16 Maggie
Caleb hat eine Woche gebraucht, um mühelos zurück in sein Leben zu gleiten. Ich habe die Cafeteria heute Nachmittag verlassen, als die beliebten Mädchen direkt vor seiner Nase einen Cheer aufgeführt haben. Ich hätte schwören können, er dachte, der Cheer sei nur für ihn.
Und als sei das nicht schon schlimm genug, habe ich Tristan in Erdkunde zu Norris sagen hören, dass Caleb dieses Jahr wieder ringen wird.
Ich habe nicht nur Leah als Freundin verloren und bin für alle hier der humpelnde Freak, ich habe außerdem keinerlei Hoffnung, je wieder der Tennismannschaft anzugehören oder Sport zu treiben.
Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich mich mit Caleb vergleiche, während ich im Bus nach Hampton sitze, um meinen ersten Arbeitstag bei Mrs Reynolds anzutreten. Ich wünschte nur, es wäre leichter für mich … oder schwerer für ihn. Mir ist klar, dass ich verbittert bin, aber ich kann nicht anders. Ich habe das letzte Jahr so viel Schmerz und Verzweiflung durchlitten, und wieder zur Schule zu gehen hat nur eine noch größere Außenseiterin aus mir gemacht.
Ich erreiche Mrs Reynolds’ Haus und drücke auf die Klingel. Niemand kommt. Ich klingle weiter und hoffe, dass der alten Dame nichts Schlimmes zugestoßen ist. Bei meinem Glück hat sie beschlossen, mich wieder zu feuern, bevor ich den Job überhaupt angetreten habe.
Ich stelle meine Tasche auf den Boden und gehe ums Haus herum.
Mrs Reynolds sitzt auf der Verandaschaukel. Ihr Kopf ist nach vorn gefallen, aber ihre Brust hebt und senkt sich mit jedem Atemzug. Okay, die Frau schläft. Puh. In ihrer Hand hält sie ein Glas Limonade.
Der Job wird ein Spaziergang werden. Ich schäme mich richtig, so viel Geld fürs Nichtstun von Mrs Reynolds anzunehmen.
Ich nähere mich der Schaukel auf Zehenspitzen. Ich muss Mrs Reynolds das Glas aus der Hand nehmen, bevor sie alles verschüttet oder noch schlimmer, das Glas in tausend Stücke zerspringt, wenn ihr Griff sich lockert und es zu Boden fällt.
Langsam, leise, beuge ich mich vor und nehme ihr das Glas aus der Hand.
»Was tust du da?«
Die Stimme der alten Dame versetzt mir einen Schrecken und ich springe zurück. Mrs Reynolds hat ein Auge geöffnet wie eine Figur aus einem Monsterzeichentrickfilm. »Ich, äh, dachte, Sie machen ein Nickerchen.«
»Sehe ich so aus, als machte ich ein Nickerchen?«
»Jetzt nicht mehr.«
Mrs Reynolds setzt sich auf, das graue Haar perfekt gestylt. »Genug geplaudert. Wir haben heute viel Arbeit vor uns.«
»Möchten Sie, dass ich Ihnen noch etwas Limonade einschenke? Oder Ihnen einen Snack zubereite?« Ihr Kissen aufschüttle?
»Nö. Siehst du die Tüten da drüben?«, sagt Mrs Reynolds und zeigt mit ihrem gekrümmten Finger zum Rand des Gartens.
Ungefähr zehn Papiertüten sind im Gras aufgereiht. Sie sind alle mit seltsamen Namen beschriftet: Apricot Whirl, Chromacolor, Decoy, Flower Drift, Gelbe Trompete, Lemon Drops, Rosy Cloud. »Was ist mit ihnen?«
»Wir werden sie pflanzen. Es sind Narzissen. Auch wenn sie im Moment noch nicht wie Narzissen aussehen. Es sind nur Blumenzwiebeln.«
Pflanzen? Ich spähe in die Tüte, auf der Flower Drift steht. Es müssen mehr als dreißig Zwiebeln darin sein. Ich hinke zur nächsten Tüte, Lemon Drops. Da sind noch mehr drin als in der ersten.
»Guck nicht so überrascht, Margaret«, sagt Mrs Reynolds. »Es steht dir nicht gut zu Gesicht.«
Ich nehme ein paar Blumenzwiebeln aus der Tüte, auf der Audubon steht. Hinter mir sagt Mrs Reynolds: »Denk gar nicht daran, sie jetzt schon rauszuholen. Du brauchst als erstes einen Plan.«
»Einen Plan?«
»Selbstverständlich. Hast du noch nie etwas gepflanzt?«
»Nur ein paar Kräuter im Kindergarten. Aber das war in einem kleinen Gewächshaus, das wir zum Muttertag mit nach Hause genommen haben.«
»Keine Blumenzwiebeln?«
Ich schüttle verneinend den Kopf.
Mrs Reynolds wirkt beunruhigt. »Lass mich dir etwas über Narzissen erzählen, Margaret. Sie duften, sind wunderschön und robust.«
Ich lasse meinen Blick über die acht Papiertüten gleiten. »Das sind alles Narzissen?«
»Oh ja. Aber jede Sorte hat ihren eigenen unverwechselbaren Duft und eine einzigartige Persönlichkeit.«
Wow. Ich weiß im Grunde nicht viel über Blumen, geschweige denn Einzelheiten. Ich mag Pusteblumen am liebsten, weil Leah und ich, als wir noch klein waren, alle aus den Rasen der Nachbarn rupften, wie wild pusteten und zusahen, wie die vielen Schirmchen davonsegelten. Obwohl Pusteblumen streng genommen gar keine Blumen sind. Sie sind Unkraut.
»Du braucht erst mal eine Schaufel«, sagt meine Arbeitgeberin und reißt mich damit aus meinem Tagtraum. »Ich glaube, in der Garage ist eine.«
Ich lege die Blumenzwiebeln zurück in die richtige Tüte, bevor ich mich auf den Weg zu der freistehenden Garage am Ende des Gartens mache. Bei ihr handelt es sich um ein großes, zweistöckiges Gebäude. Der gelbe Anstrich deutet darauf hin, dass Mrs Reynolds’ Anwesen früher ein stolzes Heim war, auch wenn die Farbe nach Jahren der Vernachlässigung inzwischen Risse hat und abblättert. An der Seite führt eine Treppe in den ersten Stock. Dreckige, staubige Fenster bilden die vordere Front des oberen Geschosses. Ist es eine Art Büro? Ein Zimmer?
Das Garagentor ist unten, daher muss ich meine ganze Kraft aufwenden, um es zu öffnen, was nicht leicht ist. Endlich hebt sich das Tor mit einem lauten, protestierenden Quietschen und enthüllt einen schwarzen Cadillac, der in der Garage parkt. Der Raum ist düster und voller Spinnweben. Was bedeutet, dass er auch voller Spinnen ist.
Weder das eine noch das andere weckt meine Begeisterung.
Du schaffst das, Maggie. Während ich mich weiter in die Dunkelheit vorwage, suchen meine Augen alles nach Spinnen ab. Mom hat sich früher darüber lustig gemacht, dass bei mir das periphere Sehen extra gut ausgebildet sei, damit ich leichter achtbeinige Kreaturen aufspüren könne.
An der Wand hängt die Gartenschaufel, nicht weit vom Eingang entfernt. Gut. Ich bewege mich zentimeterweise vorwärts und strecke die Hand nach dem Griff aus. Sobald ich die Schaufel habe, stoße ich einen Atemzug aus, von dem mir bis dahin nicht mal klar war, dass ich ihn angehalten hatte. Ich sause aus der Garage und kehre zu Mrs Reynolds zurück. Bestimmt haben ein paar Spinnweben geschafft, an mir kleben zu bleiben.
»Ich hab sie«, sage ich und halte ihr die Schaufel wie eine Trophäe unter die Nase.
Sie sieht nicht besonders beeindruckt aus. »Zuerst müssen wir die Erde vorbereiten.«
Ich gehe zu den leeren Blumenbeeten und beginne die Schaufel in die Erde zu rammen, um sie zu lockern. Ich mache das ein paar Minuten lang. Es ist gar nicht so schlimm.
Mrs Reynolds hält mich auf. »Warte.«
Ich drehe mich um. Sie hält mir eine langes, mit rosa und grünen Blumen bedrucktes Gewand hin.
»Was ist das?«, frage ich.
»Mein Mumu. Zieh es an. Es wird deine Kleidung sauber halten.«
»Mrs Reynolds, das kann ich nicht anziehen.«
»Wieso nicht?«
Mrs Reynolds umklammert das Mumu, ein großes, hässliches hawaiisches Hauskleid. Mein Selbstbewusstsein ist auch so schon angekratzt genug, ohne dass ich etwas trage, das aus dem Schrank meiner Großtante Henriette stammen könnte.
»Es … es hat nicht meine Größe«, sage ich lahm.
»Stell dich nicht an. Mumus passen jedem. Eine Größe für alle. Zieh es an.«
Widerwillig nehme ich das Mumu und schlüpfe hinein. Das Kleid hängt wie ein Zelt an mir.
Mrs Reynolds tritt einen Schritt zurück und mustert mich. »Perfekt.«
Ich schenke ihr ein schwaches Lächeln.
»Okay, lass uns an die Arbeit gehen.«
Die nächsten vierzig Minuten weist Mrs Reynolds mich an, wie groß ich die Löchern graben soll, wie viel zusätzliche Erde ich benötige, um den Blumenzwiebeln am Boden des Lochs ein Bett zu bereiten, und wie ich die Zwiebeln am besten pflanze – nicht in Reihen sondern verstreut mit zehn Zentimetern Abstand dazwischen.
Ich habe angefangen zu schwitzen und fürchte, Mrs Reynolds legt gerade erst los. Aber ich würde alles tun, um diesen Job zu behalten. Wenn es bedeutet, die nächsten Wochen Betten für ihre kostbaren Blumenzwiebeln zu schaffen, bis kälteres Wetter uns in die Knie zwingt, ist das wunderbar. Ich werde mit allem fertig, wenn ich am Ende genug Geld verdiene, um von hier wegzukommen.
Ich setze mich auf die Fersen zurück und wische mir den Dreck mit dem Ärmel meines Mumus aus dem Gesicht. »Was ist das da drüben?«, frage ich und zeige auf einen Haufen Bauholz.
»Der Gartenpavillon, der nie gebaut wurde.«
»Ich war letztes Jahr im Botanischen Garten in einem Pavillon«, sage ich, während ich mir einen riesigen Pavillon in der Mitte des Gartens vorstelle. »Er hat mich an die Szene aus The Sound of Music erinnert, wo Liesls Freund Sixteen Going on Seventeen für sie singt.«
Mrs Reynolds sieht den Holzstapel sehnsüchtig an. »Nun, ich fürchte das Holz wird wahrscheinlich immer noch da liegen, wenn ich längst tot und begraben bin.«
»Sie sollten unbedingt jemanden anheuern, der Ihnen den Pavillon baut«, ermuntere ich sie begeistert. »Ich sehe ihn schon vor mir, mit einem spitzen Dach und allem.«
»Lass uns eine Pause machen«, sagt sie. »Kein Gerede mehr über den Pavillon, der nie gebaut werden wird.«
Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Kein sinnloses Geplapper für Mrs Reynolds.
Seit dem Unfall ist das Aufstehen nicht leicht für mich. In ein Mumu gehüllt zu sein, macht es noch sehr viel schwieriger. Vor allem, weil ich das Bein erst mal vor mir ausstrecken muss, um hochzukommen.
»Was tust du da?«
»Aufstehen.«
Mrs Reynolds wedelt mit den Händen, als könnten ihre Gliedmaßen sprechen. »Normalerweise beugen die Leute ihre Beine, um aufzustehen.«
»Ich kann mein Bein nicht beugen.«
»Wer sagt das?«
Ich drehe mich um und sehe Mrs Reynolds ins Gesicht. Macht sie Witze? Ich bin eindeutig ein Krüppel. Okay, nicht wirklich ein Krüppel. Aber ich bin von einem Auto angefahren worden. Ich werde nie mehr dieselbe sein.
»Du beugst dein Bein, wenn du läufst. Ich begreife nur nicht, wieso du es nicht auch beugen kannst, wenn du aufstehst, das ist alles«, sagt sie.
Ich stehe endlich, hole tief Luft. Ich würde zu gern etwas entgegnen, aber ich kann nicht. Mrs Reynolds ist der erste Mensch seit über einem Jahr, der mich behandelt, als wäre nichts falsch mit mir. Es ist erfrischend und frustrierend zugleich.