EPILOG
April 2000
Es war Sonntagmorgen. Erst am Vorabend war Dottie Pride im Hotel Albion Park angekommen, doch wie immer hatte sie bereits Lampenfieber. Sie hatte noch eine ganze Woche, um den richtigen Aufhänger für ihre Geschichte zu finden – genug Zeit also. Aber in dieser Phase der Arbeit bekam sie es stets mit der Angst zu tun.
Sie hatte beschlossen, zuerst nach Beaulieu zu fahren. Obwohl sie erst am Samstag alles für den Dreh vorbereiten musste, wollte sie sich dort ungestört ein wenig umsehen.
Vielleicht würde ihr dabei ja der zündende Gedanke kommen. Auch wenn zum Schutz der Hirsche und der Ponys eine Geschwindigkeitsbegrenzung von sechzig Stundenkilometern galt, würde die Fahrt nur zehn Minuten dauern.
Dottie war beeindruckt. Die prächtigen Herrenhäuser Großbritanniens waren zur Finanzierung ihres Unterhalts auf den Tourismus angewiesen. Und der augenblickliche Lord Montagu hatte ganze Arbeit geleistet. Er hatte das Faible seines Vaters für Oldtimer geerbt und das Kraftfahrzeugmuseum in Beaulieu zu einer Einrichtung von landesweiter Bedeutung gemacht. Dottie interessierte sich zwar nicht sehr für Technik, doch selbst sie betrachtete eine halbe Stunde lang begeistert die Mercedeswagen aus der viktorianischen Zeit, die Rolls-Royce aus der Ära König Eduards und die Autos aus den Fünfziger Jahren. Als sie das Museum verließ und zur nahe gelegenen Abtei hinüberschlenderte, fühlte sie sich, als sei sie aus der technisierten Moderne direkt ins friedliche Mittelalter geraten.
Die Anlage war wirklich ein Kunstwerk. Nachdem Dottie das Haus besichtigt hatte, besuchte sie in dem großen domus – der Unterkunft der Laienbrüder, wenn sie sich nicht auf den Gütern aufhielten – eine Ausstellung über das klösterliche Leben. Und als sie zur Ruine des Kreuzgangs hinaustrat, glaubte sie fast, die Zisterziensermönche zu sehen, die zwischen den alten grauen Steinen schweigend ihren täglichen Pflichten nachgingen. In einer der Nischen, wo sie früher gesessen hatten, entdeckte Dottie zu ihrer Missbilligung, dass ein Banause ein kleines »A« in den Stein geritzt hatte.
Ihre Dokumentation sollte in Beaulieu beginnen, und der Zeitpunkt war gut gewählt. Lord Montagu hatte nämlich beschlossen, am Ostersonntag, dem 24. April, den neunhundertsten Jahrestag der Ermordung von König Wilhelm Rufus im New Forest feierlich zu begehen. Er plante einen großen Wettbewerb im Bogenschießen. Der Schauspieler Robert Hardy, zufällig auch ein anerkannter Spezialist auf diesem Gebiet, sollte das Turnier eröffnen. Lord Montagu würde als Schirmherr dieser Veranstaltung fungieren. Also stand ein farbenfroher Tag mit mittelalterlichen Spielen bevor, der sich ausgezeichnet für eine Fernsehsendung eignete.
Allerdings hatte ein bekannter ortsansässiger Historiker für eine Überraschung gesorgt. Mr. Arthur Lloyd hatte zweifelsfrei bewiesen, dass Rufus in Wahrheit – und dazu gab es zeitgenössische Aufzeichnungen – in Througham, einem Küstenstreifen unweit von Beaulieu, getötet worden war. Der Rufusstein, eine von Englands berühmtesten Sehenswürdigkeiten, stand demzufolge offenbar am falschen Platz.
Dottie überlegte, was sie nun unternehmen sollte. Den restlichen Tag fuhr sie im New Forest herum. Ihr erstes Ziel war Buckler’s Hard, an dessen mit Gras bewachsenen Ufern jetzt ein Schifffahrtsmuseum stand. Dort gab es auch ein Modell einer Werft aus der Zeit, in der eines von Nelsons Schiffen gebaut worden war. Die Swiftsure beeindruckte Dottie sehr. Sie stellte interessiert fest, dass Teile der großen Truppentransporter, die im Zweiten Weltkrieg bei den Landungen am D-Day eingesetzt worden waren, ebenfalls von der Werft am Fluss von Beaulieu stammten.
Östlich von Beaulieu lagen die Exbury Gardens und der Lepe County Park. Am Rand des New Forest, unweit von Southampton, befanden sich ein Naturschutzgebiet und eine Versuchsfarm. Ein wenig weiter nördlich entdeckte Dottie einen Lunapark mit Fahrgeschäften. Die Botschaft war klar. Der moderne New Forest hatte sich auf professionelle Weise darauf vorbereitet, große Mengen von Besuchern zu empfangen. Doch nicht nur große Firmen waren daran beteiligt. Als Dottie durch das finstere kleine Dorf Burley kam, bemerkte sie, dass die Einwohner noch immer von dem Ruf profitierten, hier werde Hexerei betrieben. Sie stieß auf mindestens drei Läden, die verschiedene Andenken verkauften. Tourismus und Erholung: Sollte das die Zukunft des alten königlichen Jagdgebietes sein?
Es war ein sonniger Montagmorgen, und Dottie war ziemlich aufgeregt, als sie um die steile Kurve von Lyndhursts Hauptstraße bog. Links von ihr ragte der hohe viktorianische Kirchturm in den hellblauen Frühlingshimmel.
Bei ihrem Anruf im New Forest Museum hatte man ihr mitgeteilt, sie könne nicht nur der Gerichtssitzung an diesem Vormittag beiwohnen, man habe sogar einen Begleiter für sie abgestellt. »Keine Sorge«, hatte die Stimme am Telefon lachend gesagt, »er wird Sie schon erkennen.«
Als sie das Ende der Straße erreichte, wurde ihr klar, warum. Das Queen’s Haus, alte königliche Residenz und Wohnsitz des Oberaufsehers, war ein stattliches Gebäude aus rotem Backstein. Vor einer Seitentür hatten sich bereits etwa zwanzig Wartende versammelt. Ihrem angeregten Geplauder nach zu urteilen, kannten sie einander gut. Also war sie die einzige Fremde.
»Sind Sie Dottie Pride?«, fragte jemand hinter ihr.
»Ja.« Sie drehte sich um. Eine Hand wurde ihr entgegengestreckt. Ein Nicken. Ein Lächeln. Hatte der Mann seinen Namen genannt? Wenn ja, hatte sie ihn nicht verstanden.
Sie wusste nur, dass vor ihr der attraktivste Mann stand, dem sie je begegnet war. Er war hoch gewachsen und schlank und von keltischem Aussehen. Vielleicht war er ja Ire. Dunkle Locken fielen ihm bis auf die Schultern hinab. Sein blasses, feinfühliges Gesicht erinnerte sie an die Bilder metaphysischer Dichter aus dem siebzehnten Jahrhundert. Seine braunen Augen waren wunderschön und wirkten klug. Er trug eine braune Lederjacke.
»Wir können jetzt rein«, meinte er freundlich. »Die Tür wird geöffnet.«
Ein großer, rechteckiger Raum bildete die Halle der Forstaufseher. Eine Bühne, die dem Podium eines Magistrats ähnelte, nahm eine Seite des Saals ein. An der kahlen Wand dahinter hing das königliche Wappen. Die anderen Wände wurden von Hirschköpfen, Geweihen und Glasvitrinen geschmückt. Die alte Drahtschlinge, durch die die Hunde hatten kriechen müssen, damit der Besitzer die Genehmigung zu ihrer Haltung bekam, hatte einen Ehrenplatz. Auf dem Boden standen Holzbänke. Vorne im Raum befanden sich ein Tisch und ein Zeugenstand. Alte Holzbalken stützten die Decke. Ein wenig verdattert suchte sich Dottie einen Platz hinten im Raum und versuchte, ihren Begleiter nicht anzustarren.
»Das Gericht der Forstaufseher tritt am dritten Montag des Monats zusammen, und zwar zehn Monate im Jahr«, flüsterte er ihr zu. »Der Oberste Forstaufseher wird ernannt, die anderen werden gewählt. Wer kandidieren will, muss über Gewohnheitsrechte verfügen.«
»Ist das noch das Gericht, das 1877 den mittelalterlichen Gerichtshof abgelöst hat?« Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht und fragte sich, ob sie ihn damit beeindruckt hatte.
»Mehr oder weniger ja, abgesehen von einigen kleinen Veränderungen. Da kommen sie.« Die Forstaufseher betraten den Raum. Ihr Begleiter gab ihr eine Kurzbeschreibung jedes einzelnen. Zwei hatten Bücher über den New Forest verfasst. Der Vorsitzende war ein bekannter Grundbesitzer. Die meisten stammten aus Familien, die schon seit Jahrhunderten im New Forest ansässig waren. An diesem Morgen saßen acht von ihnen auf dem Podium. Vor ihnen standen die beiden Viehinspektoren in ihren grünen Uniformen. Der oberste Viehinspektor, der seinen Platz neben dem Zeugenstand hatte, rief nun: »Hört, hört, hört! Wer ein Anliegen an das Gericht der Forstaufseher hat oder ihm etwas mitteilen will, möge bitte vortreten, damit er gehört werde.« Dottie fühlte sich wie ins Mittelalter zurückversetzt.
Ein kurzer Bericht wurde verlesen. Darauf folgte die Liste der Ponys, die von einem Auto überfahren worden waren, stets ein trauriger Punkt bei jeder Sitzung. Als die Sitzung eröffnet wurde, strömten einige Leute nach vorn, um ihre Anträge zu stellen. Jedes Mal flüsterte ihr Begleiter ihr eine Erklärung ins Ohr. Ein blonder, mondgesichtiger Mann beschwerte sich über den Müll eines nahe gelegenen Campingplatzes. »Das ist Reg Furzey, Bauer.« Ein anderer Mann mit einem seltsamen wettergegerbten Gesicht, das aussah wie aus Eichenholz geschnitzt, beklagte sich, der Zaun eines neuen Grundstücks rage bis in den New Forest hinein. »Ron Puckle. Er verkauft in Burley Gartenmöbel aus Holz.« Dotties Begleiter schmunzelte. »Wenn man es sich genau überlegt, ist es wirklich komisch«, murmelte er. »Jahrhundertelang haben die alten Familien Land vom New Forest für sich abgezwackt, und nun machen sie es sich zur Lebensaufgabe, dafür zu sorgen, dass kein anderer es tut!« Am Ende jedes Antrags erhob sich der Oberste Forstaufseher höflich, dankte dem Betroffenen und versprach, sich mit dem Anliegen zu befassen. Einige der Anträge, die sich mit der Tätigkeit des Amts für Forstwirtschaft oder mit lokalen Gesetzen beschäftigten, waren so kompliziert, dass Dottie ihnen nicht folgen konnte. Doch der Zweck dieser Sitzung war offensichtlich: Hier ging es um die Tradition des New Forest, und Bewohner und Forstaufseher waren fest dazu entschlossen, sie zu bewahren.
Als sie das Gebäude verließen, war es noch nicht Mittag. Dottie hatte am frühen Nachmittag einen Termin im Museum, und ihr Begleiter schien im Begriff, sich zu verabschieden. Sie überlegte, wie sie das verhindern könnte.
»Ich muss mir Grockletons Einhegung ansehen«, sagte sie. »Können Sie mir zeigen, wo das ist?«
»Oh. Gerne.« Er wirkte erstaunt. »Natürlich. Aber Sie müssen ein Stück zu Fuß gehen.«
»Das macht nichts. Wie heißen Sie noch einmal?«
»Peter. Peter Pride.«
Noch nie im Leben war Dottie so schnell marschiert. Sie fragte sich, ob er einfach weiterlaufen würde, wenn sie stehen blieb, doch sie wollte es nicht darauf ankommen lassen. Zum Glück hielt er hin und wieder inne, um ihr eine Flechte, einen seltsamen Käfer unter einem abgefallenen Ast oder eine winzige Pflanze zu zeigen. Für einen Naturkenner war dieser Wald ein ökologisches Paradies. Auch wenn Dottie nicht alle wissenschaftlichen Begriffe verstand, mit denen er sie bombardierte, begriff sie wenigstens grob, worauf er hinauswollte. Und schon im nächsten Moment erhielt sie wieder Gelegenheit, seine kräftige, rasch ausschreitende Gestalt von hinten zu bewundern.
Er hatte Ökologie studiert und befasste sich außerdem mit der Geschichte des New Forest. Auch von seiner Allgemeinbildung war Dottie mächtig beeindruckt. Sie fragte sich, wie alt er sein mochte. Schätzungsweise zwischen zwanzig und fünfundzwanzig, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als sie. Ob er wohl allein stehend war?
Er machte sich Gedanken darüber, dass sie beide denselben Familiennamen hatten. »Es ist eine weit verzweigte Familie«, erklärte er. »Überall im New Forest gibt es Prides. Sind Sie sicher, dass Sie nicht aus dieser Gegend stammen?«
Als Dottie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ihr Vater ihr erzählt, sie erinnere ihn an seine Großmutter Dorothy, weshalb er sie auch nach ihr benannt habe. Außerdem verriet er ihr später, dass seine Großmutter nie verheiratet gewesen war.
»Sie war kein Kind von Traurigkeit«, meinte er. »Jahrelang hat sie mit einem Kunstprofessor zusammengelebt. Danach mit einem anderen. Offenbar hatte sie eine Schwäche für Künstler. Der erste hat ihr eine Menge Bilder hinterlassen, die sich als ziemlich wertvoll entpuppten. Mein Vater kannte seinen Vater nicht. Deshalb hat er den Namen seiner Mutter angenommen: Pride.«
»Meine Urgroßmutter war eine geborene Pride«, sagte Dottie. »Aber sie kam aus London.«
Er nickte rasch, hakte jedoch nicht weiter nach.
Allerdings war er neugierig, warum sie sich Grockletons Einhegung ansehen wollte. Als sie ihm den Grund erklärte, war er sehr belustigt. »Grockleton war Mitarbeiter der verhassten Waldbehörde«, erläuterte er. »Außerdem hat er eine Eisenbahnlinie gebaut, dabei erlitten einige Menschen schwere Verletzungen. Der Name ist hier nicht sehr beliebt.«
»Oh.« Sie überlegte, wie sie das ihrem Chef beibringen sollte.
»Wir sind da«, verkündete Peter ein paar Minuten später vergnügt. »Grockletons Einhegung.«
Die Nadelbaumreihen schienen endlos. Unter den eng stehenden Bäumen war es dunkel, still und leblos.
»Gehen wir«, sagte sie.
Da sie zu früh am New Forest Museum in Lyndhurst eintrafen, hatten sie noch Zeit, sich rasch die Ausstellung anzusehen. Jeder Aspekt des Lebens im New Forest – von einer kürzlich hier gefangenen Schlange bis hin zu der detaillierten Abbildung eines Kohlenmeilers – wurde hier behandelt.
Hinter einem großen Tisch in der Mitte des Raums erhob sich ein kleiner, weißbärtiger Mann. Er hatte ein freundliches Gesicht und aufmerksam funkelnde blaue Augen. Peter Pride hatte Dottie bereits erklärt, dass dieser so zurückhaltend wirkende Herr in Wirklichkeit die graue Eminenz des Museums war.
Er empfing Dottie wohlwollend, machte sie mit einigen sympathischen Angestellten bekannt und erläuterte, dass dieses Museum über eine Reihe ehrenamtlicher Mitarbeiter verfüge.
»Das ist Mrs. Totton.« Er wies auf eine würdige Dame, die in ihrer Jugend bestimmt eine hinreißende Blondine gewesen war. »Sie hat heute Dienst.«
»Was möchten Sie gerne wissen?«
Dottie hatte sich sorgfältig auf dieses Gespräch vorbereitet, das sich als sehr aufschlussreich erwies. Zuerst erkundigte sie sich, ob der New Forest vor einer Krise stehe.
»Das zwanzigste und das einundzwanzigste Jahrhundert stellen zwar neue Herausforderungen. Doch diese haben ihre Wurzeln erwartungsgemäß in der Vergangenheit«, antwortete der Historiker vorsichtig. »Die Gründe für die Proteste – und vielleicht auch für die Brandstiftungen – sind einfach genug. Es geht nicht nur darum, dass die Bauern wegen des Preisverfalls für Rinder, Schweine und Ponys ums Überleben kämpfen müssen. Die Zugezogenen, die die Landwirtschaft nur als Hobby betreiben, zahlen auch astronomische Summen für ihre Ponykoppeln, was die Grundstückspreise so in die Höhe treibt, dass kein Bauer mehr mithalten kann. Außerdem haben die Einheimischen das Gefühl, dass die moderne Welt – das Amt für Forstwirtschaft, die Bezirksregierung, die Regierung in London – auf sie herabsieht. Hinzu kommt, dass sorglose Campingtouristen und der Besucherstrom allgemein die Umwelt bedrohen.«
»Die Tausenden von Autos«, meinte Dottie.
»Ja. Doch neunzig Prozent der Autofahrer entfernen sich nicht weiter als fünfzehn Meter von der Straße. Die neue Fahrrad-Mode hingegen könnte sich als verhängnisvoll erweisen. Wir werden sehen.« Dottie hatte auf dem Weg zu Grockletons Einhegung einen Radfahrer bemerkt, der zwischen den Bäumen hindurchsauste und dabei den Boden aufwühlte.
Er lächelte bedrückt. »Wie immer wollten wir zwar das Geld der Touristen, aber nicht die Schäden, die sie anrichten. Das ist natürlich ein schwieriges Thema.«
»Aber es gibt noch eine dritte, langfristige Bedrohung, die große Bedrohung des neuen Jahrhunderts, könnte man sagen.«
»Bebauung?«
»Genau. Die steigende Nachfrage nach Wohnraum gefährdet dieses riesige Gebiet, in dem bisher kaum ein Haus steht. Einige Leute finden, wir sollten den New Forest schützen, indem wir ihn zum Nationalpark erklären, was eine Bebauung erheblich erschweren würde. Andere, besonders die Bauern, befürchten, die Forstaufseher, die sie seit hundertfünfzig Jahren als ihre einzigen Fürsprecher betrachten, könnten dadurch ihre Macht einbüßen.« Wieder lächelte er. »Wir können über alle diese Themen sprechen.«
Und das taten sie eine ganze Weile lang. Schließlich stellte man für Dottie eine Liste von Personen zusammen, mit denen sie unbedingt reden musste.
»Darf ich meinen Namen auch auf diese Liste setzen?«, fragte Mrs. Totton. Mit einem leichten Nicken forderte der Historiker Dottie auf, das Angebot anzunehmen. »Gut«, meinte die alte Dame. »Kommen Sie doch am Freitag zum Tee. Ein bisschen früher als gewöhnlich, sagen wir mal um vier.«
»Und wenn Sie die Bauern wirklich kennen lernen wollen«, schlug Peter Pride nun vor, »sollten Sie zur Ponyauktion gehen. Am Donnerstag findet eine statt.«
»Das klingt interessant. Vielleicht sollten wir dort Filmaufnahmen machen.« Sie sah Peter Pride an. »Werden Sie auch da sein?«
»Könnte sein. Würde Ihnen das helfen?«
»Ganz sicher«, erwiderte sie.
Als sie sich nach dem Gespräch verabschieden wollte, fiel ihr im Gehen noch etwas ein.
»Übrigens«, begann sie, »viele Leute denken an Hexerei, wenn sie den Namen New Forest hören. Glauben Sie, dass es hier Hexen gibt?«
Der freundliche Historiker zuckte die Achseln, Mrs. Totton erwiderte lächelnd, sie wisse es nicht, und Peter Pride schüttelte den Kopf und verkündete, er hielte das für blanken Unsinn.
»Ich habe mich nur so gefragt«, meinte Dottie.
Das Kamerateam arbeitete angestrengt, denn eine solche Szene bedeutete eine Herausforderung.
Bei der Ponyauktion unweit von Lord Montagus altem Privatbahnhof an der Straße von Beaulieu ging es immer hoch her. Von Lyndhurst aus waren Dottie und ihr Team nach Südosten über die Heide nach Beaulieu gefahren. Etwa viereinhalb Kilometer weiter erkannten sie an der Brücke über die Bahnlinie, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Gleich links hinter der Brücke befand sich die mit einem Holzzaun umgebene Koppel, wo die Auktion abgehalten werden sollte.
Die Lastwagen und Pferdetransporter waren bereits da. Außer den üblichen Ständen mit Erfrischungen gab es auch noch Buden, die Reitausrüstungen und Stiefel verkauften. Doch die Ponys waren der eigentliche Anlass für diese Veranstaltung, und bald waren sämtliche Pferche gefüllt.
Außerdem wimmelte es von Leuten, den Bewohnern des New Forest. Peter Pride erwartete Dottie schon und kam ihr mit einem Lächeln entgegen.
»Heute lernen Sie den New Forest kennen, wie er wirklich ist«, sagte er. »Ponyauktionen, die Ponytriebe, bei denen die Ponys aus dem ganzen New Forest zusammengeholt und gekennzeichnet werden, und das Querfeldeinrennen am zweiten Weihnachtsfeiertag, das sind hier die wichtigsten gesellschaftlichen Ereignisse.«
»Und was halten die Leute davon, dass das Fernsehen hier ist?«, fragte Dottie.
»Sie sind argwöhnisch.« Er zuckte die Achseln. »Das wären Sie sicher auch.«
Inzwischen trafen immer mehr Menschen ein. Bauern mit Stoffmützen, langem Haar und Bärten. Frauen, die wegen des wechselhaften Frühlingswetters Regenmäntel trugen, und Kinder in grellbunten Gummistiefeln. Die Sitzplätze rings um die Koppel waren besetzt. Kinder kletterten auf den Zaun, um die Ponys zu betrachten. Dann nahm der Auktionator seinen Platz neben der Koppel ein und klopfte gegen das Mikrofon. Die Versteigerung begann.
Die Ponys wurden – allein oder paarweise – in den Ring geführt. Die Beschreibungen des Auktionators waren kurz, und die Angebote wurden rasch abgegeben. Die Ponys wirbelten herum, wenn die Männer sie betasteten oder durch Wedeln mit den Händen und Rufen zu bändigen versuchten. Interessiert stellte Dottie fest, dass einige dieser gedrungenen Wildponys anscheinend edles arabisches Blut in den Adern hatten. Außerdem gehörten nicht alle Ponys der Rasse an, die hier im Forest vorkam. Es wurden auch einige hübsche, kleine Stuten in den Ring gebracht.
Das Kamerateam war zufrieden und kam ohne Dotties Hilfe zurecht. Der heutige Drehtag würde genügend Material ergeben. Peter Pride, der neben Dottie saß, erklärte ihr leise ein paar Einzelheiten.
»Das da drüben ist Toby Pride. Der Mann daneben heißt Philip Furzey. Und das sind James Furzey, John Pride und sein Cousin Eddie Pride. Dort steht Ron Puckle, den Sie ja schon bei Gericht gesehen haben. Und an Reg Furzey erinnern Sie sich bestimmt auch noch. Der andere ist Wilfried Seagull, der ist ein bisschen komisch. Und der da ist mein Cousin Mark Pride und…«
»Aufhören«, flehte sie ihn an. »Ich habe verstanden.« Allerdings bemerkte sie, als sie sich im Ring umblickte, dass sich bei all diesen Cousins einige äußere Merkmale wiederholten. Auch wenn ein Pride nicht unbedingt aussah wie ein anderer, war der Furzey, der mit ihm plauderte, offenbar mit ihm verwandt.
»Wir sind wie die Hirsche«, sagte Peter. »Zur Fortpflanzung ziehen wir im Wald umher. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum wir nicht alle drei Augen haben.«
»Lassen Sie hier im New Forest denn nie Leute von außen zu?«
Er wies auf die andere Seite der Koppel, wo ein ausgesprochen hübsches Mädchen mit slawischen Gesichtszügen und blondem Haar stand. Ihre Ponys wurden gerade in den Ring geführt.
»Ihre Familie stammt nicht von hier.« Dann zeigte er auf einen blonden Mann, der mit einem der Prides zusammenstand. »Sie nehmen die Landwirtschaft ernst. Und deshalb gehören sie inzwischen in den New Forest.«
Dottie betrachtete das Mädchen, das wirklich außergewöhnlich schön war. Zu ihrem Ärger empfand sie plötzlich Eifersucht.
Mitleidig schüttelte Peter den Kopf, während das hübsche Mädchen zornig das Gesicht verzog. Die Angebote für ihre Ponys waren wirklich erschreckend niedrig.
»Kaum genug für die Tierarztrechnung.« Er seufzte. »Man muss etwas unternehmen.«
Nachdem sie noch eine halbe Stunde zugesehen hatten, bekam Dottie Durst. Auf dem Weg zum Getränkestand sah Peter sie nachdenklich an.
»Übrigens«, meinte er, »ich habe mich erkundigt. Etwa 1880 gab es in meiner Familie eine junge Frau namens Dorothy Pride. Sie ist nach London gegangen.«
Wie so viele georgianische Villen hatte sich auch Albion Park ohne großen Aufwand in ein Hotel verwandeln lassen. Der Speisesaal war elegant eingerichtet. Und obwohl es Dottie einige Überredungskunst gekostet hatte, war Peter Pride schließlich einverstanden gewesen, heute mit ihr zu Abend zu essen. Abgesehen davon, dass sie seine Gegenwart genoss, wollte sie noch einiges mit ihm besprechen. In den letzten drei Tagen hatte sie fast ein Dutzend Leute interviewt: Historiker, Mitarbeiter des Amts für Forstwirtschaft, die Besitzer des Buchladens Nova Foresta, der jeden jemals über den New Forest erschienenen Titel führte, Bauern, Forstaufseher, andere Einwohner – jeder von ihnen hatte seine eigene Meinung über den New Forest. Nun musste sie die Interviews sortieren und entscheiden, wie sie an die Sache herangehen wollte.
Zuerst plauderten sie über allgemeine Dinge. Sie stellten fest, dass sie einen ähnlichen Musikgeschmack hatten. Und Dottie war nicht verwundert, dass Peter ein guter Schachspieler war. Sie persönlich zog Kartenspiele vor, doch das war nicht weiter wichtig. Sport? Wandern natürlich. Er lächelte.
»Selbstverständlich gehen Sie gerne zu Fuß. Sie sind eine Pride.«
Wie sie sich einig waren, musste es nicht unbedingt viel zu bedeuten haben, dass eine Dorothy Pride den New Forest verlassen und eine andere in London gelebt hatte.
»Wenn sie geheiratet hätte«, erklärte Dottie, »würden wir die Namen ihrer Eltern wenigstens von der Heiratsurkunde kennen. Aber sie ist ledig geblieben.«
»Schon gut.« Er lächelte sie charmant an. »Vielleicht adoptieren wir Sie.« Sie fand diese Bemerkung sehr nett.
Peter war gerne bereit, Dotties Fragen zu beantworten. Ihre erste war, warum alle das Amt für Forstwirtschaft hassten.
»Eigentlich aus Gewohnheit. Vergessen Sie nicht, dass es die alte Waldbehörde abgelöst hat, und die war der natürliche Feind der Bauern.«
Würden überall im New Forest hässliche Nadelbaumkolonien wie Grockletons Einhegung entstehen?
»Nein. Nachdem zehn Jahre lang nur Nadelbäume gepflanzt wurden, ist das Amt für Forstwirtschaft heute auf eine Mischung aus Laub- und Nadelgehölzen umgestiegen. Es ist ein recht kreativer Umgang mit der Ökologie.« Er schmunzelte. »Aber niemand ist vollkommen.«
Als sie ihn auf den Umweltschutz im Allgemeinen ansprach, begannen seine Augen zu funkeln. Offenbar hatte sie sein Lieblingsthema getroffen.
»Warum hat der New Forest denn eine so große ökologische Bedeutung?«, fragte er aufgeregt. »Warum gibt es dort so viel mehr Insekten und Käfer als in jedem anderen europäischen Biotop? Weshalb haben wir hier all diese wundervollen Sümpfe? Und so viele Ökotope – das ist das fruchtbare Gebiet, wo sich zwei Lebensräume treffen und wo die größte Artenvielfalt auftritt?« Er sah sie an. »Also warum?«
»Das müssen Sie mir schon erklären.« Sie lächelte.
»Weil ein normannischer König dieses Gebiet vor neun Jahrhunderten zu einem Wildreservat gemacht hat. Der Geschichte haben wir es zu verdanken, dass die Wälder in ihrem natürlichen Zustand belassen wurden und dass man die Sümpfe nicht trockengelegt hat. Ökologie ist Geschichte.«
Triumphierend sah er sie an.
»Nur dass im New Forest ideale Zustände herrschen würden, wenn es den Menschen nie gegeben hätte.«
»Das stimmt nicht. Der Mensch ist ein Teil der Natur. Überlegen Sie mal. Warum wachsen im New Forest so wenige bodendeckende Pflanzen? Weil die Ponys und Hirsche alles auffressen. Wollen Sie die etwa abschaffen? Wahrscheinlich lebten sie schon lange vor dem Menschen in dieser Gegend. So etwas wie ein vollkommenes System gibt es ohnehin nicht. Nur Systeme, in denen Gleichgewicht herrscht. Eine Eiche kann etwa vierhundert Jahre alt werden. Die menschliche Lebenserwartung ist einfach zu kurz. Deshalb verstehen wir so vieles falsch und begreifen die natürlichen Abläufe meistens nicht.«
»Wie würden Sie die Probleme des New Forest lösen?«
»Ich würde nach einem Gleichgewicht suchen. Aber ich weiß, dass die Natur ein besseres finden wird.« Er blickte ihr in die Augen. »Ich glaube, darum geht es im Leben. Meinen Sie nicht?«
Dottie Pride schwieg eine Weile.
»Kommen Sie am Sonntag nach Beaulieu?«, fragte sie dann.
Eigentlich hatte sie nicht die geringste Lust, mit Mrs. Totton Tee zu trinken. In den letzten Tagen hatte sie viel Stoff zum Nachdenken erhalten. Und nun wollte sie ihre Notizen durchgehen und planen. Den ganzen Morgen hatte sie sich schon damit beschäftigt, und sie war gut vorangekommen. Die Einleitung stimmte, aber irgendetwas fehlte noch. Sie konnte es nicht in Worte kleiden, dieses magische Etwas, das sie für sich selbst »die Story« nannte. Meistens bekam Dottie es erst gegen Ende der Vorbereitungen zu fassen, bis jetzt hatte es immer noch rechtzeitig geklappt. Im letzten Moment sozusagen. Bis Samstag musste sie es geschafft haben.
Und deshalb kam ihr die Verabredung zum Tee bei Mrs. Totton reichlich ungelegen.
Mrs. Totton wohnte in einem reizenden, weißen Häuschen. Der Garten war von einer Mauer umgeben, und hinter dem Haus wuchsen Obstbäume. Es stand in dem üppig grünen kleinen Tal unweit der Stelle, wo die Brücke von Boldre den Fluss überquerte.
»Da es so ein schöner Tag ist, habe ich mir gedacht, wir können einen Spaziergang hinauf zur Kirche von Boldre machen«, verkündete Mrs. Totton, als sie Dottie die Tür öffnete.
Die Kirche auf ihrem Hügel sah trotz des finsteren Waldes ringsherum nicht düster, sondern sehr anheimelnd aus. Dottie erkannte, dass sie sehr alt sein musste. An den Wänden hingen einige Tafeln, die an Familien aus dem New Forest erinnerten. Eine davon fiel Dottie besonders auf.
Sie war Frances Martell, geborene Albion, von Albion Park gewidmet, und ungewöhnlicherweise war auch der Namen ihrer »treuen Haushälterin und lieben Freundin« darauf vermerkt – Jane Pride.
»Albion Park. So heißt mein Hotel«, meinte Dottie.
»In diesem Haus wurde ich geboren«, erwiderte ihre Gastgeberin. »Vor meiner Hochzeit mit Richard Totton hieß ich Albion.« Sie lächelte. »Inzwischen sind viele der großen Häuser im New Forest Hotels geworden. Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen die Geschichte von Frances Albion«, schlug sie auf dem Rückweg vor. »Sie wurde in Bath vor Gericht gestellt, weil sie ein Stück Spitze gestohlen hatte.«
Es kam noch ein weiterer Gast zum Tee, eine freundliche Frau Mitte Fünfzig namens Imogen Furzey, die Mrs. Totton als »meine Cousine« vorstellte. Dottie ging richtig in der Annahme, dass in Mrs. Tottons Welt auch seit vielen Generationen entfernte Verwandte als Cousinen galten, aber sie hakte nicht weiter nach. »Sie ist Künstlerin. Also dachte ich, Sie würden sie vielleicht gern kennen lernen«, verkündete Mrs. Totton herzhaft und in dem Ton eines Menschen, der in der Überzeugung lebt, dass man Fernsehschaffende und Künstler im Allgemeinen getrost in einen Topf werfen kann.
Imogen Furzey war Malerin. »Das liegt in der Familie«, erklärte sie. »Mein Vater war Bildhauer. Und sein Großvater war ein recht gut bekannter Maler aus dem New Forest namens Minimus Furzey.«
Dottie fand Imogen Furzey auf Anhieb sympathisch. Ihre Kleidung war zwar exzentrisch, aber von einer schlichten Eleganz. Offenbar hatte sie ihr Kleid selbst entworfen, und vermutlich galt das auch für ihr silbernes Armband. Um den Hals trug sie an einer passenden Silberkette ein seltsames, dunkles kleines Kruzifix. »Ein Erbstück«, erwiderte sie, als Dottie sie darauf ansprach. »Ich glaube, es ist uralt, doch ich weiß nicht, woher es stammt.«
Die Plauderei beim Nachmittagstee verlief sehr angenehm, und Dottie erfuhr dabei aus Mrs. Tottons und Imogen Furzeys Erzählungen eine Menge über den New Forest.
»Wir fragen uns nur«, sagte Mrs. Totton, als der Nachmittag sich dem Ende zuneigte, »wie es sein kann, dass Sie mit einem Namen wie Pride nicht aus dem Forest stammen.«
Dottie entgegnete, sie habe bereits mit Peter Pride über dieses Thema gesprochen, ohne dass sie eine eindeutige Antwort gefunden hätten. »Es gab eine Dorothy Pride, die den New Forest verließ und nach London ging, und eine, die in London lebte. Doch wie soll man herausfinden, ob es sich um ein und dieselbe Person handelt?«
Mrs. Totton betrachtete sie nachdenklich.
»Vor vielen Jahren, als wir Albion Park verkauften, gingen mein Bruder und ich die Papiere des alten Oberst Albion durch. Es ist schon lange her, aber ich glaube, darin stand etwas über ein Mädchen aus der Familie Pride, das nach London davongelaufen ist.« Sie musterte Dottie. »Würden Sie sich die Sachen gerne ansehen?«
Dottie zögerte. Ihre Arbeit rief. Aber andererseits…
»Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht…«
»Nein, überhaupt nicht.« Mrs. Totton lächelte. »Das heißt, falls die Papiere noch dort liegen, wo ich glaube. Imogen, mein Schatz, für mich sind sie zu schwer. In der Abstellkammer findest du einen Karton, auf dem ›Oberst Albion‹ steht. Könnt ihr beide ihn mir vielleicht bringen?«
Mrs. Tottons Abstellkammer entpuppte sich als sorgfältig geplante Lösung des Problems, vor dem so viele Angehörige ihrer Schicht standen, wenn sie von einem Herrensitz in ein kleines Haus umziehen mussten: Wohin mit den unzähligen Papieren, Familienbildern und anderen Dokumenten aus der Vergangenheit, die sich in einem Häuschen einfach nicht unterbringen ließen? Mrs. Tottons Antwort auf diese Frage hatte darin bestanden, einen großen Lagerraum anzubauen. Von den Wänden blickten finster die riesigen Familienporträts herab, die in den Zimmern des Hauses erdrückend gewirkt hätten. Mrs. Tottons verstorbener Bruder hatte etwa zwanzig Kisten säuberlich auf Regalbrettern angeordnet. Jede davon war beschriftet und enthielt die Papiere und Erinnerungsstücke des jeweiligen Vorfahren. Außerdem gab es noch Regale mit Schwertern, alten Angelruten aus Rohr, Peitschen und Reitpeitschen. Einige Schränke enthielten Uniformen, Reitröcke, Spitzenkleider und andere Modeartikel, sorgfältig mit Mottenkugeln vor dem Zerfall geschützt. Rasch hatten sie den Lederkoffer gefunden und schleppten ihn den Flur entlang ins Wohnzimmer, wo sie ihn öffneten.
Der Oberst hatte nur ungern Briefe geschrieben, doch er hatte von jedem eine Abschrift anfertigen lassen, sodass nicht nur die eingehende, sondern auch die ausgehende Korrespondenz fast vollständig archiviert war. Eine herausragende Leistung für einen Mann, der Papierkram verabscheute. Die Briefe waren nicht chronologisch, sondern nach Themen sortiert, jeder Stapel steckte entweder in einem Umschlag oder war mit Packpapier umhüllt und ordentlich in der markanten Handschrift des Oberst gekennzeichnet.
Die drei Frauen gingen alle Stapel durch und suchten nach einem, der die Aufschrift »Pride« trug – aber vergeblich.
»Ach, du meine Güte«, seufzte Mrs. Totton. »Es tut mir Leid. Offenbar habe ich etwas verwechselt.«
»Das macht nichts«, erwiderte Dorothy. »Es war nett von Ihnen, dass Sie daran gedacht haben.«
Sie fingen an, die Briefe wegzupacken.
»Schaut!«, rief Imogen aus und hielt ein Päckchen hoch, auf dem »Furzey, Minimus« stand. Der Oberst hatte diese Worte ärgerlich unterstrichen. »Darf ich?«
»Natürlich.«
Es handelte sich um einige zum Großteil kurze Briefe. Einer jedoch, der etwas länger war, begann mit den knappen Worten: »Sir, es mag Sie interessieren, dass der Mann, den ich vor etwa zwei Jahren mit Nachforschungen beauftragt habe, mir vor kurzem eine Antwort zukommen ließ.«
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Imogen. Sie las weiter, sagte »Oh!« und vertiefte sich wieder in das Schreiben. »Dottie«, meinte sie dann und berührte die junge Journalistin am Arm. »Ich glaube, wir haben sie.«
Miss Pride wurde gefunden. Sie ist gesund und wohlauf. Vermutlich müssen wir Gott dafür danken. Sie lebt in Sünde mit einem Mann, der angeblich Künstler ist und einen schlechten Ruf hat – offenbar einem Menschen, der Ihnen sehr ähnelt.
Man hat versucht, sie dazu zu überreden, zu ihren Eltern zurückzukehren oder sie wenigstens wissen zu lassen, dass sie wohlauf ist. Doch sie weigert sich strikt. Ob es daran liegt, dass sie so tief gesunken ist und sich an ein Leben in Sünde gewöhnt hat, oder ob sie sich schämt, ist schwer zu sagen. Unter den gegebenen Umständen halte ich es für besser, es ihren Eltern zu verschweigen.
Möglicherweise denken Sie jetzt ja darüber nach, Sir, dass Sie und nur Sie allein die Schuld an Dorothy Prides Ruin tragen.
Ich schreibe deshalb »möglicherweise«, da ich weiß, wie fern es Ihrem Charakter liegt, aus Ihrem Verhalten moralische Schlüsse zu ziehen.
Abschließend möchte ich Ihnen noch versichern, dass mein Ekel und mein Abscheu Ihrer Person gegenüber von Jahr zu Jahr zunimmt.
»Ich denke fast, das war Ihre Urgroßmutter, Dottie.«
»Ganz bestimmt. Sie hat mit einem Künstler zusammengelebt.«
»Und mein Urgroßvater… es tut mir Leid.«
»Nun, wir haben sie gefunden«, sagte Mrs. Totton. »Es ist vor langer Zeit geschehen. Dennoch: Willkommen daheim, Dottie. Wenigstens wissen wir es jetzt.« Sie blickte zur Uhr auf dem Kaminsims. »Meine Lieben, es ist Zeit für einen Drink.«
Doch Dottie lehnte entschuldigend ab. Sie musste heute Abend noch unbedingt etwas arbeiten. Also bedankte sie sich bei den beiden Frauen und wollte gehen.
»Soll ich Ihnen helfen, die Papiere wieder zurück in die Abstellkammer zu bringen?«, fragte sie.
»Nein. Ich glaube, ich werde sie mir heute Abend noch einmal ansehen«, erwiderte Mrs. Totton. »Vielleicht kommen Sie ja in Zukunft häufiger in den New Forest«, fügte sie lächelnd hinzu.
»Vielleicht.«
Die Arbeit ging Dottie leicht von der Hand. Endlich wusste sie, wie sie die Unmengen von Material, die sie gesammelt hatte, sinnvoll sortieren sollte. Sie stand kurz vor dem Durchbruch.
Es war ein seltsames Gefühl, dass sie nun die Geschichte von ihrer Urgroßmutter und Minimus Furzey kannte. Dottie war ganz sicher, Dorothy und damit auch ihre eigenen Wurzeln gefunden zu haben. Ein- oder zweimal hätte sie fast zum Telefon gegriffen, um Peter Pride alles zu erzählen. Doch sie riss sich zusammen. Schließlich konnte sie das immer noch am Sonntag tun, wenn er überhaupt erschien.
Merkwürdig, dass er ihr Cousin war, wenn auch nur ein weit entfernter.
Zufrieden saß Mrs. Totton an diesem Abend im Wohnzimmer. Es war ein schöner Tag gewesen. Sie mochte Dottie Pride. Und es war ein Geschenk des Himmels gewesen, dass sie ihre Familie gefunden hatten. Aus dem New Forest zu stammen, war in Mrs. Tottons Augen die größte Gnade, die einem Menschen überhaupt widerfahren konnte.
Sie las eine Weile in einem Buch, döste dann etwa eine Stunde lang und stellte sich dann einen Stuhl neben den Koffer, um ein paar von Oberst Albions Briefen durchzublättern. Viele davon behandelten die Alltagsgeschäfte des Gutes oder die Auseinandersetzungen zwischen Forstaufsehern und Waldbehörde. Verglichen mit dem Brief an Furzey waren sie nicht sehr interessant. Aber vielleicht war sie ja auch nicht in der richtigen Stimmung.
Sie wollte die Päckchen gerade wieder zurücklegen und den Deckel schließen, als ein schmaler Umschlag herausrutschte. Offenbar handelte es sich um einen einzelnen Brief ohne Antwortschreiben. Auf dem Umschlag stand ein einziges Wort in der Handschrift des Oberst: »Mutter?«
Neugierig geworden öffnete Mrs. Totton das Kuvert. Darin befand sich ein auf beiden Seiten eng beschriebenes Blatt Papier. Die Handschrift war elegant und ließ auf einen gebildeten Menschen schließen. Es war eindeutig nicht die des Oberst.
»Meine liebste Frau«, begann der Brief. »Jeder von uns hat sein Geheimnis, und es gibt etwas, das ich dir gestehen muss.«
Es war eine seltsame Beichte. Offenbar litt die Frau dieses Mannes, die er anscheinend sehr liebte, an Albträumen und redete laut im Schlaf. Daher wusste er, dass sie glaubte, ein schweres Verbrechen begangen zu haben. Andere waren für derartige Straftaten deportiert oder sogar hingerichtet worden, während sie ungeschoren davongekommen war.
Weil sie gelogen hatte. Und nun wurde sie nachts in ihren Träumen von Schuldgefühlen und Reue heimgesucht. Wie es aussah, konnte sie mit niemandem, nicht einmal mit ihrem Mann, über ihre Seelenqualen sprechen. Tagsüber erwähnte sie sie mit keinem Wort. Die Albträume hörten immer wieder für ein paar Monate auf und kehrten dann zurück.
Was also hatte ihr Mann ihr zu gestehen? Zuerst einmal hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er sie im Schlaf belauscht hatte, und er war nicht sicher, ob er das Thema überhaupt erwähnen sollte. Darauf folgte eine leidenschaftliche Passage. Er schrieb, er kenne sie nun so lange und zweifle keinen Augenblick daran, dass sie ein guter Mensch sei. Als Ehefrau, als Mutter und als Gutsherrin habe sie noch nie etwas Böses gesagt oder getan.
Hatte sie das Stück Spitze wirklich gestohlen?, fragte er sie. Oder bildete sie es sich inzwischen ein? Er wusste es nicht. Außerdem wäre die Strafe für dieses Verbrechen – so es denn überhaupt stattgefunden hatte – gewiss unverhältnismäßig hoch ausgefallen. Und durch ihre Güte habe sie zudem schon längst verdient, dass man ihr verzieh.
»Vielleicht, meine liebste Fanny, wird es mir gelingen, dich davon zu überzeugen. Dann hören diese schrecklichen Träume möglicherweise auf. Dennoch möchte ich dir diesen Brief hinterlassen, den du erst lesen sollst, wenn ich nicht mehr bin.
Denn auch ich habe dir etwas zu gestehen. Als ich nach Bath kam, dich anflehte, dich selbst zu retten, und dir sagte, ich wisse, dass du, meine geliebte Frau, dieses Verbrechen nicht begangen hast, habe ich gelogen. Ich hatte Zweifel. Doch ich wünschte mir vor allem, dass du – ob schuldig oder unschuldig – meine Frau werden sollst. Und obgleich ich felsenfest davon überzeugt bin, dass du einmal ins himmlische Königreich Gottes, unseres Herrn, eingehen wirst, verspreche ich dir, dir überallhin zu folgen, selbst in die Feuer der Hölle und in den tiefsten Abgrund, und zwar tausendmal und mit Freuden.
Dein dich liebender Gatte Wyndham.«
»Nun«, murmelte Mrs. Totton. »Aber, aber.«
Dottie Pride erwachte schon vor Morgengrauen. Das Gefühl war da. Das Prickeln. Heute würde sie ihren Bericht fertig stellen.
Sie konnte nicht mehr schlafen. Also stand sie auf, zog sich an und stieg die schwach beleuchtete Treppe von Albion Park hinunter zur großen Eingangstür. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Da sie befürchtete, die anderen Gäste zu wecken, schlich sie sich über den Rasen zum Tor.
Es war ziemlich kühl, doch sie spürte die Kälte nicht. Ohne zu wissen, warum, ging sie die Straße hinauf nach Oakley. Das ganze Dorf schlief. Keine Menschenseele war zu sehen. Dottie erreichte die Wiese mit dem eingezäunten Kricketplatz, den sie im Dämmerlicht kaum erkennen konnte.
Oakley. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie als Mitglied der Familie Pride hier zu Hause war. Über das taufeuchte Gras schlenderte sie zum Rand der Heide. Sicher würden ihre Schuhe klatschnass werden. Aber das kümmerte sie nicht. Sie holte tief Luft. Der Geruch von Torf und Heidekraut stieg ihr in die Nase. Kurz erschauderte sie.
Die morgendliche Dunkelheit lag noch immer wie eine schwarze Decke über dem Frühlingshimmel. Es war still, so als warte der New Forest darauf, dass in der Ruhe vor dem Morgengrauen etwas geschehen würde. Dottie blickte über die Heide von Beaulieu.
Und plötzlich begann eine Lerche zu singen.