15 Caleb

»Yo, Caleb, komm, setz dich zu uns«, ruft Brian mir aus dem Gewühl der Cafeteria zu.

Ich hatte geplant, mir ein Sandwich zu holen, und mich zu meiner Schwester zu setzen. Heute trägt sie pechschwarzen Lippenstift, passend zu ihrer verwaschenen schwarzen Jeans. Mom ist nicht mal zusammengezuckt, als Leah heute Morgen die Treppe runterkam. Wer immer sich den Trend mit den schwarz angemalten Lippen ausgedacht hat, hat eine ernsthafte Störung.

Ich stehe neben ihr und überlege, was ich tun soll. Sie guckt nicht von dem Buch hoch, das sie liest, und sagt: »Geh zu Brian, ist mir egal.«

»Komm mit mir, Leah.«

Sie guckt hoch, schwarzer Lippenstift und alles. »Sehe ich so aus, als wollte ich bei ihnen sitzen?«

Das war’s. Ich halte es nicht länger aus. Ich stütze meine Hände auf den Cafeteriatisch und sage: »Du willst mir mit dem ganzen schwarzen Müll vielleicht Angst einjagen, aber ich kaufe es dir nicht ab. Also wieso wischst du dir den Mist nicht von den Lippen und hörst auf, den wandelnden Tod zu spielen. Es geht mir allmählich auf die Nerven.«

Anstatt dankbar zu sein, dass ich so brutal ehrlich war, schnappt sie sich ihre Bücher und rennt aus der Cafeteria.

Was zum Henker soll ich jetzt tun?

Brian winkt mich noch immer zu sich, aber ich zögere.

Es ist nicht so, als wollte ich nicht bei meinen alten Freunden sitzen; ich will nur nicht mit Fragen über das Gefängnis bombardiert werden. Denn diese Jungs würden nicht einen Tag im DOC überstehen und dächten wahrscheinlich, ich lüge, wenn ich ihnen erzählte, was wirklich da drinnen abgeht.

Glaubt nicht eine Minute, dass jemand immun dagegen ist, verurteilt zu werden. Mann, da sind so viele Typen verschiedenster Rassen, Religionen, Farben und Größen. Juden und Christen, Muslime und Katholiken. Reiche Typen, die dachten, sie stünden über dem Gesetz, und bitterarme, die es nicht besser wussten.

Es ist ein völlig anderes Universum, wenn du erst mal drinnen bist, mit einer ganz eigenen Hierarchie und eigenen Regeln. Manche Dinge kapierst du gleich und andere lernst du auf die harte Tour.

Im DOC passieren Unfälle und manche von ihnen mit voller Absicht. Gangs sind überall an der Tagesordnung, selbst im Jugendknast. Wenn es Stunk zwischen zwei rivalisierenden Gangs gibt, sucht man besser schleunigst das Weite.

Aufseher Miller hat diese Angewohnheit, die neuen Insassen an ihrem ersten Tag im DOC zu begrüßen. Er denkt, es beruhige die Neuen, seine Erwartungen zu kennen, aber es jagt ihnen bloß eine Scheißangst ein. Es sei denn, es handelt sich bei ihnen um Wiederholungstäter. Miller ist mit vielen Wiederholungstätern per du. Sie bekommen eine alternative Version seiner Willkommensrede zu hören.

Seine Ansprache für die Ersttäter geht in etwa so: »Mein Name ist Scott Miller. Willkommen unter meinem Dach. Ihr steht jeden Morgen um Viertel vor sechs auf und geht duschen. Ihr habt fünf Minuten, nicht mehr, um euch zu waschen. Ihr bekommt drei Mahlzeiten pro Tag und nehmt acht Stunden lang am Unterricht teil. Wir werden wunderbar miteinander auskommen, solange ihr die Regeln respektiert, die in meinen vier Wänden gelten. Falls ihr das nicht tut … nun, dann werdet ihr und ich ein Problem miteinander haben. Fragt jeden hier, alle werden euch sagen, dass ihr kein Problem mit mir haben wollt. Meine Probleme wandern für dreiundzwanzig Stunden in ihre Zelle. Noch Fragen?«

Miller klärt einen nicht über das fehlende Toilettenpapier in den Zellen auf. Das ist eins der Dinge, die man auf die harte Tour lernt. Und zwar dann, wenn man auf dem Pott sitzt und sich den Hintern abwischen will. Die Ruftaste, um eine Rolle auszuleihen, befindet sich auf der anderen Seite der Zelle, unerreichbar von dem Sitz aus, auf dem man gerade sein Geschäft erledigt.

Ich gehe rüber zu Brian und den Jungs, entschlossen, sie vom Knastgerede abzulenken. »Was geht, Leute? Wo sind die Bräute alle hin?«, frage ich.

Drew sitzt mir gegenüber und verdreht die Augen. »Sie trainieren für die Cheerleading-Auswahl. Versteh mich nicht falsch, ich liebe es, wenn die Hühner vor mir auf und ab hüpfen. Ich weiß bloß nicht, was so schwer daran sein soll, dass sie drei Wochen am Stück dafür trainieren müssen.«

»Brianne und Danielle wollen lieber Cheerleaderinnen sein, als Tennis zu spielen?«, frage ich. Brianne und Danielle waren übelste Tennisfanatikerinnen.

»Es ist wegen Sabrina«, sagt Tristan. »Sie hat keine ausreichende Hand-Augen-Koordination, um Tennisspielerin zu sein, also hat sie Brianne und Danielle überredet zu versuchen, von den Pantherettes genommen zu werden.«

Vielleicht war ich zu lange weg. Oder vielleicht habe ich mich auch verhört. »Was sind Pantherettes?«

»Caleb, du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen.« Brian versucht, seine Belustigung zu bändigen, als er sagt: »Pantherettes sind die Cheerleaderinnen der Ringermannschaft. Paradise Panthers … Pantherettes … kapiert?«

Häh? »Ringercheerleaderinnen?«

Drew nickt. »Pantherettes, Dude. Du wirst sie lieben. Viele Schulen haben Cheerleaderinnen für ihre Ringermannschaften, also haben wir seit letztem Jahr auch welche.«

»Ringst du dieses Jahr mit, Becker?«, schaltet Tristan sich ein. »Es ist vielleicht Wenners letztes Jahr als Trainer. Er bekommt im Sommer ein Kind und ich glaube, er will sich die Samstage frei halten, um zu Hause bei dem Balg sein zu können.«

»Ich kann nicht«, sage ich. »Ich muss nach der Schule arbeiten.« Ich unterschlage absichtlich die Info, dass es sich bei der Arbeit in Wahrheit um Sozialstunden handelt und ich zurück ins Gefängnis muss, wenn ich sie nicht ableiste.

Brian beißt in sein Sandwich und sagt mit vollem Mund: »Wir brauchen dich oder wir werden nichts reißen, so wie letztes Jahr.«

Tristan und Drew nicken zustimmend. Nichts wirkt so gut wie Gruppendruck, damit man nachgibt. Aber die Wahrheit ist, ich habe diese Jungs vermisst. »Okay, hört zu«, sage ich. »Falls es einen Wettkampf gibt, zu dem ich es zeitlich schaffe, werde ich antreten.«

Brian streckt eine Hand in die Luft, damit ich ihm High Five gebe. »Das ist, was ich hören wollte.«

Ich schlage ein. »Du bist echt zu bemitleiden, wenn du glaubst, ich allein würde einen Unterschied machen.«

Drew schüttelt seinen Lockenkopf. »Du hast Vic Medonia auf die Matte gestreckt, Caleb. Der Kerl ist riesig und eine Legende. Weißt du noch, wie du ihn fertig gemacht hast, als du zehn Sekunden vor Ende der Runde den Fünfpunktewurf hingelegt hast?«

»Drew, bitte«, sagt Tristan. »Beleidige Caleb nicht. Es waren noch vier Minuten auf der Uhr, als er den Wurf eingetütet hat.«

»Wie auch immer, Tristan«, erwidert Drew. »Ich hatte vergessen, dass du immer alles besser weißt.«

Tristan verschränkt die Arme vor der Brust. »Verdammt richtig.«

Ich nehme einen Bissen von meinem Sandwich, während Tristan und Drew sich an die Kehle gehen. Es ist genau wie früher, nur dass Kendra nicht hier ist … und meine Schwester sich weigert, das Land der Lebenden zu betreten.

Bevor dieser Gedanke aus meinem Kopf verschwunden ist, schlendern die Mädchen – bis auf meine Schwester – in die Cafeteria. Sabrina, Danielle und Brianne kommen zuerst herein, gefolgt von Kendra und ihrer besten Freundin Hannah.

»Wie ist euer Training gelaufen?«, fragt Tristan Brianne.

Brianne streckt die Hand aus und berührt seine Schulter. »Es ist so süß von dir, dass du danach fragst«, sagt sie.

Drew hustet. »Wieso zeigt ihr uns nicht mal, was ihr drauf habt?«

»Jetzt gleich, hier in der Cafeteria?«

»Warum nicht?«

Kedra wirft mir ein heimliches Zwinkern zu, dann sagt sie: »Klar, los geht’s, Mädels.«

Kendra steht vorn, während Brianne, Sabrina, Danielle und Hannah sich hinter ihr aufstellen. Kendra hebt die Hände, als wolle sie losklatschen und sagt: »Bereit?«

Die anderen Mädchen antworten: »O-kay«, dann beginnen sie mit dem Klatschen, Hüpfen und Rufen: