36 Maggie

Mrs Reynolds wird irgendwann noch mal mein Ende sein. Sie ist fest entschlossen, mich hinter das Steuer der schwarzen Monstrosität zu zwingen, die in ihrer Garage steht.

»Es ist ein Klassiker«, sagt Mrs Reynolds mit hochgerecktem Kinn, als das Garagentor sich öffnet und den Blick auf den Cadillac freigibt.

»Ich … ich bin noch nicht bereit, wieder Auto zu fahren«, sage ich. »Aber Sie können fahren und ich begleite Sie auf dem Beifahrersitz.«

Mrs Reynolds öffnet die Beifahrertür und rutscht auf den Sitz. »Mädchen, ich sehe kaum, was vor meinen Füßen ist. Komm schon, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Sie streckt die Hand aus dem Fenster, die Autoschlüssel hängen an ihren Fingern. Sie schüttelt sie und die Schlüssel klimpern aneinander.

Ich schimpfe vor mich hin, als ich die Schlüssel aus ihrer Hand nehme, und hoffe, sie versteht den Wink mit dem Zaunpfahl. Tut sie nicht. Ich öffne die Wagentür und lasse mich auf den Fahrersitz gleiten. Wow. Das weiße Leder ist weich und die Rückenlehne des Sitzes so bequem wie die eines Sessels. Ich gucke durch die Windschutzscheibe. Die Motorhaube ist breit und mit dem glänzenden Cadillac-Symbol versehen.

Ich wende mich Mrs Reynolds zu, die ihre kleine Handtasche ordentlich auf dem Schoß platziert hat und darauf wartet, dass es losgeht. Die alte Dame stolz auf mich zu machen, wäre so toll. Aber … ich bin noch nicht so weit. Glaube ich.

»Ich kann das nicht«, sage ich und hoffe, sie versteht.

Doch sie kennt kein Pardon. Das verrät mir der strenge Blick, mit dem sie mich ansieht. »Margaret, steck den Schlüssel in die Zündung.«

Ich mache es.

»Jetzt dreh den Schlüssel und lass den Motor an.«

Ich drehe den Schlüssel.

»Wovor hast du solche Angst, Liebes?«

»Davor, jemanden zu überfahren, in einen Unfall verwickelt zu werden.« Ich schlucke schwer.

»Daran musst du arbeiten, weißt du. Angst davor zu haben, Risiken einzugehen, ist schlimmer, als tatsächlich die Dinge zu tun, die eine Herausforderung für dich sind.«

»Ich bin seit dem Unfall nicht mehr gefahren.«

»Dann wird es allmählich Zeit.«

Ich schüttle den Kopf.

»Setz vorsichtig zurück, damit du nicht den Zaun mitnimmst.« Mrs Reynolds guckt nach vorn und legt ihren Gurt um.

Ich schnalle mich ebenfalls an. Ich habe keinen Schimmer, wie die Dame es schafft, mich Dinge tun zu lassen, die ich nicht tun will. Es ist, als hätte sie irgendeine mysteriöse Macht über mich.

Ich hole tief Luft, presse meinen Fuß auf die Bremse und lege den Rückwärtsgang ein. Während ich die Bremse langsam löse, drehe ich mich nach hinten und überprüfe, ob der Weg frei ist.

»Pass auf den Briefkasten auf«, weist Mrs Reynolds mich an.

Wir gelangen sicher ans Ende der Einfahrt und ich setze auf die Straße zurück. Ich versuche, die anrollende Panikattacke in den Griff zu bekommen, aber ich glaube, ich bin dabei nicht besonders erfolgreich. Ein Teil von mir findet es toll, wieder Auto zu fahren und diese Angst aus meinem Leben zu verbannen, aber der andere, stärkere Teil von mir möchte das Auto einfach nur parken und nach Hause humpeln. Ich höre Calebs Stimme in meinem Kopf, die mich drängt, nicht aufzugeben.

Mrs Reynolds tätschelt mein Knie. »Gut gemacht, Margaret.«

Nachdem sie mir dergestalt ihr Vertrauen ausgesprochen hat, stelle ich die Automatikschaltung auf Drive und rolle langsam die Straße hinunter.

Meine Füße sind nicht an die Pedale gewöhnt und ich trete zu fest auf die Bremse und beschleunige zu schnell. »Entschuldigung«, sage ich, als wir an einem Stoppschild halten und Mrs Reynolds nach vorn geschleudert wird.

Sie räuspert sich. »Kein Problem. Lass uns ein bisschen behutsamer mit Gas und Bremse umgehen, einverstanden?«

»Äh, sicher.« Aber als ich mit dem Überqueren der Kreuzung an der Reihe bin, den Fuß von der Bremse nehme und Druck auf das Gaspedal ausübe, pumpe ich ein bisschen, weil ich nicht möchte, dass Mrs Reynolds wieder nach vorn fliegt.

Doch dadurch mache ich es nur schlimmer. Ups. »Sie wären wahrscheinlich die bessere Fahrerin, sogar mit Ihren Augenproblemen«, sage ich und meine es vollkommen ernst.

»Da muss ich dir unter Umständen zustimmen, Liebes. Erinnere mich nächstes Mal daran, meine Reisetabletten zu nehmen.«

Ich werfe ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Sie sehen ganz schön grün aus.«

»Guck einfach nur auf die Straße und nicht zu mir«, befiehlt sie. »Meine Gesichtsfarbe hat nichts mit deinen Fahrkünsten zu tun.«

Sie dirigiert mich zu einem Laden namens Monique’s. Im Schaufenster sind wunderschöne Kleider präsentiert. Bis wir dort ankommen, haben sich meine Nerven beruhigt. Ich folge Mrs Reynolds in das Geschäft und staune, als ich die Kleider in sämtlichen Farben und Schnitten sehe, die auf Ständern im ganzen Raum verteilt sind.

Mrs Reynolds fährt mit den Fingerspitzen über ein kurzes hellblaues Seidenkleid. »Weißt du, woran man die Qualität eines Materials erkennt?«

Ich nehme die Hand und lasse den weichen Stoff durch meine Finger gleiten. »Ich habe Stoffen nie richtig Aufmerksamkeit geschenkt.«

»Jeder Stoff hat eine eigene Persönlichkeit, genau wie meine Narzissen. Bei einigen spielen Weichheit und Schwere eine Rolle. Bei anderen kommt es darauf an, wie sie fallen … und die Strahlkraft der Farben darf man auch nicht außer Acht lassen.«

»Woher wissen Sie so viel darüber?«

»Schätzchen, wenn man so alt ist wie ich, weiß man mehr als man wissen möchte.«

Eine Frau, die in dem Geschäft arbeitet, kommt zu uns. Sie trägt einen pflaumenfarbenen Hosenanzug und hat blonde Haare, die sorgfältig frisiert und an den Spitzen in Locken gelegt sind. »Kann ich etwas für Sie tun?«

»Wir sind auf der Suche nach einem Kleid«, sagt Mrs Reynolds. Dann zeigt sie auf mich. »Für diese junge Dame hier.«

»Für mich?«, frage ich erstaunt, während wir der Bedienung durch den Laden folgen.

Mrs Reynolds bleibt stehen und dreht sich zu mir um. »Du brauchst etwas, um deine Garderobe aufzupeppen, Margaret. Du trägst nur grobe Stoffe und, um ehrlich zu sein, deine Kleider sind alle ein bisschen zu unförmig und schlicht.«

Ich gucke an meiner schwarzen Baumwollhose und meinem grauen T-Shirt runter. »Sie sind bequem.«

»Und völlig angemessen, um zu Hause darin zu entspannen. Aber heute Abend werden wir schön essen und ich möchte, dass du dich fein machst. Betrachte es als vorzeitiges Weihnachtsgeschenk.«

Die Verkäuferin führt uns zu einem Ständer mit kurzen Cocktailkleidern. »Diese hier sind soeben aus Europa eingetroffen. Es ist eine neuartige, unempfindliche Seidenmischung.«

Mrs Reynolds reibt den seidigen aquamarinfarbenen Stoff des Kleides zwischen ihren Fingern. »Zu steif. Sie ist Baumwolle gewöhnt, daher hätte ich gern etwas Anschmiegsameres.«

»Ich trage keine kurzen Kleider«, eröffne ich den beiden.

Die Frau führt uns in eine andere Ecke des Geschäfts. »Wie wäre es mit einer Baumwoll-Wollmischung?«

Mrs Reynolds schüttelt den Kopf. »Zu warm.«

»Rayon?«

»Klebt zu sehr am Körper.«

Ich rechne damit, dass die Verkäuferin langsam die Lust verliert, aber sie legt nur grübelnd die Hand ans Kinn. »Ich habe da vielleicht etwas hinten, das Sie interessieren könnte. Warten Sie hier.« Sie geht ins Hinterzimmer des Ladens und kommt eine Minute später mit einem gelben Kleid über dem Arm zurück. Als sie es Mrs Reynolds hinhält, sagt sie: »Es ist aus Schweden. Ein neuer Lieferant hat es uns zur Begutachtung geschickt.«

Mrs Reynolds mustert das Kleid, dann reibt sie die Ecke des Stoffes zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich finde das Material wunderbar, aber die Farbe ist scheußlich. Sie würde darin wie eine quietschsaure Zitrone aussehen.«

»Wir haben es auch in einem Fliederton bekommen. Ich hole es rasch.«

»Das ist eine wunderschöne Farbe«, sage ich, als sie das fliederfarbene Kleid bringt. Ich probiere es in der Umkleide an. Es hat Spaghettiträger und einen runden Halsausschnitt. An der Taille liegt es eng an, dann fällt der Stoff in großzügigen Wellen bis zu meinem Knöchel. Als ich auf den Spiegel zugehe, kann man kaum sehen, dass ich hinke.

Die Verkäuferin lächelt, als ich das Kleid präsentiere. »Ich würde sagen, das ist es.«

Mrs Reynolds schnalzt mit der Zunge. »Es ist perfekt. Wir nehmen es.«

»Du hast eine sehr großzügige Großmutter«, sagt die Verkäuferin zu mir.

Ich werfe Mrs Reynolds einen Blick zu, die in einer anderen Ecke des Ladens ein weiteres Kleid unter die Lupe nimmt. »Ich weiß. Ich hätte mir selbst keine bessere aussuchen können.«

Als ich zurück zur Umkleide gehen will, um das Kleid auszuziehen, hält Mrs Reynolds mich davon ab. »Behalt es an, Margaret. Wir gehen von hier aus essen und du wirst nicht genug Zeit haben, dich umzuziehen.«

»Welches Kleid werden Sie anprobieren?«

»Alte Frauen brauchen keine neuen Kleider. Jetzt Schluss mit dem Geplapper und weiter geht’s.«

Ich stemme die Hände in die von fliederfarbenem Stoff umschmeichelten Hüften. »Ich verlasse diesen Laden nicht, ehe Sie sich ebenfalls ein neues Kleid gekauft haben.«

Mrs Reynolds steht der Mund offen vor Schock.

»Guck mich nicht so überrascht an, Grandma«, sage ich in einer Kopie ihrer berühmten Redewendung. »Es steht dir nicht gut zu Gesicht.«

Ihr Mund schnappt zu. Dann wirft sie den Kopf in den Nacken und brüllt vor Lachen.

Eine halbe Stunde später sitzen wir wieder im Cadillac. Ich möchte noch hinzufügen, dass Mrs Reynolds ein neues himmelblaues Kleid aus einem Seide-Rayon-Gemisch mit dazu passendem Jäckchen trägt.

»Ich möchte, dass Sie für das Kleid Geld von meinem Lohnscheck nehmen. Ich bestehe darauf«, sage ich.

Mrs Reynolds lächelt nur, ohne zu antworten.

»Es ist mir ernst, Mrs Reynolds.«

»Das weiß ich, Liebes, und ich schätze es sehr. Aber ich bezahle es trotzdem aus eigener Tasche.«

Ich schüttle genervt den Kopf. »Wohin geht es jetzt?«

»Zu einer Kuchenschlacht.«

»Hu?«

»Fahr einfach zu Auntie Mae’s Diner und du wirst schon sehen.«

Ich wende den Wagen und fahre zum Diner.

Mrs Reynolds duckt sich. »Fahr zum Hintereingang, wo die Mülltonnen sind«, flüstert sie. »Und sorg dafür, dass uns niemand sieht.«

Die Frau meint es ernst. Ich lasse mich in meinem Sitz tiefer sinken und lenke das Auto im Schneckentempo zur Rückseite des Restaurants, als wären wir hier, um den Laden auszurauben. Ich halte bei den Mülltonnen. »Was machen wir hier?«, flüstere ich. Dann frage ich mich, wieso ich überhaupt flüstere. Ihrem Sohn gehört das Restaurant.

»Lass den Motor laufen, steig einfach aus und klopf dreimal an die Hintertür. Dann wartest du zwei Sekunden und klopfst erneut dreimal.« Mrs Reynolds versinkt tiefer in ihrem Sitz. »Wenn jemand zur Tür kommt, sagst du: Die rote Henne ist aus dem Nest entwischt.«

»Ich verstehe nicht.«

»Das wirst du, wenn du meine Anweisungen befolgst. Los jetzt!«

Es ist einfach zum Schreien. Ich mache mir fast in mein Kleid, als ich zur Hintertür schleiche und klopfe. Klopf, klopf, klopf. Pause. Klopf, klopf, klopf.

Juan, einer der Kellner, öffnet die Tür einen Spalt.

Ich pruste los, als ich sage: »Der rote Vogel ist aus dem Nest entwischt.«

»Meinst du nicht die Henne

»Ach ja. Tut mir echt, echt leid. Ich meinte die rote Henne ist aus dem Nest entwischt.«

Ich glaube, Juan lacht auch, als er sagt: »Warte hier«, und die Tür schließt. Als die Tür wieder aufgeht, reicht Irina mir zwei Schachteln.

»Was ist da drin?«, frage ich.

»Frag nicht, Moggie. Eine Überraschung für dich und Mrs Reynolds.«

Sie schließt die Tür und ich trage die Schachteln zum Auto und gleite zurück auf den Fahrersitz. »Wir haben die Ware.«

»Großartig, jetzt fahr zurück zu mir nach Hause.«

Mrs Reynolds grinst selbstgefällig, während ich auf ihr Haus zusteuere. Als ich die Garageneinfahrt hochfahre, wird mir endlich klar, was hier los ist.

Der Pavillon ist fertig und Caleb hat ihn mit kleinen Lämpchen geschmückt. Innen hat er weiße Kerzen entzündet, wodurch der ganze Pavillon hell leuchtet. Caleb steht gleich daneben, er trägt eine khakifarbene Hose, ein weißes Hemd und einen Schlips.

Als er mir zuzwinkert und mich strahlend anlächelt, spüre ich, wie ein weiteres Stück von meiner Rüstung abplatzt.