11 Caleb

Der Schuldirektor steht über mein Pult gebeugt da. Den Tisch hat man in sein Büro gestellt, damit ich die gefürchteten Prüfungen ablegen kann.

Ich hätte nicht in die Schule zurückkehren sollen. Im DOC habe ich am Unterricht teilgenommen, es war Teil des Haftprogramms, also sind die Tests nicht das Problem. Es ist die Art, wie Meyer mich anstarrt, als hätte er noch nie in seinem Leben einen Exsträfling gesehen. Die unerwünschte Aufmerksamkeit treibt mich in den Wahnsinn.

Ich konzentriere mich auf den zweiten Test, der an diesem Morgen vor mir liegt. Es ist nicht so, als hätte ich die bisherigen Aufgaben mit Sternchen gemeistert, aber ich habe sie auch nicht in den Sand gesetzt.

»Bist du fertig?«, fragt Meyer.

Ich habe noch eine Algebraaufgabe zu lösen, aber da der Typ mir dermaßen auf die Pelle rückt, ist es fast unmöglich, sich zu konzentrieren. Ich gebe mein Bestes, die Frage richtig zu beantworten, weil ich es nicht vermasseln will.

Ich brauche fünf Minuten länger, als ich sollte, aber dann bin ich endlich bereit für die nächste Prüfung.

»Geh was essen, Becker«, weist Meyer mich an, nachdem er den Test eingesammelt hat.

Was essen? In der Cafeteria mit der halben Schülerschaft? Auf gar keinen Fall, Mann. »Ich habe keinen Hunger.«

»Du musst etwas essen. Gönn deinem Gehirn ein bisschen Futter.«

Was soll das schon wieder heißen? Hör auf so paranoid zu sein, befehle ich mir. Das ist ein Nebeneffekt davon, weggesperrt zu werden. Man analysiert ständig, was die Leute sagen und wie sie gucken, als würden sie mit einem spielen. Ein Witz auf Kosten des Exknackis. Ha, ha.

Ich stehe auf. Vor der Tür des Direktors warten mehr als vierhundert Schüler darauf, einen Blick auf den Typen zu werfen, der im Knast war. Ich massiere den Knoten in meinem Nacken, der soeben zurückgekehrt ist.

»Geh schon«, drängt Meyer. »Du hast noch drei Prüfungen vor dir, als setz deine Füße in Bewegung. Sei in fünfundzwanzig Minuten wieder hier.«

Ich lege meine schwitzende Handfläche auf die Türklinke, drücke sie runter und hole tief Luft.

Draußen auf dem Gang verliere ich keine Zeit und gehe sofort zur Cafeteria. Als ich drin bin, ignoriere ich alle Blicke. Kaffee, ich brauche einen starken schwarzen Kaffee. Der wird meine Nerven beruhigen und mich den Rest des Nachmittags wach halten. Während ich mit meinem Blick den Raum absuche, fällt mir ein, dass es für die Schüler keinen Kaffee gibt. Ich wette, im Lehrerzimmer haben sie aber eine Kaffeekanne. Würden ihnen auffallen, wenn ich eine Tasse abzweige? Oder würden sie die Polizei rufen und behaupten, zusätzlich zu all den anderen Etiketten, die sie mir auf die Stirn tätowiert haben, sei ich auch noch ein Dieb?

Ich entdecke meine Schwester ganz allein an einem Tisch. Früher saß sie immer mit Maggie und ihren anderen Freundinnen zusammen und kicherte und flirtete mit meinen Freunden.

Das war das Ätzende daran, einen Zwilling vom anderen Geschlecht zu haben. Es war übel genug, als meine Schwester in meine Freunde verknallt war und uns auf den Zeiger ging, wenn sie bei mir waren. Sie schminkte sich und kicherte rum und flirtete … es ist mir immer noch megapeinlich, wenn ich daran denke. Aber noch viel schlimmer war, als mir klar wurde, dass die Zeiten sich geändert hatten und meine Freunde ihr tatsächlich an die Wäsche wollten. Das veränderte die Spielregeln dramatisch. Ich habe letzten Sommer viel Zeit damit verbracht, meinen Freunden zu drohen, ihnen die Eier abzuschneiden. Ich habe meine Schwester immer beschützt, ihren Ruf genauso wie ihren Status in der Highschoolhackordnung.

Ein Jahr ist seitdem vergangen.

Mann, haben sich die Dinge verändert. Jetzt macht sich niemand auch nur die Mühe, einen Blick in Leahs Richtung zu werfen.

»Hi, Schwesterherz«, sage ich und setze mich rittlings auf die Cafeteriabank ihr gegenüber.

Leah dreht Spaghetti auf ihre Gabel, das warme Mittagsangebot des Tages. »Ich habe von den Prüfungen gehört«, sagt sie.

Ich stoße ein kurzes, zynisches Lachen aus. »Mein Hirn ist schon gegrillt und ich habe noch drei vor mir.«

»Glaubst du, du bestehst?«

Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Es heißt, Morehouse hat sich einen Sozialkundetest ausgedacht, den du unmöglich schaffen kannst.«

Habe ich meine Schuld der Gesellschaft gegenüber nicht schon beglichen? »Echt?«

»Ja. Caleb, was ist, wenn du durchfällst?«

Darüber will ich nicht nachdenken, also ignoriere ich ihre Frage. Als ich zufällig zur Cafeteriatür gucke, kommt Kendra gerade herein. Ist sie meine Ex oder haben wir nur eine Pause eingelegt? Ihre Reaktion auf meinen Anblick wird mir diese Frage beantworten. Noch hat sie mich nicht entdeckt. Gut. Ich bin nicht bereit, vor der ganzen verdammten Schule mit ihr zu reden. »Ich muss los.«

Ich stürme aus der Seitentür der Cafeteria, derjenigen, die in die kleine Turnhalle führt.

Mann, Kendra sah heiß aus. Ihre Haare waren anders geschnitten, als ich es in Erinnerung habe, und ihr T-Shirt saß etwas enger. Wie wird sie reagieren, wenn sie mir gegenübersteht? Wird sie sich in meine Arme werfen oder die Unnahbare spielen?

Ich vermisse sie.

Ich betrachte den Mattenstapel in der Ecke der Halle. Kendra hat mich immer angefeuert, wenn ich einen Kampf hatte. Ich erinnere mich an das letzte Ringerturnier, an dem ich teilgenommen habe. Ich habe zwei Gewichtsklassen übersprungen, um gegen den großen Kerl antreten zu können. Es war ein eins zu eins Unentschieden, bis ich meinen Zug machte. Seine Beine waren so kräftig wie eine Python, aber ich war schneller. Ich werde nie seinen Namen vergessen … Vic Medonia.

Ich war nicht nervös, obwohl ich das wahrscheinlich hätte sein sollen. Vic war der Landesmeister des vorangegangen Jahres. Aber ich habe den Kampf gewonnen. Der Typ sagte nach dem Kampf nur knapp: Wir sehen uns später.

Eine Woche danach wurde ich verhaftet.

»Du bist wieder da.« Trainer Wenner steht an der Tür der Turnhalle und mustert mich.

Ich schiebe die Hände in die Hosentaschen meiner Jeans. »Es sieht zumindest so aus.«

»Wirst du diese Saison für mich ringen?«

»Nein.«

»Meine Mannschaft könnte ein gutes Weltergewicht gebrauchen.«

»Ich bin jetzt ein Mittelgewicht.«

Der Trainer pfeift anerkennend. »Bist du sicher? Du siehst schlanker aus, als ich dich in Erinnerung habe.«

»Ich habe viel Sport gemacht. Muskelgewicht.«

»Quäl mich nicht so, Becker.«

Ich lache. »Ich komme zu ein paar Kämpfen. Als Zuschauer.«

Trainer Wenner haut auf die Ringermatten. »Wir werden sehen. Vielleicht wirst du nicht widerstehen können, wenn die Saison beginnt.«

Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Ich gehe besser zurück und beende diese Prüfungen. »Ich muss zurück in Meyers Büro.«

»Falls du dich doch noch entscheidest der Mannschaft beizutreten, weißt du ja, wo du mich findest.«

»Ja«, sage ich, dann kehre ich der Turnhalle den Rücken.

Zurück in seinem Büro lässt Meyer den nächsten Test vor mir auf den Tisch fallen.

Mist, ich habe vergessen, etwas zu essen. Jetzt verschwimmen die Wörter auf dem Blatt vor meinen Augen, der Knoten in meinem Nacken pulsiert schmerzhaft und Meyer starrt mich von seinem Schreibtisch aus an.

Der Typ sitzt da, die Augenbrauen wie ein paar französische Anführungszeichen über den Augen hochgezogen. »Stimmt etwas nicht?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, Sir.«

»Dann mach dich an die Arbeit.«

Leicht zu sagen für ihn. Er muss keinen Sozialkundetest schreiben, den zu bestehen selbst der Präsident der Vereinigten Staaten nicht den Hauch einer Chance hätte.

Ich sollte ihn absichtlich verhauen, damit würde ich es ihnen zeigen. Dann könnte ich mein letztes Highschooljahr auslassen. Meine Ma würde mich auf keinen Fall noch ein Juniorjahr machen lassen. Oder etwa doch?

Ich beantworte die Fragen, bis mein Bleistift nur noch ein Stummel ist und mein Hintern völlig taub vom langen Hocken auf dem Metallstuhl. Es besteht eine Fifty-fifty-Chance, dass ich Morhouses blöden Test bestanden habe. Nur noch zwei von den Dingern, bevor ich hier endlich fertig bin.

Zwei Stunden später beantworte ich die letzte Frage des letzten Tests. Ich lächle beinah. Beinah. Mein Kopf ist zu müde, um die Gesichtsmuskulatur in Gang zu setzen. Als Meyer mich entlässt, flüchte ich praktisch im Laufschritt aus seinem Büro.

Ich muss den Bus zum Eisenwarenladen nehmen. Bus Nummer 204 aus Hampton hält um fünfzehn Uhr neunundzwanzig einen Block von der Schule entfernt.

Auf meiner Uhr ist es fünfzehn Uhr siebenundzwanzig.

Das heißt, ich habe zwei Minuten, um zum Bus zu rennen. Ich bin gewillt, alles zu geben, um das Ding zu erwischen, weil Damon erfahren wird, dass ich zu spät gekommen bin, wenn ich es nicht schaffe.

In dem Moment, in dem ich den Bus sehe, verstellt Brian Newcomb mir den Weg, stemmt seine Hand gegen meine Brust und hält mich auf.

»Caleb, Kumpel, ich habe überall nach dir gesucht.«

Brian und ich waren seit dem Kindergarten beste Freunde. Wir haben seit beinah einem Jahr nicht mehr miteinander gesprochen. Ich habe ihm verboten, mich im Gefängnis zu besuchen, daher weiß ich nicht, wie wir zueinander stehen. Aber jetzt bleibt keine Zeit, das zu klären. Ich muss meine ätzenden Sozialstunden ableisten. Meine Freiheit hängt davon ab.

»Was geht, Brian?«, sage ich rasch, dann werfe ich einen Blick über seine Schulter und sehe den Bus davonfahren. Scheiße.

»Ach, weißt du. Alles … und nichts. Was ist mit dir?«

»Ach, weißt du. Ich versuche mich daran zu gewöhnen, in einem Zimmer ohne Gitterstäbe zu leben.«

Es entsteht eine dieser echt langen Pausen, in der Brian aussieht, als wüsste er nicht, was er darauf antworten soll, bevor er schließlich sagt: »Das war ein Witz, oder?«

»Genau.« Nicht wirklich.

Brian lacht, aber da klingt noch etwas anderes mit. Nervosität? Welchen Grund sollte er haben, nervös zu sein? Der Junge kennt mich besser als meine eigene Mutter.

Ich sehe meinen Freund, der seit dem Kindergarten mein absolutes Vertrauen genießt, mit schmalen Augen an. »Ist zwischen uns alles klar?«, frage ich.

Da ist ein leichtes, beinah unmerkliches Zögern. Aber ich bemerke es – und vor allem spüre ich es. »Yeah, alles klar«, sagt Brian.

Der Bus verschwindet um die Ecke. »Ich muss los.«

»Soll ich dich irgendwo hinbringen? Mein Dad hat sich einen neuen Yukon geholt und mir seinen alten Wagen vererbt«, sagt Brian und lässt die Autoschlüssel vor meinem Gesicht baumeln.

Im Moment wäre jede noch so verrostete, alte Schrottkarre hilfreich. Aber ich murmle: »Nein, danke«, weil ich im Knast gelernt habe, an niemanden Erwartungen zu stellen und mich nicht auf andere zu verlassen.

»Hör zu, es tut mir leid, dass ich dir nie geschrieben habe. Es sind ein paar verrückte Sachen passiert und du hattest mir verboten, dich zu besuchen …«

»Mach dir nicht ins Hemd. Das ist Schnee von gestern, Mann.«

Brian verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Ich würde trotzdem gern mit dir drüber reden.«

»Ich habe gesagt, es ist Schnee von gestern. Ich muss jetzt echt los«, sage ich und laufe in Richtung Trusty Nail davon.

Das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist, dass mein bester Freund sich noch seltsamer benimmt als meine Mom. Ich habe im Moment schon genug Sorgen, zum Beispiel, dass Damon Feuer speien wird, wenn er erfährt, dass ich an meinem ersten Tag gemeinnütziger Arbeit zu spät gekommen bin.