nun ja, eine Mom zu sein.

Jetzt kellnert sie und hat einen Freund. Okay, der letzte Teil ist meine Schuld. Ich kann meiner Mutter noch nicht mal vorwerfen, dass sie heute Abend verabredet ist. Und dank Caleb habe ich mich inzwischen damit abgefunden.

Jener Abend, an dem er mich zum ersten Mal küsste, war magisch. Ich war bereit, einfach nur mit ihm befreundet zu sein und unsere platonische Beziehung wertzuschätzen, als sie sich plötzlich in sehr viel mehr verwandelte. Wenn ich mit ihm zusammen bin, denke ich nicht über mein Bein nach. Alles, woran ich denke, ist, wie gut es sich anfühlt, mit ihm zu reden, alles miteinander zu teilen und ihn zu küssen.

Bin ich dabei, mich zum zweiten Mal in Caleb Becker zu verlieben? Ich weiß es nicht. Ich habe so viel Angst davor, erneut verletzt zu werden, dass ich nicht wage, die Mauer einzureißen, mit der ich mein Herz vor allem abschirme.

Stein für Stein trägt er diese Mauer ab.

Wir haben uns angewöhnt, nach der Arbeit zwei Blocks zu früh aus dem Bus zu steigen, um uns ein paar extra Minuten gemeinsame Zeit zu stehlen. Blöderweise hat er heute ein Treffen mit irgendeinem Typen vom DOC. Er hat gemeint, es sei wichtig, also wünsche ich ihm, dass alles gut läuft.

Ich habe ihm den Unfall vergeben. Vor zwei Tagen hat er versucht, das Thema anzuschneiden, und gesagt, er müsse mir etwas Wichtiges darüber erzählen. Ich habe ihm mit einem Kuss und der Versicherung, ihm längst verziehen zu haben, das Wort abgeschnitten.

Ein frischer Wind weht und die Blätter beginnen zu fallen. Der Sommer ist fast vorüber. Die Bäume, das Gras und die Blumen bereiten sich auf ihren Winterschlaf vor. Während ich die letzten Narzissenzwiebeln für Mrs Reynolds pflanze, denke ich an den Winter, den sie überleben müssen, ehe es taut und sie den ersten Sonnenstrahlen ihres Lebens entgegenwachsen werden.

Ich hebe den Blick und tauche aus meinen Träumereien über Lieder und Bäume und Caleb auf, als ich Mrs Reynolds entdecke, die neben mir steht und auf mich heruntersieht. Sofort höre ich auf zu summen.

»Du hast heute aber gute Laune.«

»Es sind nur noch fünf Blumenzwiebeln, dann bin ich komplett fertig«, berichte ich ihr.

»Das ist auch eine gute Sache«, sagt sie und blickt zum immer dunkler werdenden Himmel hoch. »Das Wetter schlägt um. Ich spüre bereits eine kühle Winterbrise in der Luft.«

»Ich auch.« Nachdem ich die letzten Zwiebeln gepflanzt habe, setzen wir uns gemeinsam zum Abendessen.

»Ich würde dich und deine Mutter demnächst gerne hierher zum Essen einladen. Aber nur, wenn du einverstanden bist.«

»Wieso sollte ich etwas dagegen haben?«

»Weil mein Sohn inzwischen öfter mit deiner Mutter ausgegangen ist, als in den letzten drei Jahren überhaupt. Ich habe ihn gecoacht, musst du wissen.«

»Tatsächlich?«

»Hatte Lou Pralinen dabei, als er das erste Mal bei euch war?«

Ich nicke.

»Dazu habe ich ihm geraten. Ich habe ihn angewiesen, deiner Mutter gelbe Rosen mitzubringen, weil sie am besten geeignet sind …«

»Es waren keine gelben Rosen.«

Sie hebt eine Augenbraue. »Nicht?«

»Nein. Es waren Tulpen.«

»Gelbe?«

»Lila.«

»Hm. Und die Pralinen, hatten sie eine Karamellfüllung?«

»Es waren Frango Mints. Sehr lecker.«

»Lecker, hm? So viel zum Ratschlag einer Mutter.«

Ich lache.

Meine Chefin wedelt mit dem Arm durch die Luft. »Genug getratscht, Margaret.«

Als wir die Teller wegräumen, schwankt Mrs Reynolds plötzlich und greift haltsuchend nach der Kante der Anrichte.

»Was ist mit Ihnen?«, frage ich, nehme ihr den Teller aus der Hand und führe sie zum Sofa.

»Diese neuen Medikamente richten ein heilloses Chaos mit meinen alten Knochen an, das ist alles. Kein Grund zur Sorge.«

Ich mache mir aber Sorgen. Bevor ich das Haus verlasse, rufe ich Auntie Mae’s Diner an und bitte Mr Reynolds, nach ihr zu sehen.

Ich mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle, nachdem ich mich davon überzeugt habe, dass es ihr gut geht. Als ich den Bürgersteig entlanggehe, schließt ein Wagen mit quietschenden Reifen zu mir auf und rollt dann langsam neben mir her. Ich erkenne das Auto – es sind die Typen, mit denen Caleb letztens so aneinandergeraten ist.

»Hey, da ist Caleb Beckers behinderte Freundin«, brüllt jemand aus dem Fenster.

Ich beiße mir in die Backe und laufe weiter.

»Ich glaube, sie steht auf dich, Vic. Warum zeigst du ihr nicht, wie man ordentlich Spaß hat?«, sagt ein anderer. Dann lachen sie alle.

Das Auto fährt langsam neben mir her. Ich hoffe bloß, sie kommen nicht auf die Idee, auszusteigen. Werden sie aus dem Wagen steigen, falls ich stehen bleibe?

Werden sie mir etwas tun?

Große Angst, so gewaltig, dass ich innerlich zittere, hält mich davon ab, stehen zu bleiben.

Ich kann nicht zurück zu Mrs Reynolds’ Haus. Es ist zu weit weg und ich kann diesen Typen nicht davonlaufen. Da stehen Häuser entlang der Straße. Ich könnte bei jemandem klingeln und ihn bitten, die Polizei zu rufen.

In meinem Kopf entsteht ein Plan. Ich drehe um und laufe in die entgegengesetzte Richtung, die Richtung, aus der ich gekommen bin. Aber dabei falle ich hin. Meine Hände brennen und ich spüre eine klebrige Nässe mein Knie entlangrinnen, die von einer Schürfwunde stammt, die ich mir bei meinem Sturz zugezogen habe.

»Na, hat dir das gefallen?«, ruft einer von ihnen aus dem Seitenfenster.

Ich rapple mich auf und hinke schneller. Ich bete, dass sie den Wagen nicht wenden und mir folgen werden. Denn falls sie das machen, weiß ich nicht, was ich dann tun soll. Ich lausche auf das Geräusch eines wendenden Autos. Ich wage nicht, einen Blick über die Schulter zu riskieren und ihnen einen weiteren Grund zu liefern, mir hinterherzufahren. Aber bis auf meine keuchenden Atemzüge dringt kaum ein Laut an meine Ohren.

Erleichterung durchströmt mich, als der Bus die Straße entlanggebraust kommt. Ich stürze zur Bürgersteigkante und winke ihn heran, dann werfe ich einen Blick zurück, um zu sehen, ob das Auto noch da ist.

»Alles okay?«, fragt der Busfahrer.

»Mir geht es gut«, sage ich, gehe hastig nach hinten durch und setze mich.

Nichts kann mich heilen, keine noch so große Menge an Physiotherapiestunden oder Operationen. Die alte Maggie, der Tennisstar ohne das erbärmliche Hinken, die alte Maggie, die jeder Gefahr davonrennen konnte, existiert nicht mehr.

Caleb ist draußen vor dem Haus und mäht den Rasen, als ich die Straße entlanggehumpelt komme. Er stellt den Motor aus und eilt zu mir, kaum dass er einen Blick auf mich geworfen hat.

»Was ist passiert? Sag mir, was passiert ist.«

Ich versuche, die Tränen zurückzuhalten. »Mir geht es gut.«

Er guckt nach allen Seiten, um sicherzugehen, dass uns niemand beobachtet, dann nimmt er mein Gesicht in beide Hände. »Dir geht es nicht gut. Rede mit mir, verdammt noch mal.«

Ich sehe ihn verzweifelt an. »Es war dieser Vic-Typ.

»Wenn er dich angefasst hat, bring ich ihn um«, knurrt Caleb, nach einem Blick auf meine zerrissene, blutbefleckte Hose.

»Das hat er nicht. Er und seine Freunde haben mir bloß Angst eingejagt, das ist alles.«

»Ich werde dafür sorgen, dass das nie wieder passiert, Maggie.«

Ich schenke ihm ein warmes Lächeln. »Du wirst mich nicht immer beschützen können. Was willst du machen, wenn ich erst in Spanien bin? Rüberfliegen und all die gemeinen Kerle verprügeln, die sich über mich lustig machen?«