BEAULIEU
1294
Geduckt rannte der Mann am Rand des Feldes entlang und hielt sich dicht im Schatten der Hecke. Sein Gesicht war gerötet, und er rang nach Atem. Immer noch hörte er hinter sich aus dem Gutshof wütendes Gebrüll.
Seine mit Lehm bespritzte Soutane wies ihn als Mitglied der Klostergemeinschaft aus, doch sein dichtes Haar war nicht zur Tonsur geschoren – ein Laienbruder also.
Nun hatte er die Ecke des Feldes erreicht und sah sich um. Er wurde nicht verfolgt. Noch nicht. Laudate Dominum. Gepriesen sei der Herr.
Auf einem Feld weideten Schafe, auf dem anderen graste ein Stier. Aber das kümmerte ihn nicht. Er raffte seine Soutane und schwang die langen Beine über den Zaun.
Der Stier, so braun und struppig, dass er einem kleinen Heuhaufen ähnelte, war nicht weit. Unter dem Haarbüschel zwischen den langen, gebogenen Hörnern spähten zwei rote Augen hervor. Fast hätte der Mönch die Hand zum segnenden Kreuzzeichen erhoben, überlegte es sich aber anders.
Tauri Basan cigunt me… Basanbüffel umkreisen mich. Die lateinischen Worte des zweiundzwanzigsten Psalms kamen ihm in den Sinn, die er erst vor einer Woche gesungen hatte. Ein freundlicher Mönch hatte ihm erklärt, was sie bedeuteten. Domine, ad juvandum me festina. O Herr, eile mir rasch zu Hilfe.
So schnell er es wagte, lief er am Rande des Feldes entlang, ohne den Stier aus den Augen zu lassen.
Dabei gingen ihm drei Fragen im Kopf herum: Wurde er verfolgt? Würde der Stier ihn angreifen? Und hatte er den Mann getötet, den er blutend auf dem Gutshof zurückgelassen hatte?
An diesem warmen Herbstnachmittag lag die Abtei von Beaulieu friedlich da. Das Geschrei vom Gutshof hatte man dort nicht hören können. Nur hin und wieder hallte das Flügelflattern eines Schwans am nahen Wasser durch die Stille, welche die grauen Gebäude umgab.
Der Abt saß in seiner Studierstube hinter verriegelten Türen und betrachtete gedankenverloren das Buch, das er soeben durchgesehen hatte.
Jede Abtei barg ihre Geheimnisse. Für gewöhnlich wurden diese niedergeschrieben, an einem sicheren Ort verwahrt und von Abt zu Abt weitergegeben. Manchmal handelte es sich um Tatsachen von historischer Bedeutung, um Angelegenheiten des Herrscherhauses zum Beispiel oder sogar um die Lage des Grabes eines Heiligen. Häufiger jedoch ging es um verheimlichte oder längst vergessene Skandale, in die das Kloster verwickelt gewesen war. Einige verloren im Rückblick an Bedeutung, andere wiederum stiegen dem Betrachter aus den Seiten der Bücher entgegen wie Schreie, die die Geschichte mit harter Hand erstickt hatte. Zu guter Letzt waren da noch die jüngsten Eintragungen, die Menschen betrafen, welche noch dem Kloster angehörten – Dinge, die nach Ansicht des Abtes sein Nachfolger nicht zu erfahren brauchte.
Das hieß nicht, dass die Aufzeichnungen des Klosters Beaulieu besonders umfangreich gewesen wären, denn die Abtei war noch verhältnismäßig neu im New Forest.
Seit Rufus’ Tod war hier nur wenig Außergewöhnliches geschehen. Als Heinrich nach langer Regierungszeit gestorben war, hatten seine Tochter und sein Neffe viele Jahre um den Thron gestritten. Doch diese Auseinandersetzung spielte sich nicht im New Forest ab. Als der Sohn jener Tochter, der grausame Heinrich Plantagenet, den Thron bestieg, war er sofort in Zwist mit seinem Erzbischof Thomas Becket geraten, und man munkelte, er habe ihn ermorden lassen. Die ganze Christenheit war entsetzt gewesen. Neue Aufregung war entstanden, als Heinrichs heldenhafter Sohn Richard Löwenherz seine Ritter in Sarum versammelt hatte, um in den heiligen Krieg zu ziehen.
In Wahrheit jedoch scherten sich die Bewohner des New Forest nur wenig um diese großen Ereignisse. Mehr schon interessierte sie da die Hirschjagd. Trotz der vielen Versuche von Seiten der Barone und der Kirche, das riesige Gebiet des königlichen Forsts zu verkleinern, hatten die habgierigen Könige aus dem Hause Plantagenet dieses inzwischen erweitert, sodass er nun größer war als zur Zeit des Eroberers. Zum Glück jedoch hatte man die Forst- und Jagdgesetze gelockert. Mittlerweile jagte der König nicht mehr von Brockenhurst aus, sondern nahm im königlichen Herrensitz von Lyndhurst Quartier, wo man die alte Palisade ausgebaut hatte.
Ein Vorfall jedoch hatte die Waldbewohner aufmerken lassen. Nachdem König Johann, der unfähige Bruder von Richard Löwenherz, von seinen Baronen gezwungen worden war, die demütigende Magna Charta anzuerkennen, hatte dieses umfangreiche Gesetz, das England Freiheiten zugestand, auch die Unterdrückung im New Forest gemildert. Die einzelnen Verbesserungen wurden zwei Jahre später in einem eigenen, den New Forest betreffenden Gesetz weiter ausgeführt. Es handelte sich nicht mehr um eine Gemeindeangelegenheit, denn inzwischen war etwa ein Drittel von England königlicher Forst.
Und dann war da noch Beaulieu.
Man bezeichnete König Johann nicht nur deshalb als unfähig, weil er all seine Kriege verloren hatte und sich ständig mit seinen Baronen stritt. Was noch schlimmer war: Er hatte den Papst beleidigt und damit dafür gesorgt, dass England nun unter päpstlichem Bann stand. Jahrelang fanden im Land keine Gottesdienste mehr statt. Kein Wunder also, dass Geistliche und Mönche den König hassten – und schließlich waren es die Mönche, die für die Geschichtsschreibung zuständig waren. Soweit es sie betraf, hatte er im Leben nur ein einziges Mal etwas Gutes vollbracht – nämlich, indem er Beaulieu gründete.
Beaulieu war seine einzige religiöse Stiftung. Die Frage war nur, was ihn, den Bösewicht, zu dieser guten Tat bewogen hatte? In den Chroniken der Mönche jedoch fielen feinsinnige Unterscheidungen für gewöhnlich unter den Tisch. Entweder war ein Mensch gut oder böse. Und deshalb einigte man sich auf die Erklärung, der König habe mit dieser Stiftung Buße für eine besonders verabscheuungswürdige Tat tun wollen. Einer Legende zufolge hatte er befohlen, einige Mönche von seinen Pferden zu Tode trampeln zu lassen, und sei danach von einem Albtraum geplagt worden.
Was immer auch der wahre Grund gewesen sein mochte: Im Jahre des Herrn 1204 gründete König Johann jedenfalls Beaulieu, ein Kloster der Zisterzienser oder der weißen Mönche, wie man sie auch nannte. Zuerst stiftete er ihnen reiche Ländereien in Oxfordshire und teilte ihnen dann ein großes Gebiet im östlichen Teil des New Forest zu. Zufällig handelte es sich um ebenjene Stelle, an der Urgroßonkel Rufus vor einem Jahrhundert getötet worden war. In den neunzig Jahren seit seiner Gründung hatte die Abtei weitere Gelder von Johns frommem Sohn Heinrich III. und dem gegenwärtigen König Eduard I. erhalten, der außerdem ein treuer Freund der Kirche war. Dank dieser Großzügigkeit war die Abtei inzwischen mehr als wohlhabend. Einige ihrer Mönche hatten sogar Tochterhäuser in anderen Ortschaften gegründet – so in Newenham, etwa hundert Kilometer entfernt an der südwestlichen Küste in Devon. Die Abtei war vom Glück verwöhnt und erfolgreich.
Seufzend klappte der Abt das Buch zu und schloss es in eine große, mit Eisen beschlagene Truhe ein.
Er hatte einen Fehler gemacht. Es war leichtsinnig gewesen, den Rat seines Vorgängers in den Wind zu schlagen, denn dieser hatte Recht behalten. Inzwischen stand eindeutig fest, dass der Mann verderbt und möglicherweise sogar gefährlich war.
»Warum habe ich ihn nur ernannt?«, murmelte er. War es aus Reue geschehen? Der Abt hatte sich gesagt, dass man diesem Mann eine Chance geben musste. Schließlich hatte er sie sich – natürlich durch Gebete und die Gnade Gottes – verdient, und es oblag ihm, dem Abt, sie ihm auch zu gewähren. Und was sein Verbrechen betraf? Es stand in diesem Buch. Doch seitdem war viel Zeit vergangen. Und Gott war gnädig.
Der Abt sah durchs offene Fenster. Ein wunderschöner Tag. Da bemerkte er zwei Männer, die, in ein leises Gespräch vertieft, dahinschlenderten. Seine Miene erhellte sich bei diesem Anblick.
Bruder Adam. Das war eine völlig andere Art von Mensch, ein ausgesprochen guter nämlich. Der Abt lächelte. Es war Zeit, nach draußen zu gehen. Er schob den Türriegel zurück.
Bruder Adam war ausgelassener Stimmung. Wie so häufig beim Spazierengehen zog er das kleine Holzkreuz, das ihm an einer Schnur um den Hals hing, unter dem härenen Hemd hervor und betastete es nachdenklich. Seine Mutter hatte es ihm beim Eintritt in den Orden geschenkt. Sie sagte, sie habe es von einem Mann erhalten, der es aus dem Heiligen Land mitgebracht habe.
Es bestehe aus dem Holz einer libanesischen Zeder. Warm beschien die Sonne seinen haarlosen Schädel. Schon mit dreißig Jahren war Bruder Adam erst ergraut und dann kahl geworden. Doch er wirkte dadurch nicht älter. Inzwischen war er fünfunddreißig, und sein fein geschnittenes, ebenmäßiges Gesicht verlieh ihm ein fast jungenhaftes und kluges Aussehen. Selbst die Mönchskutte konnte nicht verbergen, wie kräftig und muskulös er gebaut war.
Im Augenblick war er mit der angenehmen Aufgabe beschäftigt, dem jungen Novizen, der respektvoll zwischen den Gemüsebeeten neben ihm herging, ein wenig gesunden Menschenverstand einzubläuen.
Bruder Adam wurde oft von anderen um Hilfe gebeten, denn er war gewitzt und besonnen und flößte auf den ersten Blick Vertrauen ein. Nie erteilte er ungebetene Ratschläge, denn dazu war er viel zu schlau. Allerdings fiel es auf, dass ein Mensch, der sich mit seinen Nöten an ihn wandte, meist nach einer Weile zu lachen begann und mit einem Lächeln auf den Lippen von dannen ging.
»Tadelst du die Menschen nie?«, hatte der Abt ihn einmal gefragt.
»O nein«, erwiderte Bruder Adam mit einem Augenzwinkern. »Dazu sind schließlich die Äbte da.«
Das Gespräch, das er jetzt führte, verlief weniger erfreulich. Aber das war auch gut so. Bruder Adam hatte eine solche Unterhaltung schon öfter geführt, er bezeichnete sie als »Lektion über die wahren Fragen, die ein Mönch sich stellen muss«.
»Warum?«, wandte er sich an den Novizen, »leben Männer in einem Kloster?«
»Um Gott zu dienen, Bruder Adam.«
»Und weshalb ausgerechnet in einem Kloster?«
»Um der sündigen Welt zu entfliehen.«
»Aha.« Bruder Adam sah sich im Klostergarten um. »Also vergleichbar mit einem Rückzug in den Garten Eden?«
In gewisser Weise traf dieses Bild durchaus zu. Die Mönche hatten sich einen malerischen Ort für ihr Kloster ausgesucht. Zwischen dem kleinen Fluss und dem Solent östlich des New Forest befand sich eine etwa viereinhalb Kilometer lange Landzunge. An deren Anfang, wo einst König Johanns bescheidene Jagdhütte gestanden hatte, hatten die Mönche ein großes Gelände mit einer Mauer eingefriedet. In seiner Bauweise war das Kloster dem Mutterhaus des Ordens in Burgund nachempfunden. Dominiert wurde die Anlage von der Abteikirche, einem gewaltigen, frühgotischen Gebäude mit einem viereckigen, gedrungenen Turm über dem Mittelschiff. Das aus Stein errichtete Gotteshaus strahlte eine schlichte Würde aus. Da es im New Forest keine Steinbrüche gab, hatte man einen Teil des Baumaterials über den Solent von der Insel Wight herübergebracht. Ein anderer Teil stammte aus der Normandie. Die Säulen waren aus demselben dunklen Purbeck-Marmor gefertigt, der auch in der großen neuen Kathedrale in Sarum verwendet worden war. Besonders stolz waren die Mönche auf den Fußboden der Kirche, dessen kunstvolle Mosaike sie eigenhändig angefertigt hatten. Neben der Kirche befand sich der Kreuzgang, an dessen Südseite die Chormönche untergebracht waren. Die Westseite wurde von dem gewaltigen domus conversorum eingenommen – dem Haus, wo die Laienbrüder aßen und schliefen.
Außerdem beherbergte die Einfriedung auch das Haus des Abtes, verschiedene Werkstätten, einige Fischteiche und ein Pförtnerhaus, wo die Armenspeisung stattfand. Vor kurzem hatte man mit dem Bau eines neuen und größeren Pförtnerhauses begonnen.
Jenseits der Klostermauer lagen der Meeresarm und eine kleine Mühle. Oberhalb des Mühlrades gab es einen großen Teich, an dessen Ufern silbrige Binsen wuchsen. Auf dessen Westseite erstreckten sich Felder eine kleine Anhöhe hinauf. Von deren Gipfel aus bot sich eine malerische Aussicht: im Norden Wälder und Heide, so weit das Auge reichte, und im Süden der ertragreiche Moorboden, den die Mönche bereits zum Teil trockengelegt hatten. Die daraus entstandenen üppigen Felder reichten bis hinunter zum Solent, aus dem die Insel Wight wie ein freundlicher Wächter ragte. Die gesamten Ländereien mit Wäldern, Heiden und Feldern hatten eine Größe von etwa dreitausendzweihundert Hektar, und da die Grenze von einem Graben und einem Zaun gebildet wurde, bezeichneten die Mönche nicht nur die Abtei selbst, sondern das ganze Gebiet als ihren »Großen Hof«.
Auf Lateinisch hieß die Abtei Bellus Locus, der schöne Ort, auf Französisch Beau Lieu. Doch da die Waldbewohner des Französischen nicht mächtig waren, sprachen sie es eher wie Boolö aus. Und es dauerte nicht lange, da taten es die Mönche ihnen nach.
Man hätte den großen Hof von Beaulieu in seinem friedlichen Wohlstand also durchaus für einen Garten Eden halten können.
»Natürlich ist man hier gut aufgehoben«, stellte Bruder Adam freundlich fest. »Wir erhalten hier Kleidung und Nahrung. Wir haben kaum Sorgen. Und nun sage mir«, wandte er sich unvermittelt an den Novizen, »nachdem du nun einige Monate Zeit hattest, dir unsere Lebensweise anzusehen, welches ist die wichtigste Eigenschaft, die ein Mönch besitzen muss?«
»Der Wille, Gott zu dienen, denke ich«, erwiderte der junge Mann. »Einen großen Eifer im Glauben.«
»Wirklich? Ach, du meine Güte. Da bin ich aber anderer Ansicht.«
»Wirklich?« Der Novize wirkte verdattert.
»Lass mich dir etwas erklären«, begann Bruder Adam vergnügt. »Wenn du am ersten Tag nach deinem Noviziat ein Mönch geworden bist, wirst du deinen Platz als der Jüngste unter uns einnehmen, und zwar hinter dem Bruder, der als Letzter vor dir gekommen ist. Nach einer Weile wird wieder ein neuer Mönch zu uns stoßen, der dann unter dir steht. Bei sämtlichen Mahlzeiten und Gottesdiensten wirst du auf demselben Platz zwischen diesen beiden Mönchen sitzen, jeden Tag, jede Nacht, jahrein, jahraus. Und wenn nicht einer von euch in ein anderes Kloster übersiedelt oder Abt oder Prior wird, bleibt es so für den Rest eures Lebens. Überleg einmal. Vielleicht hat einer deiner Begleiter die ärgerliche Angewohnheit, sich zu kratzen oder falsch zu singen. Der andere kleckert möglicherweise beim Essen. Und da sitzen sie, links und rechts von dir. Für immer.« Er hielt inne und strahlte den Novizen an. »So ist nun mal das Klosterleben«, meinte er freundlich.
»Aber Mönche leben doch für Gott«, widersprach der Novize.
»Und sie sind gleichzeitig ganz gewöhnliche Menschen, nicht mehr und nicht weniger. Das«, fügte Bruder Adam nachsichtig hinzu, »ist der Grund, warum wir der Gnade Gottes bedürfen.«
»Ich dachte«, sagte der Novize unverblümt, »dass du mir einen erhebenderen Rat geben würdest.«
»Ich weiß.«
Der Novize schwieg. Er war erst zwanzig Jahre alt.
»Die wichtigsten Eigenschaften eines Mönches«, sprach Bruder Adam weiter, »sind Duldsamkeit und Sinn für Humor.« Er betrachtete den jungen Mann. »Aber diese Dinge sind beide Geschenke Gottes«, ergänzte er, um ihm eine Freude zu machen.
Die beiden waren so versunken in ihr Zwiegespräch, dass sie nicht bemerken konnten, wie sie beobachtet wurden. Eigentlich hatte sich der Abt an dem Gespräch beteiligen wollen, denn er genoss Bruder Adams Gesellschaft. Deshalb war er insgeheim ein wenig verärgert, als, gleich nachdem er das Gebäude verlassen hatte, der Prior auf ihn zukam. Doch die Höflichkeit gebot, den Mann anzuhören. Während der Prior leise auf ihn einredete, betrachtete er ihn bedrückt.
John von Grockleton war nun schon seit einem Jahr Prior. Und wie den meisten seinesgleichen stand ihm keine sonderlich glanzvolle Laufbahn bevor.
Dabei ist der Prior in einem Kloster kein unbedeutender Mann, ist er doch der Mönch, den der Abt zu seinem Stellvertreter ernannt hat. Aber damit ist seine Macht auch schon am Ende. Wenn sich der Abt auf Reisen befindet, steht der Prior dem Kloster vor, allerdings darf er nur den Alltag betreffende Entscheidungen fällen. Alle wichtigen Dinge, selbst die Verteilung der Pflichten an die Mönche, müssen warten, bis der Abt zurückgekehrt ist. Der Prior ist das Arbeitspferd, der Abt gibt die Befehle. Der Abt strahlt Macht und Würde aus, der Prior nicht. Der Abt löst die Probleme, der Prior meldet sie. Ein Prior wird nur selten zum Abt befördert.
Eigentlich war Bruder John die richtige Anrede für John Grockleton. Doch aus irgendeinem Grund sprach man ihn immer mit vollem Namen an. Allerdings wusste niemand, wo dieses Grockleton überhaupt lag. Selbst der Abt konnte sich nicht erinnern. Vielleicht befand es sich irgendwo im Norden, aber eigentlich spielte das gar keine Rolle. Prior John von Grockleton war kein sonderlich ansehnlicher Mann. Früher, bevor sich sein Rücken gebeugt hatte, musste er einmal recht groß gewesen sein. Sein ehemals dichtes schwarzes Haar war schütter geworden. Aber trotz seiner Gebrechlichkeit war der Prior von einer inneren Kraft beseelt. Gewiss wird er mich noch überleben, dachte der Abt.
Wenn er nur nicht solche Hände gehabt hätte! Den Abt erinnerten sie an Klauen, obwohl er sich dieses Gedankens schämte. Es waren doch nur Hände, weiter nichts. Ein wenig knochig vielleicht, ein bisschen verkrümmt. Aber nicht anders als jedes Paar Hände, das Gott geschaffen hatte. Bloß, dass sie wirklich wie Klauen aussahen.
»Ich freue mich, dass unser junger Novize Rat bei Bruder Adam sucht«, meinte der Abt zum Prior und zitierte den ersten Vers des ersten Psalms: »›Beatus vir, qui non sequitur…‹« Selig ist der Mann, der nicht im Rat der Gottlosen wandelt…
»Sed in lege Domine…«, murmelte der Prior. Vielmehr am Gesetz des Herrn seine Freude hat.
In alltäglichen Gesprächen Psalmen zu zitieren, war nicht weiter außergewöhnlich. Selbst die Laienbrüder, die nicht so häufig zum Gottesdienst gingen, taten es. Denn während der ständigen Messen, die den Tag der Mönche vom Matin bis zur Vesper und Compline regelten, sangen die Brüder die Psalmen natürlich auf Latein.
»Ja, das Gesetz des Herrn.« Der Abt nickte. »Bruder Adam hat doch studiert, ich glaube in Oxford.« Es handelte sich nicht um einen akademischen Orden, doch vor etwa zwölf Jahren hatte man beschlossen, die klügsten der Mönche nach Oxford zu schicken. In Beaulieu war Bruder Adam ausgewählt worden.
»Oxford«, wiederholte John von Grockleton angewidert. Auch wenn der Abt noch so sehr von Oxford schwärmen mochte, er billigte diese modernen Sitten nicht. Dass er, der Prior, sämtliche Psalmen auswendig hersagen konnte, war genug der Bildung. Menschen wie Bruder Adam hielten sich für etwas Besseres. Obwohl man die Mönche weit weg von der eigentlichen Universitätsstadt einquartiert hatte, waren sie dennoch mit der weltlichen Verderbtheit dieses Ortes in Berührung gekommen. Demzufolge waren sie einem Mönch wie John von Grockleton auch nicht überlegen – ganz im Gegenteil.
»Wenn ich irgendwann nicht mehr bin«, meinte der Abt, »würde Bruder Adam einen guten Abt abgeben. Denkst du nicht?« In Erwartung einer Zustimmung sah er den Prior an.
»Das wird auch nach meiner Zeit sein«, erwiderte Grockleton säuerlich.
»Unsinn, mein guter Bruder John«, entgegnete der Abt vergnügt. »Du wirst uns alle überleben.«
Warum hänselte er den Prior so? Der Abt seufzte und nahm sich vor, Buße zu tun. Es ist die Weigerung dieses Mannes, seine eigenen Grenzen zu erkennen, die mich immer wieder in Versuchung führt, dachte er. Und nun habe ich mich der Grausamkeit schuldig gemacht.
Im nächsten Moment wurde er von einigen Schreien, die vom Haupttor herüberdrangen, aus seinen Grübeleien gerissen. Kurz darauf stürzte eine Gestalt, gefolgt von einigen aufgebrachten Mönchen, auf ihn zu.
»Vater Abt, kommt schnell!«, keuchte der Mann atemlos.
»Wohin, mein Sohn?«
»Zum Gut Sowley. Ein Mord ist geschehen.«
Niemand war ihm auf den Fersen. Luke ruhte sich an einem Ginsterbusch aus und überlegte, was er unternehmen sollte. Etwa anderthalb Kilometer entfernt auf der Heide hütete ein Schäfer seine Herde. Doch der Mann hatte ihn nicht gesehen.
Warum hatte er es getan? Gott allein wusste, dass er es nicht gewollt hatte. Wenn Bruder Matthew nicht unangemeldet erschienen wäre, dann wäre es nie geschehen. Aber das war keine Entschuldigung. Umso weniger als Bruder Matthew ihm, einem einfachen Laienbruder, während seiner Abwesenheit die Aufsicht über das Gut übertragen hatte. Beim Gedanken, wie der arme Bruder Matthew in einer Pfütze von Blut lag, zuckte Luke zusammen.
Die Zisterzienser unterschieden sich von allen übrigen Mönchen. Die meisten Orden lebten nach den Regeln des heiligen Benedikt, und diese waren eindeutig. Mönche führten ein Leben in der Gemeinschaft, in dem sich ständiges Beten und körperliche Arbeit abwechselten. Sie gelobten Armut, Keuschheit und Gehorsam, wobei die letzten beiden Punkte mehr oder weniger eingehalten wurden. Nur mit der Armut war es immer ein wenig schwierig. Ganz gleich, wie bescheiden ihre Anfänge auch sein mochten, nach einer Weile erlangten Klöster stets einen gewissen Wohlstand. Ihre Kirchen waren prächtig, das Leben wurde bequem. Immer wieder waren deshalb Reformer auf den Plan getreten. Die bedeutendste Bewegung war von dem großen französischen Orden in Cluny ausgegangen. Doch selbst dieser war von einem neuen Orden abgelöst worden, der sich von seinem Mutterhaus im burgundischen Citeaux immer weiter ausbreitete: den Zisterziensern.
Sie waren unverwechselbar und wurden auch weiße Mönche genannt, da sie schlichte Kutten aus ungefärbter Wolle trugen.
Zisterzienser flohen vor der sündigen Welt, indem sie ihre Klöster in der abgeschiedenen Wildnis errichteten. Sie ernährten sich von den Früchten ihrer oft viele Kilometer vom Kloster entfernten Landgüter und züchteten hauptsächlich Schafe. Zum Kloster von Beaulieu gehörten viele Tausend Tiere, die nicht nur überall im Großen Hof, sondern auch im New Forest grasten, denn das Kloster besaß überall Weiderechte. Damit die Mönche den Großteil ihrer Zeit dem Gebet widmen konnten, gab es noch eine ziemlich beträchtliche Gruppe von Laienbrüdern, welche die Gelübde ablegten und einige Gottesdienste besuchten. Ihre Hauptaufgabe bestand jedoch darin, die Schafe zu hüten und die Felder zu bestellen. Für gewöhnlich waren es hiesige Bauernburschen, die sich vom mönchischen Leben im Schutz der Klostermauern angezogen fühlten. Männer wie Luke.
Und ausgerechnet ihm hatte das passieren müssen. Sie waren in der Nacht zuvor erschienen. Zu acht. Mit Bogen und Hunden. Roger Martell war dabei gewesen, ein ungebärdiger junger Adeliger. Außerdem noch vier seiner Freunde, dazu Dorfbewohner, einfache Männer, wie er selbst einer war. Einer von ihnen war sein Verwandter Will atte Wood. Luke seufzte. Im New Forest war nun einmal jeder mit jedem verwandt.
Wenn er nur nicht die Aufsicht geführt hätte! Natürlich hatte Bruder Matthew ihm einen Gefallen erweisen wollen, indem er ihm diese Pflicht übertrug. Sowley war ein wichtiges Gut, das außer den üblichen Kornfeldern und Milchvieh auch noch über einen kleinen Fischteich verfügte. Außerdem gehörte das Hirschreservat im nahe gelegenen Througham ebenfalls zur Abtei.
Bruder Matthew wusste, dass der Prior Luke nicht leiden konnte. Und deshalb hatte er ihm Gelegenheit geben wollen, Grockleton seine Zuverlässigkeit zu beweisen. Doch als der junge Martell mit seinen Kumpanen eingetroffen war und eine Unterkunft für die Nacht gefordert hatte, war es für einen einfachen Mann wie Luke nicht leicht gewesen, sich zu weigern.
Natürlich hatten diese Männer gewildert. Sie hatten sogar einen Hirsch bei sich. Das war ein schweres Verbrechen. Zwar wurde es nicht mehr mit dem Tod oder dem Abhacken eines Arms oder Beins bestraft, doch die Geldbußen konnten empfindlich sein. Und wer ihnen eine Unterkunft zur Verfügung stellte, machte sich der Mittäterschaft schuldig. Warum hatte er es also getan? Hatten sie ihn bedroht? Martell zumindest hatte ihn beschimpft und ihm finstere Blicke zugeworfen. Aber der eigentliche Grund war, dass Will ihn angestoßen und geflüstert hatte: »Zier dich nicht so, Luke. Ich habe ihnen gesagt, dass du mein Vetter bist. Willst du mich jetzt vor ihnen blamieren?«
Sie hatten sämtliches Brot und einen ganzen Käse verzehrt. Das Bier hatte sie nicht begeistern können. Schließlich wurden das beste Bier und der beste Wein für die Gäste in der Abtei, nicht draußen auf einem Landgut aufbewahrt. Gegen Morgen waren sie wieder aufgebrochen.
Außer Luke arbeitete nur ein halbes Dutzend Laienbrüder auf dem Gut. Doch denen brauchte er die Lage nicht eigens zu erklären. Sie hatten verstanden, niemand würde die ungebetenen Gäste auch nur mit einer Silbe erwähnen.
»Wie sollen wir erklären, dass Käse und Bier fehlen?«, fragte einer von ihnen.
»Wir öffnen das Fass ein bisschen, verschütten ein wenig Bier auf den Boden und sagen nichts. Wenn es jemandem auffällt, werden alle denken, das Fass wäre ausgelaufen. Und was den Käse angeht, behaupte ich einfach, er wäre gestohlen worden.«
Vielleicht wäre dieser Plan niemals entdeckt worden, hätte Bruder Matthew nicht so scharfe Augen gehabt. Außerdem war er nur zwei Tage nach seinem letzten Besuch wieder auf dem Gut aufgetaucht. Kurz nach der Mittagszeit kam er hereingeeilt und machte sich sofort daran, alles in Augenschein zu nehmen. Als er das ausgelaufene Bier bemerkte, zitierte er Luke zu sich.
»Gewiss ist seit gestern etwas ausgelaufen«, begann Luke, aber er kam nicht weit.
»Unsinn. Das Fass war voll. Der Hahn hat nur getropft. Und als ich vorgestern fort bin, war es noch fest versiegelt. Jemand hat davon getrunken.« Er blickte sich um. »Darüber hinaus fehlt ein ganzer Käse.«
»Sicher ist er gestohlen worden.« Doch es nützte nichts. Luke war kein guter Lügner, und Bruder Matthew hatte ihn gleich durchschaut. Der Mönch betrachtete seinen Untergebenen tadelnd. Wer weiß, was für eine aberwitzige Geschichte Luke als Nächstes zum Besten gegeben hätte, wenn es in diesem Augenblick nicht heftig an der Tür geklopft hätte.
Es war Martell. Er nickte den Laienbrüdern zu. »Wir sind zurückgekommen, Luke, und brauchen wieder deine Hilfe.« Dann sah er Bruder Matthew, den er bis jetzt nicht bemerkt hatte. »Und wer zum Teufel seid Ihr?«
Luke schlug die Hände vors Gesicht, als er sich erinnerte, wie es dann weitergegangen war. Welche Schande! Sein strenger Befehl an die Wilderer, sofort zu verschwinden, ihre hochmütige Weigerung. Und dann…
Wenn Bruder Matthew nur nicht die Beherrschung verloren hätte. Zuerst hatte er Luke beschimpft, er stecke mit den Verbrechern unter einer Decke. Bei Gott, natürlich war dieser Verdacht nur zu nahe liegend. Er hatte, und zwar im Beisein der anderen Laienbrüder, gedroht, den Prior zu rufen und Luke aus dem Kloster werfen zu lassen. Kurz darauf standen sie, den Wilderern gegenüber, vor dem Haus. Bruder Matthew hatte befohlen, die Tür zu verriegeln. Und als Martell trotzig den Fuß dazwischen stellte, war es Bruder Matthew zu bunt geworden. Er hatte nach einem Stab gegriffen, der an der Wand lehnte, und wollte sich auf Martell stürzen.
Luke hatte nicht vorgehabt, Bruder Matthew zu verletzen. Ganz im Gegenteil. In diesem Augenblick leitete ihn nur ein Gedanke: Wenn der Mönch Martell angriff, würde der junge Heißsporn ihn sicher töten. Für weitere Überlegungen hatte die Zeit nicht gereicht. Neben dem Stab lehnte ein Spaten, ein schweres, hölzernes, mit Eisen verstärktes Gerät. Luke hatte den Spaten genommen, um Bruder Matthew den Stab aus der Hand zu schlagen, als dieser gerade ausholte.
Doch der Schlag war zu heftig gewesen. Krachend zerbarst der Stab, und die Kante des Spatens traf mit einem abscheulich dumpfen Geräusch den Kopf des Mönches. Dann brach die Hölle los. Die anderen Laienbrüder stürmten auf Luke zu, um ihn festzuhalten. Martell und Will stürzten sich auf die Laienbrüder. Und in dem Getümmel ließ Luke den Spaten fallen, er riss sich los und rannte um sein Leben.
Eines war gewiss. Ganz gleich, welche Erklärung er auch vorbrachte, man würde ihm die Schuld geben. Schließlich hatte er die Wilderer beherbergt. Er hatte Bruder Matthew geschlagen. Der Prior hasste ihn ohnehin. Wenn ihm sein Leben lieb war, musste er fliehen und sich verstecken. Sicher würde man bald die Verfolgung aufnehmen. Er überlegte, wohin er sich flüchten sollte.
Maria blickte von dem Topf auf, den sie gerade schrubbte, und schüttelte den Kopf.
Eigentlich war die Frage ganz leicht zu beantworten. So sagte sie sich wenigstens. Das Pony war schuld.
John Pride betrachtete es als sein Eigentum. Und Tom Furzey behauptete das Gegenteil. So einfach war das. Natürlich ließ sich noch mehr dazu sagen, und nach einer Woche waren bereits einige Gerüchte im Umlauf. Allerdings änderte das nichts an den Tatsachen: Pride und Furzey erhoben beide Anspruch auf das Tier.
Für einen unbeteiligten Beobachter gab es jedoch jede Menge Raum für Zweifel. Wenn ein Pony draußen im New Forest ein Fohlen zur Welt brachte, waren die Eigentumsverhältnisse geklärt, solange das Jungtier bei seiner Mutter blieb. Starb die Mutter aber und das Fohlen irrte allein umher – und solche Dinge geschahen eben manchmal –, dann konnte es durchaus vorkommen, dass jemand auf das herrenlose Tier stieß. Pride hatte das Fohlen gefunden. Das behauptete er wenigstens.
Es war ein hübsches Tier, was die Sache nicht erleichterte. Obwohl klein und gedrungen und mit einem kräftigen Hals wie alle Ponys im New Forest, hatte sein Gesicht etwas Zartes, fast Zierliches, und es schritt anmutig dahin. Sein Fell war kastanienbraun, Schweif und Mähne waren ein wenig dunkler.
»Das hübscheste kleine Pony, das ich je gesehen habe«, sagte ihr Bruder, und Maria war mit ihm einer Ansicht.
Der Altersunterschied zwischen Maria und John Pride betrug nur ein Jahr. Ihre ganze Kindheit lang hatten sie zusammen gespielt. Und niemand konnte mit den dunkelhaarigen, hübschen, schlanken Wildfängen mithalten, wenn sie zusammen durch den New Forest tollten. Nur für ihren verträumten kleinen Bruder waren sie bereit, ein wenig langsamer zu laufen. Als Maria eines Tages Tom Furzey geheiratet hatte, war John leicht enttäuscht gewesen. Doch sie kannte ihn schon seit ihrer Kindheit, denn sie hatten ihr ganzes Leben in Oakley verbracht.
Und sie war mehr oder weniger glücklich mit ihm geworden. Viermal war sie schwanger gewesen und hatte nun drei gesunde Kinder. Inzwischen war sie ein wenig fülliger, doch ihre dunkelblauen Augen funkelten noch so lebhaft wie früher. Auch wenn ihr Mann zuweilen mürrisch und auch nicht besonders anregend war – es spielte keine Rolle, wenn man mit seiner ganzen Familie im New Forest lebte.
Bis die Sache mit dem Pony geschehen war. Nun sprachen John Pride und Tom Furzey schon seit drei Wochen nicht mehr miteinander. Und der Streit betraf nicht nur sie beide, denn man konnte eine derartige Angelegenheit nicht einfach auf sich beruhen lassen. Harte Worte waren gefallen und weitergetratscht worden. Und jetzt wechselten im ganzen New Forest die Mitglieder der Familie Pride – und das waren nicht wenige – kein Wort mehr mit den nicht minder zahlreichen Furzeys. Nur der Himmel wusste, wie lange das noch dauern sollte.
Mittlerweile stand das Pony in Prides Kuhstall. Er konnte es nicht frei im New Forest umherlaufen lassen, da die Furzeys es sonst sofort eingefangen hätten. Und deshalb lebte das kleine Tier in Gefangenschaft wie ein Ritter, der darauf wartet, dass man Lösegeld für ihn bezahlt. Der ganze New Forest wartete ab, wie es weitergehen würde. Aber für Mary spielten sich die eigentlichen Schwierigkeiten innerhalb ihrer vier Wände ab.
Sie durfte ihren Bruder John nicht sehen, obwohl der doch nur wenige hundert Meter entfernt im selben Weiler wohnte. Sein Haus war für sie nun Feindesland. Einige Tage nach Beginn des Streites hatte sie ihn besucht, ohne groß darüber nachzudenken. Als ihr kräftiger Ehemann nach Hause kam, hatte er bereits davon erfahren. Und was er gehört hatte, hatte ihm gar nicht gefallen. Oh, das hatte er ihr unmissverständlich klargemacht. Von diesem Tage an war es ihr untersagt, auch nur ein Wort mit John zu sprechen, jedenfalls solange das Pony sich in seinem Besitz befand.
Was sollte sie tun? Tom Furzey war ihr Ehemann. Selbst wenn sie sich entschlossen hätte, seinen Befehl zu missachten und sich heimlich aus dem Haus zu schleichen – Toms Schwester wohnte auf halbem Wege zwischen den Furzeys und den Prides und hätte sie gewiss verpetzt. Dann würde es wieder zu einem heftigen Streit kommen, unter dem nur die Kinder leiden würden. Also hatte sie sich in ihr Schicksal gefügt, und natürlich konnte Johann sie ebenfalls nicht besuchen.
Maria ging nach draußen. Der Herbstnachmittag war noch warm. Bedrückt blickte sie nach oben und betrachtete den blauen Himmel. Er sah metallisch und bedrohlich aus. Noch nie zuvor hatte sie sich allein mit der Gesellschaft ihres Mannes begnügen müssen.
Immer noch starrte sie zum leuchtenden Himmel hinauf, als sie aus den Bäumen einen Pfiff hörte. Sie runzelte die Stirn. Da erklang noch ein Pfiff. Sie ging auf das Geräusch zu, und wenige Minuten später erkannte sie zu ihrer großen Überraschung, wer sich da hinter einem Baum versteckte.
Es war ihr kleiner Bruder Luke aus der Abtei von Beaulieu, der sehr verängstigt wirkte.
In dem Morgennebel bemerkte Bruder Adam die Frau nicht gleich. Außerdem war er tief in Gedanken versunken.
Die Ereignisse des Vortages hatten das ganze Kloster erschüttert. Bis zur Abendmesse wussten alle von dem Zwischenfall. Es geschah nicht häufig, dass die Mönche das Bedürfnis hatten, miteinander zu reden. Die Zisterzienser legen zwar kein Schweigegelübde ab, beschränken jedoch ihre Gespräche auf wenige Stunden am Tag. Und während der langen Zeit des Schweigens im Kloster scheint die Zeit langsamer zu vergehen, weshalb niemand es besonders eilig hat. Wenn man heute eine Nachricht nicht loswerden konnte, war auch noch am nächsten Tag Gelegenheit dazu. An diesem Abend jedoch brannten alle darauf, sich endlich auszutauschen.
Bruder Adam wusste, dass man dem Gerede Einhalt gebieten musste. Eine derartige Aufregung lenkte nicht nur vom Glauben ab, sondern legte sich wie ein licht- und schallundurchlässiger Schleier zwischen die Menschen und Gott. Gott hörte man am besten in der Stille. Also war Bruder Adam froh, als nach dem Compline wieder summum silencium herrschte, das absolute Sprechverbot, das bis zum Frühstück dauerte.
Die Nacht hatte für Bruder Adam eine ganz besondere Bedeutung, denn sie spendete ihm Trost. Hin und wieder befürchtete er, etwas verpasst zu haben, indem er sich für das Klosterleben entschieden hatte. Manchmal sehnte er sich nach den klugen Köpfen, denen er in Oxford begegnet war. Und natürlich verfluchte er zuweilen die Glocke, die ihn mitten in der Nacht aus dem Bett riss, sodass er in seine Filzpantoffeln schlüpfen und die kalten Steinstufen zur dunklen Kirche hinuntergehen musste. Doch selbst dann – wenn er bei Kerzenlicht Psalmen sang, während draußen die unzähligen Sterne über das Kloster wachten – erschien es Bruder Adam, als könne er die Gegenwart Gottes mit Händen greifen. Und er dachte, dass ein dem Gebet geweihtes Leben einer Mauer, so dick wie die eines Klosters, glich, die es einem ermöglichte, sich einen stillen und ungestörten Ort in seinem Inneren zu bewahren und auf diese Weise die lautlose Stimme des Universums zu hören. Und so lebte Bruder Adam innerhalb der schützenden Mauern seines Gebets und spürte nachts die Gegenwart Gottes.
In letzter Zeit empfand er den Morgen als besonders angenehm. Vor einigen Monaten hatte er das Bedürfnis gehabt, in sich zu gehen, und den Abt gebeten, ihm deshalb für eine Weile nur leichte Arbeiten zuzuteilen. Sein Wunsch war erfüllt worden. Nach der Prime bei Morgengrauen und dem Frühstück, das die Chormönche in ihrem frater, die Laienbrüder in ihrem domus verzehrten, unternahm er für gewöhnlich allein einen Spaziergang.
Es war ein schöner Morgen gewesen. Herbstnebel hing über dem Fluss. Am gegenüberliegenden Ufer schimmerten die Blätter der Eichen golden in der Morgensonne. Die Schwäne glitten aus dem Dunst hervor, als seien sie auf wundersame Weise dem Wasser entsprungen. Bei seiner Rückkehr war er noch so im Bann dieses Anblicks von Gottes Schöpfung, dass er die Frau kaum bemerkte. Er sah sie erst, als er sich den Bettlern näherte, die an der Klosterpforte auf ihre täglichen Almosen warteten.
Sie war eine recht hübsche Frau, offenbar keltischer Abstammung, hatte ein breites Gesicht, blaue Augen und machte einen klugen Eindruck. Gewiss gehörte sie zu den Einwohnern des Waldes. Anscheinend wollte sie mit jemandem sprechen, und sie sah ihn schüchtern an.
»Ja, mein Kind?«
»Oh, Bruder, es heißt, Bruder Matthew ist getötet worden. Mein Mann arbeitet während der Erntezeit für die Abtei. Bruder Matthew war immer sehr gut zu uns. Wir haben uns gefragt…« Ihre Stimme erstarb, und sie wirkte besorgt.
Bruder Adam runzelte die Stirn. Wahrscheinlich wusste inzwischen der ganze New Forest über die gestrigen Ereignisse Bescheid. Die Abtei beschäftigte nicht nur Laienbrüder, sondern gab auch vielen anderen Waldbewohnern hin und wieder Arbeit. Der freundliche Matthew war sicher sehr beliebt gewesen. Bruder Adam zwang sich zu einem Lächeln. »Bruder Matthew lebt, mein Kind.« Die ersten Berichte waren wie immer ziemlich verworren gewesen. Bruder Matthew hatte einen heftigen Schlag abbekommen und viel Blut verloren, doch zum Glück hatte er es überstanden. Nun lag er im Krankenlager des Klosters und hatte sogar schon ein wenig Brühe zu sich genommen.
Die Erleichterung stand ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass Bruder Adam gerührt war. Wie schön, dass sich diese Bauersfrau solche Sorgen um den Mönch machte.
»Und was geschieht mit denen, die die Tat auf dem Gewissen haben?«
Ah. Er verstand. Klöster waren dafür berüchtigt, dass sie ihre Angehörigen vor dem Gesetz schützten, eine Praxis, die allgemein abgelehnt wurde. Nun, in dieser Hinsicht konnte er sie beruhigen.
Der Abt hatte vor Wut getobt. Vor etwa fünfzehn Jahren war es zu einem ähnlichen Vorfall gekommen: eine große Gruppe von Wilderern und der Verdacht, dass die Laienbrüder auf einem der Güter mit ihnen unter einer Decke steckten. Dieser Umstand – verbunden mit der wenig wohlwollenden Schilderung von Lukes Charakter durch den Prior – hatte den Ausschlag gegeben. »Der Laienbruder, der ihn geschlagen hat, genießt nicht den Schutz der Abtei«, versicherte Bruder Adam deshalb der Frau. »Die Gerichte werden sich mit ihm befassen.«
Sie nickte stumm und sah ihn dann nachdenklich an. »Könnte es nicht ein Unfall gewesen sein?«, fragte sie. »Wenn der Laienbruder bereut, würde man ihm dann nicht Gnade gewähren?«
»Du hast Recht, so vorsichtig zu urteilen«, erwiderte er. »Wir alle bedürfen der Gnade Gottes.« Sie war wirklich eine gutherzige Frau, denn sie fürchtete um das Leben des Mönches und hatte dennoch Mitleid mit dem Übeltäter. »Doch wir alle müssen die rechtmäßige Strafe für unsere Verfehlungen auf uns nehmen.« Seine Miene war streng. »Weißt du, dass der Bursche geflohen ist?« Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Aber man wird ihn schon finden.« Der königliche Beauftragte für den New Forest war am Morgen von der Flucht in Kenntnis gesetzt worden. »Man wird ihn mit Hunden suchen.«
Mit einem freundlichen Nicken ließ er sie stehen. Die arme Maria eilte mit klopfendem Herzen über die Heide zurück zu der Stelle, wo sie am Vorabend ihren Bruder Luke versteckt hatte.
Tom Furzey ballte die Fäuste. Jetzt würden sie kriegen, was sie verdienten. Schon konnte er die Hunde in der Ferne hören. Er war kein schlechter Mensch, doch in letzter Zeit waren ihm eine Menge unangenehme Dinge widerfahren. Manchmal wusste er nicht mehr, was er von alldem halten sollte.
Tom Furzey wusste genau, dass die Prides ihn insgeheim verachteten. Allerdings war der gegenseitige Umgang bis jetzt immer locker und freundschaftlich gewesen. Schließlich gehörten sie alle in den New Forest, waren gewissermaßen eine Familie. Aber die Sache mit dem Pony… das war wirklich ein Schlag ins Gesicht gewesen. Was war John Pride nur für ein Schwager, dass er einfach achselzuckend ein Pony für sich beanspruchte, das von seiner, Tom Furzeys, Stute geworfen worden war? Er nimmt mich nicht ernst, dachte Tom. Und jetzt habe ich die Bestätigung dafür bekommen.
Selbst als er mit eigenen Augen das Fohlen in Prides Pferch gesehen hatte, wollte er es erst nicht fassen. Und als er seinen Schwager schließlich zur Rede stellte, hatte der ihn nur ausgelacht.
Tom hatte ihn einen Dieb genannt. Unter Zeugen. Nun, das war er ja auch, daran bestand kein Zweifel. Daraufhin war der Streit immer heftiger geworden.
Aber was Maria betraf, lag die Sache ganz anders. Schon am ersten Tag – obwohl sie ganz genau gewusst hatte, was zwischen ihm und ihrem Bruder vorgefallen war – war sie sofort zu Pride gelaufen und hatte schön mit ihm getan. »Hast du ihm nicht gesagt, er soll das Pony zurückgeben?«, hatte Tom getobt. Doch sie hatte ihn nur verdattert angesehen. Sie war nicht einmal auf den Gedanken gekommen, ihrem Mann zu helfen. Das war die schmerzliche Wahrheit. Der arme, alte Tom war für Maria nur ein Trottel, den sie aus Bequemlichkeit geheiratet hatte. Und mehr bedeute ich den Prides auch nicht, dachte er.
Doch ganz gleich, was Maria von ihm hielt, sie schuldete ihm, dem Familienoberhaupt, Gehorsam. Was für ein Beispiel bot sie den Kindern, wenn sie vor den Augen des ganzen New Forest seine Befehle missachtete? Also hatte er ihr verboten, John Pride zu besuchen. War das nicht die richtige Entscheidung gewesen? Seine Schwester teilte jedenfalls seine Ansicht. Und viele andere auch. Denn so mancher im New Forest hatte keine sehr gute Meinung von den Prides, die immer die Nase so hoch trugen.
Allerdings machte es Tom Furzey schwer zu schaffen, dass seine Frau sich ihm gegenüber von Tag zu Tag kühler verhielt.
Nun, heute würden die Prides ihr blaues Wunder erleben. Zumindest würde sich endlich etwas ändern.
Während er noch grübelte, sah er – etwa anderthalb Kilometer entfernt – Puckle auf einem Wildpony vorbeireiten. Offenbar schleppte er eine Last hinter sich her.
Es waren zehn Reiter. Die Hunde kläfften wild. Der Prior hatte sie an Bruder Lukes Bettzeug schnuppern lassen, und nun verfolgten sie seine Spur vom Gut aus. Der königliche Beauftragte für den New Forest führte den Suchtrupp an. Zwei der Reiter waren adelige Förster, zwei Forstgehilfen, die anderen Diener.
Als der Suchtrupp den Weiler erreichte, stand zum Erstaunen der Männer plötzlich Tom Furzey vor ihnen und ruderte wild mit den Armen durch die Luft. »Ich weiß, wo er ist!«, rief er.
Die Reiter hielten inne. Der königliche Beauftragte betrachtete Furzey streng. »Hast du ihn gesehen?«
»Das brauche ich nicht. Ich weiß auch so, wo er ist.«
Der königliche Beauftragte runzelte die Stirn und sah den hellhaarigen, stattlichen Mann neben sich an. »Alban?«
Philip le Alban war ein vom Glück gesegneter junger Adeliger. Vor zweihundert Jahren hatte sein gleichnamiger Vorfahr, Sohn der Normannin Adela und ihres angelsächsischen Ehemannes, seine Stellung in der zunehmend französisch geprägten Gesellschaft Englands zur Zeit der Plantagenets nicht halten können. Doch seine Nachfahren, die den Namen Alban über viele Generationen hinweg beibehielten, dienten als Unterförster unter verschiedenen Gutsherren. Und als Lohn für diese lange Treue, und auch weil er eine gute Partie gemacht hatte, war Alban zum Förster des neuen Südbezirkes befördert worden. Niemand kannte den New Forest und dessen Bewohner besser als er. »Wo steckt er, Tom?«, fragte er jetzt wohlwollend.
»In John Prides Haus natürlich!«, rief Tom aus und machte ohne ein weiteres Wort kehrt, um die Männer dorthin zu führen.
»Der Flüchtige und Pride sind nämlich Brüder«, erklärte Alban. Und da die Hunde tatsächlich in diese Richtung strebten, nickte der königliche Beauftragte barsch und gab Anweisung, Tom zu folgen.
Pride war nicht zu Hause, wohl aber seine Familie. Schweigend sahen Frau und Kinder zu, wie zwei der Männer die Hütte ergebnislos durchsuchten. Auch auf dem übrigen kleinen Bauernhof war nichts zu entdecken.
Furzey wies unter wildem Gefuchtel auf den Kuhstall. »Dort müsst Ihr nachsehen!«, schrie er. »Dort drin!«
Er klang so aufgeregt, dass sich der gesamte Suchtrupp in den kleinen Schuppen drängte. Doch es dauerte nicht lange, um festzustellen, dass sich niemand darin versteckte.
Tom war enttäuscht, doch er ließ noch nicht locker. »Er war aber da«, beharrte er, und als er die ungläubigen Gesichter bemerkte, schimpfte er: »Wo, denkt Ihr, ist John Pride jetzt? Er hält Euch zum Narren und versteckt seinen Bruder anderswo.« Die Männer wollten aufbrechen, aber Tom gab nicht auf. »Und seht Euch dieses Pony an«, jammerte er. »Was wollt Ihr deswegen unternehmen?« Das Fohlen, das in einer Ecke angebunden war, blickte ihn aus ängstlich aufgerissenen Augen an. »Dieses Pony ist gestohlen. Es gehört mir!«
Doch der Suchtrupp hatte den Stall bereits verlassen. Toms Traum zerplatzte wie eine Seifenblase. Er war so sicher gewesen, dass sie Luke finden, Pride abführen und ihm, Tom, sein Pony zurückgeben würden. Also rannte er ihnen nach. »Ihr begreift es nicht!«, rief er. »Diese Prides sind alle gleich. Eine Verbrecherbande.«
Zwei der Männer fingen an zu kichern, und einer von ihnen fragte: »Schließt das auch deine Frau ein, Tom?« Selbst Alban hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Dem königlichen Beauftragten, der aufgemerkt hatte, erklärte er, dass der Flüchtige auch ein Bruder von Toms Frau war.
»Gott steh uns bei!«, meinte der königliche Beauftragte gereizt. »So geht es immer im New Forest.« Dann wandte er sich an Tom und polterte: »Du vergeudest hier unsere Zeit. Woher zum Teufel soll ich wissen, dass du ihn nicht selbst versteckt hast? Wahrscheinlich bist du der größte Verbrecher von allen. Wo wohnt dieser Mensch?« Seine Begleiter beantworteten die Frage. »Durchsucht sofort seine Hütte.«
»Aber…« Tom konnte nicht fassen, wie rasch das Blatt sich gewendet hatte. »Was ist mit meinem Pony?«, jammerte er.
»Zum Teufel mit deinem Pony!«, fluchte der königliche Beauftragte und preschte auf Toms Hütte zu.
Auch dort fanden sie nichts; dafür hatte Mary schon gesorgt. Doch wenig später nahmen die Hunde zwischen den nahe gelegenen Bäumen Lukes Witterung auf und folgten der Spur viele Kilometer lang.
Je weiter sie ritten, desto gewundener wurde der Weg. Er umrundete Lyndhurst in einem großen Bogen und schien dann endlos weiter zu führen.
Niemand hatte vor einigen Stunden den einsam auf seinem Pony dahinreitenden Puckle bemerkt; er schleppte das Bündel Kleider hinter sich her, das Mary für ihren Bruder beschafft hatte.
»Verdammte Zeitverschwendung«, sagte der königliche Beauftragte zu Alban. »Wahrscheinlich hatte dieser Trottel heute Vormittag doch Recht. Die Prides verstecken ihn.«
»Vielleicht«, erwiderte Alban schmunzelnd. »Doch im New Forest kommt alles irgendwann ans Licht.«
Als der Abt eines Novembermorgens Bruder Adam zu sich rief, war dieser gut vorbereitet. Schon vor einem Monat hatte er den Auftrag des Abtes erfüllt. Obwohl die Angelegenheit weltlicher und politischer Natur war, hatte ihm die lange Zeit, die er mit Nachdenken und Lesen verbracht hatte, Stärke und Gewissheit gebracht. Er war jetzt mit sich im Reinen.
Zu seiner Freude war es wieder still in der Abtei geworden. Am Sankt-Martins-Tag im November hatten die Forstaufseher den Zwischenfall auf dem Gut vom Grafschaftsgericht des New Forest an ein höheres Gericht weitergeleitet. Dieses würde nach Gutdünken der königlichen Reiserichter tagen, wenn diese im kommenden Frühjahr den New Forest besuchten. Der junge Martell und seine Freunde waren so klug gewesen, sich den Sheriffs ihrer Grafschaften zu stellen. Sie sollten im Frühjahr dem Richter vorgeführt werden. Der Laienbruder Luke war indes noch nicht aufgespürt worden. Bruder Matthew war sogar bereit, ihm zu verzeihen, aber der Abt wollte nichts davon hören.
»Um unseres guten Namens willen muss der Gerechtigkeit Genüge getan werden.«
Auf dem Weg zum Haus des Abts betrachtete Bruder Adam voll Freude seine Umgebung. Abgesehen von der Glocke, die die Mönche alle drei Stunden mit grellem Geläut zum Gebet rief, ging es im Kloster zwar geschäftig, aber leise zu. Es gab eine Weberei und eine Schneiderei und eine Walkmühle am Flussufer, wo die gewaltigen Wollmengen gereinigt wurden, die die Güter abwarfen. Einige Werkstätten verarbeiteten das Leder von Rindern und Schafen. Die Gerberei hatte man wegen ihres Geruchs außerhalb der Klostermauern untergebracht. Die Abtei verfügte auch über eine Lederwerkstatt, die Kapuzen und Decken herstellte, und eine Schusterwerkstatt. Der Schuster hatte alle Hände voll zu tun, denn jeder Mönch und jeder Laienbruder benötigte im Jahr zwei Paar Schuhe oder Stiefel. Neben dem Kloster befand sich die Pergament- und Buchbinderwerkstatt. Außerdem gab es eine Mühle, eine Bäckerei, eine Brauerei, zwei Reihen von Ställen, einen Schweinekoben und ein Schlachthaus. Mit einer Schmiede, einer Schreinerei, Krankenlagern und einem Hospiz für die Besucher ähnelte die Abtei einer kleinen, von Mauern umgebenen Stadt.
Nichts, überlegte Adam, wurde verschwendet. Alles wurde verwertet. Zwischen den Gebäuden hatte man sorgfältig Beete für Gemüse und Kräuter angelegt. An windgeschützten Mauern wuchsen auf Spalieren verschiedene Obstsorten und Weintrauben. Für die Bienen, deren Körbe überall auf dem Hof herumstanden, gab es genügend Geißblatt.
»Wir sind selbst Arbeitsbienen«, hatte Bruder Adam einmal gegenüber einem durchreisenden Ritter gewitzelt. »Doch wir dienen der Himmelskönigin.« Er war sehr stolz auf seinen Scherz gewesen, obwohl er sich danach wegen seiner sündhaften Eitelkeit Vorwürfe gemacht hatte.
Diese Gedanken gingen ihm im Kopf herum, während er die Studierstube des Abtes betrat, in der auch der Prior bereits anwesend war. Der Abt beugte sich vor und fragte geradeheraus: »Nun, Adam, was sollen wir wegen dieser lästigen Kirchen unternehmen?«
Eine jahrhundertelange Erfahrung besagte, dass es für ein Kloster vor allem einen Quell von Zwist und Hader gab, nämlich den Besitz von Pfarrkirchen.
Die Kirchensteuer – für gewöhnlich etwa ein Zehntel dessen, was in einer Gemeinde erwirtschaftet wurde – diente dem Unterhalt der Kirche und ihres Priesters. Wenn die Kirche jedoch zu einem Kloster gehörte, nahm dieses die Steuer ein und bezahlte damit einen Vikar, was häufig zu einem Disput mit besagtem Mann führte. Hinzu kam noch eine weitere Schwierigkeit: Falls ein Zisterzienserkloster Felder in einem Kirchspiel besaß, weigerte es sich üblicherweise, die dort fälligen Abgaben zu bezahlen – ein altes Privileg, das man dem Orden gewährt hatte, sofern er nur unbebautes Land zum Weiden seiner Schafe benutzte.
Diese Praxis erboste Vikar, Grundherrn und Gemeinde, und die Parteien endeten nicht selten vor dem Gericht.
Da wieder einmal eine solche Auseinandersetzung drohte, hatte der Abt Bruder Adam gebeten, die gesamte Urkundentruhe des Klosters durchzuarbeiten und eine Empfehlung abzugeben. Die fragliche Kirche stand etwa hundertfünfzig Kilometer entfernt vom kleinen Tochterhaus der Abtei in Newenham, und zwar im westlichen Cornwall, und war dem Kloster vor einigen Jahrzehnten von einem Prinzen geschenkt worden.
»Ich kann zwei Empfehlungen abgeben, Abt«, sagte Bruder Adam. »Die erste ist ganz einfach: Der Vikar in Cornwall hat keinen Anlass zu einer Klage. Sein Jahreseinkommen wurde mit seinem Vorgänger ausgehandelt, und es gibt nicht den geringsten Grund, etwas daran zu ändern. Wir können einem Prozess also getrost entgegensehen.«
»Ganz recht.« Auch wenn der Prior Johann von Grockleton eifersüchtig auf Adam war, teilte er in diesem Fall seine Meinung.
»Bist du, was die rechtlichen Fragen angeht, sicher?«, fragte der Abt.
»Ganz sicher.«
»Gut. Dann werden wir so verfahren.« Der Abt seufzte. »Schickt ihm ein Paar Schuhe.« Der Abt war so gutgläubig anzunehmen, ein Widersacher ließe sich mit einem Paar der kunstfertig in der Abtei hergestellten Schuhe beschwichtigen. Auf diese Weise verschenkte er etwa hundert Paar im Jahr. »Du hast noch von einer zweiten Empfehlung gesprochen.«
Bruder Adam zögerte, denn er zweifelte keinen Moment daran, wie seine Mitbrüder seine Worte aufnehmen würden. »Du hast mich gebeten, unsere gesamten Unterlagen durchzugehen, die unseren Umgang mit den Kirchen betreffen«, begann er taktvoll. »Und das habe ich getan. Außer Beaulieu selbst besitzen wir noch Liegenschaften in Oxfordshire, Berkshire, Wiltshire und Cornwall – wo wir darüber hinaus viel Geld mit den Zinnminen erwirtschaften. Überall dort gibt es Pfarrkirchen. Außerdem haben wir noch eine Kapelle anderswo.
In jedem dieser Fälle ist es zu einem Disput gekommen. Seit Beaulieu vor neunzig Jahren gegründet wurde, gab es kein einziges Jahr, in dem wir nicht wegen irgendeiner Kirche vor Gericht gezogen wären. Einige der Prozesse dauerten über zwanzig Jahre. Ich verspreche dir, dass man sich in Cornwall uns noch widersetzen wird, wenn wir alle schon längst unter der Erde liegen.«
»Aber der Abtei ist es doch stets gelungen, diese Klagen abzuwenden?«, fragte der Abt.
»Ja. Unser Orden hat darin eine bemerkenswerte Geschicklichkeit entwickelt. Man findet eine Einigung, die immer zu unserem Vorteil ausfällt.«
»Schön und gut«, wandte Grockleton ein. »Wir gewinnen.«
»Allerdings«, unterbrach Bruder Adam sanft, »zu welchem Preis? Tun wir beispielsweise in Cornwall gute Werke? Nein. Achtet man uns? Ich bezweifle es. Hasst man uns? Ganz gewiss. Sind wir juristisch gesehen im Recht? Wahrscheinlich. Aber moralisch?« Er breitete die Hände aus. »Beaulieu bringt Wohlstand genug. Eigentlich brauchen wir diese Kirchen und ihre Steuern gar nicht.« Er hielt inne. »Man könnte fast sagen, Abt, dass wir uns in dieser Hinsicht nicht sehr von den Kluniazensern unterscheiden.«
»Den Kluniazensern?« Fast wäre der Prior Grockleton entrüstet aufgesprungen. »Mit denen haben wir nichts zu schaffen.«
»Unser Orden wurde gerade deshalb gegründet, um ihre Fehler zu vermeiden«, stimmte Adam ihm zu. »Und nachdem ich deinen Auftrag erfüllt hatte, Abt, habe ich wieder einmal unsere Gründungsurkunde gelesen. Die Charta Caritatis.«
Die Charta Caritatis – das Gesetz der Liebe – der Zisterzienser war vom ersten Leiter des Ordens, einem Engländer, verfasst worden und sollte sicherstellen, dass sich die weißen Mönche an die alten Grundsätze des heiligen Benedikt hielten. Sie sollten bescheiden, schlicht und selbstgenügsam leben und sich nicht von weltlichen Angelegenheiten ablenken lassen.
»Keine Pfarrkirchen«, sagte der Abt traurig, der wusste, dass diese Charta den Zisterziensern den Besitz von Pfarrkirchen strengstens untersagte.
»Wäre es nicht möglich«, erkundigte sich Adam mitfühlend, »dass Beaulieu diese Besitzungen gegen andere eintauscht?«
»Es handelt sich um Geschenke des Königs, Adam«, wandte der Abt ein.
»Das ist schon lange her. Vielleicht hätte der König nichts dagegen.«
König Eduard I. ein mächtiger Monarch und Feldherr, hatte den Großteil seiner Regierungszeit mit der Unterwerfung der Waliser zugebracht und plante nun dasselbe mit den Schotten. Möglicherweise war es ihm einerlei, was die Abtei mit königlichen Geschenken anfing, aber man konnte nie wissen.
»Ich möchte ihn nur ungern fragen«, gab der Abt zu.
»Nun«, erwiderte Bruder Adam lächelnd. »Ich habe mein Gewissen beruhigt, indem ich dir die Angelegenheit vorgetragen habe. Mehr kann ich nicht tun.«
»Ganz richtig. Danke, Adam.« Der Abt bedeutete ihm, dass er sich zurückziehen könne.
Nachdem er fort war, blickte der Abt noch eine Weile ins Leere. Johann von Grockleton beobachtete ihn, eine klauenähnliche Hand auf die Tischplatte gestützt. Schließlich seufzte der Abt auf.
»Natürlich hat er Recht.«
Grockleton krümmte leicht die Finger, aber er schwieg.
»Die Schwierigkeit ist«, fuhr der Abt fort, »dass viele andere Zisterzienserklöster ebenfalls Kirchen besitzen. Wenn wir dieses Problem zur Sprache bringen, werden die übrigen Äbte vermutlich nicht allzu erfreut sein.«
Grockleton sah ihn nur wortlos an. Ihm persönlich war es herzlich gleichgültig, ob die Abtei ein Dutzend Kirchen besaß und die Hälfte aller Vikare der Christenheit zum Teufel jagte.
»Als Abt«, sprach der Abt nachdenklich weiter, »muss man Vorsicht walten lassen.«
Grockleton nickte.
»Die erste Empfehlung ist eindeutig die richtige. Der Vikar aus Cornwall braucht einen Denkzettel.« Ruckartig setzte er sich auf. »Was steht sonst noch an?«
»Die Verteilung der Pflichten, Abt, für die Zeit, die du beim königlichen Rat bist. Gestern hast du zwei Ernennungen erwähnt: den Novizenmeister und den neuen Aufseher über die Güter.«
»Ja, richtig.« Nach dem Zwischenfall mit Luke hatte der Abt beschlossen, mindestens für ein Jahr einen vertrauenswürdigen Mönch als festen Aufseher über die Güter einzusetzen, der dort ständig nach dem Rechten sehen sollte. »Man muss mit eisernem Besen durchkehren«, sagte er. »Das ist keine angenehme Aufgabe für einen Mönch, denn der Betreffende versäumt dadurch viele Gottesdienste in der Kirche.«
»Aber es muss sein«, befand der Abt. »Zuerst zum Novizenmeister. Bruder Stephen braucht, wie wir uns einig sind, eine Pause. Deshalb habe ich an Bruder Adam gedacht. Er kann sehr gut mit den Novizen umgehen.«
Grockletons Klaue lag noch immer auf dem Tisch. »Ich habe eine Bitte, Abt«, meinte er leise. »Während du fort bist und ich hier die Geschäfte führe, möchte ich nicht, dass du Bruder Adam die Novizen anvertraust.«
»Oh?« Der Abt runzelte die Stirn. »Warum nicht?«
»Da ihn diese Kirchenangelegenheit beschäftigt. Ich zweifle nicht an seiner Treue zum Orden…«
»Selbstverständlich nicht.«
»Doch wenn ein junger Novize die Charta Caritatis liest und ihn fragt…« Er stockte. »Möglicherweise fiele es Bruder Adam schwer, ihm zu erklären…« Er hielt inne und fügte bedeutungsschwer hinzu: »Das brächte mich in eine sehr schwierige Lage. Ich glaube nicht, dass ich fähig wäre…«
Der Abt sah ihn an. Er ließ sich von Grockleton nicht täuschen, denn er konnte sich bildlich vorstellen, dass der Prior alles daransetzen würde, Bruder Adam in einem solchen Fall bloßzustellen. Andererseits war nicht von der Hand zu weisen, dass der Einwand des Priors ein Körnchen Wahrheit enthielt. »Was schlägst du also vor?«, entgegnete er deshalb kühl.
»Bruder Matthew ist noch ziemlich mitgenommen. Doch er wäre als Novizenmeister sehr gut geeignet. Warum soll Bruder Adam nicht die Güter beaufsichtigen? Die Zeit der Kontemplation hat ihm gewiss die nötige Kraft für diese Aufgabe verliehen.«
Ein schlauer Fuchs, dachte der Abt. Die letzte Bemerkung war ein Seitenhieb gegen ihn gewesen, weil er Bruder Adam mit leichteren Arbeiten betraut hatte. Die Botschaft war klar: Ich bin dein Stellvertreter, und ich habe eine vernünftige Bitte an dich. Wenn du deinem Liebling keine unangenehme Aufgabe zuteilst, werde ich ihm das Leben schwer machen.
Und dann schoss dem Abt ein unwürdiger Gedanke durch den Kopf: Schließlich ertrage ich ja auch tagaus, tagein den Prior, also wird Adam es schon für eine Weile auf den Gütern aushalten. Er lächelte Grockleton zuckersüß an. »Du hast Recht, Johann. Und falls Adam, wie ich vermute, eines Tages Abt wird, ein reformerischer Abt vielleicht, wird diese Erfahrung für ihn sehr nützlich sein.« Er genoss es zuzusehen, wie Grockleton zusammenzuckte .
Und so wurde Bruder Adam die Aufsicht über die Güter übertragen, bevor der Abt am Ende des Jahres zu seiner Reise aufbrach.
An einem kalten Dezembernachmittag eilte Maria nach Beaulieu.
Ein eisiger Wind blies ihr in den Rücken und schob sie den schmalen Pfad entlang, und das Heidekraut kratzte an ihren Beinen. Am Himmel ballten sich die Wolken zusammen, die leicht orangefarben schimmerten.
Maria hatte sich widerwillig und nur ihrem Mann zuliebe auf den Weg gemacht.
Für gewöhnlich arbeitete Tom im Winter nicht für die Abtei. Doch in diesem Jahr hatten die Mönche einen besonderen Auftrag für ihn: Sie brauchten einen Wagen.
Eigentlich war Tom kein Schreiner, und es kostete einige Überredungskunst, ihn dazu zu bewegen, im Haus etwas in Ordnung zu bringen. Doch aus irgendeinem Grund war es schon von jeher seine Lieblingsbeschäftigung, Wagen zu bauen. Ein Wagen aus der Werkstatt von Tom Furzey war ein stabiles Gefährt mit einem soliden Boden und abnehmbaren Seitenteilen. Sämtliche Verstrebungen waren sorgfältig miteinander verzapft. Alle seine Wagen sahen gleich aus, und sie würden halten bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Allerdings ließ er von Rädern grundsätzlich die Finger. »Das ist die Aufgabe des Stellmachers«, pflegte er zu sagen. »Ich baue den Wagen, er sorgt dafür, dass er auch fährt. So sehe ich die Sache.« Und nichts konnte ihn von dieser Überzeugung abbringen.
Als sein Verhältnis zu John Pride noch nicht getrübt gewesen war, hatte er ihm gestanden, er fertige nicht gerne Räder an, weil sie rund waren. »Wenn sie viereckig wären, würdest du es tun, was, Tom?«, hatte der Schwager ihn gehänselt.
Und zu Prides Erheiterung hatte Tom geantwortet: »Wahrscheinlich schon.«
Also war Tom losgezogen, um für die Mönche einen Wagen zu bauen. Die Arbeit würde mindestens sechs Wochen in Anspruch nehmen, und er übernachtete während dieser Zeit auf dem Gut St. Leonards. Alle paar Tage stattete Maria ihm dort einen Besuch ab. Heute hatte sie versprochen, ihm Kuchen mitzubringen, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Denn sie freute sich über seine Abwesenheit, erstens wegen Toms Launenhaftigkeit und zweitens wegen Luke.
Seit einer Woche versteckte er sich nun schon bei ihr.
Luke, der verträumte Sonderling, schien fast Gefallen daran zu finden, draußen im New Forest zu leben. Als das Wetter kälter wurde, hatte er sich einen warmen Unterschlupf gebastelt. »Ich bin eben ein Waldtier«, hatte er zufrieden zu seiner Schwester gesagt. Außerdem behauptete er, selbst für seine Ernährung sorgen zu können. »Sogar die Hirsche werden im Winter gefüttert«, hatte sie widersprochen. Und so hatte sie Luke, sobald Tom nach St. Leonards aufgebrochen war, in ihrer kleinen Scheune einquartiert. Niemand, nicht einmal ihr Bruder oder die Kinder, wusste, dass er dort schlief und dass sie ihm etwas zu essen brachte. Sie fragte sich, wie lange dieser Zustand wohl andauern konnte, und der Gedanke machte ihr Angst. Aber was sollte sie sonst tun?
Als sie den Rand des Ackerlandes rund um das Gut erreichte, hatte der Wind aufgefrischt. Sie spürte die feuchtkalte Luft im Nacken, blickte sich um und bemerkte, dass sich über der Heide von Beaulieu gelbliche Wolken zusammenballten. Schneeflocken trudelten durch die Luft. Kurz überlegte sie, ob sie umkehren sollte, doch sie beschloss, weiterzugehen, um den Weg nicht umsonst gemacht zu haben.
Bruder Adam stand vor der Tür des Gutshauses. Die Schneeflocken, die doch so weich schienen, stachen ihn schmerzhaft ins Gesicht.
Südwestlich der Abtei gab es fünf Güter: Beufre, wo die Ochsengespanne für die Pflüge standen; Bergerie, wo man die Schafe schor; Sowley unten an der Küste, wo die Mönche einen großen Fischteich angelegt hatten; Beck und dann noch St. Leonards an der Flussmündung. An diesem Tag hatte Bruder Adam Bergerie besucht, und er beabsichtigte, an diesem Abend von St. Leonards aus zur Abtei zurückzukehren.
Die letzten beiden Wochen waren anstrengend gewesen. Außer den fünf südwestlichen Gütern gab es noch zehn weitere im Norden und drei im Osten. Außerdem besaß die Abtei noch eine Reihe kleinerer Höfe drüben im Avontal auf der Westseite des New Forest. Von ihren üppigen Wiesen bezogen die Mönche das Heu. Der Prior sorgte dafür, dass Bruder Adam keinen Augenblick zur Ruhe kam. Die angenehme Zeit der Kontemplation war endgültig vorbei.
Er stieß die Tür des Gutshauses auf. Erschrocken blickten die sechs Laienbrüder bei seinem Anblick hoch. Sehr gut. Er hatte bereits gelernt, dass es ratsam war, unangemeldet wie ein Schulmeister zu erscheinen. Er nahm sich kaum die Zeit, den Schnee von seiner Kutte zu schütteln. »Zuerst«, verkündete er streng, »werde ich die Speisekammern überprüfen.«
Das Gut St. Leonards war im Stil der Zisterzienser erbaut. Als Wohnhaus diente ein langes, einstöckiges Gebäude mit einer Eichentür in der Mitte. Hier lebten die Laienbrüder unter kärglichen Bedingungen. An den meisten Feiertagen durften sie ins domus zurückkehren, und sie wurden hin und wieder abgelöst. Für gewöhnlich arbeiteten etwa dreißig der siebzig Laienbrüder auf den Gütern.
»So weit, so gut«, stellte Bruder Adam fest, nachdem er keine Hinweise auf Naschen oder heimliches Trinken hatte entdecken können. »Und jetzt die Scheune.«
Sie war das höchste Gebäude dieses Gutes, so groß wie eine Kirche, aus Stein erbaut und von massiven Eichenbalken gestützt. Hier wurden Weizen und Hafer in hoch aufgetürmten Säcken gelagert und die landwirtschaftlichen Geräte aufbewahrt. Auf der einen Seite lag ein Berg Farnwedel, die zum Auslegen der Stallungen dienten. Es gab sogar eine Dreschtenne. Und in der Mitte dieses riesigen Gewölbes stand Tom Furzeys halb fertiger Wagen.
Doch Adams Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem in Anspruch genommen, nämlich von einer Gestalt, die neben dem Bauern im Dämmerlicht saß. Wenn ihn nicht alles täuschte, war es tatsächlich eine Frau.
Die Anwesenheit einer Frau war in der Abtei eigentlich nicht gestattet. Selbst adelige Damen durften zwar der Abtei einen Besuch abstatten, keineswegs aber die Nacht dort verbringen, nicht einmal in den Gemächern für die königlichen Gäste.
Deshalb ging er sofort zu den beiden hinüber.
Die Frau hatte sich neben Furzey auf dem Boden niedergelassen. Als Bruder Adam näher kam, erhoben sich die beiden respektvoll. Die Frau trug ein Kopftuch, und da sie sittsam zu Boden blickte, konnte er ihr Gesicht nicht erkennen.
»Das ist meine Frau«, sagte der Bauer. »Sie hat mir Kuchen mitgebracht.«
»Ich verstehe.« Bruder Adam wollte Furzey nicht kränken, doch er hielt Strenge für angebracht. »Wie du sicher weißt, muss sie vor Einbruch der Dunkelheit gehen, und es dämmert schon.« Der Bauer blickte mürrisch drein. Aber Bruder Adam hatte den Eindruck, dass der Frau diese Aufforderung ganz recht kam, obwohl sie nicht den Kopf hob. »Der Wagen deines Mannes wird ein Prachtstück«, meinte er freundlich zu ihr, bevor er sich wieder an die Laienbrüder wandte.
Es dauerte einige Zeit, bis er mit ihnen gesprochen und seinen Rundgang durch die Scheune beendet hatte. Als er fertig war, überraschte es ihn deshalb nicht, dass die Frau sich inzwischen verabschiedet hatte.
Da Bruder Adam sich nun selbst auf den Rückweg machen wollte, ging er zu der kleinen Tür, die in das riesige Scheunentor eingelassen war, und öffnete sie.
Ein heftiger Schneesturm schlug ihm entgegen, sodass er seinen Augen kaum traute. Wegen der dicken Mauern der Scheune hatte er nicht gehört, dass das Heulen des Windes lauter geworden war. Innerhalb kurzer Zeit hatten sich die kleinen Böen zuerst in heftige Windstöße und dann in einen tosenden Sturm verwandelt. Selbst im Schutze der Scheune peitschten ihm Schneeflocken ins Gesicht, sodass er blinzeln musste, um noch etwas sehen zu können. Es wäre sträflicher Leichtsinn gewesen, selbst die viereinhalb Kilometer zur Abtei zu Fuß zurücklegen zu wollen. Er beschloss, auf dem Gut zu übernachten.
Da fiel ihm die Frau ein. Oh, mein Gott, er hatte sie in dieses Unwetter hinausgeschickt! Wie weit musste sie wohl gehen? Acht Kilometer? Vermutlich eher zehn. Sie war über die ungeschützte Heide mitten in den Schneesturm hineingelaufen. Er hätte das nie zulassen dürfen, und er schämte sich. Was würde ihr Mann von ihm und der Abtei denken? Er kehrte in die Scheune zurück und rief Tom und zwei der Laienbrüder herbei. »Zieht euch rasch warm an. Nehmt eine Lederdecke mit.« Nachdem er sich kurz erkundigt hatte, welchen Weg sie gegangen war, stürzte er in den Schnee hinaus. Er vertraute darauf, dass die anderen ihn schon einholen würden.
Es war noch Nachmittag, und irgendwo oben am Himmel konnte man noch ein schwaches Schimmern sehen. Doch unten am Boden war es stockdunkel. Während Bruder Adam sich durch den Schnee kämpfte, erkannte er vor sich nichts als eine wild aufgepeitschte weiße Masse, so als ob Gott eine neue Form der Heuschreckenplage diesmal in die Länder des Nordens geschickt hätte. Der Schnee wehte ihm fast waagerecht entgegen und hüllte alles ein. Nur wenige Meter vor ihm schien die Welt hinter einem grauen Schleier verborgen.
Mein Gott, wie sollte er sie bloß finden? Würde sie ums Leben kommen und, wie so viele Hirsche und Ponys, am nächsten Morgen steif gefroren auf dem Boden liegen?
Nachdem er die letzte Hecke hinter sich gelassen hatte, entdeckte er zu seinem Erstaunen vor sich eine dunkle Gestalt, die sich dick eingepackt durch den Schneesturm voranarbeitete. Als Bruder Adam sie anrief, drang ihm sofort ein Schwall von Schneeflocken in den Mund. Die Frau hatte ihn nicht gehört. Erst nachdem er sie eingeholt und ihr schützend den Arm um die Schultern gelegt hatte, bemerkte sie ihn und fuhr erschrocken zusammen. Er drehte sich um, damit der tosende Sturm ihnen nicht mehr ins Gesicht peitschte.
»Komm.«
»Ich kann nicht. Ich muss nach Hause.« Sie versuchte sogar, ihn mit sanftem Druck wegzuschieben.
Zu seiner eigenen Überraschung zog Bruder Adam sie fester an sich. »Dein Mann ist da«, sagte er, obwohl dieser nirgendwo zu sehen war. Und dann führte er sie zurück zum Gut.
Niemand im New Forest konnte sich an einen so schweren Sturm erinnern, wie er in dieser Nacht tobte. An der Küste schienen sich die wirbelnden Schneemassen mit den tosenden Wellen zu vermischen. Rings um St. Leonards türmten sich riesige Schneeverwehungen an den Hecken auf, bis sie diese bedeckten. Über die Heide von Beaulieu wehte ein Wind, der abwechselnd durchdringend pfiff oder geisterhaft stöhnte. Und selbst als ein zarter grauer Schimmer in der Dunkelheit auf den herannahenden Morgen hinwies, verfinsterte der Schneesturm weiterhin die Sonne.
Bruder Adam wusste, was seine Pflicht war. Er konnte nicht zur Abtei zurückkehren, sondern musste bleiben, um geistlichen Beistand zu leisten.
Auf dem Rückweg zur Scheune erkannte er die Frau als diejenige, die sich nach Bruder Matthew erkundigt hatte. Er war froh, dass eine so gute Seele vor dem Unwetter gerettet worden war.
Die Schlafgelegenheiten zu verteilen, war nicht weiter schwer. Er ließ ein Kohlebecken in die Scheune stellen, damit Furzey und seine Frau dort die Nacht verbringen konnten, während er und die anderen sich ins Wohnhaus zurückzogen. Damit es nicht zu Missverständnissen kam, rief er nach dem Abendessen alle in der Scheune zusammen, sprach ein paar Gebete und hielt ihnen einen kleinen Vortrag.
Nachdem er ihnen den Segen erteilt hatte, zog er sich zurück.
Der Schneesturm wütete am nächsten Tag mit unverminderter Kraft weiter. Wenn man die Tür öffnete, blies er einen fast um. Die Frau begann sich furchtbare Sorgen um ihre Kinder zu machen. Furzey versicherte ihr, dass seine Schwester und die anderen Dorfbewohner sich um sie kümmern würden, und verbat ihr zu gehen. Und so arbeitete Tom, gewärmt vom Kohlebecken, weiter an seinem Wagen, während sie ihm Gesellschaft leistete. Dreimal rief Bruder Adam sie alle zum Gebet zusammen.
Maria brannte darauf, endlich nach Hause zurückkehren zu können. Toms Gegenwart war ihr unangenehm. Ihre älteste Tochter würde schon auf die kleinen Geschwister achten, aber sicher befürchteten sie alle, dass ihr etwas zugestoßen war. Und außerdem war da noch Luke.
Was würde er tun? Sicher hatte er sich gefragt, wo sie steckte, als sie an diesem Abend nicht erschienen war. Ob er versuchen würde, im Haus etwas Essbares zu finden? Was war, wenn die Kinder ihn sahen? Den ganzen Tag wartete sie aufgeregt darauf, dass der Schneesturm endlich nachließ.
Sonst gab es nicht viel für sie zu tun. Wenn Bruder Adam hin und wieder erschien, betrachtete sie ihn aufmerksam. Sie sah den Laienbrüdern an, dass sie nicht richtig warm mit ihm wurden. »Der ist kalt wie ein Fisch«, meinte Tom achselzuckend. Doch von Leuten, die nicht aus dem New Forest stammten, hatte Tom ohnehin keine hohe Meinung.
Ganz offensichtlich kam Bruder Adam aus einer anderen Welt, aber sie hielt ihn nicht für gefühlskalt. Als er im Dämmerlicht der großen Scheune mit ihnen betete, schwang in seinem sanften Tonfall eine Gewissheit mit, die sie beeindruckte. Sicher war er viel klüger als einfache Leute wie ihresgleichen. Auch wenn sie das Tom gegenüber nicht erwähnte, fand sie den Mönch auf seine Weise sehr interessant.
Maria war überrascht, als sich am späten Nachmittag die Tür der Scheune öffnete. Das Heulen des Windes drang herein. Der Mönch schloss sie rasch hinter sich, näherte sich dem Kohlebecken und winkte Maria zu sich.
Eine Weile stand er da und musterte sie neugierig. Wie Tom war er kräftig gebaut, allerdings ein wenig größer. Im Schein des Kohlebeckens, das ihren Rücken wärmte, wirkten seine Augen seltsam dunkel. Tom arbeitete nur wenige Meter von ihnen entfernt beim Licht einer Lampe und schien doch weit weg zu sein.
»Mir war zuerst nicht klar, dass du es warst, mit der ich am Tor der Abtei gesprochen habe.« Also erinnerte er sich an sie! »Außerdem habe ich gerade erfahren, dass Luke, der Flüchtige, dein Bruder ist.« Ihr fiel auf, dass er leise sprach, damit Tom sie nicht hören konnte.
Angst durchfuhr sie. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Natürlich war ihre Verwandtschaft mit Luke allgemein bekannt; allerdings wäre es ihr lieber gewesen, dieser gefährlich kluge Mann hätte nichts davon geahnt. Sie ließ den Kopf hängen. »Ja, Bruder. Der arme Luke.«
»Der arme Luke? Kann sein.« Er hielt inne und flüsterte dann: »Weißt du, wo er ist?«
Nun blickte sie ihn unverwandt an. »In diesem Fall, Bruder, hätten wir es Euch bereits gemeldet. Ich finde, er hätte nicht davonlaufen sollen, wenn er unschuldig ist. Und mein Mann würde ihn sowieso anzeigen.« Da diese Antwort im Großen und Ganzen der Wahrheit entsprach, hielt sie es nicht für nötig, Bruder Adams Blick auszuweichen. Aber offenbar konnte man ihn nicht so leicht täuschen.
»Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass er sich an dich gewandt hat.«
Der Geruch seiner Kutte stieg ihr in die Nase, es roch nach Wachs und nach feuchter Wolle – und nach seinem Körper.
»Inzwischen könnte er am anderen Ende von England sein.« Sie seufzte. Eigentlich war auch das nicht gelogen.
Er betrachtete sie nachdenklich. Wenn er eine Frage stellte, entstanden Falten auf seiner breiten Stirn. Aber wenn er überlegte, neigte er leicht den Kopf, und seine Stirn wurde wunderschön glatt.
»An jenem Morgen vor der Abtei«, begann er zögernd, »meintest du, es hätte auch ein Unfall sein können. Dass er Bruder Matthew vielleicht gar nicht schlagen wollte. Wenn ja, sollte er sich stellen und erzählen, wie es wirklich war.«
»Ich glaube nicht, dass er hierher zurückkehren wird«, erwiderte sie bedrückt. »Dazu wäre der Weg viel zu weit.« Das schien den Mönch zufrieden zu stellen.
Dann aber tat sie etwas, das für sie völlig neu war.
Wie zeigt eine Frau einem Mann, dass sie ihn begehrt? Durch ein Lächeln, einen Blick, eine Geste vielleicht. Doch damit hätte sie einen Mönch wie Bruder Adam nur abgeschreckt. Also blieb sie vor ihm stehen und ließ das einfachste Mittel von allen auf ihn wirken: die Wärme ihres Körpers. Und Bruder Adam spürte sie – wie hätte es auch anders sein können? –, diese unverkennbare Hitze, die von ihr zu ihm hinüberstrahlte. Dann lächelte sie, und er wandte sich verwirrt ab.
Warum hatte sie es getan? Schließlich war sie eine anständige Frau und machte anderen Männern keine schönen Augen. Diese Frage hätte sie wohl selbst nicht beantworten können; es kam ganz von innen heraus. Durch ein Gefühl der Vertrautheit und Nähe wollte sie ihn – so sehr es ihn auch erschrecken mochte – von seinem eigentlichen Ziel ablenken. Sie musste den Mönch auf eine falsche Fährte locken, um ihren kleinen Bruder zu schützen.
Kurz darauf verließ Bruder Adam die Scheune.
Der Sturm wütete mit unverminderter Heftigkeit weiter. Das Kohlebecken wurde für die zweite Nacht eingeheizt. Wieder rief Bruder Adam nach dem Abendessen alle zum Gebet zusammen. Doch einige Stunden später, als Maria mit ihrem Mann allein war und nur noch der schwache Schimmer der Holzkohle die Scheune erhellte, wälzte Tom Furzey seinen gedrungenen Körper auf sie. Mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen schloss sie die Augen und dachte insgeheim an Bruder Adam.
Tief in der Nacht, etwa zu der Zeit, wenn sonst der Gottesdienst stattfand, erwachte Bruder Adam aus einem unruhigen Schlaf. Er bemerkte, dass das Heulen des Windes draußen aufgehört hatte. Es war still auf dem Gut.
Er erhob sich von der Bank, auf der er genächtigt hatte, und flüsterte leise die Psalmen und Gebete vor sich hin. Immer noch nicht zufrieden, murmelte er danach noch das Vaterunser: Pater Noster, qui es in coelis – Vater unser, der du bist im Himmel…
Amen. Es war Nacht. Die Zeit, in der er die lautlose Stimme aus Gottes Universum hören konnte. Warum war er also so beunruhigt? Erneut stand er auf und wäre am liebsten im Zimmer auf und ab gelaufen. Doch damit hätte er die Laienbrüder geweckt. Also legte er sich wieder hin.
Die Frau. Gewiss lag sie mit ihrem Mann schlafend in der Scheune. Wahrscheinlich war sie auf ihre Art eine gute Frau. Wie alle Bauersfrauen hatte sie leicht gerötete Wangen und roch ein wenig nach Stall. Er schloss die Augen. Ihre Wärme. Noch nie zuvor hatte er so etwas empfunden. Er versuchte zu schlafen. Dieser Furzey. Hatte er sie in dieser Nacht in der Scheune geliebt? Vielleicht taten sie es ja gerade, während er hier in der Stille lag. Genoss der Bauer gerade ihre Wärme?
Bruder Adam schlug die Augen auf. Mein Gott, was dachte er denn da? Und warum? Aus welchem Grund grübelte er über diese Frau nach? Dann seufzte er. Er hätte es eigentlich wissen müssen. Es war nur der Teufel, der ihm wieder einmal einen Streich spielen wollte, um seinen Glauben auf die Probe zu stellen. Diesmal hatte er sich etwas Neues einfallen lassen.
Steckte der Teufel in dieser Bäuerin? Natürlich. Denn alle Frauen waren Geschöpfe des Teufels. Vielleicht hätte er strenger mit ihr sein müssen, als sie an diesem Nachmittag vor ihm gestanden hatte. Aber eigentlich benutzte der Teufel sie ja nur. Er nahm ihre Gestalt an, um ihn zu verwirren. Wieder schloss er die Augen. Er konnte nicht einschlafen.
Der nächste Morgen war strahlend schön. Der Sturm hatte sich gelegt. Die Luft war ruhig, der Himmel leuchtend blau. Beaulieu, die Abtei, die Felder, die Güter, sie alle waren mit einem weichen, weißen Mantel bedeckt.
Als Bruder Adam aus dem Haus trat, erkannte er an den Fußspuren vor der Scheune, dass die Frau schon fort war. Es dauerte eine Weile, bis es ihm gelang, das Bild, wie sie allein über die funkelnde Heide ging, aus seinen Gedanken zu vertreiben.
Ende Februar verschwand Luke. Maria wusste nicht, ob sie erleichtert oder traurig sein sollte.
Sobald der Schnee im späten Januar schmolz, hatte er sich angewöhnt, im Morgengrauen fortzugehen und erst nach Einbruch der Dunkelheit wiederzukommen. Ihre größte Angst war, er könnte im Raureif verräterische Spuren hinterlassen, aber das wusste er stets zu vermeiden. Jeden Tag brachte sie ihm etwas zu essen auf den Heuboden, wo er übernachtete. Den ganzen Januar lang arbeitete Tom in St. Leonards. Maria schlich sich aus dem Haus, wenn die Kinder schliefen, und dann saßen sie zusammen und redeten, wie damals, als sie selbst noch Kinder gewesen waren.
Manchmal sprachen sie über seine Zukunftspläne. Das Grafschaftsgericht des New Forest trat erst im April zusammen. Sie erörterten auch Bruder Adams Vorschlag, Luke solle sich stellen, doch der Laienmönch schüttelte nur den Kopf.
»Der hat leicht reden. Da der Abt und der Prior mich im Stich gelassen haben, kann alles Mögliche geschehen. Wenigstens bin ich so auf freiem Fuß.«
Maria genoss diese Abende mit ihrem Bruder sehr. Er hatte viele Geschichten zu erzählen und beschrieb ihr die Abtei, den Prior mit seinem gebeugten Gang und den klauenähnlichen Händen und alle Laienbrüder und Mönche. Manchmal lachte Maria so laut, dass sie schon befürchtete, sie könnte die Kinder geweckt haben. Luke hatte etwas Sanftes und Schlichtes an sich. Er schien gegen niemanden einen Groll zu hegen, nicht einmal gegen Grockleton.
Eines Abends hatte Maria ihn nach Bruder Adam gefragt.
»Die Laienbrüder wissen nicht so recht, was sie von ihm halten sollen. Aber die Mönche haben ihn alle gern.«
Eigentlich hatte Maria sich nicht gewundert, dass der verträumte, freundliche Luke Laienbruder geworden war. Eine Frage konnte sie sich dennoch nicht verkneifen: »Vermisst du es manchmal nicht, eine Frau zu haben, Luke?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte er leichthin. »Ich hatte noch nie eine.«
»Macht dir das nichts aus?«
»Nein.« Er lachte zufrieden auf. »Im New Forest gibt es immer so viel zu tun. Findest du nicht?«
Maria lächelte und erwähnte das Thema nicht mehr. Jetzt, da er auf der Flucht lebte, konnte er sich ohnehin keine Frau suchen.
Sie sprachen auch über Furzeys und Prides Streit wegen des Ponys.
Natürlich hatte Luke Mitleid mit ihr und fragte, wie lange dieser Streit denn noch dauern werde.
»Sicher noch ein oder zwei Jahre.«
Als Tom Ende Januar wieder zu Hause war, konnten Maria und Luke sich nur noch selten treffen, um rasch ein Wort miteinander zu wechseln. Und da wirklich kein Ende des Zerwürfnisses abzusehen war, fühlte Maria sich bald selbst wie im Gefängnis.
Eines Tages teilte Luke seiner Schwester mit, dass er fort wollte.
»Wohin?«
»Das kann ich nicht sagen. Besser, du weißt es nicht.«
»Wirst du den New Forest verlassen?«
»Mag sein. Vielleicht sollte ich das wirklich tun.«
Zum Abschied nahm sie ihn in die Arme und küsste ihn auf die Wange. Das Wichtigste war, dass er den Häschern nicht in die Hände fiel. Maria fühlte sich sehr einsam.
Am Donnerstag nach dem Festtag des heiligen Markus im zweiundzwanzigsten Jahr von König Eduards Regierung – also an einem regnerischen Apriltag im Jahre des Herrn 1295 – trat das Grafschaftsgericht des New Forest feierlich in der großen Halle des königlichen Herrensitzes von Lyndhurst zusammen.
Es war ein beeindruckender Anblick. Die Wände der Halle waren mit kostbaren Wandbehängen und den Geweihen gewaltiger Böcke und Hirschbullen geschmückt. Der Vorsitzende Richter thronte auf einem Stuhl aus geschwärzter Eiche, der auf einem Podest stand. Er trug ein prächtiges grünes Gewand und einen purpurroten Mantel. Seine Beisitzer, ebenfalls auf Eichenstühlen platziert, waren die vier adeligen Forstaufseher, die als Magistrat und Leichenbeschauer fungierten und dem untergeordneten Strafgericht vorstanden. Die Förster und Viehinspektoren – letztere waren für die im New Forest weidenden Nutztiere verantwortlich – waren ebenfalls anwesend. Außerdem hatte jedes Dorf und jede Gemeinde einen Vertreter geschickt, der über dort verübte Verbrechen Bericht erstatten sollte.
Zwölf Geschworene standen dem Gericht zur Seite, adelige Herren, die in dieser Gegend hohes Ansehen genossen. Jeder, dem ein Schwerverbrechen zur Last gelegt wurde, konnte verlangen, dass die Geschworenen über seine Schuld oder Unschuld entschieden. Der König war ein Freund von Geschworenenverhandlungen und förderte sie nach Kräften.
Heute war auch der Prior von Beaulieu erschienen, da sich der Abt noch immer im Auftrag des Königs auf Reisen befand. Die beiden Sheriffs der Nachbargrafschaften führten den jungen Martell und dessen Freunde vor. Seit langer Zeit hatte keine so große Versammlung mehr stattgefunden, und in der Halle drängten sich die Zuschauer.
»Hört, hört, hört!«, rief der Gerichtsdiener. »Die Sitzung ist eröffnet. Alle, die ein Anliegen an das hohe Gericht haben, mögen vortreten.«
Zuerst wurde eine Reihe von Fällen entschieden, die alltägliche Dinge betrafen. Ein Mann hatte Holz im New Forest gestohlen. Ein anderer sich – man bezeichnete diese Tat als assart – verbotenerweise Land angeeignet. Eines der Dörfer hatte es versäumt, einen auf ihrem Gebiet tot aufgefundenen Hirschbullen zu melden. Obwohl sich das Leben im New Forest kaum verändert hatte, wäre einem Förster aus der Zeit von König Rufus, hätte er diese Gerichtsverhandlung miterleben dürfen, ein bedeutender Unterschied aufgefallen: Während das normannische Gesetz mit seinen Todesstrafen und Verstümmelungen die Bevölkerung eingeschüchtert hatte, ließ der jetzige Monarch seine obersten Richter milder über seine Untertanen urteilen. Verstümmelungen waren abgeschafft. Nur die schlimmsten Gewohnheitsverbrecher wurden gehängt. Die meisten anderen Gesetzesverstöße wurden mit Geldstrafen geahndet, und der Schuldige musste eine Summe entrichten, die von seinem Einkommen abhing. So wurde an diesem Tag ein mittelloser Mann begnadigt, der von einem anderen Gericht zu einer Strafe von sechs Pence verurteilt worden war, die er nicht bezahlen konnte.
Erst später am Nachmittag kam man auf den Zwischenfall in Beaulieu zu sprechen.
Die Anklage lautet, dass am Freitag vor dem letzten Festtag des heiligen Matthäus Roger Martell und Henry de Damerham in Begleitung anderer, ausgerüstet mit Pfeil, Bogen, Bluthunden und Windhunden, den New Forest betraten, in der Absicht, das Wild zu schädigen…
Die Anklage, auf Latein in den Gerichtsakten festgehalten, wurde vom Gerichtsdiener verlesen. Sie enthielt genaue Angaben, was sich die Wilderer hatten zu Schulden kommen lassen, und niemand widersprach. Der Richter musterte die jungen Männer streng, während die Zuschauer in der Halle aufmerksam lauschten.
»Es handelt sich um ein Jagdvergehen, begangen unter Missachtung der Gesetze und in aller Öffentlichkeit. Die Täter sind Männer, die es auf Grund ihrer Stellung eigentlich hätten besser wissen müssen. Also verhänge ich folgende Strafen: Will atte Wood: eine halbe Mark.« Der arme Will, denn es war eine hohe Strafe. Da zwei seiner Vettern für ihn bürgten, gab man ihm ein Jahr Zeit, sie zu bezahlen. Auch die anderen Dorfbewohner mussten dieselbe Summe entrichten.
Dann waren die jungen Adeligen an der Reihe: fünf Pfund für jeden, fünfzehnmal so viel, wie die einfachen Bauern hatten zahlen müssen, und das war nur gerecht. Zu guter Letzt wandte sich der Richter an Martell.
»Roger Martell, Ihr wart ohne Zweifel der Rädelsführer dieser Übeltäter. Ihr habt sie zu dem Gut gebracht. Ihr habt Hirsche gestohlen. Und außerdem seid Ihr ein recht wohlhabender junger Mann.« Er hielt inne. »Der König war gar nicht erfreut, als er von dieser Angelegenheit hörte. Ihr werdet zu einer Geldstrafe von hundert Pfund verurteilt.«
Die Zuschauer schnappten nach Luft. Auch die beiden Sheriffs waren sichtlich verdattert. Selbst für einen reichen Gutsbesitzer war das ein Schwindel erregend hoher Betrag. Und außerdem war offensichtlich, dass König Eduard selbst diese Bestrafung vorab genehmigt hatte. Beim König in Ungnade gefallen. Martell war weiß wie ein Leinentuch. Er würde entweder Land verkaufen oder jahrelang auf sein Einkommen verzichten müssen. Obwohl er eigentlich ein tapferer Mann war, bebte er am ganzen Körper.
Das Getuschel im Gerichtssaal wurde lauter, doch dann sagte der Richter zum Gerichtsschreiber: »Und was wird jetzt aus diesem Laienbruder?«
Schlagartig kehrte Stille ein. Luke gehörte zur Familie Pride, und man war sehr neugierig, was nun geschehen würde. Maria, die in einer der hinteren Reihen saß, spitzte die Ohren, damit ihr ja kein Wort entging.
Was Luke genau vorgeworfen wurde, war nicht ganz klar.
»Erstens«, verkündete der Gerichtsdiener, »hat er den Übeltätern Unterschlupf auf dem Gut gewährt. Zweitens war er ihr Komplize. Und drittens hat er einen Mönch namens Bruder Matthew angegriffen, der die Wilderer am Betreten des Gutes hindern wollte.«
»Ist ein Vertreter der Abtei zugegen?«, erkundigte sich der Richter.
John von Grockleton erhob die Klaue, und kurz darauf standen Bruder Matthew und drei Laienbrüder vor dem Richter.
Natürlich hatte sich der Richter von seinem Stellvertreter alle Einzelheiten erzählen lassen, doch für ihn gab es in diesem Fall noch einige offene Fragen.
»Ihr weigert Euch, die Verantwortung für diesen Laienbruder zu übernehmen?«
»Wir sagen uns von ihm los«, erwiderte der Prior.
»In der Anklageschrift heißt es, er sei Komplize der Wilderer gewesen. Vermutlich deshalb, weil er ihnen den Zutritt zum Gut gestattet hat.«
»Welche andere Erklärung gäbe es sonst dafür?«, entgegnete Grockleton.
»Ich könnte mir vorstellen, dass er sich von ihnen eingeschüchtert fühlte.«
»Sie haben ihm nicht mit Gewalt gedroht«, wandte der Gerichtsdiener ein.
»Das ist richtig. Und wie hat sich der Übergriff abgespielt?«, wollte der Richter von Bruder Matthew wissen.
»Nun.« Bruder Matthew verzog ein wenig verlegen das gütige Gesicht. »Als Martell sich weigerte, seinen verwundeten Kumpanen mitzunehmen, wollte ich ihn, wie ich zugeben muss, mit einem Stab schlagen. Doch Bruder Luke griff nach einem Spaten und zerschmetterte den Stab. Dabei hat der Spaten mich am Kopf getroffen.«
»Ich verstehe. War der Laienbruder Euer Feind?«
»O nein. Ganz im Gegenteil.«
Grockleton hob die Klaue. »Das beweist doch, dass er mit Martell unter einer Decke steckte.«
»Oder dass er den Mönch daran hindern wollte, eine Prügelei vom Zaun zu brechen.«
»Ich muss gestehen«, meinte Bruder Matthew wohlwollend, »dass ich mich das später auch gefragt habe.«
»Bruder Matthew ist zu gütig, Richter«, fiel der Prior ihm ins Wort. »Er urteilt viel zu milde.«
In diesem Augenblick stand die Meinung des Richters über Grockleton endgültig fest: Der Prior war ein unangenehmer Zeitgenosse. »Und dann ist er fortgelaufen?«
»Dann ist er fortgelaufen«, wiederholte Grockleton trotzig.
»Warum zum Teufel hat der Abt ihn nicht wegen des Angriffs auf den Mönch bestraft?«
»Weil wir ihn aus dem Orden ausgeschlossen haben. Wir sind hier, um ihn anzuklagen«, erwiderte Grockleton.
»Wie ich vermute, ist er nicht anwesend?« Allgemeines Kopfschütteln. »Nun gut.« Der Richter bedachte den Prior mit einem angewiderten Blick. »Da er zum Zeitpunkt des Verbrechens, falls überhaupt eines stattgefunden hat, Angehöriger des Klosters war und der Gerichtsbarkeit der Abtei unterstand, seid Ihr dafür verantwortlich, ihn herbeizuschaffen. Oder wusstet Ihr das nicht?«
»Ich?«
»Ihr. Oder besser gesagt die Abtei. Deshalb erhält die Abtei wegen seines Nichterscheinens eine Geldstrafe. Zwei Pfund.«
Das Gesicht des Priors lief puterrot an. Die Zuschauer grinsten.
»Ich bedauere, dass der Angeklagte nicht hier ist, um sich zu verteidigen«, fuhr der Richter fort. »Aber so ist es nun einmal. Dem Gesetz muss Genüge getan werden. Und da es sich hier um ein Schwerverbrechen zu handeln scheint und der mutmaßliche Täter durch Abwesenheit glänzt, bleibt mir nichts anderes übrig. Lasst nach ihm fahnden. Und wenn er bei der nächsten Sitzung des Gerichtes nicht erscheint, wird er für vogelfrei erklärt.«
Mary, die hinten im Gerichtssaal saß, hörte bedrückt zu. Man würde ihren Bruder so lange suchen, bis man ihn gefunden hatte. Und wenn man ihn für vogelfrei erklärte, bedeutete das, dass die Gesetze ihn nicht mehr schützten. Niemand durfte einen Vogelfreien bei sich aufnehmen, aber jeder konnte ihn straflos töten. Er hatte sämtliche Rechte verwirkt.
Wenn Luke nur zurückgekommen wäre! Bruder Adam, der kluge Mönch, hatte Recht behalten. Luke hatte die Vernunft des Richters unterschätzt, denn es war offensichtlich, dass dieser im Zweifelsfall zu seinen Gunsten entscheiden würde. Aber was sollte sie tun? Luke war fort, und niemand wusste, wo er steckte. Am liebsten wäre Mary in Tränen ausgebrochen.
»Ich glaube, damit wäre alles erledigt.« Der Richter warf dem Gerichtsdiener einen aufmunternden Blick zu. Die Zuschauer schickten sich zum Gehen an. »Oder steht noch etwas an?«
»Ja.«
Mary zuckte zusammen. Tom hatte sich bei Beginn der Verhandlung zu einigen anderen Männern gesellt, sodass sie ihn nicht hatte beobachten können, weil ihr die Köpfe der übrigen Anwesenden die Sicht versperrten. Nun hörte sie seine Stimme, und da er aufgestanden war, erblickte sie ihn deutlich. Er drängelte sich zum Richter vor. Gleichzeitig bemerkte sie, dass sich an der Tür links von ihr etwas bewegte.
Bald hatte sich Tom vor dem Richter aufgebaut. Sein Haar war zerzaust, er trug ein ledernes Wams und schien ausgesprochen kriegerischer Stimmung zu sein.
»Wir haben keine Mitteilung erhalten. Dieser Fall ist nicht vom Strafgericht an uns weitergeleitet worden«, sagte der Gerichtsdiener spitz.
»Da wir nun einmal hier sind, können wir uns die Sache genauso gut anhören«, widersprach der Richter. Er betrachtete Tom mit strenger Miene. »Was hast du vorzubringen?«
»Diebstahl, Mylord!«, brüllte Tom so laut, dass das Gebälk erzitterte. »Hundsgemeinen Diebstahl.«
Schlagartig trat Stille ein. Der Gerichtsdiener, der vor Schreck fast von seiner Bank gefallen wäre, griff nach dem Federkiel.
Auch der Richter war ein wenig verdattert und sah Tom argwöhnisch an. »Diebstahl? Was ist denn gestohlen worden?«
»Mein Pony!«, schrie Tom, als wolle er die himmlischen Heerscharen herbeirufen, damit sie seine Aussage bestätigen.
Nach einer Weile begannen die Zuschauer zu kichern. Der Richter runzelte die Stirn. »Dein Pony? Wo hat man es dir denn gestohlen?«
»Im New Forest«, erwiderte Tom.
Nun wurde lauthals gelacht. Selbst die Förster konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Richter sah den königlichen Beauftragten an, der schmunzelnd den Kopf schüttelte.
Der Richter mochte den New Forest und seine Bauern und amüsierte sich insgeheim über ihre kleinen Regelverstöße. Da er sich ziemlich über Martell geärgert hatte, hatte er nichts dagegen, den Tag mit einer lustigen Anekdote zu beenden. »Soll das heißen, man hat dir dein Pony im New Forest entwendet? Trug es ein Zeichen?«
»Nein, es wurde dort geboren.«
»Also ein Fohlen? Woher weißt du, dass es deines ist?«
»Ich weiß es eben.«
»Und wo ist das Fohlen jetzt?«
»In John Prides Kuhstall!«, rief Tom zornig und verzweifelt aus. »Da steht es.«
Das war zu viel. Der ganze Gerichtssaal bog sich vor Lachen. Selbst Tom Furzeys Verwandte fanden diese Antwort unglaublich komisch. Mary senkte den Blick zu Boden. Der Richter bat die Viehinspektoren um eine Erklärung, und Alban, in dessen Bezirk sich der Vorfall abgespielt hatte, trat näher und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Tom wartete mit finsterer Miene ab.
»Und wo ist John Pride?«, fragte der Richter.
»Hier im Saal«, verkündete Tom, wirbelte herum und wies triumphierend in die Menge.
Alle drehten sich um. Für einen Moment schwiegen alle.
Und dann erklang neben der Tür eine tiefe Stimme: »Er ist fort.«
Nun war es mit der Zurückhaltung der Zuschauer endgültig vorbei. Die Waldbewohner hielten sich die Bäuche und lachten, bis ihnen die Tränen kamen. Die Förster, die würdevollen Forstaufseher und selbst die ehrenwerten Geschworenen konnten nicht mehr an sich halten. Kopfschüttelnd betrachtete der Richter den Tumult und biss sich auf die Lippe.
»Da könnt ihr so viel lachen, wie ihr wollt!«, rief Tom. Doch diese Aufforderung war überflüssig. Er sah sich in alle Richtungen um, wandte sich dann mit hochrotem Gesicht an den Richter und zeigte mit dem Finger auf Alban. »Er und seinesgleichen lassen Pride ungeschoren davonkommen. Und wisst Ihr, warum? Weil er sie bezahlt!«
Die Miene des Richters verfinsterte sich. Einige Förster hörten auf zu lachen. Mary stöhnte leise auf.
»Ruhe!«, polterte der Richter, und das allgemeine Gelächter erstarb. »Willst du unverschämt werden?«, fuhr er Furzey dann an.
Leider enthielt Toms Behauptung ein Körnchen Wahrheit, auch wenn der junge Alban vermutlich unschuldig war. Die Bezirksförster erhielten von den Bewohnern des New Forest hin und wieder Geschenke. Eine wohlschmeckende Pastete, ein Käse, ein kostenlos geflickter Zaun – Zuwendungen, nach denen der königliche Beauftragte für den New Forest in vielen Fällen ein Auge zudrückte. Der König selbst hatte einmal, und zwar nicht im Scherz, dem obersten Forstaufseher gegenüber bemerkt, er werde wohl eines Tages einen Ausschuss einsetzen müssen, der die gesamte Verwaltung des New Forest unter die Lupe nehme. Und offenbar war Furzey ein Querulant, der gefährlich werden konnte.
»Du musst dich an das vorgeschriebene Verfahren halten«, teilte der Richter ihm barsch mit. »Dein Fall wird gehört werden, nachdem er dem Strafgericht vorgelegt wurde. Gerichtsdiener«, befahl er, »vermerkt das in den Akten. Die Sitzung ist geschlossen.«
Während Tom, zitternd vor ohnmächtiger Wut, an Ort und Stelle verharrte, steuerten die immer noch kichernden Zuschauer auf den Ausgang zu.
Der Gerichtsdiener tauchte seinen Federkiel ins Tintenfass und schrieb die Worte auf das Stück Pergament, das als wahre Stimme des Forest noch viele Jahrhunderte lang aufbewahrt werden sollte:
Thomas Furzey bezichtigt John Pride des Diebstahls eines Ponys. John Pride nicht erschienen. Deshalb Verhandlung verschoben auf nächste Sitzung.
Luke spazierte gerne oft viele Kilometer weit durch den New Forest. Als Kind hatte er gelernt, schnell zu laufen, um mit John und Mary mithalten zu können. Inzwischen hätten sich die meisten Menschen sehr ins Zeug legen müssen, um nicht von ihm abgehängt zu werden. Die alten Eichen mit ihren efeubewachsenen Stämmen waren seine besten Freunde.
Seit seinem Verschwinden aus der Abtei hatte sich sein Äußeres sehr verändert. Er trug einen Jägerrock, ein Wams, wollene Beinlinge und einen dicken Ledergürtel. Sein Haar und sein Bart waren lang und struppig. Und da es im New Forest viele Männer gab, die aussahen wie er, hätte niemand, dem er unterwegs begegnete, ihn auch nur eines Blickes gewürdigt.
Doch er war auf der Flucht und würde bald für vogelfrei erklärt werden. Welche Folgen würde das für ihn haben? Theoretisch betrachtet, dass jeder Mensch sein Feind war. Und praktisch? Das hing davon ab, ob man Freunde hatte und ob die Obrigkeit einen wirklich aufspüren wollte.
Wenn er nun einem Förster in die Arme gelaufen wäre und dieser ihn erkannt hätte, wäre er sicher festgenommen worden. Daran bestand kein Zweifel. Doch wäre zum Beispiel der junge Alban, falls er in der Ferne eine langbärtige Gestalt erblickte, die möglicherweise Luke war, wirklich hingeritten, um sich zu vergewissern? Vielleicht. Wahrscheinlicher aber war, dass er einfach sein Pferd gewendet und einen anderen Weg genommen hätte.
Was sollte Luke jetzt tun? Schließlich konnte er nicht bis in alle Ewigkeit weiter durch den Wald streifen. Das Gericht in Lyndhurst hatte ein unmissverständliches Urteil gesprochen. Es wäre besser gewesen, wenn er sich gestellt und auf Gnade gehofft hätte.
Die Schwierigkeit war nur, dass Luke – möglicherweise lag es ihm ja im Blut – der Obrigkeit von Grund auf misstraute.
Diese Einstellung mochte bei einem Menschen, der sich entschieden hatte, in Beaulieu ein geregeltes Klosterleben zu führen, abwegig anmuten. Doch in Wirklichkeit war es gar nicht so seltsam. Denn für Luke war die Abtei ein Zufluchtsort, ein riesiges Landgut, wo er gerne arbeitete und von wo er nach Herzenslust im New Forest umherstreifen konnte. Er hatte Freude an den Gottesdiensten in der Abteikirche und lauschte gebannt den heiligen Gesängen. Und da er von Natur aus wissbegierig war, hatte er viele der lateinischen Psalmen und ihre Übersetzung auswendig gelernt, obwohl er nicht lesen konnte. Allerdings hätte er keine Lust gehabt, so viel Zeit in der Kirche zu verbringen wie die Mönche. Er fühlte sich draußen auf den Feldern wohler und half gern den Schäfern, wenn sie ihre Herden von Gut zu Gut trieben. Die Abtei kleidete ihn, gab ihm etwas zu essen und ermöglichte ihm ein geborgenes, sorgenfreies Leben. Was konnte ein Mensch mehr verlangen?
Die Abtei war seiner Ansicht nach deshalb so erfolgreich, weil sie sich an die natürliche Ordnung hielt. Denn die Natur war etwas, das Luke verstand. Die Bäume, die Pflanzen, die Tiere des Waldes, sie alle folgten einer inneren Uhr. Die Gründe brauchte man nicht zu kennen; es war wie ein gut geöltes Räderwerk. Und die Abtei konnte nur deshalb überleben, weil sie sich an diesen natürlichen Ablauf angepasst hatte.
Wenn Außenseiter, Männer wie Grockleton oder die Reiserichter des Königs, die den New Forest nicht richtig kannten, hierher kamen, eine Menge alberner Regeln aufstellten und sich als große Herren aufspielten, war es das Beste, einen großen Bogen um sie zu machen. Denn Luke erkannte tief in seinem Herzen nur ein Gesetz an: das der Natur.
»Der Rest gibt eigentlich nicht viel her«, pflegte er zu sagen. Und der Obrigkeit, die so viel Wert auf die Einhaltung dieser Gesetze legte, konnte man auf keinen Fall über den Weg trauen.
»Heute tun sie einem schön, und morgen kriegen sie dich dran. Denen geht es sowieso nur um ihre Macht.«
So sah ein einfacher Bauer die Herrschenden, und er hatte damit gar nicht so Unrecht.
Deshalb beabsichtigte Luke nicht, sich an den Richter und das Gericht zu wenden, vor allem nicht, solange Grockleton die Finger mit im Spiel hatte. Er hielt es für besser, sich zu verstecken und abzuwarten, bis sich etwas ergab. Man wusste nie, was noch geschehen würde.
Luke hatte Freunde, und bis zum nächsten Winter würde er sich schon durchschlagen können. In der Zwischenzeit gab es genügend Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Alle paar Tage beobachtete er aus einiger Entfernung seine Schwester Mary, die jedoch nichts davon ahnte. Es machte ihm Spaß zuzusehen, wie sie ihrer Hausarbeit nachging oder draußen mit den Kindern spielte, auch wenn er nie ein Wort mit ihr wechselte. Er fühlte sich wie ihr Schutzengel, der heimlich über sie wachte. »Ich bin dir näher, als du glaubst, mein Mädchen«, murmelte er zufrieden. Er hatte solche Freude daran, unbemerkt umherzuschleichen, dass er auch öfter seinen Bruder John beobachtete. Das Pony durfte inzwischen auf dem Feld weiden, wurde aber immer von einem von Johns Kindern gehütet.
Natürlich wanderte Luke oft stundenlang durch den New Forest.
An diesem Tag führte ihn sein Weg in nördlicher Richtung von Burley nach Lyndhurst. Es war still im Wald. Überall wuchsen riesige Eichen. Manchmal war dort, wo der Sturm einen Baum gefällt hatte, eine kleine Lichtung entstanden, sodass man durch die Lücke im Blätterdach den Himmel erkennen konnte. Hin und wieder blieb Luke stehen, betrachtete einen mit Flechten bedeckten Baumstamm oder sah nach, was für Lebewesen sich unter einem abgefallenen Ast verbargen. Gerade hatte er das Dorf Minstead hinter sich gelassen und einen Teil des New Forest erreicht, der an eine Heide grenzte, als er auf etwas aufmerksam wurde.
Es war ein winziger Gegenstand, nur eine Eichel, die den hungrigen Schweinen im letzten Herbst entgangen war. Nun war sie auf dem modrigen, braunen Laub aufgeplatzt, und kleine Wurzeln bohrten sich in den Boden.
Luke lächelte. Es gefiel ihm, die Dinge wachsen zu sehen. Die weißen Würzelchen der Eiche wirkten so zart. Eine kleine grüne Blattspitze ragte hervor. Wie erstaunlich, dass dies der Beginn einer mächtigen Eiche sein sollte. Dann schüttelte Luke langsam den Kopf. »Hier wirst du es nicht schaffen«, murmelte er.
Vorsichtig grub Luke mit den Händen den Setzling aus und nahm ihn in einem Bett aus Erde mit, um ihn nicht zu verletzen. Nur wenige Meter entfernt stand eine Gruppe Stechpalmen, um die herum Besenginster wuchs. Luke kämpfte sich durch das Gestrüpp, ohne auf die Kratzer an seinen Armen zu achten, und pflanzte den Setzling ein. Dann blickte er nach oben zu dem klaren, blauen Himmel. »Hier kannst du wachsen«, sagte er zufrieden und machte sich wieder auf den Weg.
Bruder Adam kannte die Abtei Beaulieu so gut, dass er sich sogar mit verbundenen Augen darin zurechtgefunden hätte.
Sein Lieblingsplatz war die Reihe geschwungener Nischen, die sich an der Nordseite des großen Kreuzgangs gegenüber dem frater befand, wo die Mönche ihre Mahlzeiten zu sich nahmen. Hier war es völlig windgeschützt. Die Nischen wiesen nach Süden und fingen die Sonne ein. Ein Buch in der Hand, saß Bruder Adam auf einer Bank in einer dieser Nischen und blickte auf die große, viereckige, vom Kreuzgang umgebene Wiese hinaus. Der süße Duft frisch gemähten Grases und der schärfere der Gänseblümchen stiegen ihm in die Nase. Adam fand, dass kein dem Menschen bekannter Ort dem Paradies so nahe kam wie dieser Teil der Abtei.
In den letzten Wochen hatte er nur selten Gelegenheit gehabt, sich diese Muße zu gönnen. Die Arbeit auf den Gütern hatte seinen Tageslauf verändert. Doch an diesem warmen Mainachmittag hatte er sich endlich einmal loseisen können und saß nun still und mit hochgeschlagener Kapuze – das Zeichen der Mönche, dass sie nicht gestört werden wollten – an seinem Stammplatz. Er blätterte gerade gemächlich in der Lebensgeschichte des heiligen Wilfried, als er von einem Novizen aufgeschreckt wurde, der um die Mauer gestürmt kam. »Bruder Adam!«, rief der junge Mann. »Komm schnell. Die Erlösung ist da. Alle sind losgegangen, um sie zu sehen.«
Bruder Adam sprang auf. Natürlich handelte es sich nicht um die Erlösung – englisch: salvation –, wie der Versprecher des Novizen vermuten ließ, sondern um die Salvata, das Schiff der Abtei, ein gedrungenes Gefährt mit viereckigen Segeln, das häufig im Einsatz war. Der nächste Hafen hinter der Mündung des Flusses von Beaulieu war nicht weit vom Kloster entfernt. Am Beginn des Meeresarms Solent, östlich des New Forest, war in den letzten Jahrhunderten ein geschäftiger kleiner Hafen namens Southampton entstanden. Die Mönche von Beaulieu verfügten über ein eigenes Wolllager am Kai, wo sie die Ware vor der Verschiffung aufbewahrten. Auf dem Rückweg nahm die Salvata in Southampton verschiedene Güter an Bord, einschließlich des französischen Weins, der den Gästen des Abts so gut mundete. Von Southampton aus fuhr das Schiff die Küste hinauf nach Kent und überquerte dann den Ärmelkanal. Oder es setzte seinen Weg fort bis zur Mündung der Themse und nach London. Hin und wieder segelte es sogar Englands Ostküste hinauf, zum Beispiel nach Yarmouth, wo es eine große Ladung Salzheringe für die Abtei abholte. Wenn die Salvata an die kleine Anlegestelle unterhalb der Abtei zurückkehrte, war die Aufregung immer groß.
Bei Bruder Adams Ankunft hatten sich bereits die meisten Bewohner der Abtei versammelt – mehr als fünfzig Mönche und etwa vierzig Laienbrüder. Der Prior, der derartige Anlässe liebte, rief überflüssige Befehle: »Vorsicht! Passt mit der Halteleine auf!«
Adam beobachtete die Szene lächelnd. Er musste zugeben, dass sich selbst die frömmsten Mönche zuweilen wie kleine Kinder gebärdeten.
Die Ladung bestand aus gesalzenen Heringen. Sobald die Fallreepstreppe heruntergelassen war, stürmten die frommen Mönche an Bord, um die Fässer an Land zu rollen.
»Zwei Männer je Fass!«, rief der Prior. »Bringt sie zum Lagerhaus.«
Zwanzig Fässer waren bereits auf dem Weg dorthin. Die Mönche scherzten, und es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Bruder Adam wollte gerade den Rückweg zum Kloster antreten, als er bemerkte, dass der Kapitän des Schiffes mit dem Prior sprach. Der Mann deutete stromaufwärts. John von Grockleton zuckte heftig zusammen.
Und dann begann er zu toben.
Wenn Grockleton eines auf der Welt hasste, dann waren es Eingriffe in die weltlichen Rechte der Abtei, deren Verteidigung er sein bisheriges Leben geweiht hatte. Und zu diesen vielen Privilegien gehörten die Fischereirechte am Fluss von Beaulieu. »Verbrecher!«, brüllte er. »Gotteslästerung!« Die Mönche mit den Fässern hielten inne und wandten sich um. »Bruder Mark!«, rief der Prior. »Bruder Benedict…« Er wies auf einige andere Mönche. »Holt das Ruderboot und begleitet mich.«
Man hatte ein paar Männer beim Fischen beobachtet, die ein Stück flussabwärts ihre Netze ausgeworfen hatten. Bei einem von ihnen handelte es sich um einen Kaufmann aus Southampton. Die Bürgerschaft dort war felsenfest davon überzeugt, dass auch sie über die Fischereirechte an diesem Fluss verfügte, und zwar über ältere als die Abtei. Grockleton hingegen glaubte, dass Gott ihn dazu auserkoren hatte, ihnen das Gegenteil zu beweisen.
Schon kurz darauf fuhr ein Ruderboot, besetzt mit drei Mönchen, in Windeseile den Fluss hinab, während zwei weitere Gruppen, jeweils ein Dutzend Mönche und Laienbrüder, das Ufer entlangliefen. Grockleton stürmte das Westufer entlang, den Stab in der Hand und mit vorgebeugtem Rücken wie ein angreifender Gänserich. Bruder Adam hatte sich seinem Trupp unaufgefordert angeschlossen.
Sie kamen bemerkenswert schnell voran. Zwei der Laienbrüder waren als Vorhut losgeschickt worden, um das Flussufer zu erkunden. Mehr als anderthalb Kilometer lang führte der Weg durch Eichenwälder, bis er an einer von Sumpfwiesen umgebenen Krümmung des Flusses endete. Im nächsten Moment hörten sie einen Aufschrei vom Ruderboot, und gleich darauf erblickten sie den Feind hinter der Flussbiegung.
Es war ein großer klinkergebauter Einmaster. Die Männer aus Southampton hatten kein Segel gesetzt, vermutlich beabsichtigten sie, die Küste entlang in ihre Heimatstadt zurückzurudern. Sie hatten die Netze noch ausgeworfen, und drei von ihnen waren sogar so frech gewesen, am Ufer ein kleines Feuer anzuzünden, um eine Mahlzeit zuzubereiten. An der teuren Kleidung glaubte Bruder Adam unter ihnen einen angesehenen Kaufmann zu erkennen. Diese Annahme bestätigte sich, als der Prior wütend einen Namen förmlich ausspie: »Henry Totton«. Er war Inhaber des Lagerhauses am Nachbarkai der Abtei.
»Wilderer!«, dröhnte Grockletons Stimme über den Sumpf. »Verbrechergesindel. Verschwindet!«
Am Bug stand ein seltsam aussehender Mann. Er trug das schwarze Haar im Nacken zusammengefasst, doch auch der struppige Bart konnte den Umstand nicht verbergen, dass sein Gesicht unterhalb des Mundes direkt in den Hals überging.
Aber seine fröhliche Miene verriet, dass ihm dieser Mangel nicht zu schaffen machte. Nun drehte sich der Mann langsam und ohne böse Absicht um – offenbar war diese Geste als Gruß gemeint –, sah den Prior unverwandt an, hob den Arm und streckte einen Finger in die Luft.
Aber für Grockleton hätte es genauso gut ein auf ihn gerichteter Pfeil sein können. »Gottloser Hund!«, kreischte er. »Ergreift sie«, brüllte er, schwenkte seinen Stab und deutete auf die Männer am Ufer. »Prügelt sie ordentlich durch.«
Seine Mitbrüder zögerten einen Moment. Einige sahen sich nach Knüppeln um, die sie als Waffen verwenden konnten. Die anderen stürmten mit geballten Fäusten auf die Männer am Lagerfeuer zu.
Bruder Adam kam ihnen zuvor. »Haltet ein!«, donnerte er in befehlsgewohntem Ton. Er wusste, dass er die Autorität des Priors untergrub, doch er hatte keine Wahl. Rasch trat er auf Grockleton zu und murmelte: »Prior, wenn wir gewalttätig werden, können die Männer im Boot uns angreifen. Auch wenn wir das Recht auf unserer Seite haben«, fügte er bescheiden hinzu, »aber nach dem Zwischenfall auf dem Gut…«
Es war klar, worauf er hinauswollte: Eine Rauferei würde dem guten Ruf der Abtei nur schaden.
»Wir kennen ihre Namen«, sprach Adam weiter, »und können sie vor den Richter bringen.« Er verstummte und hielt den Atem an.
Zu seinem Erstaunen zuckte Grockleton zusammen, als habe man ihn aus einem Traum geweckt. Er starrte Adam verständnislos an. Die Brüder beobachteten die beiden. »Bruder Adam«, verkündete der Prior dann laut. »Schreib ihre Namen auf. Wenn jemand Widerstand leistet, wird er dazu gezwungen, ihn zu nennen.«
»Ja, Prior.« Adam neigte den Kopf und setzte sich sofort in Bewegung. Nach ein paar Schritten drehte er sich um und fragte respektvoll: »Darf ich zwei Brüder mitnehmen, Prior?«
Grockleton nickte. Adam winkte zwei Mönche zu sich und machte sich rasch an die Arbeit.
Er hatte getan, was er konnte, um zu verhindern, dass der Prior das Gesicht verlor. Aber zu seiner Enttäuschung bemerkte einer seiner Begleiter leise, sobald sie sich aus Grockletons Hörweite entfernt hatten: »Du hast es dem Prior aber richtig gezeigt, Bruder Adam.« In diesem Augenblick begriff er, dass Grockleton ihm seine Einmischung niemals verzeihen würde.
Eine Woche später saßen zwei Männer an ihrem kleinen Lagerfeuer in einem abgelegenen Teil des westlichen New Forest und warteten.
Ein paar Meter entfernt erhob sich ein großer, mit Torf bedeckter Hügel, der einige kleine Löcher aufwies, aus denen Rauchwölkchen aufstiegen. Puckle und Luke stellten Holzkohle her.
Im Winter hatte Puckle große Mengen Zweige und Holzscheite gehackt. Das Holz des New Forest – Eiche, Esche, Buche, Birke und Stechpalme – eignete sich vorzüglich zum Brennen von Holzkohle. Wenn der Frühling kam, errichtete er seinen ersten Meiler.
Zuerst ordnete Puckle die Holzscheite zu einem riesigen Kreis von etwa fünf Metern Durchmesser und zweieinhalb Metern Höhe an. Dann stieg er auf seine selbst gebaute, gebogene Leiter und bedeckte den Haufen mit einer Schicht aus Erde und Torf, bis das Ganze einem seltsamen mit Gras bewachsenen Backofen glich. Schließlich zündete er die Spitze an. »Kohlenmeiler brennen von oben nach unten«, erklärte er. »Jetzt brauchen wir nur noch zu warten.«
»Wie lange?«, fragte Luke.
»Drei oder vier Tage.«
Am Ende des ersten Tages bemerkte Luke, dass Dampf aus den Löchern drang und dass der obere Teil des Meilers feucht war.
»Er schwitzt«, erklärte Puckle. »Das Wasser tritt aus dem Holz.«
Am dritten Tag stellte Luke fest, dass aus den Ablauflöchern unten am Berg eine teerähnliche Masse quoll. »Es ist so weit«, verkündete Puckle am Abend. »Jetzt müssen wir nur noch warten, bis es abkühlt.«
»Und wie lange dauert das?«
»Ein paar Tage.«
Sie würden einige Male mit ihrem kleinen Wagen hin und her fahren müssen, um die fertige Holzkohle fortzuschaffen.
Als Köhler konnte Luke unbemerkt im New Forest leben. Denn die Gegend um Burley, wo Puckle hauste, lag sehr weit von der Abtei entfernt, und die Forstbeamten in diesem Bezirk kannten Luke nicht. Da diese Arbeit nicht seine ständige Anwesenheit erforderte, war es ihm möglich, ungehindert durch den Wald zu streifen oder Mary zu beobachten, wie es ihm beliebte.
Puckle hatte ihm bereitwillig Unterschlupf gewährt. Seine Familie war so weit verzweigt, dass inzwischen alle den Überblick über seine vielen Kinder und die Nachkommen seines verstorbenen Bruders verloren hatten. Als ein Förster sich einmal nach seinem Helfer erkundigte, antwortete Puckle nur: »Das ist ein Neffe von mir.«, worauf der Mann nickte und nicht mehr nachfragte.
Luke ging davon aus, dass er zumindest ein paar Monate lang bei Puckle im New Forest bleiben konnte. Nur Puckles Familie war eingeweiht, aber sie war verschwiegen.
»Je weniger Leute Bescheid wissen, desto besser«, sagte Puckle. »So bist du in Sicherheit.«
Dennoch konnte Luke einen ängstlichen Schauder nicht unterdrücken, als Puckle an einem Mainachmittag plötzlich den Kopf hob. »Sieh mal, wer da kommt«, meinte er und fügte leise hinzu: »Tu genau, was ich dir sage.«
Bruder Adam ritt langsam auf seinem Pony dahin. Er fühlte sich antriebslos, und er glaubte den Grund dafür zu kennen. Er murmelte ein Wort vor sich hin: acedia. Jeder Mönch wusste, was dieser Begriff, der im Englischen keine Entsprechung hatte, bedeutete: Erschlaffung, Langeweile, Niedergeschlagenheit und Lustlosigkeit; alle Gefühle schienen wie tot, und man empfand eine gähnende Leere. Hin und wieder wurde Bruder Adam von dieser matten Stimmung überkommen, nachmittags oder zu bestimmten Jahreszeiten, wie mitten im Winter, wenn es nichts zu tun gab. Zuweilen auch im Spätsommer, nachdem die Ernte eingebracht war. Natürlich musste man dagegen ankämpfen. Denn es war nur der Teufel, der versuchte, einem die Kräfte zu rauben und einen im Glauben zu schwächen. Das beste Mittel dagegen war harte Arbeit.
Und genau darin hatte Bruder Adam Trost gesucht. Die letzten Tage hatte er im Avontal verbracht. Riesige Wagenladungen Heu rollten von den gemähten Wiesen durch den New Forest. Adam hatte in Ringwood übernachtet und jede Wiese flussauf, flussab inspiziert. Er hatte sogar jede einzelne Sichel überprüft, die die Bauern benutzten. Die Arbeiten wurden von jeweils drei Laienbrüdern überwacht, auf die er wiederum ein Auge haben musste. Nicht einmal Grockleton hätte ihm vorwerfen können, dass er seine Aufgaben vernachlässigte.
Er musste sich eingestehen, dass er froh war, ein wenig Abstand von der Abtei zu haben. In den Tagen nach dem Zwischenfall am Fluss hatte angespannte Stimmung geherrscht. Jeder Mönch hatte die Pflicht, böse Gedanken aus seinem Bewusstsein zu verscheuchen und Nächstenliebe gegenüber seinen Brüdern zu zeigen. Gewiss hatte sich Grockleton aufrichtig um diese Haltung bemüht. Dennoch wirkte Adams Gegenwart auf ihn wie ein rotes Tuch. Bruder Adam gefiel es gar nicht, dass er jetzt zur Abtei zurückkehren musste. Bereits in Burley hatte ihn Niedergeschlagenheit überkommen. Ohne es zu bemerken, hatte er seinem Pony gestattet, einen falschen Weg einzuschlagen. Nun nahm er – mit einem Anflug von schlechtem Gewissen – eine Abkürzung durch den Wald zum richtigen Pfad, als er plötzlich auf die beiden Köhler stieß.
Vor einem Jahr noch wäre er vermutlich mit einem kurzen Gruß weitergeritten. Doch heute hatte er Lust, mit ihnen zu plaudern, nur um seine Rückkehr ein wenig hinauszuzögern.
Der eine Köhler stand neben dem kleinen Lagerfeuer. Der andere hatte sich ein wenig abseits hinter den qualmenden Kohlenmeiler zurückgezogen. Bruder Adam war Puckle schon einmal begegnet, als dieser im Vorjahr Spalierstangen für den Wein an die Abtei geliefert hatte. Auch der jüngere Mann erschien ihm bekannt, doch da die meisten Waldbewohner miteinander verwandt waren, verwunderte ihn das nicht weiter. Er blickte zu Puckle herunter und erkundigte sich freundlich, ob die Holzkohle wohl bald fertig sei.
»Noch ein Tag«, erwiderte der Köhler.
Adam stellte noch ein paar alltägliche Fragen, bevor er ein anderes Thema anschnitt, bei dem man bei den Waldbewohnern gewöhnlich auf reges Interesse stieß: das Umherziehen der Hirschrudel.
»Ich dachte, ich würde drüben bei Stag Brake auf ein paar Rothirsche treffen«, meinte er.
»Nein, zurzeit sind sie sicher in der Nähe von Hinchelsea.«
Adam nickte. Sein Blick wanderte zum Kohlenmeiler, wo sich der andere Mann verbarg. »Hast du nur diesen einen Gehilfen?«, wollte er wissen.
»Heute schon«, erwiderte Puckle. Und dann rief er ganz lässig: »Peter, komm her, mein Junge.« Neugierig sah Bruder Adam hin, als der junge Mann sich näherte.
Mit schüchtern gesenktem Kopf schlurfte er auf sie zu und blickte zu Boden. Sein Kiefer schien ein wenig herabzuhängen. Wirklich ein bedauernswerter Bursche, dachte Bruder Adam. Doch da er nicht unfreundlich wirken wollte, sagte er: »So, Peter, warst du schon einmal in Beaulieu?«
Der junge Mann zuckte zusammen und stammelte ein paar unverständliche Worte.
»Das ist mein Neffe«, erklärte Puckle. »Er spricht nicht viel.«
Bruder Adam betrachtete den zottigen Kopf des Burschen. »Wir heizen mit eurer Holzkohle unsere Kirche«, sagte er, um ihm die Scheu zu nehmen. Aber dann gingen ihm die Einfälle aus.
»Schon gut, mein Junge«, meinte Puckle leise und winkte den jungen Mann weg. »Offen gestanden«, vertraute er dem Mönch an, als sein vermeintlicher Neffe außer Hörweite war, »ist er ein bisschen langsam im Kopf.«
Als wolle er diese Tatsache bestätigen, drehte sich der junge Mann um, zeigte auf den Holzstoß und lallte mit schleppender Stimme: »Feuer.« Dann setzte er sich.
Adam blieb noch eine Weile bei dem Köhler und seinem Neffen und genoss die Ruhe des Waldes. Der riesige Kohlenmeiler bot einen seltsamen Anblick. Lautlos kräuselte sich Rauch aus den Öffnungen an seiner Seite wie aus dem Tartarus oder der Hölle selbst. Auf einmal kam Adam ein seltsamer Gedanke: Was, wenn Puckle, der hier in den Tiefen des New Forest lebte, der Türhüter der Hölle war? Unwillkürlich nahm er den Köhler jetzt näher in Augenschein.
Vorhin hatte er gar nicht bemerkt, was für eine merkwürdige Erscheinung Puckle war. Vielleicht lag es am Dämmerlicht oder an dem rötlichen Glühen der Holzscheite im Lagerfeuer, aber plötzlich erschien er ihm mit seiner verwachsenen Gestalt wie ein Gnom. Sein wettergegerbtes Gesicht, das wie aus Holz geschnitzt wirkte, hatte auf einmal einen geheimnisvollen Schimmer. War es etwa teuflisch? Adam schalt sich für seine Albernheit. Puckle war doch nur ein harmloser Bauer. Und dennoch hatte er etwas an sich, das Adam nicht einordnen konnte. Eine innere Wärme, die tief in ihm brannte und die Adam selbst offenbar nicht besaß. Schließlich nickte er, stieß seinem Pony die Fersen in die Seiten und ritt davon.
»Ach, du meine Güte«, lachte Luke, nachdem er fort war. »Ich habe schon geglaubt, der verschwindet gar nicht mehr.«
Er hätte einen anderen Weg nehmen sollen. Nachdem Bruder Adam die kleine Kirche in Brockenhurst hinter sich gelassen hatte, folgte er einem Pfad, der nach Süden durch den Wald führte und ihn an die stille Furt am Fluss brachte. Dort war es immer noch so einsam wie im Jahre 1100, als Walter Tyrrell vor seinen Häschern geflohen war. Auf der anderen Seite der Furt, wo der Pfad weiter durch den Wald verlief, hatten die Mönche ein großes Stück Land gerodet und bebaut.
Jenseits dieser Felder lag die Heide von Beaulieu unter einem wolkenlosen Himmel. Das war der Weg nach Osten zur Abtei, den Adam eigentlich hätte einschlagen müssen. Doch stattdessen wandte er sich nach Süden. Er sagte sich, dass es keinen Unterschied machte, obwohl das nicht der Wahrheit entsprach.
Er hielt sich am Waldesrand. Nach einer Weile zweigte ein Pfad nach rechts ab. Er wusste, dass dort unten auf einem finsteren Hügel, der das Flusstal überblickte, die alte Pfarrkirche von Boldre stand. Doch er ritt nicht in diese Richtung, sondern setzte seinen Weg nach Süden fort. Bald erreichte er einen kleinen Viehpferch, wo dreißig Kühe und ein Bulle weideten. Daneben standen ein paar Hütten: Pilley. Aber er würdigte das Dorf kaum eines Blickes.
Warum musste er wieder an die Frau denken? Die Bäuerin, die in der Scheune vor ihm gestanden hatte? Eigentlich gab es gar keinen Grund dafür. Gewiss lag es nur an seiner Langeweile. Er trabte noch anderthalb Kilometer weiter, bis er den Weiler erreichte, der Oakley hieß.
Schließlich konnte er auch von dort aus über die Heide zur Abtei reiten.
Die Dörfer im New Forest sahen einander ähnlich, Streusiedlungen ohne Ortskern am Ufer eines Flusses oder am Rand einer Heide. Kein Lehnsherr hatte ihnen eine überschaubare Form aufgezwungen. Überall dieselben strohgedeckten Katen und Häuser mit kleinen, aus Holz erbauten Scheunen, alles nur winzige Bauernhöfe, die davon kündeten, dass es sich bei diesen Dörfern um Gemeinschaften von Gleichen handelte, die schon seit jeher im New Forest lebten.
Von Osten nach Westen verlief ein Weg durch Oakley, der, wie überall im New Forest, aus Torfboden, Schlamm und Kieseln bestand. Adam wandte sich nicht nach Osten, sondern nach Westen und führte sein Pony am Zügel. Die ersten fünfhundert Meter sah er einige Hütten, doch dann ging der Hohlweg steil bergab ins Flusstal. Das letzte Gebäude am nördlichen Rand des Wegs war, wie er feststellte, ein Bauernhof mit einigen Nebengebäuden, zu denen auch eine kleine Scheune gehörte. Dahinter befanden sich eine Koppel, eine mit Stechginster bewachsene Wiese und der Wald.
Adam fragte sich, ob die Frau wohl dort lebte. Falls er sie sah, würde er stehen bleiben und sich höflich nach ihrem Mann erkundigen. Das war doch ganz harmlos. Also ließ er sich Zeit und wartete, ob jemand aus dem Haus kommen würde, aber nichts geschah. Nachdem er die übrigen Häuser betrachtet hatte, kehrte er um. Als er am Anfang des Weges einem Bauern begegnete, wollte er von ihm wissen, wer in dem Haus dort hinten wohnte.
»Tom Furzey, Bruder«, erwiderte der Mann.
Bruder Adam spürte, wie sich ihm der Magen zusammenkrampfte. Er nickte dem Bauern ruhig zu und blickte sich um. Hier lebte sie also. Am liebsten hätte er kehrtgemacht, aber ihm fehlte ein Vorwand. Er plauderte noch ein wenig mit dem Bauern und meinte, er sei noch nie in diesem Dorf gewesen. Da er keine Aufmerksamkeit erregen wollte, setzte er seinen Weg fort.
Am östlichen Ende des Weilers befand sich ein Dorfanger mit einem Teich. Das letzte Haus dort war ein wenig größer als die anderen. Ein Feld gehörte auch dazu. Adam wusste, dass der Besitzer John Pride hieß. Am Rande des Teiches, der mit weißen Wasserlilien bedeckt war, wuchsen eine verkrüppelte Eiche, eine kleine Esche und einige Weiden.
Der Weg führte an Prides Haus vorbei auf die Heide.
Bruder Adam ritt langsam weiter. An manchen Stellen war der Boden sumpfig. Ein wenig weiter im Norden wäre es trockener gewesen.
Er bedauerte, der Frau nicht begegnet zu sein.
Als er die Hälfte der Heide überquert hatte, sah er, wie fahles Sonnenlicht sich in den hellen Lehmwänden eines Schafspferchs brach. Jenseits davon lagen die Felder des Gutes Beufre.
Bald würde er die Abtei erreicht haben.
Acedia.
Tom Furzey war so mit sich zufrieden, dass er, wenn er allein war, vor lauter Freude Luftsprünge machte. Er wunderte sich wirklich, warum er nicht gleich daran gedacht hatte. Der Plan war schlau ausgeklügelt und würde endlich dafür sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Auch wenn Tom kein besonders schlauer Bursche war, reichte seine Vorstellungsgabe, um sich seinen Triumph in den schillerndsten Farben auszumalen.
Die Gelegenheit hatte sich aus heiterem Himmel geboten. John Prides Frau hatte einen Bruder, der nach Ringwood gezogen war und dort seine Hochzeit feiern wollte. Er hatte eine gute Partie gemacht, eine Metzgerstochter mit einer reichen Mitgift. Die ganze Familie Pride war eingeladen. Und was noch besser war: Sie würden in Ringwood übernachten. »Erst am nächsten Tag bei Morgengrauen sind sie wieder hier«, hatte Toms Schwester erzählt.
»Alle?«, fragte Tom.
»Bis auf den jungen John.« Das war John Prides ältester Sohn, der zwölf Jahre alt war. »Er soll das Vieh versorgen. Und das Pony.« Bei diesen Worten hatte sie ihm einen viel sagenden Blick zugeworfen.
»Das hat mich auf einen Gedanken gebracht«, meinte er später stolz zu ihr, als er ihr seinen Plan schilderte.
Sie wusste als Einzige Bescheid, denn er brauchte ihre Hilfe. Auch sie war von seinem Geistesblitz beeindruckt gewesen. »Ich finde, du hast dir alles gut überlegt, Tom«, sagte sie zu ihm.
Und wirklich waren die Prides an diesem Morgen in ihrem Wagen nach Ringwood aufgebrochen. Es war ein warmer, sonniger Tag. Tom ging wie immer seiner Arbeit nach und flickte um die Mittagszeit die Tür des Hühnerhauses. »Heute holen wir mein Pony zurück«, verkündete er Mary dann am späten Nachmittag.
Er hatte sich schon auf ihre Antwort gefreut, und er wurde nicht enttäuscht.
»Das geht nicht, Tom. Man wird dich erwischen.«
»Es klappt schon.«
»Aber John wird…«
»Er kann überhaupt nichts dagegen tun.«
»Er wird dir böse sein, Tom…«
»Wirklich? Soweit ich mich erinnere, war ich auch ziemlich wütend auf ihn.« Er hielt inne und wartete, bis sie diese Eröffnung verdaut hatte. Das Beste sollte nämlich erst noch kommen. »Und weißt du was?«, fügte er selbstzufrieden hinzu. »Du wirst es holen.«
»Nein!« Mary war entsetzt. »Er ist mein Bruder, Tom.«
»Es gehört zu meinem Plan und ist gewissermaßen die Krönung.« Wieder machte er eine Pause, bevor er ihr den letzten Stoß versetzte. »Du musst noch etwas anderes für mich erledigen.« Er schilderte ihr den Rest seines Vorhabens.
Als er fertig war, starrte sie zu Boden. Natürlich konnte sie sich weigern, aber dann würde er ihr das Leben zur Hölle machen. Und es nützte auch nichts, dass sie ihn anflehte und ihm sagte, welche Demütigung es für sie bedeutete. Ihm war das einerlei. Denn er war fest dazu entschlossen, sich an ihnen allen schadlos zu halten. Mary fragte sich, was wohl aus ihr werden würde, wenn die Sache vorbei war. Er wird sich gebärden wie der Gockel auf dem Mist, dachte sie. Aber er liebt mich gar nicht von Herzen, und dieser Beweis seiner mangelnden Gefühle war der Grund, warum sie den Kopf hängen ließ. Sie würde um des Familienfriedens willen klein beigeben. Doch von nun an würde sie ihn verachten. Das war ihre Rache.
»Es wird klappen«, meinte sie leise.
Als die Sonne unterging, war der junge John Pride sehr mit sich zufrieden. Natürlich hatte er schon tausendmal die Hühner und Schweine gefüttert, den Kuhstall ausgemistet und auch sonst alle anfallenden Arbeiten erledigt. Doch noch nie zuvor hatte man ihm für einen ganzen Tag die volle Verantwortung übertragen, weshalb er verständlicherweise aufgeregt gewesen war. Nun musste er nur noch das Pony vom Feld holen.
Er hatte gut auf das Pony aufgepasst, wie sein Vater es ihm aufgetragen hatte. Den ganzen Tag lang hatte er es nicht aus den Augen gelassen. Und um wirklich sicherzugehen, wollte er in dieser Nacht im Stall schlafen.
Da hallte ein Kinderschrei aus nächster Nähe durch die Abendluft. Tom Furzeys Schwester wohnte gleich auf der anderen Seite des Dorfangers. Seit dem Streit um das Pony wechselten sie und John Pride kaum noch ein Wort miteinander, doch die Kinder spielten an den meisten Tagen zusammen. Daran konnte der Zwist der Erwachsenen auch nichts ändern. Offenbar hatte Harry geschrien, ein Junge in Johns Alter.
»Hilfe!«
John rannte vom Hof und über den Dorfanger und umrundete den Teich, wo sich ihm ein erschreckender Anblick bot. Harrys Mutter lag bäuchlings auf dem Boden. Anscheinend war sie am Tor ausgerutscht und hatte sich den Kopf an einem Pfosten angeschlagen. Sie regte sich nicht. Harry versuchte vergeblich, sie aufzuheben. Gleichzeitig mit John erreichten auch ihr Mann und Tom Furzey den Unglücksort. Die Kinder kamen ebenfalls aus dem Haus gelaufen.
Tom bemühte sich aufopferungsvoll um seine Schwester, fühlte ihr am Hals den Puls, drehte sie herum und untersuchte sie. »Sie ist nicht tot. Wahrscheinlich hat sie sich nur am Kopf verletzt. Ihr Jungen« – er nickte John rasch zu – »nehmt ihre Beine.« Nachdem er und sein Schwager je einen Arm gepackt hatten, trugen sie die Frau ins Haus. »Ihr verschwindet jetzt«, wies Tom die Kinder an und tätschelte seiner Schwester sanft die Wange.
John wartete noch ein paar Minuten. Ein weiterer Nachbar tauchte auf. Doch das Haus der Prides lag verlassen da.
Kurz darauf trat Tom lächelnd aus dem Haus. »Sie kommt wieder zu sich. Kein Grund zur Sorge.« Mit diesen Worten ging er wieder hinein.
Nach einer Weile beschloss John, dass er nun auch nach Hause gehen konnte. Er marschierte um den Teich herum und über den kleinen Hof. Als er in den Pferch blickte, konnte er das Pony nirgendwo entdecken. Stirnrunzelnd sah er noch einmal hin. Und dann traf den jungen John Pride zu seinem Entsetzen die schreckliche Erkenntnis: Der Pferch war leer. Das Pony war fort.
Doch wie konnte es entkommen sein? Das Tor war geschlossen. Ein Erdwall und ein Zaun verliefen um das Feld, und das Tier hätte sie unmöglich überspringen können. John stürzte zum Schuppen: nichts. Kopflos suchte er den Dorfanger ab. Unterwegs begegnete er Harry, der ihn fragte, was geschehen sei. »Das Pony ist weg!«, rief John.
»Hier war es nicht«, erwiderte der Junge. »Ich helfe dir suchen.« Zusammen rannten sie zum Haus der Prides zurück. »Schauen wir auf der Heide nach«, schlug er vor. Also machten sie sich auf den Weg zur Heide von Beaulieu.
Inzwischen ging die Sonne unter. Das Heidekraut schimmerte rötlich, und die Ginsterbüsche warfen dunkle Schatten. Hie und da konnten sie einige Ponys entdecken. Der junge Pride war verzweifelt.
Dann versetzte ihm sein Freund einen Rippenstoß und zeigte mit dem Finger auf ein Tier. »Schau!« Es war das Pony, da war John ganz sicher. Es stand an einer Ginsterböschung, fast einen Kilometer entfernt. Die beiden Jungen rannten darauf zu. Doch das Tier schien sie gesehen zu haben, preschte los und verschwand hinter einer Bodenwelle.
Harry blieb stehen. »So kriegen wir es nie«, keuchte er. »Wir reiten ihm besser nach. Du nimmst mein Pony und ich das von meinem Vater. Komm.«
Sie eilten zurück. Der junge Pride war so aufgebracht, dass er sich nicht einmal die Zeit nahm, das Tier zu satteln. Und kurz darauf galoppierten die beiden Jungen im roten Schein der untergehenden Sonne davon.
»Wahrscheinlich werden sie die ganze Nacht unterwegs sein«, kicherte Tom.
Sein ausgeklügelter Plan war aufgegangen.
Kurz nach Dunkelwerden führte Mary das Pony durch den Wald hinter dem Haus, und Tom sperrte es in die kleine Scheune. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, betrachteten sie das Tier im Licht einer Lampe. Es war sogar noch hübscher, als Tom es in Erinnerung hatte. Und obwohl Mary schwieg, merkte er ihr an, dass sie dasselbe dachte. Erst spät in der Nacht verließen sie die Scheune und verriegelten hinter sich die Tür.
Als Tom erwachte, war der Tag bereits angebrochen. Die Sonne stand schon über dem Horizont. Er sprang auf. »Füttere das Pony«, flüsterte er. »Ich gebe dir Bescheid, wenn du kommen sollst.« Dann stürmte er aus dem Haus und lief den Pfad entlang zu John Pride. Er freute sich schon auf das Gesicht, das sein Schwager machen würde, wenn er nach Hause kam.
Der arme junge John saß mit Harry am Rand des Dorfangers und sah bleich und elend aus. Harry, der John auf Anweisung seines Onkels nicht aus den Augen gelassen hatte, berichtete, sie seien die ganze Nacht unterwegs gewesen. Nun würde John seinem Vater beichten müssen, dass das Pony durch seine Schuld davongelaufen war.
Tom hatte sogar ein wenig Mitleid mit dem Jungen. Schon versammelten sich die ersten Neugierigen. Toms Schwester, die taktvollerweise einen Verband um den Kopf trug, ein paar andere Dorfbewohner und viele Kinder, die alle gespannt auf die Rückkehr der Prides warteten. Tom wusste genau, was er sagen würde.
»Ist dir das Pony entwischt, John? Wie hat es das bloß geschafft?« Er selbst war schließlich mit dem jungen Pride zusammen gewesen, als es geschah. Der Sohn seiner Schwester hatte John das Pony auf der Heide gezeigt. »Es wird jetzt wohl irgendwo im Wald sein.« So würde seine nächste Bemerkung zu John Pride lauten. »Du solltest es besser suchen, John. Aber du hast ja ein Händchen dafür, Ponys zu finden.«
Doch das Beste kam erst noch. Sobald Pride auftauchte, sollte Harry loslaufen und Mary holen. Und dann würde Mary den Pfad hinaufkommen und rufen: »Oh, Tom, rate mal, was passiert ist. Ich habe gerade unser Pony entdeckt, wie es auf der Heide herumirrte.«
»Bring es besser in die Scheune, Mary«, würde er antworten.
»Das habe ich schon getan, Tom.«
Und was würde John Pride bei diesen Worten seiner Schwester tun? Was wollte er jetzt noch dagegen unternehmen?
»Ach, tut mir Leid, John«, würde Tom dann sagen. »Wahrscheinlich hatte es Heimweh.«
Das würde der schönste Augenblick seines Lebens sein.
Die Minuten vergingen. Die Nachbarn plauderten leise. Dicht über den Wipfeln der Bäume hing eine wässrig gelbe Sonne. Auf dem Boden lag immer noch Tau.
»Sie kommen!«, rief ein Kind. Da nickte Tom dem jungen Harry fast unmerklich zu, worauf dieser sich auf den Weg machte.
Nachdem Mary in die kleine Scheune gegangen war, um das Pony zu füttern, stand sie eine Weile reglos da. Zuerst hatte sie sich vor Erstaunen nicht vom Fleck rühren können und schließlich verdattert die Stirn gerunzelt. Dann blickte sie zum Heuboden hinauf, wo sie im Winter so viele glückliche Stunden mit Luke verbracht hatte, und nickte.
Das musste es sein, ganz sicher, denn eine andere Erklärung gab es nicht. »Bist du da?«, flüsterte sie, doch sie erhielt nur ein Schweigen zur Antwort. Sie seufzte. »Du findest das wohl sehr komisch«, murmelte sie. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Sie ging nach draußen, trat an den Zaun und spähte über die Heide zum Wald hinüber. Fast rechnete sie mit einem Zeichen, aber nichts regte sich. Selbst das Pony hatte sie für einen Moment vergessen, als sie traumverloren in die Ferne sah.
Offenbar wollte er ihr mitteilen, dass er in der Nähe war und über sie wachte. Ein freudiges Gefühl ergriff sie. Im nächsten Moment schüttelte sie den Kopf. »Was hast du jetzt bloß wieder angestellt, Luke?«, flüsterte sie.
In diesem Augenblick erschien der junge Harry.
Alles klappte wie am Schnürchen. Tom kicherte vor Freude und Aufregung in sich hinein. Er hatte sein Sprüchlein aufgesagt, und John Pride betrachtete seinen Sohn, der den Tränen nah war, mit finsterer Miene. Das ganze Dorf amüsierte sich königlich, während die Prides verlegen aus ihrem Wagen stiegen.
»Am besten siehst du nach, ob noch ein Tier fehlt!«, rief Tom. »Vielleicht haben sie sich ja alle aus dem Staub gemacht.« Dieser Satz war ihm eben erst eingefallen. Und er war so mit sich selbst und den Lachern, die er dafür erntete, zufrieden, dass er noch eins draufsetzte: »Könnte es möglicherweise sein, dass es deinem Vieh bei dir nicht gefällt, John? Ob die Biester wohl dein Gesicht nicht mehr sehen können?«
Nun bogen sich alle vor Lachen. Tom blickte den Pfad entlang.
Mary musste jeden Augenblick hier sein. Die letzte Überraschung. Der endgültige Triumph. Warum beeilte sie sich nicht ein bisschen, solange noch genügend Zuschauer da waren?
Eine von Prides kleinen Töchtern war zum Kuhstall gelaufen, um selbst nachzusehen. Nun kam sie mit erstaunter Miene zurück. Sie zupfte Pride am Wams und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Tom bemerkte, dass Pride die Stirn runzelte und selbst zum Kuhstall ging. Was für ein Spaß! Nun war Pride wieder da und blickte Tom unverwandt an. »Ich weiß nicht, was du willst, Tom Furzey«, rief er. »Das Pony steht im Stall.«
Es war totenstill. Toms Augen weiteten sich vor Entsetzen. Pride, der sich inzwischen von seinem Schrecken erholt hatte, zuckte verächtlich die Achseln. Tom stand immer noch da wie vom Donner gerührt. Das war doch unmöglich.
Er konnte nicht mehr an sich halten und stürzte an Pride vorbei quer über den Hof zum Kuhstall. Er spähte hinein. Das Pony stand angebunden an seinem Platz. Ein Blick genügte, und er hatte Gewissheit: Das Tier war nicht zu verwechseln. Kurz spielte er mit dem Gedanken, nach dem Seil zu greifen und es einfach mitzunehmen. Doch das war aussichtslos. Außerdem ging es inzwischen längst nicht mehr um das Pony. Er machte kehrt und eilte wieder nach draußen.
»Ach, Tom, stimmt etwas nicht?« Nun machten sich alle über ihn lustig. Die kleine Zuschauermenge hatte einen Heidenspaß, und ein Schmähruf jagte den nächsten:
»Offenbar ist es wieder nach Hause gelaufen und hat sich selbst in den Stall gesperrt, Tom.«
»Wo hast du es denn vermutet?«
»Bestimmt hast du dir große Sorgen gemacht.«
»Aber Kopf hoch, Tom, das Pony ist jetzt gut aufgehoben.«
Nur John Pride betrachtete ihn zweifelnd. Offensichtlich wusste er immer noch nicht, was er von der Sache halten sollte.
Tom ließ die anderen stehen und stolzierte davon, ohne Pride oder selbst seine Schwester auch nur eines Blickes zu würdigen. Er marschierte am Teich vorbei und den Weg entlang.
Wie konnte so etwas geschehen? Das durfte doch nicht wahr sein! Hatte jemand Pride einen Wink gegeben? Nein, dazu hatte die Zeit nicht gereicht. Außerdem hatte man Pride deutlich angemerkt, dass er ebenso überrascht gewesen war wie er. Hatte sein Sohn den Braten gerochen und das Pony zurückgeholt? Auch das kam nicht in Frage, denn Harry hatte ihn die ganze Nacht lang im Auge behalten. Wer wusste sonst noch Bescheid? Seine Schwester und ihre Familie. War einer von ihnen unvorsichtig gewesen? Tom bezweifelte es. Außerdem konnte er sich nicht vorstellen, dass jemand im Dorf John Pride einen Gefallen erweisen würde.
Mary. Sie war die einzige Schwachstelle. Hatte sie sich nachts aus dem Haus geschlichen, während er schlief? Oder jemand anderen damit beauftragt? Das glaubte er nicht. Aber andererseits hatte sie sein Verhalten wegen des Ponys ja von Anfang an nicht gebilligt.
Er tappte im Dunkeln. Und wahrscheinlich würde das auch so bleiben. Eines stand jedenfalls fest: Er hatte sich heute zum Narren gemacht und war in der Achtung der Dorfbewohner noch tiefer gesunken. Ganz gleich, was ich auch unternehme, dachte er, ich mache es damit nur schlimmer.
Als er zurückkam, stand sie allein im Hof und blickte ihm wortlos entgegen. Aber die Schuld stand ihr ins Gesicht geschrieben. Nun, wenn sie es so darauf anlegte, sollte sie ihre gerechte Strafe kriegen.
Deshalb schwieg auch er, als er auf sie zuging. Worte waren hier überflüssig. Stattdessen holte er mit der offenen Hand aus und schlug sie so fest er konnte ins Gesicht. Sie stürzte zu Boden.
Er hatte nicht das geringste Mitleid mit ihr.
Erntezeit. Lange Sommertage. Endlose Reihen von Männern in Kitteln, die langsam große Sicheln schwangen und sich Schritt für Schritt über die goldenen Felder voranarbeiteten. Dahinter folgten Laienbrüder in weißen Kutten und schwarzen Schürzen, ebenfalls mit Sicheln und Sensen ausgerüstet. Dichter Staub schwebte in der Luft. Feldmäuse und anderes Kleingetier flohen hastig in die Hecken am Rain, wo ein Summen laut wurde. Überall wimmelte es von Fliegenschwärmen.
Der wolkenlose Himmel war leuchtend blau, und die Sonne verbreitete eine drückende Hitze. Langsam ging der Vollmond auf.
Bruder Adam saß reglos auf seinem Pferd. Er war gerade von Beufre nach St. Leonards geritten. Später wollte er den Weg über die Heide zu den Feldern oberhalb der kleinen Furt nehmen, denn seine Aufgabe war es, die Arbeiten zu überwachen.
Vor einer Woche war der Abt zurückgekehrt, doch nur, um sogleich wieder abzureisen, diesmal nach London. Zuvor hatte er Adam genaue Anweisungen erteilt: »Besonders zur Erntezeit musst du wachsam sein, Adam, da wir dann die meisten Tagelöhner beschäftigen. Achte darauf, dass sie nicht trinken oder raufen.«
Ein Karren wurde von einem großen Kaltblüter den Weg hinaufgezogen. Er brachte Brotlaibe aus der Klosterbäckerei und ein paar Fässer Bier.
»Sie erhalten nur Wilkin le Naket«, lautete der strenge Befehl des Abts. Das war das schwächste unter den verschiedenen Biersorten, die in der Abtei gebraut wurden. Es stillte zwar den Durst, machte die Arbeiter aber nicht betrunken oder schläfrig. Adam blickte zur Sonne empor. Wenn der Wagen da war, würde er den Männern eine Pause gönnen. Dann sah er in die andere Richtung zur Heide hinüber. Der Weizen auf dem nächsten Feld war schon am Vortag abgeerntet worden.
Und dann bemerkte er Mary, die sich auf dem Stoppelfeld näherte.
Mary ließ sich Zeit. Sie wollte Tom nämlich überraschen, und dazu hatte sie einen kleinen Korb mit selbst gepflückten Walderdbeeren mitgebracht.
Was blieb einer Frau auch anderes übrig, die gezwungen war, bei ihrem Mann zu bleiben? Wenn es kein Entrinnen gab? Wenn sie Kinder mit ihm hatte? Wie sollte sie das Leben auf einem Bauernhof, in einer Ehe ertragen, die vorbei war und dennoch aufrecht erhalten werden musste?
Schon vor langer Zeit war ihre Liebe erkaltet. Und obwohl Mary nichts mehr für Tom empfand, war ihr das ständige Schweigen unerträglich. Also wollte sie ihre Ehe retten. Mit kleinen Geschenken und Liebesbeweisen und ein wenig Mühe. Wenn er darauf einging, würde es ihr vielleicht gelingen, alte Gefühle zu neuem Leben zu erwecken. Oder das Zusammenleben wenigstens etwas angenehmer zu gestalten.
Das Pony wurde mit keinem Wort erwähnt. Tom wollte nicht mehr daran denken, vermutlich hatte er auch kein Interesse mehr daran, es zurückzubekommen. Hin und wieder besuchte Mary ihren Bruder unter einem Vorwand: »Ich muss nur rasch etwas bei ihm abgeben.« Tom hatte nichts dazu gesagt. Sie war nie lang geblieben und plante, ihre Besuche mit der Zeit ein wenig auszudehnen. Von Luke hatte sie nichts mehr gesehen oder gehört. Ein- oder zweimal hatte Tom von ihm gesprochen. Vielleicht vermutete er, dass sich sein Schwager irgendwo im New Forest versteckte. Doch es war schwer zu sagen, was in ihm vorging.
Oberflächlich betrachtet wirkte ihre Ehe recht harmonisch. Aber sie waren sich seit dem Vorfall im Mai nicht mehr nahe gekommen. Tom verhielt sich ruhig und kühl – oder er ging ihr aus dem Weg, was auf dasselbe hinauslief. Als die Erntezeit anbrach, und die Tagelöhner oft auf den Gütern oder auf den Feldern übernachteten, schien er sich über diese Gelegenheit zu freuen und unternahm keine Anstalten, nachts nach Hause zu kommen.
Mary erreichte das Feld, als Bruder Adam den Männern gerade die Anweisung gab, eine Pause einzulegen.
Tom war erstaunt, Mary zu sehen. Er wirkte sogar ein wenig verlegen, als sie sich näherte und ihm den Korb mit den Worten reichte: »Die habe ich für dich gepflückt.«
»Oh.« Offenbar wollte er seine Gefühle in Gegenwart der anderen nicht zeigen. Also griff er nach seiner Sichel und begann, sie mit einem kleinen Wetzstein zu schärfen.
Inzwischen strömten die Männer auf den Wagen zu, wo ein Laienbruder das Bier verteilte. Tom hatte seinen eigenen Holzkrug an einer Schnur am Gürtel hängen. Mary nahm ihn, holte ihm Bier und sah schweigend zu, wie er trank.
»Du hattest einen weiten Weg«, meinte er schließlich.
»Das ist nicht weiter schlimm«, erwiderte sie. »Den Kindern geht es gut«, fügte sie hinzu. »Sie freuen sich schon darauf, dass du zurückkommst.«
»Das tun sie bestimmt.«
»Ich freue mich auch darauf.«
Er trank einen Schluck Bier und murmelte: »Gewiss.« Dann wandte er sich wieder dem Schleifen seiner Sichel zu.
Inzwischen gesellten sich die anderen Männer zu ihnen, nickten Mary zur Begrüßung zu und begutachteten den Korb. »Das ist aber nett«, meinten sie. »Deine Frau hat schöne Erdbeeren mitgebracht, Tom. Teilst du sie mit uns?« Die Arbeiter waren guter Laune. Tom, der immer noch nicht wusste, was er davon zu halten hatte, beschränkte sich auf ein ausweichendes »vielleicht«. Mary genoss die ausgelassene Stimmung, denn sie sehnte sich danach, endlich wieder einmal zu lachen.
»Die Prides kümmern sich wirklich gut um dich«, meinte der Wortführer. »Tom kriegt Erdbeeren, und wir anderen gehen leer aus.«
Mary, die sich über dieses Lob freute, lächelte Tom zu.
»Wahrscheinlich bekommt Tom sowieso alles, was er will, was?«, spöttelte einer vom Rand der Gruppe. Obwohl diese Bemerkung ein wenig anzüglich war und nicht mehr der Wahrheit entsprach, lachte Mary wieder, während Tom leicht beschämt zu Boden blickte.
Doch ein junger Bursche, der ebenfalls ein wenig abseits stand, konnte seine böse Zunge nicht im Zaum halten und rief mit schriller Stimme: »Wenn du ihren Bruder geheiratet hättest, Tom, hättest du jetzt auch noch ein Pony!«
Und wieder lachte Mary, und zwar, weil alle anderen lachten und weil sie keine Spielverderberin sein wollte. Außerdem hatte sie gar nicht richtig zugehört. Doch schon im nächsten Moment begriff sie, was der Mann gesagt hatte, und als sie Toms Gesicht sah, verstummte sie schlagartig. Zu spät.
Denn Tom hatte die Situation ganz anders verstanden und glaubte, dass sie ihn verspottete. Und er deutete ihr Geschenk so, wie es eigentlich auch gedacht gewesen war – als gäbe man einem Pony einen Apfel, damit es nicht störrisch wurde. Die Prides waren doch alle gleich. Sie dachten, sie könnten ihn aufs Glatteis führen, und hielten ihn für zu dumm, das zu bemerken. Nicht einmal in der Öffentlichkeit kannten sie Scham und machten einen zum Narren. Tom sah nur, dass seine Frau über ihn lachte und dann innehielt, als dächte sie: Ach, du meine Güte, es ist ihm aufgefallen. Das war in seinen Augen die größte Beleidigung. Die Wut, die sich den ganzen Frühling und Sommer lang in ihm aufgestaut hatte, brach sich nun Bahn.
Sein rundes Gesicht lief puterrot an. Er stieß mit dem Fuß gegen den Korb, sodass die winzigen, roten Erdbeeren über das Stoppelfeld kullerten. »Verschwinde!«, fuhr er Mary an. Dann schlug er sie mit dem Handrücken ins Gesicht. »Los, weg mit dir!«, brüllte er sie an.
Mary rang nach Luft, wandte sich ab und lief davon. Sie hörte, dass einige Männer murrten und Tom zurechtwiesen. Aber sie hatte keine Lust, sich umzudrehen. Es war weniger die Ohrfeige, die sie erschreckt hatte, dafür hätte sie sogar noch Verständnis gehabt, als vielmehr sein eiskalter verächtlicher Ton. Offenbar war sie ihm inzwischen völlig gleichgültig.
Bruder Adam hatte die Szene aus einiger Entfernung beobachtet. Da er so etwas nicht durchgehen lassen durfte, ging er zu den Männern hinüber und sprach Furzey in strengem Ton an: »Du befindest dich auf Klostergrund. Und ein derartiges Betragen wird hier nicht geduldet. Außerdem solltest du deine Frau nicht so behandeln.«
»Oh?« Tom sah ihn trotzig an. »Ihr hattet nie eine Frau, Bruder, was wisst Ihr schon davon?«
»Nimm dich zusammen«, entgegnete Adam und wandte sich ab.
Tom konnte seine Wut nicht mehr im Zaum halten. »Ich kann mit Euch reden, wie es mir passt. Und steckt Eure Nase nicht in Dinge, die Euch nichts angehen!«, tobte er.
Bruder Adam blieb stehen. Er wusste, dass er so ein Verhalten nicht unwidersprochen hinnehmen durfte. Fast hätte er sich umgedreht und Furzey vom Feld gejagt, als ihm die Frau einfiel. Zum Glück befand sich der Aufsicht führende Laienbruder in der Nähe. »Kümmere dich nicht um ihn«, sagte Adam ruhig zu ihm. »Es wäre nicht gut, wenn er in diesem Zustand seiner Frau nachläuft.« Diese Worte sprach er so laut aus, dass die anderen Tagelöhner sie gut hören konnten. Natürlich musste Furzey bestraft werden, aber nicht jetzt.
Dann stieg Bruder Adam auf sein Pferd und ritt los. Es war Zeit, die Felder auf der anderen Seite der Heide zu inspizieren.
Da er zuvor noch einige Worte mit den Schäfern unweit von Bergerie wechseln musste, holte er Mary erst auf der Heide ein. Er wusste selbst nicht genau, ob er gehofft hatte, ihr zu begegnen.
Er zögerte und blickte ihr nach, wie sie durch das Heidekraut stapfte. Als er sah, dass sie fast gestolpert wäre, trieb er sein Pferd an.
Offenbar hatte sie ihn gehört, denn sie drehte sich um. Er bemerkte einen roten Striemen auf ihrem Gesicht und auch, dass sie geweint hatte. Sie hatte immer noch einen viereinhalb Kilometer weiten Fußmarsch über unebenen Boden vor sich.
»Komm.« Er streckte ihr den Arm entgegen. »Dein Dorf liegt auf meinem Weg.« Sie widersprach nicht und war über die Körperkraft des Mönches erstaunt, als dieser sie mühelos hochhob und sie rittlings vor sich auf den Rücken des großen Pferdes setzte.
Langsam ritten sie über die Heide und wichen den moorigen Stellen aus. Zu ihrer Rechten sahen sie in der Ferne eine Herde Schafe über die Wiesen ziehen.
Die Sonne brannte heiß auf sie herunter, das Heidekraut schimmerte violett, und sein süßer Duft stieg einem zu Kopf wie der von Geißblatt. Der Vollmond hing silbrig fahl am azurblauen Himmel.
Sie sprachen kein Wort. Bruder Adam hatte die Arme um sie gelegt, um die Zügel halten zu können. Erst als sie nach dem kleinen Bach Crockford einen Abhang hinaufritten, fragte sie: »Wollt Ihr zu den Feldern oberhalb der Furt?«
»Ja, aber ich kann dich zuerst ins Dorf bringen.« Das war nur ein Umweg von etwa anderthalb Kilometern.
»Ich würde lieber von den Feldern aus zu Fuß gehen. Es gibt eine Abkürzung durch den Wald. Ich möchte nicht, dass das ganze Dorf mein Gesicht sieht.«
»Was ist mit deinen Kindern?«
»Sie sind bei meinem Bruder. Ich werde sie am Abend abholen.«
Bruder Adam schwieg. Vor ihnen lag eine Heide. Hinter den Bäumen, ein Stück weiter, befand sich die Siedlung Pilley. Kein Mensch war zu sehen, nur ein paar Rinder und Ponys, die sich wie winzige braune Punkte vom violetten Heidekraut abhoben.
Er schwitzte und bemerkte auch in Marys Nacken und an ihren Schultern kleine Schweißtropfen. Der salzige Geruch ihrer Haut stieg ihm in die Nase, erinnerte ihn an Weizen und warmes Schuhleder. Er betrachtete ihren dunklen Haaransatz und die helle Haut ihres Halses. Ihre Brüste, nicht groß, aber voll, hingen nur wenige Zentimeter über seinen Handgelenken und berührten sie fast. Beim Reiten war ihr der Rock nach oben gerutscht, sodass ihre Beine, die kräftigen, aber wohlgeformten Beine einer Bäuerin, bis zu den Knien freilagen.
Und auf einmal überkam es ihn mit einer Macht, wie er sie noch nie zuvor empfunden hatte. Furzey, dieser dumme Bauer, durfte diese Frau in den Armen halten, so oft es ihn gelüstete. Natürlich war sich Adam dieser offensichtlichen Tatsache immer bewusst gewesen. Aber zum ersten Mal in seinem Leben traf ihn diese Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Mein Gott, hätte er am liebsten aufgeschrien. Das ist die Wirklichkeit, die Welt der einfachen Leute. Und ich habe sie nie kennen gelernt. Habe ich das Leben verpasst? Alles versäumt? Gibt es im Universum auch noch eine andere Stimme, die so warm und blendend ist wie die Sonne? Eine Stimme, die widerhallt und durch meine Adern pulst und die ich in den sternenklaren Nächten im Kloster nie vernommen habe? Und ganz plötzlich verspürte er Neid auf Furzey und auf die ganze Menschheit. Alle wissen es, dachte er, nur ich bin ahnungslos.
Immer noch wortlos erreichten sie eine Baumgruppe, die wie ein Arm in die Heide hineinragte. Weit und breit war niemand zu sehen, und es war still wie in einer Kirche.
Hin und wieder erblickte er jenseits der Felder das strohgedeckte Dach einer Hütte, das in der Sonne golden leuchtete. Als sie weiter nach Süden ritten, führte der Pfad tiefer in den Wald hinein und verlief am Rand einer Böschung entlang, die bis zum Fluss reichte. Sie hatten schon ein Stück Wegs zurückgelegt und das Dorf umrundet, als sie nach links zeigte. Adam verließ den Pfad und ritt auf seinem großen Pferd zwischen den Bäumen hindurch.
Nach einer Weile nickte sie. »Hier.«
Nun bemerkte er, dass nur zwanzig Schritte hinter den Bäumen Ginsterbüsche wuchsen. Noch ein Stück weiter befand sich eine kleine Koppel. Er stieg ab und hob sie vorsichtig vom Pferd.
Sie wandte sich um. »Sicher schwitzt Ihr«, sagte sie. »Ich gebe Euch etwas zu trinken.«
Er zögerte, bevor er antwortete. »Danke.« Dann band er sein Pferd an und folgte ihr. Er war neugierig auf das Haus, in dem sie ihre Tage verbrachte.
Von der Nachbarhütte aus waren sie nicht zu sehen, als sie die Koppel überquerten. Ein Tor führte in einen kleinen Hof. Links davon stand das Haus, rechts die Scheune. Daneben befand sich ein Haufen geschnittener Farnwedel, der an einen winzigen Heuhaufen erinnerte. Mary verschwand kurz in der Kate und kehrte mit einem hölzernen Becher und einem Wasserkrug zurück. Dann füllte sie den Becher, stellte den Krug auf den Boden und ging wortlos wieder ins Haus.
Bruder Adam trank und schenkte noch einmal nach. Das Wasser war köstlich kühl. Es stammte aus einem der Bäche des New Forest und hatte deshalb einen frischen, scharfen Geschmack nach Farn. Mary ließ sich eine Weile nicht blicken, doch da Adam es für unhöflich hielt, ohne Dank zu verschwinden, wartete er.
Als sie zurückkam, bemerkte er, dass sie sich das Gesicht gewaschen hatte. Unter der Wirkung des kalten Wassers war die Rötung bereits ein wenig abgeklungen. Auch das Haar hatte sie sich gekämmt. Und ihr Mieder war ein wenig heruntergerutscht, sodass der Ansatz ihrer Brüste freilag. Wahrscheinlich war das versehentlich beim Waschen geschehen.
»Hoffentlich fühlst du dich jetzt etwas besser«, sagte er.
»Ja.«
Adam hatte den Eindruck, dass ihre blauen Augen ihn nachdenklich musterten. Dann lächelte sie. »Ihr müsst Euch meine Tiere ansehen«, meinte sie. »Ich bin sehr stolz auf sie.«
Also folgte er ihr, so höflich wie ein Ritter einer Lady, und ließ sich in ihrem Reich herumführen.
Sie nahm sich Zeit. Zuerst fütterte sie die Hühner und sagte ihm, wie jedes Einzelne von ihnen hieß. Dann waren die Schweine an der Reihe. Die Katze hatte vor kurzem Junge bekommen, die Adam gehorsam bewunderte.
Er hatte Hochachtung vor seiner Gastgeberin, die sich so rasch wieder gefasst hatte. Ein spöttisches Lächeln auf den Lippen, nannte sie ihm die Namen der Hühner – einige davon waren wirklich komisch: Er fragte sie, ob sie sie selbst erfunden hatte.
»Ja.« Sie sah ihn belustigt an. »Mein Mann arbeitet auf dem Feld, ich gebe den Hühnern Namen.« Sie zuckte die Achseln, und ihm fiel die Szene auf dem Feld wieder ein, deren Zeuge er geworden war. »Das ist nun einmal mein Leben«, fügte sie hinzu.
Er bewunderte sie nicht nur, er hatte sie auch gern, und er hätte sie gerne beschützt. Er folgte ihr weiter und beobachtete jeden ihrer Handgriffe. Wie anmutig sie sich bewegte. Das hatte er bis jetzt gar nicht bemerkt. Trotz ihres kräftigen Körperbaus war sie sehr leichtfüßig und hatte einen hübschen, schwingenden Gang. Wenn sie sich bückte, um ihre Tiere zu versorgen, sah er ihre wohlgerundeten Schenkel und ihre kurvenreiche Figur. Und als sie sich aufrichtete und auf die Zehenspitzen stellte, um einen Apfel vom Baum zu pflücken, erkannte er im Sonnenlicht, dass sie vollkommen geformte Brüste hatte.
Die Nachmittagssonne wärmte ihn. Der zarte Duft von Geißblatt mischte sich mit den Gerüchen des Hofes. Obwohl es ihm seltsam erschien, kam ihm in ihrer Gegenwart alles – die Tiere, der Apfelbaum und sogar der blaue Himmel über ihm – plötzlich viel wirklicher vor; echter, als er es je für möglich gehalten hätte.
»Komm«, meinte sie. »Ich muss noch jemanden besuchen. In der Scheune.« Und sie ging an dem Haufen vorbei, aus dem der Duft von Farnkraut aufstieg.
Er folgte ihr, doch am Scheunentor blieb sie auf einmal stehen und sah ihn an. »Wahrscheinlich langweilt Euch das fürchterlich.«
»Nein«, meinte er erschrocken. »Überhaupt nicht.«
»Nun.« Sie lächelte. »Ein Bauernhof kann doch nicht sehr interessant für Euch sein.«
»Als Kind«, entgegnete er, »habe ich auf einem Bauernhof gelebt. Eine Weile wenigstens.« Das entsprach der Wahrheit. Sein Vater war zwar Kaufmann gewesen, doch sein Onkel hatte einen Bauernhof besessen, und Adam hatte einige Jahre dort verbracht.
»Aber, aber«, schmunzelte sie. »Ein Bauernjunge. Es war einmal…« Sie lachte leise auf. »Das muss aber schon sehr lange her sein.«
Dann berührte sie sanft seine Wange. »Kommt«, sagte sie.
Wann hatte der Gedanke bei ihr Gestalt angenommen? Mary war nicht ganz sicher. War es draußen auf der Heide gewesen, als der gut aussehende Mönch sie gerettet hatte wie ein Ritter eine Dame in Not? Lag es an der Art, wie er seine starken Arme um sie gelegt hatte?
Ja. Vielleicht war es da geschehen. Und wenn nicht… Dann eben, als sie die Abkürzung durch den Wald genommen hatten. Niemand kann uns sehen, hatte sie gedacht. Das Dorf, ihre Schwägerin, selbst ihr Bruder – keiner von ihnen ahnte, dass sie mit einem Fremden hier war. O ja, ihr Herz hatte in diesem Augenblick zu klopfen angefangen.
Und selbst wenn sie sich bei ihrer Ankunft noch nicht entschieden hatte, als sie sich das Gesicht wusch, hatte sie es gewusst. Das Prickeln des Wassers auf ihrer Stirn und auf den Wangen. Als sie ihr Mieder heruntergezogen hatte, waren ein paar Tropfen auf ihre Brüste gefallen, und sie hatte erschaudernd nach Luft geschnappt. Und dann hatte sie durch den Türspalt gesehen, dass er auf sie wartete.
Sie gingen in die Scheune. Das Tier, das Mary gemeint hatte, gehörte nicht zum Bauernhof. Sie führte Adam in eine Ecke, kniete nieder und zeigte ihm eine kleine, mit Stroh gepolsterte Schachtel. »Ich habe ihn vor zwei Tagen gefunden«, sagte sie.
Es war eine Amsel mit einem gebrochenen Flügel. Mary hatte ihn mit einem winzigen Holzstück geschient, und nun hatte der Vogel in der Scheune Unterschlupf gefunden, bis seine Verletzung geheilt war. »Hier erwischt ihn die Katze nicht«, erklärte sie.
Er kniete sich neben sie, und als sie den Vogel zärtlich streichelte, tat er es ihr nach, sodass sich ihre Hände streiften. Dann lehnte er sich zurück und betrachtete sie, wie sie sich weiter über den Vogel auf seinem Bett aus Stroh beugte.
Obwohl sie den Mönch nicht ansah, spürte sie seine Gegenwart.
Es war seltsam. Bis jetzt war er ein Fremder für sie gewesen, unerreichbar, von höherem Stand, unantastbar, geschützt von seinem Gelübde und für Frauen tabu. Und dennoch wusste sie, dass auch er letztlich nur ein Mann war.
Und sie würde ihn bekommen. Ganz sicher, das sagte ihr eine innere Stimme. Mochte ihr Gatte sie demütigen, so viel er wollte, es lag in ihrer Macht, diesen Mann hier zu verführen, obwohl er Tom Furzey haushoch überlegen war.
Plötzlich wurde sie von Begierde ergriffen. Sie, die sittsame Mary, konnte diesen unschuldigen Menschen hier und jetzt zum Mann machen. Es war ein berauschendes, Schwindel erregendes Gefühl.
»Seht Ihr?« Sie hob den Flügel des Vogels an, damit er ihn untersuchen konnte. Als er es tat, drehte sie sich fast unmerklich, sodass ihre Brüste sein Gewand streiften. Dann stand sie langsam auf, ihr Bein berührte seinen Arm. Sie ging zur Tür, die einen Spalt weit offen stand, und spähte ins helle Sonnenlicht hinaus. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse.
Kurz dachte sie an ihren Mann, aber wirklich nur für einen Augenblick. Tom Furzey wusste sie nicht zu schätzen. Sie schuldete ihm nichts mehr. Mary beschloss, keine Rücksicht mehr auf ihn zu nehmen.
Sie spürte, wie die Sonnenstrahlen ihre Brüste liebkosten. Ein zittriges Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Sie schloss die Tür und drehte sich um. »Ich möchte nicht, dass die Katze hereinkommt.« Sie lächelte.
Langsam schritt sie auf ihn zu. Es war dunkel in der Scheune. Nur hie und da drangen leuchtende Sonnenstrahlen durch die Ritzen im Holz. Als sie sich näherte, erhob er sich zögernd, sodass sie einander gegenüberstanden, so dicht, dass sie sich fast berührten.
Und Bruder Adam, der es liebte, nachts unter dem gewaltigen Sternenhimmel der Stimme Gottes zu lauschen, wusste nur, dass ein viel wärmeres, helleres Licht in seine Welt eingedrungen war und die Sterne verblassen ließ.
Sie hob die Arme und schlang sie ihm um den Hals.
Die Morgenandacht. Immer derselbe Ablauf. Die ewigen Worte.
Laudate Dominum…Et in terra pax.
Das Gebet: Pater Noster, qui es in coelis…
Sechzig Mönche, dreißig auf jeder Seite des Ganges, jeder an seinem Platz, der sich nur durch den Tod eines Mitbruders veränderte. Weiße Kutten, geschorene Schädel, Stimmen, im Chor vereint, die die immer gleichen Psalmen sangen. Die Zisterzienser pflegten eine schlichte, knappe Form der Gregorianik, die Bruder Adam seit jeher besonders gefiel. Laudate Dominum.
Alle waren sie da: Der Messner, der in der Kirche nach dem Rechten sah, der hoch gewachsene Kantor, der das Gebet leitete, der Kellermeister, der die Brauerei versorgte, und sein Gehilfe, der die Fischteiche versorgte. Der gute Bruder Matthew, inzwischen Novizenmeister, und Bruder James, der Almosenpfleger. Grockleton, die Klaue um die Kante seiner Sitzbank gelegt. Die etwa sechzig Mönche der Abtei Beaulieu – grauhaarig, blond, klein, groß, dick oder mager, in ihren Gesang vertieft und doch aufmerksam – hielten gemeinsam mit den Laienbrüdern, die im Kirchenschiff saßen, die Morgenandacht ab. Auch Bruder Adam befand sich an seinem angestammten Platz.
An diesem Sommermorgen brannten keine Kerzen im Chorgestühl. Der Messner hielt das für überflüssig, denn die Sonnenstrahlen fielen bereits gedämpft durch die Fenster hinein, spiegelten sich im Chorgestühl aus Eichenholz und malten Lichtpunkte auf den Mosaikboden.
Bruder Adam sah sich um. Was sang er da eigentlich? Er hatte es vergessen und versuchte, sich zu sammeln.
Ein fürchterlicher Gedanke kam ihm in den Sinn, und er wurde von Angst ergriffen. Was war, wenn er ohne nachzudenken zu reden begann oder sogar Marys Namen aussprach? Oder wenn er sonst wie verriet, was er getan hatte? Hatte er nicht eben an ihren Körper gedacht? An jede einzelne Hautfalte, ihren Geruch, ihren Geschmack, ihre Liebkosungen? Mein Gott, hatte er es etwa laut herausgerufen, tat er es jetzt, in diesem Augenblick, ohne es zu bemerken?
Die Mönche knieten nieder, um zu beten. Doch Bruder Adam murmelte die Worte nicht mit. Er schloss den Mund und biss sich auf die Zunge, um sicherzugehen, dass er sich nicht verriet. Vor Scham errötet, warf er einen verstohlenen Blick auf die Gesichter der Brüder. Wussten sie von seinem Geheimnis?
Offenbar nicht. Die geschorenen Köpfe waren andächtig gesenkt. Oder wurde er doch heimlich beobachtet? Würde Grockletons Blick sich strafend auf ihn richten und ihn verurteilen?
Es war weniger das schlechte Gewissen, das ihm zu schaffen machte, als vielmehr die Angst, er könnte, ohne es zu wollen, hier in der Kirche mit der Wahrheit herausplatzen. So wurde die Morgenandacht, die ihm gewöhnlich neue Kraft verlieh, zur Qual. Als es vorbei war und er nach draußen gehen konnte, war er erleichtert.
Nach dem Frühstück beruhigte er sich wieder ein wenig und suchte den Prior auf.
Für gewöhnlich widmete der Prior die Morgenstunden den Verwaltungsangelegenheiten. Doch man konnte sich auch mit anderen Anliegen an ihn wenden. Falls man zum Wohle der Gemeinschaft eine Meldung machen musste – »Ich fürchte, ich habe gesehen, wie Bruder Benedikt eine doppelte Portion Hering verspeist hat.« Oder: »Bruder Mark hat gestern während der Arbeitszeit geschlafen.« –, so war der Vormittag der richtige Zeitpunkt dafür.
Adam, der sich fragte, ob jemand seine Verfehlung melden würde, wartete bis zum letzten Moment, bevor er eintrat. Er wollte Gewissheit haben. Doch Grockleton schien ahnungslos.
»Es tut mir Leid, aber ich muss mich über Tom Furzey beklagen«, begann Bruder Adam und schilderte Grockleton, was sich auf dem Feld ereignet hatte. Der Prior nickte nachdenklich.
»Du hattest Recht, den Mann nicht sofort nach Hause zu schicken«, sagte er. »Wahrscheinlich hätte er seine arme Frau noch einmal geschlagen.«
»Aber jetzt muss er gehen«, sagte Adam. »So ein zügelloses Verhalten können wir nicht dulden.« Er war überzeugt, dass der Prior ihm von ganzem Herzen zustimmen würde.
Stattdessen jedoch schwieg Grockleton und betrachtete Adam forschend. »Ich frage mich«, meinte er und schob langsam seinen Stuhl zurück, »ob das richtig wäre.«
»Wenn ein Tagelöhner den Aufsicht führenden Mönch beleidigt… «
»Ist das natürlich zu verurteilen.« Grockleton schürzte die Lippen. »Doch vielleicht, Bruder Adam, müssen wir die Sache in einem größeren Zusammenhang betrachten.«
»In einem größeren Zusammenhang?« So etwas war beim Prior noch nie vorgekommen.
»Möglicherweise ist es besser, wenn dieser Mann eine Weile von seiner Frau getrennt ist. Er wird sie vermissen und seine Tat hoffentlich bereuen. Nach einiger Zeit sollte einer von uns in aller Ruhe mit ihm sprechen.«
»Aber bringt mich das nicht in eine unangenehme Lage, Prior? Er und die anderen Männer könnten glauben, sie dürften ungestraft unverschämt werden.«
»Wirklich? Findest du?« Grockleton betrachtete die Tischplatte. »Bruder Adam, zuweilen kostet es uns große Mühe, unsere eigenen Gefühle zum Wohle anderer hintanzustellen. Zweifellos wird Furzey auch in Zukunft ordentlich seine Arbeit erledigen. Dafür wirst du sorgen. Möglicherweise befürchtest du, dich lächerlich gemacht zu haben, oder fühlst dich sogar gedemütigt. Doch wir alle müssen lernen, mit diesen Dingen zu leben. Das gehört zu unseren Aufgaben. Meinst du nicht?« Er lächelte zuckersüß.
»Also darf Furzey bleiben, auch wenn er mich wieder beleidigt?«
»Ja.«
Bruder Adam nickte. Das ist seine Rache dafür, dass ich ihn am Fluss bloßgestellt habe, dachte er. Und dabei war es nicht meine Schuld gewesen, sondern ganz allein seine.
Er verneigte sich vor dem zufriedenen Grockleton.
Wenn der Prior Furzey nach Hause geschickt hätte, wäre dieser zu seiner Frau zurückgekehrt, was es ihm, Adam, unmöglich gemacht hätte, sich mit Mary heimlich zu treffen. Nun jedoch war sie allein.
Du ahnst ja gar nicht, John Grockleton, dachte er, was du damit vielleicht angerichtet hast.
Luke schlich durch die Dunkelheit. Der silbrige Mond war zwar nur noch eine schmale Sichel, aber die Sterne verbreiteten genügend Licht. Das Pferd war etwa hundert Meter entfernt an einem Baum angebunden. Nun hatte er es schon zum dritten Mal dort gesehen.
Er legte sich am Waldesrand flach auf den Boden. Von dort aus hatte er den kleinen Bauernhof im Auge, wo er so viele Winternächte verbracht hatte. Hinter ihm im Wald, in dem kleinen Flusstal bei Boldre, schrie eine Eule. Luke wartete geduldig.
Es war noch vor Morgengrauen, als eine Gestalt aus der Scheune schlüpfte und sich leise über die Koppel zu den Bäumen pirschte. Obwohl der Fremde etwa fünfzig Meter von ihm entfernt vorüberschlich, wusste Luke genau, um wen es sich handelte. Kurz darauf hörte er, wie das Pferd hinter ihm durch die Bäume trabte.
Nach einer Weile machte Luke sich auf den Weg zur Scheune.
Als die Nachricht eintraf, dass das Grafschaftsgericht des New Forest kurz vor dem St. Michaelstag wieder zusammentreten würde, war der Abt noch nicht von seiner Reise zurückgekehrt. John von Grockleton überlegte zwei Tage lang, bevor er wusste, was er unternehmen sollte. Doch ehe er seinen Entschluss bekannt gab, ließ er Bruder Adam kommen.
Als er den Mönch betrachtete, der nun vor ihm stand, fiel ihm auf, dass Adam außergewöhnlich erholt wirkte. Sein Gesicht war nach den Wochen draußen auf den Feldern sonnengebräunt, und er sah kräftiger, ja sogar ein wenig größer aus. Da Grockleton wusste, dass Adam lieber im Kloster geblieben wäre, und weil sich dieser kräftige Körperbau eigentlich gar nicht für einen Mönch schickte, neidete er ihm seine blühende Gesundheit nicht. Er hatte nur eine Frage an Bruder Adam: »Hat einer deiner Tagelöhner von dem entflohenen Bruder Luke gehört?«
»Davon hat mir niemand berichtet«, erwiderte Bruder Adam wahrheitsgetreu.
»Glaubst du, dass irgendjemand weiß, wo er steckt?«
Bruder Adam hielt inne. Mary sprach häufig über Luke. Sie hatte ihm Lukes Version der Ereignisse erzählt, und obwohl er sie nie unmittelbar darauf angesprochen hatte, schloss er aus ihren Worten, dass ihr Bruder sich irgendwo im New Forest verbarg. »Wahrscheinlich vermuten die meisten Erntehelfer, dass er inzwischen über alle Berge ist.«
»Das Gericht tagt bald wieder. Wenn er hier im New Forest ist, verlange ich, dass er gefunden wird«, sagte Grockleton. »Was rätst du mir?«
Adam zuckte die Achseln. »Sicher weißt du«, entgegnete er zögernd, »dass man allgemein glaubt, er habe einen Kampf verhindern wollen. Der Richter selbst hat angedeutet, dass das im Bereich des Möglichen liegt. Ich frage mich, ob man schlafende Hunde vielleicht besser nicht wecken sollte.«
»Der Standpunkt des Gerichts kümmert mich wenig«, zischte Grockleton. »Man erwartet von mir, dass ich Luke herbeischaffe, und das habe ich auch vor. Also werde ich eine Belohnung aussetzen. Einen Preis auf seinen Kopf.«
»Ich verstehe.«
»Zwei Pfund für denjenigen, der ihn mir bringt. Ich glaube, das dürfte dem Gedächtnis der Bauern auf die Sprünge helfen.«
»Zwei Pfund?« Das war für Männer wie Pride und Furzey ein kleines Vermögen. Bruder Adam verzog das Gesicht, als er daran dachte, welche Sorgen Mary sich machen würde.
»Ist etwas nicht in Ordnung?« Grockleton sah ihn argwöhnisch an.
»Nein, Prior.« Bruder Adam fasste sich. »Aber es ist eine sehr hohe Summe.«
»Ich weiß«, erwiderte der Prior mit einem Lächeln.
Manchmal, wenn Adam bei Mary lag, ergriff ihn Staunen darüber, dass so etwas überhaupt hatte geschehen können.
Sie wagten nicht, Licht zu machen. Spät in der Nacht, wenn die Kinder schliefen, schlich sie sich hinaus in die Scheune. Zum Glück tollten die Kleinen den ganzen Tag herum, sodass sie abends rechtschaffen müde waren. Bruder Adam, der sich zwischen den Bäumen versteckt hatte, ging ihr dann entgegen. Allmählich lernte er, sich lautlos zu bewegen.
Bei ihrem dritten Stelldichein hatte sie sich vor ihm aufgebaut und sich im Schein des Mondlichts ausgezogen, das durch einen Spalt in der Tür fiel. Gebannt hatte er zugesehen, wie sie das grobe Gewand abstreifte und barfuß, nur im Leinenhemd, vor ihm stand. Mit einem leichten Kopfschütteln lockerte sie ihr dunkles Haar, sodass es ihr offen über die Schultern fiel. Dann zog sie das Hemd herunter, zeigte ihm ihre vollen, weißen Brüste und ließ das Kleidungsstück zu Boden gleiten. Als sie sich nackt zu ihm herunterbeugte, verschlug es ihm den Atem.
Ihr Geruch, ihre Berührungen, das alles war völlig neu für ihn, als er ohne Scheu ihren Körper erkundete. Wenn sie getrennt waren, stand ihm in den ersten Tagen ihr Bild, wie eine Geistererscheinung, vor Augen. Aber er stellte fest, dass er hauptsächlich an ihren Körper dachte. Und wenn er sich neue Wege ausmalte, sich ihr zu nähern und sie zu besitzen, wurde er von Sehnsucht und Begierde ergriffen.
Doch es war noch mehr als das. Ihr ganzes Leben und ihre Art zu denken eröffneten ihm eine neue Welt, die er ganz und gar kennen lernen wollte. Mein Gott, schoss es ihm durch den Kopf, ich habe das Universum des Herrn erfahren, und dennoch ahnte ich nichts von seiner Schöpfung. Und das Seltsamste war, dass er sich nicht schuldig fühlte. Er war zu ehrlich, um sich selbst zu täuschen. Eigentlich war er stolz auf sich. Die ständige Gefahr, entdeckt zu werden, steigerte die Aufregung noch, und ihm fiel ein, dass er noch nie zuvor etwas Abenteuerliches getan hatte.
Und die Bedrohung für seine unsterbliche Seele? Wenn er bei ihr war und sich der Leidenschaft hingab, war ihm, als habe er eine andere Welt betreten, die ebenso schlicht und erfüllt von Gottes Gegenwart war wie die uralte Wüste, lange vor der Zeit, in der jemand sich den Zölibat erdacht hatte. Und in diesen Momenten erschien es Bruder Adam, ungeachtet der Gelübde, die er abgelegt hatte, als habe er seine unsterbliche Seele nicht verloren, sondern endlich gefunden.
Wie lange konnte es noch so weitergehen? Das wusste er nicht. Furzey hatte seiner Familie nur einmal einen kurzen Besuch abgestattet. Da ihn offenbar nichts dorthin zog, war es nicht weiter schwer, dafür zu sorgen, dass er auf den Gütern zu tun hatte. Adam hatte sich bereits Mittel und Wege ausgedacht, den Bauern bis Mitte September zu beschäftigen. Seine eigene Abwesenheit war leicht zu erklären. Er verbrachte viele Nächte in der Abtei. Wenn er abends sagte, er werde noch schnell zum nächsten Gut weiterreiten, stellte ihm niemand Fragen. Und was den Prior betraf, erfüllte ihn der Gedanke, dass Adam wieder einmal eine Nacht fern der Abtei weilen musste, mit Schadenfreude. Bis zum Herbst konnte also nichts geschehen.
Eines Nachts, als Mary und er erschöpft beisammenlagen, erzählte er ihr von der Absicht des Priors, einen Preis auf den Kopf ihres Bruders Luke auszusetzen. Er wollte ihr damit auch helfen, und sie für den Fall, dass sie wirklich Lukes Aufenthaltsort kannte, rechtzeitig warnen. Aber ihre Reaktion überraschte ihn.
Sie fuhr im Stroh hoch. »O Gott. Zwei Pfund?« Sie blickte starr geradeaus. »Puckle verrät ihn nicht. Nicht einmal für so viel Geld.« Sie hielt inne und sah ihn an. »So.« Sie seufzte. »Jetzt weißt du es.«
»Er ist bei Puckle, dem Köhler?«
»Ja, drüben in der Nähe von Burley.«
»Nun, ich werde es niemandem verraten.«
»Wehe, wenn du es tust.«
»Eigentlich ist es komisch.« Er kicherte.
»Warum?«
»Ich glaube, ich bin ihm schon begegnet.«
»Oh.« Sie schwieg eine Weile. »Dann kannst du ja gleich noch etwas erfahren: Er war vorgestern Morgen hier. Sehr früh.«
»Und?«
»Er weiß über uns Bescheid. Er hat dich gesehen.«
»Oh.« Nun stellte sich die Sache für Adam in einem neuen Licht dar. Der flüchtige Laienbruder hatte etwas gegen ihn in der Hand – das war gefährlich. »Was hat er dazu gesagt?«
»Nicht viel.«
»Ich denke«, meinte Adam, »dass er in seinem Versteck mehr oder weniger sicher ist. Sobald ich etwas höre, gebe ich dir Bescheid.«
Als Adam aus der Scheune schlüpfte, graute schon der Morgen. Er versprach, in zwei Nächten wiederzukommen. Wie immer pirschte er sich vorsichtig durch die Bäume und ritt leise durch den Wald zur Furt.
Sein Aufbruch wurde aufmerksam beobachtet. Aber diesmal nicht von Luke.
Am nächsten Tag hatte sich herumgesprochen, dass John von Grockleton zwei Pfund auf Lukes Kopf ausgesetzt hatte. Am Abend erreichte die Nachricht Burley. Puckle selbst war nach Hause gegangen und hatte Luke mit der Beaufsichtigung des neuen Kohlenmeilers beauftragt. Nun hatte sich die Familie Puckle vor der Hütte versammelt.
»Zwei Pfund«, sagte Puckles Sohn.
»Was sind schon zwei Pfund?«, entgegnete Puckle.
»Zwei Pfund… «, wiederholte sein Neffe.
Puckle sah sie alle nacheinander an. Dann betrachtete er seine Frau, die so klug war, den Mund zu halten.
Puckle briet gerade einen Hasen am Spieß über dem Lagerfeuer, das er draußen angezündet hatte. Das Hasenfell lag ihm zu Füßen am Boden. Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, zeigte er mit dem Finger darauf. »Habt ihr schon einmal gesehen, wie ich einen Hasen häute?«, fragte er leise. Alle nickten. Dann wies er auf den Hasen am Spieß. »Wenn einer von euch auch nur ein Sterbenswörtchen über Luke verrät«, sagte er, schaute erst seinen Sohn, dann seinen Neffen an und ließ schließlich seine Blicke über die Runde schweifen, »blüht ihm das Gleiche.«
Es herrschte Schweigen. Wenn ein alter Waldbewohner wie Puckle Drohungen ausstieß, war es klüger, ihm zu gehorchen.
Am nächsten Tag sprach Puckle mit Luke. »Zwei Pfund sind eine Menge Geld«, sagte er bedrückt.
»Aber deine Familie wird doch schweigen?«, fragte Luke besorgt.
»Das will ich ihnen auch geraten haben. Doch jetzt wird man anfangen, nach dir zu suchen. Wenn man dich sieht, wird man denken: ›Und welcher seiner vielen Neffen ist das?‹ Früher oder später wird jemand zwei und zwei zusammenzählen.«
»Ich habe es Mary gesagt.«
»Das war dumm von dir.« Puckle zuckte die Achseln. »Aber ich glaube, sie wird den Mund halten.«
»Und was soll ich jetzt tun?«
»Keine Ahnung.« Puckle überlegte. Dann breitete sich plötzlich ein Grinsen auf seinem zerfurchten Gesicht aus. »Oh, ich glaube, mir ist da etwas eingefallen.« Er nickte mit dem struppigen Kopf. »Was hältst du davon, mir zu helfen, einen neuen Kohlenmeiler zu bauen?«
Tom Furzeys Schwester hatte lange darüber nachgegrübelt, wie das Pony wohl wieder in Prides Stall zurückgekommen war.
Als sie nun über die Heide von Beaulieu nach St. Leonards ging, glaubte sie, die Antwort gefunden zu haben.
Und diese Erkenntnis war ein Vermögen wert.
Es war Zufall gewesen, dass sie an jenem Tag schon so früh auf den Beinen gewesen war. Ihr Mann hatte zwei Hasenfallen im Wald aufgestellt, und sie hatte beschlossen nachzusehen, ob schon ein Tier in die Falle gegangen war. Gerade hatte sie den Abhang hinuntersteigen wollen, als sie eine vermummte Gestalt bemerkte, die geduckt von Toms Haus zu den Bäumen lief.
Einige Zeit hatte sie dagestanden und sich gefragt, wer das wohl sein mochte. Sie hatte ihre Beobachtung für sich behalten. Noch am selben Abend erfuhr sie, dass der Prior eine Belohnung ausgesetzt hatte, und ihr Verdacht verfestigte sich. Es war Luke. Wer sollte es sonst sein?
Und gewiss war das auch die Erklärung für den Zwischenfall mit dem Pony. Luke Pride drückte sich um Toms Haus herum und ging bei Nacht dort ein und aus. Ganz sicher hatte er das Pony zurückgebracht. Der hatte vielleicht Mut. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Nun würden die Prides endlich ihren Denkzettel bekommen. Sie und Tom konnten die Belohnung miteinander teilen. »Ein Pfund für ihn, ein Pfund für mich«, murmelte sie.
Der Arbeitstag neigte sich dem Ende zu, als sie St. Leonards erreichte. Sofort nahm sie Tom beiseite.
Als sie ihm alles erklärt hatte, breitete sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem runden Gesicht aus. »Jetzt haben wir sie«, meinte er.
»Es ist doch Luke, oder?«
»Natürlich. Wer sonst?«
»Zwei Pfund, Tom. Wir machen halbe-halbe. Heute Nacht fangen wir an, Wache zu halten.«
Er runzelte die Stirn. »Ich kann leider nicht weg. Die Arbeit beginnt bei Morgengrauen.« Bruder Adam war kurz zuvor erschienen, um sich zu vergewissern, ob alle anwesend waren.
»Du könntest dich doch fortschleichen, wenn es dunkel ist.«
»Wahrscheinlich schon.«
»Ich erwarte dich. Zwei Pfund, Tom. Wenn du nicht auftauchst, gehört die Belohnung mir.«
Es war schon längst dunkel, als Bruder Adam leise sein Pferd anband und zur Koppel schlich. In der undurchdringlichen Finsternis musste er sich hin und wieder mit den Händen weitertasten. Am Zaun blieb er kurz stehen und pirschte sich zur Scheune, deren Umrisse er undeutlich erkennen konnte.
Und plötzlich wurde er zu Boden gerissen.
Zwei heftige Schläge trafen ihn in den Rücken. Er wusste nicht, was es war, doch er prallte mit solcher Wucht auf dem Boden auf, dass ihm für einen Moment der Atem stockte. Kurz darauf hatten zwei Angreifer seine Arme gepackt und drehten ihn herum. Bruder Adam brachte noch immer keinen Ton heraus, aber er trat kräftig um sich. Da hörte er eine Männerstimme fluchen. Dann schlang einer der beiden die Arme um seine Beine, während der andere ihm einen Hieb in die Magengrube verpasste. Adam hatte den Eindruck, dass keiner der Angreifer sehr groß war; doch offenbar verfügten sie über ziemliche Kräfte.
Waren es Räuber? Hier im Wald? Gerade gelang es ihm wieder, einen klaren Gedanken zu fassen, als er zu seinem Entsetzen die Stimme von Tom Furzey erkannte.
»Jetzt haben wir dich erwischt.«
Was um alles in der Welt sollte er darauf antworten? Es fiel ihm beim besten Willen nichts ein. Würde dieser Bauer ihn jetzt zur Abtei schleppen und ihn der Unzucht mit seiner Frau anklagen? Was würde dann aus ihm werden?
Einer der beiden machte sich an etwas zu schaffen. Im nächsten Augenblick leuchtete ihm eine Laterne ins Gesicht.
»Bruder Adam!«
Zum Glück war Bruder Adam nicht auf den Kopf gefallen. Tom Furzeys Tonfall verriet abgrundtiefes Erstaunen. Ganz gleich, wen sie hier erwartet hatten, mit ihm hatten sie offenbar nicht gerechnet. Man ließ seine Beine los, wieder ein Zeichen dafür, dass sie sich im Nachteil glaubten. Bruder Adam rappelte sich auf. Jetzt musste er den Spieß umdrehen. »Furzey? Diese Stimme kenne ich doch. Was hat das zu bedeuten? Warum bist du nicht in St. Leonards?«
»Aber… was tut Ihr denn hier, Bruder Adam?«
»Das braucht dich nicht zu kümmern. Was hast du hier verloren, und warum hast du mich überfallen?«
Eine Pause entstand. »Ich habe Euch mit jemandem verwechselt«, erwiderte Furzey mürrisch.
»Der ist bestimmt keine zwei Pfund wert.« Eine Frauenstimme, aber nicht die von Mary.
Mit einem Mal war ihm alles klar. »Ich verstehe. Ihr habt auf Luke gewartet.«
»Meine Schwester glaubte, sie hätte ihn gesehen.«
»Aha. Nun, Furzey«, begann er, »du hättest das Gut nicht ohne meine Erlaubnis verlassen dürfen. Allerdings bin ich aus demselben Grund hier wie du. Ich hatte den Verdacht, dass er sich hier herumtreibt, und wenn das stimmt, werde ich ihn ergreifen.«
»Dann bekommt Ihr die zwei Pfund, nicht wir«, meinte Tom.
»Du vergisst, dass ich keine Verwendung für zwei Pfund habe. Mönche haben keine weltlichen Besitztümer.«
»Heißt das, wir dürfen ihn fangen?«
»Ich denke schon«, erwiderte Adam spöttisch.
»Oh.« Furzeys Stimmung besserte sich hörbar. »Dann können wir ja gemeinsam auf ihn warten.«
Was sollte Adam jetzt tun? Er blickte zur Scheune hinüber. Ob Mary sich wohl schon fragte, wo er blieb? Was war, wenn sie sich auf die Suche nach ihm machte oder, noch schlimmer, seinen Namen rief? Sollte er Furzey sagen, er wolle in der Scheune nachsehen, um sie zu warnen? Nein, das war zu gefährlich. Gewiss würden sie ihn verdächtigen, Mary Bescheid geben zu wollen, dass sie ihren Bruder suchten.
Und wenn Tom in die Scheune ging, Mary ihn mit ihrem Liebhaber verwechselte und ihn beim falschen Namen ansprach?
Doch bald wurde ihm klar, dass Tom zum Glück viel mehr daran gelegen war, Luke zu fangen als seiner Frau zu begegnen. Jedoch bestand noch immer die Möglichkeit, dass der arme Luke seiner Schwester bei Morgengrauen einen Besuch abstattete. Adam überlegte, ob es ihm wohl gelingen könnte, ihn vorher abzufangen. Doch bei dieser Dunkelheit schien ihm das unmöglich.
Also warteten sie. Aus der Scheune war kein Laut zu hören, und Luke ließ sich nicht blicken. Als es hell wurde, beschlossen sie aufzugeben. »Glaubt Ihr, dass er wiederkommt?«, fragte Furzey.
»Kann sein«, entgegnete Bruder Adam, und mit diesen Worten ritt er davon.
Er hatte noch viel zu erledigen.
Als er die Stelle unweit von Burley erreichte, wo er den Köhler zuletzt angetroffen hatte, war die Sonne schon aufgegangen. Bald hatte er Puckle gefunden, der ihn offenbar hatte kommen sehen.
Inzwischen bewachte er zwei Kohlenmeiler. Der eine war schon fast heruntergebrannt, der andere noch frisch. Puckle war allein. Von Luke war nichts zu sehen.
Bruder Adam kam sofort zur Sache: »Ich habe eine Nachricht für Luke.«
»Für wen?«
»Ich weiß, dass du ihn nicht gesehen hast. Richte ihm einfach etwas von mir aus. Also.« Er holte tief Luft. Er hatte überlegt, ob er ihr die Botschaft selbst überbringen sollte, doch das war zu gefährlich. »Du musst mir einen Gefallen tun. Bitte sag Mary, dass ihr Haus überwacht wird. Erkläre ihr, dass die Nachricht von mir stammt. Sie wird wissen, was du meinst.« Er sah Puckle in die Augen. »Ich hoffe, dass Schweigen Schweigen erkauft.«
Puckle wandte den Blick ab und betrachtete das Feuer. Erst als der Mönch davonritt, murmelte er: »Wie schon immer im New Forest.«
Mein Gott, dachte Adam auf dem Rückweg zur Abtei. Jetzt stecke ich mit Gesetzesbrechern, ja sogar mit Puckle unter einer Decke. Doch als er dem morgendlichen Vogelgezwitscher lauschte, stellte er fest, dass er sich in dieser neuen Rolle ausgesprochen wohl fühlte.
Er wäre sehr erstaunt gewesen, hätte er gesehen, was sich nach seinem Aufbruch am zweiten Kohlenmeiler abspielte. An der mit Torf bedeckten Seite öffnete sich eine kleine Tür, aus der – völlig unversehrt – Luke erschien.
Die obere Hälfte des Meilers war mehr oder weniger auf die gewöhnliche Weise gebaut, nur dass Puckle nasses Holz verwendet hatte, das viel Qualm, aber wenig Hitze erzeugte. Doch darunter – abgetrennt durch eine dicke Torfschicht – befand sich ein Hohlraum, in dem Luke sich bequem und beliebig lange verstecken konnte. Löcher sorgten für Frischluftzufuhr. Puckle beabsichtigte, jeden Tag bei Morgengrauen am oberen Ende ein neues Feuer anzuzünden. Niemand, auch wenn er noch so genau hinsah, hätte das Geheimnis je erraten.
In der nächsten Woche ging es im New Forest geschäftig zu.
An zwei aufeinander folgenden Tagen ließen die Förster auf Beharren des Priors die Bluthunde los. Den königlichen Beauftragten für den New Forest langweilte die Angelegenheit so sehr, dass er sie Alban übertrug. Am ersten Tag durchsuchten sie den Wald rings um das Haus von Pride bis fast nach Burley. Doch dort waren die Hunde so verwirrt, dass sie nur noch im Kreis herumliefen. Am nächsten Tag versuchte man es drüben in Knightwood. Aber seltsamerweise schien die Duftspur immer wieder zum Haus des Försters zu führen, der darüber überhaupt nicht erbaut war.
Inzwischen beteiligte sich der ganze New Forest mehr oder weniger offen an der Menschenjagd. Die Förster und ihre Gehilfen ritten in Gruppen aus. Hütten wurden durchsucht, alle Bewohner des Waldes befragt. Allerdings ohne Ergebnis. Doch wie Puckle eines Abends bedrückt zu Luke sagte: »Es dürfte schwierig für dich werden, aus deinem Versteck herauszukommen.«
Mary wartete zehn Tage, bis sie sich zu ihrer Verabredung auf den Weg machte. In dieser Zeit sah sie Bruder Adam nicht, obwohl es kaum einen Moment gab, in dem sie nicht an ihn dachte.
Sie schmunzelte ein wenig, wenn sie sich an den ersten Nachmittag erinnerte. Er hatte geglaubt, ihr in einer Notlage beizustehen, und nicht geahnt, dass sie unmerklich den ersten Schritt getan hatte. Seine Unerfahrenheit war es, die sie angezogen hatte. Schließlich hatte dieser kräftige, stattliche Mann noch nie eine Frau gekannt. Und sie, eine Bäuerin, Frau eines einfachen Feldarbeiters, hatte die Macht, ihm etwas über das Leben beizubringen. Insgeheim, ja, ohne es selbst zu ahnen, hatte er sich danach gesehnt und sie gewissermaßen darum gebeten.
Ich habe einen Mann Gottes verführt, einen Mann, der keine Frau berühren darf, und ich habe ihm Sinnenfreuden eröffnet. Manchmal wurde ihr fast schwindelig von dem Gefühl der Macht. Sie, eine Frau, hatte triumphiert. Allerdings hatte sie sich das nicht anmerken lassen. Zumindest nicht anfangs.
War es wirklich nur fleischliche Begierde gewesen? O nein. Denn sie fühlte sich aus einem ganz bestimmten Grund zu ihm hingezogen: wegen seiner Empfindsamkeit, seiner Klugheit und dem Wissen, dass er etwas hatte, das ihr fehlte. Und sie sehnte sich nach seinen Eigenarten, auch wenn sie diese nicht beim Namen hätte nennen können.
Zu Beginn hatte sie ihn in ihren nächtlichen Gesprächen gefragt, woran er gerade dachte. Und er hatte ihr etwas geantwortet, von dem er glaubte, dass sie es verstehen konnte. Bald aber hatte sie ihm klargemacht, dass sie mehr wollte, und er war offener geworden und hatte ihr erklärt, was in jenen Nächten in ihm vorging: »Es gab einmal einen großen Philosophen namens Abelard, und er dachte…«, erzählte er. Oder er beschrieb ihr ferne Länder und wichtige Ereignisse, eine Welt, die so viel größer war als das, was sie kannte. Allmählich jedoch begriff sie, so sachte wie Licht, das durch ein Kirchenfenster dringt. Sie wusste genau, dass sein Leben gänzlich anders aussah als ihres. »Dein Verstand schwebt in den Sternen«, flüsterte sie einmal, und sie hatte das nicht spöttisch gemeint. Als er ihr einmal eine hochfliegende Idee auseinander setzte, lachte sie: »Wenn du in mir bist, hast du solche Gedanken?« Sie war so froh wie noch nie in ihrem Leben.
In letzter Zeit jedoch gab es einigen Grund zur Sorge.
Ihr Treffen mit Luke, verabredet, als Puckle ihr die Botschaft überbrachte, sollte an einer abgelegenen Stelle im Wald, nördlich von Brockenhurst, stattfinden. Mary gab Acht, dass niemand ihr folgte.
Er erwartete sie schon an einer riesigen, alten Eiche, deren Stamm dick mit Moos und Efeu bewachsen war. Sie freute sich, dass er wohlauf und recht fröhlicher Stimmung zu sein schien. Allerdings hatte er keine guten Neuigkeiten für sie. »Puckle meint, ich sollte den New Forest verlassen. Er ist überzeugt, dass der Prior nicht so schnell aufgeben wird.«
»Nach der Gerichtsverhandlung am St. Michaelstag vielleicht doch.«
»Nein«, seufzte Luke. »Du kennst ihn nicht.«
»Ich denke immer noch, du solltest dich stellen. Sie werden dich schon nicht gleich hängen.«
»Wahrscheinlich nicht. Doch man kann ihnen nicht trauen.«
»Wohin willst du?«
»Möglicherweise auf Pilgerfahrt. Nach Compostella. Oder noch weiter.«
Compostella. Spanien. Er würde sich unterwegs durchbetteln müssen. Mary schüttelte den Kopf. »Du bist nie aus dem New Forest herausgekommen.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Und was ist mit Bruder Adam?«, fragte er.
Sie senkte den Blick zu Boden. Nun hatte sie eine Hiobsbotschaft für ihn. »Ich glaube, ich bin schwanger.«
»Oh. Bist du sicher?«
»Beinahe. Es fühlt sich jedenfalls so an.«
»Kann es nicht auch von Tom sein?« Sie schüttelte den Kopf. »Was wirst du tun?« Sie zuckte nur die Achseln. Luke überlegte. »Du und Tom, ihr solltet… Er muss glauben, dass es seins ist, findest du nicht?«
Sie holte tief Luft. »Ich weiß.« Ihre Stimme klang kraftlos. Noch nie hatte er einen solchen Tonfall bei ihr gehört.
»Du bist doch schon so lange mit ihm verheiratet. So schlimm wird es nicht werden.«
»Du verstehst das nicht.« Das traf wirklich zu, für ihn waren sie alle nur Geschöpfe des Waldes.
»Wirst du es Bruder Adam sagen?«
»Vielleicht.«
»Du weißt, dass es nicht so weitergehen kann, Mary. Bald wird es Winter. Tom kommt nach Hause. Du hast eine Familie. Und Bruder Adam ist Mönch.«
»Es wird auch wieder einen Frühling und einen Sommer geben, Luke.«
»Aber Mary… «
Wie konnte er sie auch begreifen? Er war nur ein schlichter Junge. Sie würde das Bett mit Tom teilen müssen. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Es führte kein Weg daran vorbei. Doch da war noch Adam. Sie hatte andere Frauen über ihre Liebhaber reden hören. Manchmal kam es selbst in den Dörfern zu einem Seitensprung, besonders zur Erntezeit. Als ihr Verhältnis mit Bruder Adam begann, hatte Mary geglaubt, er werde irgendwann einfach in die Abtei Beaulieu zurückkehren, wo er hingehörte. Doch sie hatte noch nie einen anziehenderen Mann kennen gelernt. Der Gedanke, so weiterzuleben wie früher, war ihr unerträglich. Dafür war zu viel geschehen.
»Beaulieu ist nicht weit, Luke. Ich kann nicht mehr bei Tom bleiben.«
»Du musst.«
»Nein.«
In jener Nacht führten Luke und Puckle ein langes Gespräch.
»Ich glaube, dir wird nichts anderes übrig bleiben«, meinte Puckle schließlich.
»Wirst du mir helfen?«, fragte Luke.
»Selbstverständlich.«
Wenn man von der Kirche aus dem Kreuzgang in östlicher Richtung folgte, stieß man zuerst auf den großen abgeschlossenen Wandschrank, wo der Großteil der Klosterbibliothek aufbewahrt wurde. Danach folgten die Sakristei und das große Domkapitel, wo Grockleton bei Abwesenheit des Abtes jeden Montagmorgen den versammelten Mönchen die Klosterregeln verlas. Dann kam das Skriptorium, wo Bruder Adam so gerne über Büchern brütete; dahinter lag der Schlafsaal der Mönche, und gleich um die Ecke, neben dem großen frater, stand das Kesselhaus, ein riesiger Raum, in dem ein Feuer brannte.
John von Grockleton war gerade aus dem Kesselhaus getreten, als der Bote eintraf. Er war ein Diener von Alban, der unter vier Augen mit dem Prior sprechen wollte. Seine Nachricht brachte Grockleton zum Schmunzeln, denn sie lautete: »Ich glaube, wir haben Bruder Luke, Prior.«
Allerdings habe der Gefangene bisher nicht reden wollen. Er selbst, Alban, zögere, ihn zur Abtei zu bringen, aus Angst, sie könnten sich wieder alle zum Narren machen. Also hatte er den Burschen in seinem Haus versteckt und bat den Prior, unauffällig zu ihm zu kommen und zu bestätigen, dass der Ergriffene wirklich Bruder Luke war. »Ich soll Euch begleiten, wenn Ihr gleich mitkommen wollt«, sagte der Diener.
»Ich komme sofort«, erwiderte Grockleton und ließ sein Pferd aus dem Stall holen.
Als sie über die Heide ritten, konnte der Prior seine Ungeduld kaum im Zaum halten. Sie trabten gemächlich dahin, obwohl er am liebsten galoppiert wäre. Am Ende der Heide begann der Wald, der westlich von Brockenhurst lag. Sie trabten einen Pfad entlang. Der Prior schnalzte mit der Zunge. Er spürte eine Zufriedenheit wie selten zuvor in seinem Leben.
»Hier entlang, Sir«, rief der Diener wieder und bog auf einen schmalen Pfad ab. »Eine Abkürzung.« Hin und wieder schnellte dem Prior ein Zweig ins Gesicht, doch das war ihm einerlei. »Und jetzt hier hinunter, Sir«, verkündete der Diener. Nun ging es nach rechts. Der Prior folgte eilig. Dann aber runzelte er die Stirn. Wohin war der Bursche auf einmal verschwunden? Er hielt inne und rief nach ihm.
Zu seinem großen Erstaunen wurde er plötzlich von hinten gepackt und vom Pferd gezerrt. Er erhielt keine Gelegenheit zur Gegenwehr, denn schon wurde ein Seil um ihn gewickelt, und kurz darauf hatte man ihn an einen Baum gefesselt.
Er wollte schon »Mörder! Diebesgesindel!« schreien, als unvermittelt eine weitere Gestalt vor ihm stand. Es war ein bärtiger Waldbewohner, den er erst auf den zweiten Blick als Bruder Luke erkannte.
»Du!« Unwillkürlich beugte sich der Prior vor und reckte den Kopf, als wolle er Luke beißen.
»Schon gut«, erwiderte der unverschämte Bursche. »Ich wollte nur mit Euch sprechen. Ich wäre ja zur Abtei gekommen, aber… « Lächelnd zuckte er die Achseln.
»Was willst du?«
»In die Abtei zurückkehren.«
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
»Nein, Prior, ich hoffe nicht.« Der Laienbruder setzte sich vor Grockleton auf den Boden. »Hört mich an.«
Grockleton musste zugeben, dass er nicht mit einer solchen Ansprache gerechnet hatte. Zuerst erzählte Luke von der Abtei, den Gütern und den Jahren, die er dort verbracht hatte. Seine Schilderung war so schlicht und so gefühlvoll, dass selbst Grockleton widerwillig einräumen musste, dass Luke die Abtei offenbar von Herzen liebte. Dann erklärte der Laienbruder, was an jenem Tag auf dem Gut vorgefallen war. Er suchte keine Ausflüchte dafür, dass er die Wilderer hereingelassen hatte, doch er sagte, er habe Bruder Matthew daran hindern wollen, Martell zu schlagen. Dann habe er es mit der Angst zu tun bekommen und sei geflohen. Auch wenn dem Prior diese Darstellung der Ereignisse nicht gefiel, vermutete er insgeheim, dass sie der Wahrheit entsprach.
»Du hättest zurückkehren können.«
»Ich hatte Angst. Vor Euch.«
Den Gedanken, dass dieser Mann sich vor ihm fürchtete, fand Grockleton recht schmeichelhaft. »Und warum sollte ich etwas für dich tun?«, fragte er.
»Wenn ich Euch etwas mitteilen würde, das für das Wohl der Abtei wichtig ist, etwas, von dem niemand weiß, könntet Ihr Eure Meinung dann vielleicht ändern…?«
»Möglicherweise«, erwiderte Grockleton.
»Es wäre allerdings von Nachteil für einen der Mönche.«
Grockleton runzelte die Stirn. »Für welchen Mönch?«
»Bruder Adam. Es hätte schwere Folgen für ihn.«
»Was?« Das Funkeln in seinen Augen war nicht zu übersehen.
Auch Luke war es nicht entgangen. Er hatte damit gerechnet. »Ihr werdet ihn wegschicken müssen. In aller Stille. Ein Skandal wäre ohnehin schlecht für die Abtei. Und ich darf zurückkommen, ohne Prozess. Dafür könnt Ihr sorgen. Ich brauche Euer Ehrenwort.«
Grockleton zögerte. Er wusste, was eine Abmachung bedeutete, und er war ein Mann, der zu seinem Wort stand. Allerdings gab es da noch eine Schwierigkeit. »Ein Prior verhandelt nicht mit einem Laienbruder«, entgegnete er.
»Danach werdet Ihr nie wieder ein Wort von mir hören. Ich schwöre.«
Grockleton überlegte und wägte das Für und Wider ab. Er dachte auch an das Gericht und die Förster, die – wie er sehr wohl wusste – genug von ihm hatten. Wenn er sich vorstellte, wie dieser Bursche vor Gericht wortgewandt seine Sache vertrat, war es vermutlich besser, auf sein Angebot einzugehen. Und immerhin… hatte er angeblich etwas gegen Bruder Adam in der Hand. »Wenn es etwas Wichtiges ist, gebe ich dir mein Wort«, hörte er sich selbst sagen.
Und so verriet Luke Bruder Adam und seine Schwester Mary.
Grockleton empfand die Enthüllungen des Bauern eigentlich nicht als Verrat. Von Lukes Standpunkt aus betrachtet, handelte es sich um etwas Selbstverständliches. Die Familie seiner Schwester war im Begriff zu zerbrechen, und das wollte er unter allen Umständen verhindern. Ein plötzliches Ende mit Schrecken, und dann würde der Alltag einkehren. So war es eben in der Natur. Außerdem entging dem Prior nicht, dass es wirklich die beste Lösung war. Wenn Adam verschwand, würde Mary keine andere Wahl haben, als friedlich weiter mit ihrem Mann zusammenzuleben. Das Kind würde allgemein als Toms Kind gelten. Niemand hatte einen Nutzen davon, die Angelegenheit an die große Glocke zu hängen. Abgesehen von ihm selbst, Grockleton, natürlich, um es Bruder Adam endlich heimzuzahlen. Allerdings würde er damit auch den Ruf der Abtei schädigen. Und was würde der Abt sagen, wenn er, der Prior, das Ansehen der Abtei in den Schmutz zog? Nein, der Laienbruder hatte die Lage ganz richtig eingeschätzt. Außerdem dachte der Prior an die Eintragung in dem geheimen Buch, die nur dem Abt bekannt war. Er musste vorsichtig sein.
Aber was war mit Luke? Konnte man darauf vertrauen, dass er den Mund hielt? Wahrscheinlich schon. Denn er wollte bestimmt nicht seine Schwester in Schwierigkeiten bringen. Allerdings würde sein Wissen immer eine Bedrohung darstellen.
Also ist es besser für mich, wenn er in die Abtei zurückkehrt und nicht draußen frei herumläuft, überlegte der Prior.
Und so begann Grockleton zum ersten Mal in seinem Leben zu denken wie ein Abt.
Erfreut erfuhren die Mönche von Beaulieu ein paar Tage später, dass ihr Abt zurückgekehrt war und in absehbarer Zeit nicht mehr verreisen wollte.
Auch Bruder Adam war froh. Er befürchtete nur, dass der Abt ihn aus – inzwischen nicht mehr sehr willkommener – Güte von seinen Pflichten auf den Gütern entbinden würde. Aber für diesen Fall hatte er sich bereits einen Plan zurechtgelegt. Schließlich hatte er ausgezeichnete Arbeit geleistet. Sein Nachfolger würde ein Jahr brauchen, um sich das Wissen anzueignen, über das er inzwischen verfügte. Und wer würde diesen Posten freiwillig übernehmen wollen? Deshalb war es nur zum Wohl der Abtei, wenn er noch ein oder zwei Jahre die Aufsicht über die Güter führte. Bruder Adam hoffte, dass seine Begründungen ausreichend waren.
Was seine heimlichen Sünden betraf, so stand er inzwischen die Gottesdienste durch, ohne zu befürchten, sich selbst zu verraten. Er musste sich eingestehen, dass ihn die Sünde abgehärtet hatte.
Als Adam eintrat, war die Miene des Abtes freundlich, wenn auch ein wenig nachdenklich. Wie immer saß Grockleton auf seinem Platz und hatte die Klaue auf den Tisch gelegt.
Adam war so froh über das Wiedersehen mit dem Abt, dass er sich nicht weiter um den Prior kümmerte. Dann ergriff der Abt – nicht Grockleton – das Wort: »Nun, Adam, wir wissen alles über dein Liebesabenteuer mit Mary Furzey. Zum Glück sind weder ihr Mann noch unsere Mitbrüder im Bilde. Also möchte ich die Geschichte jetzt in deinen eigenen Worten hören.«
Grockleton hatte ihn eigentlich fragen wollen, ob er etwas zu beichten habe, um ihm Gelegenheit zu geben, sich der Lüge schuldig zu machen. Aber der Abt war strikt dagegen gewesen.
Das Geständnis nahm nicht viel Zeit in Anspruch, und der Abt verspürte kein Bedürfnis, Adams Demütigung unnötig in die Länge zu ziehen. »Es wird geheim bleiben«, sagte er zu Adam. »Zum Wohl der Abtei und, wie ich hinzufügen darf, auch der Frau und ihrer Familie zuliebe. Du musst fort von hier, und zwar noch heute. Doch niemand soll den Grund erfahren.«
»Wohin soll ich gehen?«
»Ich schicke dich in unser Tochterhaus in Devon. Nach Newenham. Kein Mensch wird das merkwürdig finden. Schließlich hat es dort in letzter Zeit Schwierigkeiten gegeben, und du bist – oder warst – einer unserer besten Mönche.«
Adam neigte den Kopf. »Darf ich mich von Mary Furzey verabschieden?«
»Ganz gewiss nicht. Du wirst kein Wort mehr mit ihr wechseln.«
»Es erstaunt mich« – Grockleton konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen –, »dass du überhaupt an so etwas denkst.«
»Nun.« Adam seufzte und sah Grockleton bekümmert, aber nicht unfreundlich an. »Dir fehlt eben die Erfahrung.«
Schweigen herrschte im Raum. Grockleton beugte sich fast unmerklich an dem dunklen, alten Tisch vor, und der Abt blickte in die Ferne, seiner Miene war nichts zu entnehmen. Deshalb ahnte Bruder Adam nicht, dass eine Eintragung in dem geheimen Buch des Abtes von Grockleton, einer Frau und einem Kind handelte. Aber das war in einem anderen Kloster gewesen, weit oben im Norden und vor sehr langer Zeit.
Nachdem Adam fort war, fragte der Abt: »Er weiß doch nicht, dass sie schwanger ist?«
»Nein.«
»Besser, wenn er es nie erfährt.«
»Richtig.« Grockleton nickte.
»Ach, ja«, seufzte der Abt. »Keiner von uns ist gegen die Sünde gefeit. Wie du selbst am besten weißt«, fügte er viel sagend hinzu.
»Das ist mir klar.«
»Ich möchte, dass er vor seiner Abreise zwei Paar neue Schuhe bekommt«, meinte der Abt mit Nachdruck.
Eine Woche später kehrte Bruder Luke in aller Stille nach St. Leonards zurück. Bei der nächsten Gerichtsverhandlung am St. Michaelstag wurde sein Fall nicht aufgerufen.
Etwa zur gleichen Zeit eröffnete Mary ihrem Mann, dass er vielleicht bald wieder Vater werden würde.
»Oh.« Zuerst runzelte der die Stirn, dann grinste er verlegen. »Das war aber ein Glückstreffer.«
»Ich weiß.« Sie zuckte die Achseln. »So etwas passiert eben manchmal.«
Möglicherweise hätte Tom sich noch länger darüber den Kopf zerbrochen, doch kurz darauf erschien John Pride, der zuvor zwei Stunden lang von seinem Bruder Luke bearbeitet worden war. Er hatte das Pony bei sich, und er schlug vor, den Streit zu beenden.
1300
Eines Dezembernachmittags, als die gelbliche Wintersonne tief am Horizont stand und ihre letzten Strahlen über die Heide von Beaulieu schickte, ritten zwei in dicke Mäntel vermummte Männer langsam über die mit Eis bedeckte Ebene auf die Abtei zu.
Schon vor Tagen hatte es geschneit, sodass die Heide nun von einer dünnen Kruste überzogen war, die unter den Hufen der Pferde zerbrach. Von Osten her wehte ein leichter, kühler Wind, der kleine Schneeflocken vor sich hertrieb. Die Zweige der verschneiten Bäume warfen lange Schatten, die in Richtung Beaulieu wiesen.
Fünf Jahre waren vergangen, seit Bruder Adam die Abtei verlassen hatte und in das triste Tochterhaus in Newenham übergesiedelt war. Fünf Jahre nur in Gesellschaft von etwa einem Dutzend Mitbrüder an der wilden Westküste. Auch wenn die Umgebung, die ihn nun begrüßte – die vereiste Landschaft im schwefelgelben Licht der untergehenden Wintersonne –, ziemlich trübe wirkte, bemerkte er nichts davon.
Er spürte nur das Heimweh und wusste, dass es bis zu den grauen Gebäuden am Fluss bloß noch eine knappe Stunde Wegs war.
In jener Zeit wurden einige der Mönche in dem kleinen Mutterhaus in Newenham von einer seltsamen Krankheit befallen, deren Ursachen nie vollständig aufgeklärt werden konnte. Obwohl alle Einzelheiten in den Büchern der Abtei Beaulieu verzeichnet sind, fand man nie heraus, ob es am Wasser, der Ernährung, dem Erdboden oder den Gebäuden selbst lag. Doch einige der Brüder waren so schwer von dem Leiden betroffen, dass nichts anderes übrig blieb, als sie nach Beaulieu zurückzubringen, wo man sie besser pflegen konnte.
Auch Bruder Adam litt an dieser Krankheit. Er nahm das gelbe Licht um sich herum nicht wahr, denn er war blind.
Nach Bruder Adams Eintreffen wunderten sich die Mönche von Beaulieu immer wieder, wie er sich ohne fremde Hilfe in der Abtei zurechtfinden konnte, und zwar nicht nur im Kreuzgang. Sogar mitten in der Nacht, wenn die Mönche durch den Flur und die Treppen hinab in die Kirche zur Andacht gingen, folgte er ihnen, ohne dass man ihn führen musste, und nahm seinen Platz im Chorgestühl ein. Auch draußen wanderte er über das Klostergrundstück, ohne sich je zu verirren; er pflanzte Gemüse oder fertigte Kerzen an.
Bruder Adam war immer noch ein gut aussehender, kräftig gebauter Mann. Er sprach wenig und war am liebsten allein, doch immer strahlte er eine stille Würde aus.
Nur einmal, wenige Tage lang, etwa achtzehn Monate nach seiner Rückkehr, schien ihn etwas aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben. Er verlief sich einige Male und stieß ständig gegen alle möglichen Gegenstände. Nach einer Woche, in der der Abt sich große Sorgen um ihn gemacht hatte, erholte er sich wieder. Es kam nicht mehr zu derartigen Zwischenfällen. Niemand wusste, was Bruder Adam so verstört hatte.
Bis auf Bruder Luke.
An einem warmen Sommernachmittag hatte der Laienbruder sich erboten, den zurückgekehrten Mönch auf einen Spaziergang, seinen Lieblingsweg am Fluss entlang, zu begleiten.
»Auch wenn ich den Fluss nicht sehen kann, so werde ich ihn zumindest riechen«, meinte Bruder Adam. »Also gehen wir.«
Hin und wieder hatte Luke ihn am Arm nehmen müssen. Doch einige Warnungen vor Hindernissen auf dem Weg hatten genügt, den Wald verhältnismäßig rasch zu durchqueren. Schließlich erreichten sie den Sumpf an der Flussbiegung, wo der Mönch erfreut dem Flügelschlagen einiger Schwäne lauschte, die sich aus dem Wasser erhoben.
Nachdem sie eine Weile schweigend dagestanden und die Sonne auf ihren Gesichtern gespürt hatten, hörte Bruder Adam auf einmal Schritte. »Wer ist das?«, fragte er.
»Jemand, der dich sprechen will«, erwiderte Luke und fügte hinzu: »Ich gehe mal ein Stück.« Auf einmal wurde Adam klar, um wen es sich handelte, und er erschrak.
Sie stand dicht vor ihm. Er konnte sie riechen. Er spürte ihre Gegenwart, wie es nur ein Blinder vermag. Am liebsten hätte er sie angefasst, doch er zögerte, denn er hatte das Gefühl, dass sie nicht allein war.
»Bruder Adam.« Ihre Stimme. Sie klang ruhig und sanft. »Ich habe dir jemanden mitgebracht.«
»Oh. Wen denn?«
»Mein jüngstes Kind. Es ist ein kleiner Junge.«
»Ich verstehe.«
»Gibst du ihm deinen Segen?«
»Meinen Segen?« Er war überrascht. Eigentlich war das keine ungewöhnliche Bitte an einen Mönch, doch angesichts dessen, was sie über ihn wusste… »Wenn du meinst, dass ihm mein Segen weiterhilft«, sagte er. »Wie alt ist denn das Kind?«
»Fünf.«
»Ah, ein schönes Alter.« Er lächelte. »Und wie heißt er?«
»Ich habe ihn Adam genannt.«
»Oh, so wie ich.«
Er spürte, wie sie näher kam, sodass sie einander fast berührten, und dann flüsterte sie ihm etwas ins Ohr. »Er ist dein Sohn.«
»Mein Sohn?« Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitzschlag, sodass er fast ins Taumeln geraten wäre. Ihm war, als hätte er in der Dunkelheit, die ihn umfing, einen goldenen Lichtstrahl gesehen.
»Er weiß es nicht.«
»Du… « Seine Stimme klang gepresst. »Bist du sicher?«
»Ja, Bruder.« Sie wich zurück.
Kurz stand er reglos im Sonnenlicht und fühlte sich, als sei alles um ihn herum ins Schwanken geraten. »Komm, kleiner Adam«, sagte er leise. Und als der kleine Junge sich näherte, betastete er mit den Händen seinen Kopf und sein Gesicht. Wie gerne hätte er ihn hochgehoben und ihn an sich gedrückt, doch das durfte er nicht. »So, Adam«, meinte er sanft. »Sei ein guter Junge, gehorche deiner Mutter und lass dich von einem Namensvetter segnen.« Er legte die Hand auf den Kopf des Jungen und sprach ein kurzes Gebet.
Er wollte dem Jungen etwas geben und überlegte, was er ihm schenken könnte. Da fiel ihm das Kruzifix aus Zedernholz ein, das er vor so langer Zeit von seiner Mutter erhalten hatte. Mit einem Ruck zerriss er den Lederriemen, an dem es um seinen Hals hing, und reichte es dem Jungen. »Das habe ich von meiner Mutter, Adam«, sagte er. »Es heißt, ein Kreuzritter habe es aus dem Heiligen Land mitgebracht. Behalt es immer bei dir.« Dann wandte er sich mit einem Achselzucken an Mary. »Mehr habe ich nicht.«
Die Frau und ihr Sohn entfernten sich, und kurz darauf kehrten Adam und Luke zur Abtei zurück.
Eine Weile sprachen sie kein Wort. Erst als sie die Hälfte des Weges durch den Wald zurückgelegt hatten, fragte Adam: »Sieht der Junge mir ähnlich?«
»Ja.«
In seinen langen Jahren der Blindheit wirkte Bruder Adam besonders friedlich und würdevoll, wenn er an einem sonnigen Nachmittag meditierend in einer Nische des windgeschützten Kreuzganges saß. Den jüngeren Mönchen schien es, als sei er in diesen Momenten nah bei Gott und spräche mit ihm. Es wäre ihnen ungehörig erschienen, ihn dabei zu stören. Und zuweilen traf ihre Vermutung auch zu. Manchmal aber, wenn ihm der Geruch der Wiese und der Gänseblümchen in die Nase stieg und wenn er die warme Sonne spürte, die über dem frater aufging, beschäftigte ihn etwas anderes, und dieser Gedanke erfüllte ihn stets mit großer Freude. Auch wenn er sich damit versündigte, war er dagegen machtlos.
Ich habe einen Sohn. Guter Gott, ich habe einen Sohn.
Eines Nachmittags, als er allein und unbeobachtet war, nahm er sogar das kleine Messer heraus, das er zuvor am Tag benutzt hatte. Vorsichtig ritzte er ein kleines A neben sich in den Stein.
A für Adam. Und selbst wenn er bestraft werden und aus dem Paradies hinaus in die Dunkelheit gejagt werden sollte, würde er es, seinem Sohn zuliebe, wieder tun.
Und so lebte Bruder Adam noch viele Jahre lang in der Abtei Beaulieu und bewahrte sein Geheimnis.