ALBION PARK

 

 

 

1794

 

Es bestand kein Zweifel: Lymington, ja, dem ganzen New Forest standen große Ereignisse bevor.

»Und wenn man bedenkt«, sagte Mrs. Grockleton zu ihrem Mann, »dass der reiche Mr. Morant in Brockenhurst Park lebt und Mr. Drummond jetzt Cadland bewohnt und Miss…« Der Name wollte ihr nicht mehr einfallen.

»Miss Albion?«

»Ja, natürlich, Miss Albion, die sicher eine reiche Erbschaft…«

Gewiss hatte der Schöpfer im Himmel sich etwas dabei gedacht, als er Mrs. Grockleton nicht nur mit einem unstillbaren Hunger nach gesellschaftlichem Aufstieg, sondern auch mit einer gehörigen Portion Vergesslichkeit bedacht hatte. Erst vor einer Woche hatte sie einem durchreisenden Geistlichen ihre Kinder vorgestellt, verkündet, sie habe insgesamt fünf, und sie alle beim Namen genannt. Ihr Mann hatte sie dezent darauf hinweisen müssen, dass es in Wahrheit sechs waren, worauf sie ausrief: »Ja, aber natürlich. Der liebe kleine Johnny war mir ganz entfallen.«

Ungeachtet ihres Ehrgeizes war Mrs. Grockleton jedoch nicht böswillig. Sie hatte einige Eigenheiten, zum Beispiel ihren ausgeprägten Hang zu einer altertümlichen Ausdrucksweise. Niemand wusste, ob sie das geistreich fand oder ob sie damit andeuten wollte, sie entstamme einem alten Adelsgeblüt. Jedenfalls hielt sie stets mehrere Jahre an einer ihr elegant scheinenden Redewendung fest. Wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hatte, lautete ihre derzeitige Lieblingsfloskel »mir deucht«. Zerbrach sie eine Tasse oder erzählte sie eine lustige Anekdote über einen betrunkenen Vikar, unterstrich sie das mit »meiner Treu«. Man hätte meinen können, sie habe am Hof von Karl II. persönlich verkehrt.

Außerdem kultivierte sie voller Hingabe den bedeutungsschwangeren Blick. Mit ihren dunkelbraunen Augen fixierte sie ihr Gegenüber derart starr und intensiv, dass dieses sich sogleich über die Masse erhoben fühlte. Und wenn dieser Blick auch noch von einem »mir deucht« begleitet wurde, konnte man sicher sein, dass einem zumindest ein Staatsgeheimnis anvertraut werden sollte.

Bedenkt man, dass Mrs. Grockleton Tochter eines Schneiders aus Bristol und Gattin eines Zollinspektors war, so darf man ihr vornehmes Gehabe als ein Beispiel für den Triumph des menschlichen Willens deuten.

Mrs. Grockleton war mittelgroß und trug eine kunstvoll aufgetürmte, gepuderte Frisur. Ihr Mann war lang und hager und hatte Hände, die merkwürdig an Klauen erinnerten. Und Mrs. Grockletons erklärtes Ziel war es, Lymington – natürlich unter ihrer Ägide – so rasch wie möglich in einen Tummelplatz der besseren Gesellschaft zu verwandeln, neben dem selbst das angesehene Bath verblasste.

Samuel Grockleton knirschte mit den Zähnen. Für einen Mann war es schwer mit anzusehen, wie seine Frau zielsicher dem Untergang entgegensteuerte, insbesondere dann, wenn er selbst es war, der diese Katastrophe herbeiführen würde. »Du darfst unsere gesellschaftliche Stellung nicht vergessen, Mrs. Grockleton«, erinnerte er sie. »Allein schon wegen meines Amtes können wir uns keine allzu großen Hoffnungen machen.«

»Dein Amt lässt nichts zu wünschen übrig, Mr. Grockleton. Und es ist eines Gentlemans würdig.«

»Mag sein.«

»Aber, aber, Mr. Grockleton. Ich bin sicher, dass man dich allgemein achtet und schätzt. Das höre ich tagaus, tagein.«

»Nachbarn halten sich nicht mehr an die Wahrheit. Denk nur, was sie neulich über unsere Kinder gesagt haben.«

»Ach, Unsinn«, meinte seine Frau vergnügt. Und schon im nächsten Moment begann sie wieder Zukunftspläne zu schmieden.

Man konnte ihr so manchen Vorwurf machen, doch faul war sie gewiss nicht. Bereits nach einem Monat in Lymington war ihr aufgefallen, dass hier eine Akademie für junge Damen fehlte.

Und da das Backsteinhaus neben ihrem, gleich hinter der Kirche oben an der High Street, zufällig zu vermieten war, hatte sie ihren Mann überredet, es zu nehmen, und dort ihr Institut eröffnet.

Sie ging sehr geschickt zu Werk. Zuerst hatte sie die Tochter des Bürgermeisters und ihre beste Freundin angeworben, deren Vater, ein Anwalt, einer Adelsfamilie in der benachbarten Grafschaft angehörte. Dann hatte sie sich an die Tottons gewandt. Diese bewohnten inzwischen ein stattliches Haus vor der Stadt. Mr. Totton war zwar nur Kaufmann, doch seine Schwester hatte den alten Mr. Albion von Haus Albion geheiratet. Edward Totton, der Sohn, studierte in Oxford. Mrs. Grockleton war sicher, dass der ortsansässige Adel ihre Akademie anerkennen würde, wenn sie auch Louisa Totton als Schülerin gewann. Und es gab noch eine weitere angesehene Kaufmannsfamilie, die jedoch noch nicht lange in der Gegend lebte. Mr. St. Barbe handelte zwar mit Lebensmitteln, Salz und Kohle, war jedoch ein sehr gebildeter und mildtätiger Mann und eine Stütze der Gemeinde. Also wurde auch eine Tochter der St. Barbes in die Akademie aufgenommen. Innerhalb eines Monats gelang es Mrs. Grockleton auf diese Weise, fast zwanzig junge Damen an ihrem Hort der Bildung zusammenzutreiben. Einige von ihnen mussten nicht alle Unterrichtsstunden besuchen. Anderen, die weiter entfernt wohnten, diente die Schule auch als Pensionat.

Auf zwei Eigenschaften ihrer Akademie war Mrs. Grockleton besonders stolz. Es wurde Französisch unterrichtet, und zwar von ihr selbst. Sie hatte diese modische Sprache unter ziemlich bescheidenen Umständen als junges Mädchen von einer französischen Schneiderin in Bristol gelernt, und dass sie diese fließend beherrschte, hob ihr gesellschaftliches Ansehen in Lymington um einiges. Französischkenntnisse waren für die Kaufmannstöchter von Lymington gewiss nicht von Nachteil, wenn sie in Londoner Herrschaftshäusern oder an den Höfen Europas bestehen wollten. Dass man so auch Konversation mit den charmanten, jungen französischen Offizieren betreiben konnte, die seit einiger Zeit in der Stadt stationiert waren, bedeutete einen weiteren Anreiz.

Außerdem wurde auch noch Kunstunterricht erteilt. Reverend William Gilpin war nicht nur seit zwanzig Jahren der allseits geliebte und geachtete Vikar von Boldre, sondern auch ein anerkannter Künstler, der hin und wieder seine Zeichnungen und Gemälde für wohltätige Zwecke verkaufte. Mrs. Grockleton hatte zwei davon erworben. Und als Mr. Gilpin kurz darauf an der Akademie einige Preise verteilte, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass die jungen Damen dazu ermutigt wurden, seine Werke nachzuahmen oder sogar zu kopieren. Der Vikar war kein Narr. Doch nach diesem Erlebnis fiel es ihm schwer, das Angebot abzulehnen, einmal im Monat einen Vortrag oder einen Kurs an der Akademie zu halten. Und offen gestanden hatte er große Freude daran.

So wurde Mrs. Grockletons Institut immer größer. Und wie sie es beabsichtigt hatte, zogen ihre Bemühungen immer weitere Kreise. Auf die Töchter der besseren Familien in der Stadt folgten die der Adeligen aus der Umgebung. Auf gewundenen Pfaden – ähnlich den Gängen im Haus einer Tritionschnecke – wurden schließlich auch junge Damen aus noch entfernteren Herrensitzen sanft in den Schoß der Akademie gelockt. Inzwischen belegte Miss Fanny Albion gemeinsam mit ihrer Cousine Louisa Totton Französisch – ein Triumph, der die ehrgeizige Gründerin der Akademie mit großer Freude erfüllte. Und gewiss würden andere diesem Beispiel folgen. Nur eine Familie hatte Mrs. Grockletons Anwerbungsversuchen bis jetzt hartnäckig widerstanden: die Burrards.

Diese genossen inzwischen eine hohe Stellung in Lymington, hatten sie doch schon vor langer Zeit ein Landgut namens Walhampton am Flussufer gegenüber von Lymington erworben. Nachdem sie seit vielen Generationen in adelige Familien wie die der Buttons eingeheiratet hatten, konnten sie sich nun selbst zu dieser Schicht zählen. Allerdings betrieben sie ihre Geschäfte noch immer von Lymington aus, und sie bestimmten auch die Politik in der Stadt. Bis jetzt war es Mrs. Grockleton noch nicht gelungen, auch nur das Parktor der Burrards zu durchschreiten. Doch sie war überzeugt davon, dass sich auch dieser Traum irgendwann erfüllen würde.

Die Akademie war nur als Anfang gedacht, denn die ehrgeizige Dame hatte noch größere Pläne. »Ich sehe es deutlich vor mir, Mr. Grockleton«, verkündete sie. Und das konnte man in gewisser Weise wörtlich nehmen. Von dem Hügel oberhalb der Pennington Marshes und des Meeres konnte man zahlreiche stattliche georgianische Häuser und Villen erblicken. Die mittelalterlichen Häuser an der High Street waren zwar noch gut in Schuss, hatten aber inzwischen fast alle glatte georgianische Fassaden. Mrs. Grockleton glaubte, dass sich die letzten mittelalterlichen Giebel sicher leicht verkleiden ließen. Die bescheidene Badeanstalt unten am Strand wollte sie in ein Ebenbild der römischen Bäder umwandeln. Selbstverständlich würden die Versammlungsräume neben dem Angel Inn überhaupt nicht zu dieser neuen Sommerfrische passen. Ein neues, prächtigeres Gebäude im klassischen Stil oben auf dem Hügel war also unabdingbar, natürlich ganz in der Nähe von Mrs. Grockletons eigenem Haus.

Und dann war da auch noch das Theater, das über einen schlichten Zuschauerraum mit Holzbänken für die einfachen Leute, ein paar Logen für den Adel und eine Empore mit den billigeren Plätzen verfügte. In der Saison von Juli bis Oktober wurden dort Shakespeare, eine von Mr. Sheridans Komödien und ein breites Repertoire von Lustspielen, Melodramen und Tragödien gegeben. Wenn die Stadt erst einmal in Mode kam, würde man ganz sicher auch das Theater renovieren müssen. Mrs. Grockleton bedauerte nur, dass es genau neben der Baptistenkirche stand, einem Gebäude, das ihrer Ansicht nach das Auge der besseren Gesellschaft beleidigte.

Doch der schlimmste Stein des Anstoßes befand sich ihrer Meinung nach unten am Strand. Die Salzgärten mit ihren schmutzigen kleinen Kaminen und den windbetriebenen Pumpen und der Kai, wo die Schiffe aus dem nördlichen Newcastle die Kohle – ausgerechnet Kohle! – abluden, um besagte Kamine zu beheizen. Man musste etwas dagegen unternehmen. Auch wenn die Tottons noch von den Salzgärten profitierten, würde sich die bessere Gesellschaft dort am Strand ergehen wollen. Die Salzgärten entsprachen nicht mehr der neuen Zeit.

Waren all diese Pläne nur ein Hirngespinst von Mrs. Grockleton? Nein, nicht ganz. Wie im Rom der letzten Tage dürstete es die englische Oberschicht nach Erfrischung und Zerstreuung. In Westengland hatte man dem alten römischen Seebad Bath zu einer neuen Blüte verholfen und rund um die Mineralquelle einen großzügig angelegten Ferienort errichtet. In jüngerer Zeit interessierte man sich am Hof von König George III. nicht nur für die heilsame Wirkung von Mineralwässern, sondern auch für die des Meeres selbst, in der Hoffnung, den König auf diese Weise von seinen Wahnanfällen zu heilen. Während der letzten Jahre war König George auf dem Weg zu dem kleinen Seebad Weymouth, etwa sechzig Kilometer weiter die Küste hinauf, häufig durch den New Forest gekommen. Er hatte bei den Drummonds und den Burrards Quartier genommen und die Insel Wight besucht.

»Warum fährt er den ganzen Weg nach Weymouth, obwohl Lymington viel näher und gewiss genauso erholsam ist?«, verkündete Mrs. Grockleton. Schließlich verbrachten viele angesehene Leute die Sommerfrische in Lymington. Wenn der König regelmäßig hier einkehrte, würde die bessere Gesellschaft ihm sicher folgen. »Und dann«, erklärte Mrs. Grockleton ihrem schweigenden Gatten, »wird uns dank der Akademie und meiner anderen Pläne niemand mehr die kalte Schulter zeigen können. Schließlich sind wir dann bereits vor Ort. Wir werden im Mittelpunkt stehen.« Fröhlich lächelte sie ihm zu. »Denn meinen letzten Einfall habe ich dir noch gar nicht verraten, Mr. Grockleton.«

»Und der wäre?«, fragte er besorgt.

»Wir geben einen Ball.«

»Einen Ball? Mit Tanz?«

»Ganz richtig. In den Versammlungsräumen. Verstehst du, Mr. Grockleton? Wegen unserer Mädchen an der Akademie und ihren Familien und Freunden werden alle erscheinen.« Sie erwähnte es zwar nicht, aber sie hatte insgeheim auch schon die Burrards mitgezählt.

»Vielleicht kommt auch gar niemand«, entgegnete Mr. Grockleton mit einem weisen Nicken.

»Ach, Unsinn, Mr. Grockleton«, meinte Mrs. Grockleton, diesmal ein wenig heftiger.

Mr. Grockleton hatte allen Anlass zu dieser Befürchtung, denn er wusste etwas, was seine Frau noch nicht ahnte und was er ihr leider nicht verraten durfte.

 

 

Man hätte meinen können, dass das Zeitalter der Wunder im georgianischen England vorbei war. Doch in dem Augenblick, als Mrs. Grockleton ihrem Mann seinen mangelnden Glauben an Lymingtons Zukunft vorwarf – also gegen elf Uhr an einem Frühlingsmorgen –, geschah einige Kilometer entfernt in Beaulieu genau ein solches. Es trug sich an einer geschäftigen Stelle am Fluss von Beaulieu zu, die Buckler’s Hard hieß.

Denn hier war mitten im hellen Tageslicht ein Mann plötzlich unsichtbar geworden.

Buckler’s Hard – ein Hard war damals eine steile Uferstraße, über die man Boote an Land ziehen konnte – lag in einer malerischen Umgebung. Der Fluss beschrieb hier eine Kurve nach Westen. Die Uferbänke, mancherorts fast zweihundert Meter breit, fielen sanft zum Wasser hin ab. Etwa drei Kilometer stromabwärts stand die alte Abtei, etwa in gleicher Entfernung stromaufwärts begannen die Wasser des Solent. Es war ein friedlicher, vor der Meeresbrise geschützter Ort. Vor langer Zeit, als hier noch die Mönche lebten, wäre ein erboster Prior mit klauenähnlichen Händen an der Flussbiegung fast mit einigen Fischern aneinander geraten. Doch seitdem war die Ruhe in dieser verschwiegenen Bucht und den mit Schilf bewachsenen Marschen am anderen Ufer nur noch selten von Geschrei gestört worden. Die Abtei gab es nicht mehr, die Mönche waren fort. Die Armada, der Bürgerkrieg, Cromwell und Karl II. sie alle waren mehr oder weniger spurlos an diesem stillen Ort vorbeigegangen. Niemand hatte sich um Buckler’s Hard gekümmert. Bis vor siebzig Jahren.

Der Grund war Zucker.

Von allen Einkommensquellen, mit denen man im achtzehnten Jahrhundert gewaltigen Wohlstand anhäufen konnte, war Zucker wohl die ertragreichste. Die Zuckerhändler verfügten über eine mächtige Lobby im Parlament. Der reichste Mann Englands, der westlich von Sarum ein prächtiges Landgut erworben hatte, war Erbe eines Zuckerimperiums. Und die Morants, denen nun Brockenhurst und andere Güter im New Forest gehörten, bildeten ebenfalls eine Zuckerdynastie.

Das Land der alten Abtei von Beaulieu war durch Heirat von den Wriothesleys an die Familie Montagu und somit an den Herzog von Montagu übergegangen. Wie viele mächtige englische Aristokraten des achtzehnten Jahrhunderts war er Unternehmer. Zwar interessierte er sich nur wenig für die Ruinen der alten Abtei, aber er wusste, dass sich der Fluss von Beaulieu ausgezeichnet für die Schifffahrt eignete. Außerdem besaß er noch die alten Flussrechte der Abtei. »Wenn die Krone mir einen Freibrief gewährt, in Westindien eine Siedlung zu gründen«, überlegte er, »kann ich dort nicht nur eine Zuckerplantage eröffnen, sondern den Zucker auch zu meinem eigenen Hafen in Beaulieu bringen.«

Das Flussufer war zwar zum Großteil schlammig, bestand aber in der geschützten Biegung aus Kies, der sich ausgezeichnet als Baugrund eignete. Bald war ein Plan für ein kleines, aber hübsches Hafenstädtchen erstellt. »Wir nennen es Montagu Town«, verkündete der Herzog.

Doch leider kam alles ganz anders. Eine Privatflotte wurde, beladen mit Siedlern, Vieh und sogar mit Fertighäusern, nach Westindien entsandt, was den Herzog zehntausend Pfund kostete. Die Siedlung wurde errichtet, aber die Franzosen jagten die Engländer davon, und der Herzog musste seine hochfliegenden Träume begraben. In Montagu Town war das Ufer bereits gerodet und eingeebnet worden, und man hatte schon eine kleine Straße zum Fluss gebaut. Dann wurden die Arbeiten eingestellt. Für die nächsten zwanzig Jahre kehrte wieder Ruhe ein.

Allerdings war das Gelände nun erschlossen, und kurz vor der Mitte des Jahrhunderts fand man mit Unterstützung des Herzogs einen Weg, sich diesen Umstand zu Nutze zu machen.

Da das britische Empire wuchs, drohten immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Mächten wie Frankreich und Spanien. Und bei jedem anstehenden Konflikt brauchte man neue Schiffe. Hier im New Forest stand ausreichend Holz für Kriegsschiffe zur Verfügung. Für Handelsschiffe verwendete man Eichen von den Privatgütern der Umgebung. Eine Eisengießerei, die man in der alten Klosterfischerei in Sowley Pond eingerichtet hatte, lieferte die nötigen Metallteile. Und so wurde in Buckler’s Hard eine Schiffswerft eröffnet.

Sie war zwar nicht sehr groß, musste aber nie über Auftragsmangel klagen. Nach Handelsschiffen bestand eine rege Nachfrage, Kriegsschiffe wurden nach Bedarf gebaut, wenn irgendwo wieder Unruhen ausbrachen – wie zum Beispiel der amerikanische Unabhängigkeitskrieg. Und nun, in den Jahren nach der Französischen Revolution, die eine Gefährdung für jede europäische Monarchie darstellte, führte Großbritannien erneut Krieg gegen Frankreich.

Am Fluss, in einem schrägen Winkel zum Ufer angelegt, befanden sich die fünf Hellinge, wo die Schiffe gebaut wurden. Überall an der Straße und an einigen Sammelplätzen sah man riesige Holzstapel. Die Arbeiter wohnten zum Großteil zwei bis drei Kilometer entfernt, entweder im Dorf Beaulieu oder am westlichen Rand von Montagus Gut in einer neu gegründeten Siedlung namens Beaulieu Rails. In Buckler’s Hard selbst standen das Haus des Schiffsbaumeisters, eine Schmiede, ein Laden, zwei kleine Gasthöfe, eine Schusterei und die Katen der Vorarbeiter.

An diesem sonnigen Frühlingsmorgen hatte man früh mit der Arbeit begonnen. Aus der Esse des Schmieds schlängelte sich fröhlich ein Rauchfaden. Mr. Henry Adams, Schiffsbaumeister und der Inhaber der Werft, der trotz seiner achtzig Jahre auch weiterhin überall nach dem Rechten sah, verließ gerade sein Haus. Seine beiden Söhne begleiteten ihn. Am Ufer wurde emsig gesägt und gehämmert. Männer schleppten Holzbohlen; vor dem Gasthof Ship Inn stand ein Wagen.

Doch niemand bemerkte Puckle, als dieser aus Beaulieu Rails mit gehöriger Verspätung zum Dienst erschien und die Straße entlangschritt. Die Männer an der Säge blickten zwar kurz hoch, nahmen ihn aber nicht wahr. Auch den Frauen am Dorfbrunnen fiel er nicht auf. Der Schuster, die Wirte, die Holzträger, die Schiffsbauer, ja sogar der alte Mr. Adams mit seinen Adleraugen und seine beiden aufgeweckten Söhne – keiner dieser braven Leute sah Puckle, als er an ihnen vorbeimarschierte. Er war absolut unsichtbar.

Das Wunder wurde noch dadurch vergrößert, dass alle auf der Werft geschworen hätten, er wäre den ganzen Vormittag da gewesen, als er auf das Schiff kletterte, das sich gerade am Ufer im Bau befand.

 

 

»Diese hier ist die beste«, lobte Reverend William Gilpin. Mit einem erfreuten Lächeln steckte Fanny Albion ihre Zeichnungen zurück ins Skizzenbuch. Sie war derselben Ansicht.

Sie saßen am Fenster der Bibliothek im Pfarrhaus – einem großen georgianischen Gebäude, vor dessen Tür eine hohe Buche wuchs.

Der Vikar von Boldre war ein stattlicher alter Herr. Vielleicht ein wenig korpulent, aber breitschultrig. Er und die Erbin von Haus Albion waren einander sehr zugetan. Der würdige Kirchenmann war ein Mensch, den man einfach gern haben musste. Und er fand, dass Fanny, die er selbst getauft hatte, eine sehr reizende junge Dame war – immer gütig und rücksichtsvoll und außerdem lebensfroh, klug und künstlerisch recht begabt. Er genoss ihre Gesellschaft. Ihr helles Haar hatte einen leicht rötlichen Schimmer, ihre Augen waren von einem strahlenden Blau, und sie hatte eine reine Haut. Wäre er dreißig Jahre jünger und nicht glücklich verheiratet gewesen, hätte er – wie er sich selbst offen eingestand – Fanny Albion wohl einen Heiratsantrag gemacht.

Bei ihrer Zeichnung handelte es sich um eine Ansicht des New Forest, ein Blick von der Heide von Beaulieu an Oakley vorbei über ein vom Dunst verschleiertes Meer zur entfernten Insel Wight. Eine Arbeit, die Talent bewies. Den Erdboden – in Wirklichkeit nur leicht gewellt – hatte Fanny klugerweise erhöht und eine einsame Eiche hinzugefügt. Und sie hatte Recht gehabt, den kleinen Ziegelofen in der Nähe wegzulassen. Heide und Wald wirkten wohl geordnet und dennoch sehr natürlich, die See hatte etwas Geheimnisvolles an sich, das dem Auge schmeichelte. Die Zeichnung war – und das war das höchste Lob, das der Reverend zu vergeben hatte – ausgesprochen pittoresk.

Denn wenn es eine irdische Angelegenheit gab, an die Reverend William Gilpin glaubte, war es die Bedeutung des Pittoresken. Sein Traktat zu diesem Thema hatte ihn berühmt gemacht und stieß allerorten auf Bewunderung. Auf der Suche nach dem Pittoresken war er quer durch Europa gereist, hatte die Schweizer Berge, die Täler Italiens und die Flüsse Frankreichs besucht und dort gefunden, was er suchte. Auch in England gebe es, wie er seinen Lesern versicherte, pittoreske Landschaften, wobei besonders der Lake District im Norden hervorzuheben sei.

Die georgianische Ära war eine Zeit der Ordnung. Die großen Landhäuser der Adeligen im griechisch-römischen Stil zeugten vom Sieg des vernünftigen Menschen über die Natur. Man pochte auf guten Geschmack. Riesige Parks, angelegt von dem Gartengestalter Lancelot Capability Brown, mit ausgedehnten Rasenflächen und sorgfältig platzierten Wäldern bewiesen, dass der Mensch – sofern er über ein hübsches Vermögen verfügte – der Natur durchaus ein wenig Anmut beibringen konnte. Doch als das Zeitalter der Aufklärung voranschritt, schwand die Bereitschaft der Menschen, sich ihrem strengen Diktat zu beugen. Und so hatte Browns Nachfolger, der geniale Repton, begonnen, die kahlen Parks mit Blumengärten und idyllischen Spazierwegen zu ergänzen. Allmählich betrachtete man die Natur nicht mehr als gefährliches Durcheinander, sondern als freundliche Schöpfung Gottes. Man ging außerhalb der Parks spazieren und begab sich auf die Suche nach dem Pittoresken, wie Gilpin es forderte.

Nach Ansicht des Reverend gab es eindeutige Kriterien, nach denen man es erkennen konnte. Alles war eine Frage des Stils. Das flache, kultivierte Avontal gefiel ihm nicht. Aus demselben Grund konnte er den geordneten Abhängen der Insel Wight ebenfalls nur wenig abgewinnen. Aus der Ferne betrachtet mochten ihre blau schimmernden Umrisse ja beeindruckend wirken, doch dieser Eindruck änderte sich schlagartig, wenn man mit dem Boot hinüberfuhr und sie sich aus der Nähe ansah. Baumlose Heiden, so wild sie auch waren, langweilten den Kirchenmann. Nur das Wechselspiel zwischen Wald, Heide, Berg und Tal war ein sicheres Zeichen, dass der liebe Gott bei der Erschaffung der Welt eine glückliche Hand gehabt hatte. Bei einem solchen Anblick lächelte Reverend William Gilpin seine Schülerin an und sagte mit tiefer, sonorer Stimme: »Das ist aber wirklich pittoresk, Fanny.«

Mit ihrer folgenden Bemerkung bereitete sie ihm eine noch größere Freude als mit ihrer Zeichnung. Denn sie blickte eine Weile nachdenklich aus dem Fenster und meinte dann: »Haben Sie jemals daran gedacht, dass wir neben Haus Albion eine Ruine bauen könnten?«

Wenn es etwas auf Erden gab, das Mr. Gilpin noch mehr liebte als Gottes freie Natur, dann waren das Ruinen.

England strotzte nur so von Ruinen. Zuerst einmal waren da natürlich die Schlösser. Doch die Trennung von Rom und die Gründung der anglikanischen Hochkirche, der auch Mr. Gilpin angehörte, hatten außerdem den Verfall zahlreicher Kirchen, Klöster und Abteien gefördert. Unweit des New Forest standen die Klöster Christchurch und Romsey; gegenüber von Southampton gab es ein kleines Zisterzienserkloster namens Netley, dessen Ruine am Wasser eindeutig pittoresk war. Und selbstverständlich durfte man die gewaltige Ruine der Abtei von Beaulieu nicht vergessen, auch wenn diese im Laufe von zwei Jahrhunderten um einige Steine ärmer geworden war.

Ruinen gehörten zur natürlichen Landschaft. Sie schienen aus dem Boden zu wachsen und waren geheimnisvolle und dennoch sichere Orte, wo es sich in Ruhe nachdenken ließ.

»Eine Ruine zu bauen, Fanny«, mahnte der Vikar seine Schülerin, »ist sehr teuer.« Man benötigte dazu große Mengen Stein, kunstfertige Maurer, die sie verarbeiteten, einen erfahrenen Altertumskenner, der sie entwarf, und zu guter Letzt einen Gartengestalten Der Stein musste künstlich gealtert werden. Außerdem waren Zeit und Glück vonnöten, um Moose, Efeu und Flechten an den richtigen Stellen zum Wachsen zu bringen. »Lassen Sie lieber die Finger davon, Fanny«, warnte Gilpin, »falls Sie nicht dreißigtausend Pfund dafür ausgeben wollen.« Es war um einiges billiger, sich ein schönes neues Haus zu bauen. »Aber ich hätte einen Vorschlag, was Sie unternehmen könnten, wenn das Haus einmal Ihnen gehört«, fügte er fröhlich hinzu. Man durfte die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass der alte Mr. Albion nun schon fast neunzig Jahre zählte, weshalb Fanny in gewiss nicht allzu ferner Zeit Herrin des Gutes sein würde.

»Und das wäre?«

»Sie könnten ein gotisches Haus daraus machen. Albion Castle. Die Lage«, fuhr er fort, »eignet sich vorzüglich.«

Das war wirklich ein hübscher Einfall. Bei einer Reise nach Bristol im vergangenen Jahr hatte Fanny ein entzückendes Beispiel dafür gesehen. Ein georgianisches Haus konnte man umbauen und hie und da ein paar Verzierungen hinzufügen. Am Dach ließen sich künstliche Zinnen anbringen, die Fenster konnte man mit lotrechtem gotischem Maßwerk versehen. Mit Hilfe von Stuck ließen sich Zimmerdecken in Fächergewölbe verwandeln.

»Das wäre möglich«, stimmte Fanny zu. »Ja, ich glaube, ich werde es tun.« Ihr Blick wurde nachdenklich. »Aber ich denke nicht«, fügte er zögernd hinzu, »dass ich mich allein an ein solches Unternehmen wagen würde. Ich bräuchte eine führende Hand.« Sie lächelte spitzbübisch. »Oder zumindest die Unterstützung eines Ehemannes. Finden Sie nicht?«

William Gilpin senkte sein ergrautes Haupt und verfluchte das Schicksal dafür, dass er schon so alt war. »Haben Sie jemand Bestimmten im Sinn, Fanny?«

Obwohl an Bewerbern sicher kein Mangel bestanden hätte, hatte Fanny sich wegen des hohen Alters und der Gebrechlichkeit ihres Vaters aus freien Stücken für ein zurückgezogenes Leben entschieden. Dabei war sie alles andere als schüchtern und ein sehr fröhliches Mädchen. Mit ihren neunzehn Jahren wusste sie genau, dass sie – obwohl nicht Erbin eines gewaltigen Vermögens – wegen ihres Reichtums überall willkommen sein würde. In jener Zeit trugen junge Männer und Frauen der tatsächlichen oder so genannten besseren Gesellschaft ihren Besitz wie ein Preisschild um den Hals. Jede Dame des Hauses kannte den genauen Wert ihrer Gäste. Vermutlich hatte es in der englischen Geschichte nie eine Epoche gegeben, in der man mehr aufs Geld achtete. Und zum Glück brauchte Fanny sich diesbezüglich keine Sorgen zu machen.

»Im Augenblick nicht«, erwiderte sie.

»Soweit ich weiß, wollten Sie doch bald Ihren Cousin Totton in Oxford besuchen.«

»Nächste Woche.« Edward Totton würde in Kürze sein Studium abschließen. Fanny und seine Schwester Louisa beabsichtigten, ein paar Tage bei ihm zu verbringen, und sie freute sich schon sehr auf diese Reise.

»Dann werden Sie gewiss einem armen Gelehrten mit einer Schwäche für die Gotik begegnen, der Sie mit seinem Wissen beeindruckt«, scherzte der Reverend. »Und nun muss ich in meine kleine Schule. Heute findet dort ein wichtiges Ereignis statt. Und da es auf Ihrem Weg liegt, können wir ja zusammen gehen.«

 

 

Unauffällig schlenderte Samuel Grockleton die High Street von Lymington entlang.

In Größe und Form hatte sich die Stadt seit dem Mittelalter kaum verändert. Doch inzwischen verfügten fast alle Häuser an dem breiten Abhang über georgianische Fassaden. Manche beherbergten Läden mit Bodenfenstern.

Als er am Angel Inn vorbeikam, begrüßte ihn der Wirt, Mr. Isaac Seagull, der in der Tür stand, mit einer Verbeugung und einem Lächeln. Grockleton blickte sich um. Auch die Wirtin des Nag’s Head gegenüber war draußen und lächelte ihm zu.

»Guten Morgen, Mr. Grockleton.«

Grockleton bemerkte, dass das Wirtshausschild des Nag’s Head mit einem leichten Knirschen in der Meeresbrise hin und her schwankte. War es Zufall, oder blieben die Leute auf der Straße wirklich stehen? Nur seine Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster wider. Alle anderen Einwohner der Stadt hielten inne und starrten ihn an. Hundert Gesichter, wie bemalte Masken bei einer Prozession oder Vermummte im Karneval. Was mochte sich hinter ihrem höflichen Lächeln verbergen?

Sein schwarzer Gehrock, die gestärkte Halsbinde, die weiße Kniehose, all das fühlte sich plötzlich an wie gehärteter Mörtel und hinderte Grockleton in seinen Bewegungen. Sein hoher, breitkrempiger Hut erschien ihm schwer wie Blei, als er ihn am Buchladen vor einer Dame lüpfte.

Ihm war klar, was die freundlichen Gesichter zu bedeuten hatten. Die ganze Stadt war bereits im Bilde.

In der vergangenen Nacht hatte wieder eine Schmuggelfahrt stattgefunden – und er, Grockleton, war der Zollinspektor.

Schon viele Jahrhunderte lang schafften die Wollschmuggler von Lymington illegal Wolle aus England heraus. Inzwischen jedoch ging es nicht mehr um die Ausfuhr, sondern um die Einfuhrzölle. Und genau da lag das Problem.

Das Geschäft hatte gewaltige Ausmaße angenommen. Immer mehr Waren wurden eingeführt: Seide, Spitze, Perlen, Baumwollstoffe, Weine, Obst, Tabak und Schnupftabak, Kaffee, Schokolade, Zucker und Gewürze – die Liste war ellenlang. Mittlerweile mussten fünfhundert verschiedene Handelsgüter versteuert werden. Und am meisten Zoll verlangte der Staat für die beiden Dinge, ohne die die Engländer nicht leben zu können glaubten und deren Verlust sicher dazu führen würde, dass ihre Insel in den Wogen versank: Tee und Brandy.

»Es ist dumm von den Leuten, auf die Zölle zu schimpfen«, beklagte Grockleton sich häufig bei seiner Frau. »Schließlich werden damit die Kriegsschiffe bezahlt, die unseren Handel schützen.«

»Ich halte das auch für unvernünftig«, stimmte Mrs. Grockleton zu.

Doch ganz gleich, wie man auch darüber denken mochte, Zollvermeidung war ein beliebter Zeitvertreib und das Schmuggeln weit verbreitet. Da es den Zollbeamten oblag, diesen Brauch zu unterbinden, erfreuten sie sich keiner großen Beliebtheit. Der oberste Steuereinnehmer der Region hatte seinen Sitz in Southampton. Grockleton, sein direkter Untergebener, war für Lymington zuständig. Ein weiterer, rangniederer Beamter versah seinen Dienst an der Küste in Christchurch.

Die Zollinspektoren verfügten über schnelle Segelkutter, mit denen sie die Schmuggelboote abfangen sollten. Alle sechs Kilometer patrouillierten berittene Offiziere die Küste. Am Hafen kontrollierten Wachen die ankommenden Schiffe. Eichspezialisten überprüften Fässer, alle Waren wurden gewogen und geprüft.

Zollinspektoren wie Grockleton waren fast immer Ortsfremde, damit sie sich niemandem in der Stadt verpflichtet fühlten. Häufig handelte es sich um Beamte, die zuvor bei einer anderen Behörde tätig gewesen waren. Das Salär war zwar bescheiden, doch man gestand dem Beamten einen ordentlichen Anteil an der beschlagnahmten Schmuggelware zu. Man hätte meinen können, dass dieser Umstand die Wachsamkeit förderte. Aber wie Grockleton wusste, hatte der Zollinspektor in Christchurch seine berittenen Männer angewiesen, ihre Erkundungsritte einzustellen und wegzusehen, falls sie dennoch etwas Verbotenes bemerken sollten.

Allerdings waren nicht alle Staatsdiener so zurückhaltend. Drüben auf der Insel Wight zollten alle Bewohner zähneknirschend dem äußerst pflichtbewussten Inspektor William Arnold Respekt. Trotz geringer Unterstützung durch die Regierung hatte er mit eigenen Mitteln einen schnellen Kutter gekauft, um auf den Gewässern zu patrouillieren, und das mit großem Erfolg. Hätten auch die anderen Küstenstädte derartige Schiffe besessen, für die Schmuggler wären schwere Zeiten angebrochen.

Doch es gab auch andere Wege, der Übeltäter habhaft zu werden. Und man musste Grockleton trotz seiner Fehler zugute halten, dass er ein fleißiger und mutiger Mann war. Wenn sein neuer Plan aufging, würde er bald der meistgehasste Mann der Grafschaft sein.

Er schlenderte weiter die Straße entlang zum Kai. Inzwischen hatten sich die Leute wieder in Bewegung gesetzt, aber sie beobachteten ihn immer noch. Er spürte förmlich die Blicke in seinem Rücken. Unten an der Straße stand das Zollhaus, wo er seinen Arbeitsplatz hatte.

Kurz bevor er es erreichte, bemerkte er den Franzosen. Wie die Leute zuvor verbeugte sich auch dieser und lächelte höflich. Allerdings aus einem anderen Grund. Er und seine Landsleute hielten sich als Gäste Seiner Majestät in Lymington auf, und aus diesem Grunde war es seine Pflicht, Zollbeamten mit Respekt zu begegnen.

Der Graf – denn der Mann war nicht nur Regimentskommandeur, sondern auch Aristokrat – war ein äußerst angenehmer Zeitgenosse, der bei Mrs. Grockleton in höchstem Ansehen stand, weil er sie behandelte als wäre sie eine Herzogin. Da einige seiner Verwandten im Verlauf der Französischen Revolution auf der Guillotine den Tod gefunden hatten, strahlte er – zumindest in Mrs. Grockletons Augen – eine romantische Tragik aus. Der Graf brannte darauf, so rasch wie möglich gemeinsam mit anderen Adeligen, den in Lymington stationierten Truppen und weiteren französischen Emigranten gegen die neue Revolutionsregierung in Frankreich in den Kampf zu ziehen.

»Bald, Monsieur le Comte«, pflegte Mrs. Grockleton dann zu seufzen. »Gewiss kommen wieder bessere Zeiten.« Dass England den Großteil des letzten Jahrhunderts mit dem royalistischen Frankreich Krieg geführt hatte, war ihr in Gegenwart des charmanten französischen Adeligen völlig entfallen.

Also war es nicht überraschend, dass der Zollinspektor beim Anblick des Franzosen in die Tasche griff und einen Brief herausholte. Ein Passant hörte die Worte, mit denen er dem Grafen das Schreiben überreichte: »Ein Brief von meiner Frau, Graf.« Dann ging Grockleton weiter zum Zollhaus.

Wenig später öffnete der Graf in der Abgeschiedenheit seines Zimmers den Brief und las ihn mit entsetzter Miene. »Mon Dieu!«, murmelte er. »Was soll ich jetzt tun?«

 

 

Von Reverend Gilpins Haustür aus verlief eine gerade Straße zwischen Hecken und kleinen Feldern hindurch und kreuzte im rechten Winkel einen anderen Weg. Im warmen Sonnenlicht schlenderte Gilpin, einen großen Hut auf dem Kopf und einen Spazierstock in der Hand, dahin. Fanny trug ein langes Kleid und einen Umhang. Die beiden Freunde genossen ihren Spaziergang. Heute war das bescheidene Gebäude ihr Ziel, das links vor der kleinen Kreuzung stand.

Gilpins Schule unterschied sich sehr von Mrs. Grockletons Akademie, war jedoch gewiss ebenso nützlich, zumal es vorher keine Schule in der Gemeinde von Boldre gegeben hatte. Und dieser bescheidene Hort der Gelehrsamkeit wirkte so idyllisch, dass man ihn beinahe pittoresk hätte nennen können.

Das Gebäude war nur knapp fünfzehn Meter lang und hatte die Form eines T. Der Mittelteil bestand aus einem einzigen, achteinhalb Meter langen Raum. Der Seitenflügel verfügte über zwei niedrige Geschosse, wo die Wohnung des Schulmeisters und ein Klassenzimmer für die Mädchen untergebracht waren. Die Schmalseite des Mittelteils, die zur Straße zeigte, besaß eine Fassade im griechisch-römischen Stil mit dreieckigen Ziergiebeln. Das reizende Bauwerk stand auf einem winzigen Grundstück an der Straße, die zum Fluss und zur Brücke von Boldre führte. Wenn man nach Osten ging, erreichte man den mittelalterlichen Viehpferch, aus dem schon vor langer Zeit der Weiler Pilley entstanden war.

»Wer hat Ihnen eigentlich das Land für die Schule verkauft?«, hatte Fanny den Reverend einmal gefragt. Sie kannte die Besitzer fast jedes Quadratmeters Boden in der Gegend, wusste aber nicht, wem dieses Grundstück gehörte.

»Ich habe es gestohlen«, erwiderte der Vikar vergnügt. »Vom New Forest abgezwackt. Später musste ich dafür eine kleine Strafe bezahlen.«

Dieser priesterliche Landraub verfolgte einen ganz einfachen Zweck, nämlich vierzig Jungen und Mädchen aus den Weilern, die zur Gemeinde Boldre gehörten, das Lesen, Schreiben und die Grundzüge des Rechnens beizubringen. Als Lesebuch diente die Bibel, deren Inhalt zweimal pro Woche abgefragt wurde. Jeden Sonntag zogen die Kinder ihre grünen Mäntel an, die die Schule ihnen zur Verfügung stellte, und gingen im Gänsemarsch zur Kirche von Boldre. Wie der Vikar wusste, bedeutete die kostenlose Kleidung einen großen Anreiz. Er kannte seine Schäfchen. Immer wieder fehlte ein Kind einen Tag in der Schule, weil es seinen Eltern auf dem Feld helfen musste. Und wenn ein Vater oder eine Mutter Zweifel daran äußerten, ob so viel Bildung für ein Mädchen sinnvoll sei, versicherte ihnen der Reverend: »Da Schreiben und Rechnen für Mädchen weniger wichtig sind, legen wir großen Wert auf praktische Dinge wie Stricken, Spinnen und Sticken.«

»Fällt es diesen Kindern denn schwer, Lesen und Schreiben zu lernen?«, fragte Fanny, als sie das Schultor erreicht hatten.

Gilpin warf ihr einen Seitenblick zu. »Weil sie nur einfache Bauernkinder sind, Fanny?« Er schüttelte den Kopf. »Gott hat den Menschen nicht mit gesellschaftlichen Nachteilen erschaffen. Und ich kann Ihnen versichern, dass ein kleiner Pride genauso schnell lernt wie Sie oder ich. Seiner Lernfähigkeit sind erst dann Grenzen gesetzt, wenn er – und ich muss sagen, ganz zu Recht – erkennt, dass ihn dieses Wissen im Leben nicht weiterbringt. Hoppla, junger Mann!«, rief er plötzlich aus, als ein etwa zehnjähriger Junge mit schwarzem Lockenschopf aus dem Schulhaus stürmte und sich an ihnen vorbeidrängen wollte. »Was dieses Kind betrifft« – Gilpin hatte ihn geschickt eingefangen –, »könnte es bestimmt ein großartiger Altphilologe werden, Fanny, wenn es in andere Umstände hineingeboren worden wäre. Habe ich Recht, du Schlingel?«, fügte er liebevoll hinzu, während er den Jungen weiter fest hielt.

Der kleine Nathaniel Furzey war eine Entdeckung von Gilpin. Er stammte nicht aus Boldre, sondern aus Minstead, war aber so klug, dass der Vikar ihm unbedingt den Schulbesuch ermöglichen wollte. Da er vermutete, dass die Furzeys in Oakley mit denen in Minstead verwandt waren, hatte er angefragt, ob sie den Jungen während des Schuljahrs bei sich aufnehmen würden. Doch sie hatten sich geweigert. Die Prides hingegen – sie sprachen kaum noch ein Wort mit ihren Nachbarn, den Furzeys, obwohl seit Alice Lisles tragischem Ende schon einige Generationen vergangen waren – hatten nichts dagegen, das Kind aus Minstead zu betreuen. Andrew, ihr eigener Sohn, ging auch zur Schule. Und so sah Gilpin jeden Morgen, wenn er aus dem Fenster blickte, zu seiner Freude, wie Andrew Pride und der lockige Nathaniel Furzey die Straße hinunter zur Schule stiefelten.

»Aus deiner Flucht schließe ich, dass der Arzt bereits hier ist«, meinte der Vikar fröhlich zu seinem Gefangenen. Er wandte sich zu Fanny um. »Der Junge traut Ärzten nicht. Wie ich schon sagte, er ist nicht auf den Kopf gefallen.«

Der Arzt, vor dem Nathaniel Furzey Reißaus genommen hatte, war kein Geringerer als Dr. Smithson, ein angesehener Mediziner aus Lymington, den der Vikar auf eigene Kosten hatte rufen lassen. Nun stand er im Klassenzimmer, während die Kinder sich gehorsam in einer Reihe vor ihm aufgebaut hatten. Heute sollte eine Impfung stattfinden.

Erst vor acht Jahren war es zu einer kleinen, aber doch Besorgnis erregenden Pockenepidemie im New Forest gekommen. Seit kurzer Zeit impfte man erfolgreich mit kleinen Mengen des Pockenvirus. Und deshalb hatte Gilpin dafür gesorgt, dass seine Schüler eine Spritze bekamen.

Doch trotz Gilpins Anwesenheit und obwohl die anderen Kinder die Prozedur klaglos über sich ergehen ließen, wehrte sich der kleine Nathaniel mit Händen und Füßen. Er stand neben dem Vikar, der seine Hand hielt, und schüttelte immer wieder entschlossen den Kopf. »Sicher wird er sich sträuben«, murmelte Gilpin. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Fanny fiel eine Lösung ein. »Wenn ich mir eine Spritze geben lasse, Nathaniel«, sagte sie, »tust du es dann auch?« Nathaniel Furzey überlegte. Seine dunklen Augen blickten zwischen ihr und dem Arzt hin und her. »Ich zuerst«, bot sie ihm an. Er nickte langsam.

Fanny nahm den Umhang ab und hielt dem Arzt den nackten Arm hin, während die Kinder aufmerksam zusahen. Dann unterwarf sich auch der kleine Nathaniel der Quälerei.

»Sehr gut, Fanny«, meinte Gilpin leise. Und Fanny war unbeschreiblich stolz auf sich.

Als der Arzt nach der Impfung Gilpin dankte und dieser dann verkündete, er werde Fanny bis nach Boldre Church begleiten, wurde ihr erst richtig klar, wie beliebt sie sich gemacht hatte.

Von der Schule aus führten zwei Wege zur Kirche. Man konnte entweder zum Fluss hinuntergehen und dann wieder zur Kirche hinaufsteigen. Oder man nahm den Pfad, der durch den Weiler Pilley, entlang der Talkante und rund um den kleinen Hügel verlief. Sie entschieden sich für letzteren, und da dieser etwa anderthalb Kilometer lang war, blieb ihnen genug Zeit, um ein wenig zu plaudern.

Die Kirche kam schon in Sicht, als der Vikar beiläufig sagte: »Heute bei der Impfung habe ich bemerkt, dass Sie eine Silberkette um den Hals tragen, Fanny. Das ist mir schon öfter aufgefallen. Doch der Anhänger bleibt stets unter Ihrem Kleid verborgen. Ich frage mich, was es wohl sein mag.«

An Stelle einer Antwort zog sie das Schmuckstück hervor. »Es ist nicht sonderlich ansehnlich«, meinte sie, »deshalb verstecke ich es. Aber ich trage es hin und wieder gern.«

Neugierig betrachtete Gilpin den Anhänger.

Es war ein seltsames, kleines Ding, ein hölzernes Kruzifix, vom Alter geschwärzt. Als er genau hinsah, konnte er eine Inschrift erkennen, doch es war ihm unmöglich, sie zu entziffern. Jedenfalls handelte es sich um ein Holzkreuz. »Heute haben Sie etwas sehr Christliches getan«, sagte er beglückt. »Und ich freue mich, dass Sie ein schlichtes Holzkreuz tragen. Denn meiner Ansicht nach ist es mehr wert als jedes Schmuckstück aus Silber oder Gold.«

Sie konnte nicht verhindern, dass dieses Lob sie erröten ließ. »Wollen Sie mir nicht erzählen, woher Sie es haben, Fanny?«

 

 

Obwohl sie erst sieben Jahre alt gewesen war, erinnerte sie sich noch gut daran. Ihre Mutter hatte sie danach zu einem Haus gebracht, das sich, soweit sie wusste, in Lymington befand. Offenbar war ihre Mutter wütend auf sie gewesen.

Drinnen saß eine Greisin am Feuer. Fanny erschien sie uralt, vermutlich über achtzig, und sie war dick in Decken eingewickelt. Doch sie wirkte sehr nett und freundlich und hatte leuchtend blaue Augen.

»Bring das Kind schon her, Mary«, sagte sie in leicht ungeduldigem Ton zu Fannys Mutter. »Weißt du, wer ich bin, mein Kind?«, fragte sie dann.

»Nein.« Fanny hatte keine Ahnung. Sie bemerkte, dass die alte Frau ihrer Mutter einen Blick zuwarf und den Kopf schüttelte.

»Ich bin deine Großmutter, mein Kind.«

»Meine Großmutter.« Aufregung ergriff sie. Bis jetzt war sie ganz ohne Großmutter aufgewachsen. Ihr Vater war bei seiner Hochzeit schon so alt gewesen, dass seine Mutter bei Fannys Geburt bereits nicht mehr lebte. Und bei ihrer Mutter hatte sie stets ähnliche Verhältnisse vermutet. Sie drehte sich zu ihrer Mutter um. »Du hast mir nie erzählt, dass ich eine Großmutter habe«, meinte sie vorwurfsvoll.

»Nun, aber du hast eine!«, rief die alte Dame aus.

Danach hatten sie nett miteinander geplaudert. Ihre Großmutter hatte von der Vergangenheit, von ihren Eltern und von anderen längst verstorbenen Verwandten gesprochen. Ihre Namen hatte Fanny noch nie gehört, doch eine vage Erinnerung an Meeresbrisen, Schiffe und Abenteuer war ihr für immer im Gedächtnis geblieben. Ihr war, als hätte sie durch ein bislang verborgenes Fenster plötzlich eine völlig neue Welt gesehen. Doch diese blieb ihr auch weiterhin verschlossen, denn der Besuch bei der alten Dame wurde nicht wiederholt. In den vielen Jahren, die Fanny in Haus Albion mitten im Wald verbrachte, war die Erinnerung an diese Begegnung verblasst wie ein Kindheitstag am Meer.

Nur ein greifbares Detail war ihr von diesem Tag geblieben. Kurz bevor sie gegangen waren, hatte sich die Großmutter das kleine Holzkreuz vom Hals genommen und es ihr hingehalten. »Das ist für dich, mein Kind«, sagte sie. »Damit du immer an deine Großmutter denkst. Meine Mutter hat es mir gegeben, und es war schon seit vielen Jahrhunderten im Besitz ihrer Familie. Es heißt, es stammt noch aus der Zeit vor der spanischen Armada.« Sie nahm Fannys Hand. »Versprichst du mir, es auch zu behalten?«

»Ja, Großmutter«, erwiderte Fanny, »ich verspreche es.«

»Gut, und nun gib deiner alten Großmutter, die du heute zum ersten Mal gesehen hast, einen Kuss.«

»Ich komme bestimmt wieder. Da ich dich jetzt kenne, musst du uns unbedingt besuchen«, erwiderte Fanny freudig.

»Pass gut auf das Kreuz auf«, antwortete die alte Dame.

Zu Fannys Überraschung war ihre Mutter sehr wütend, als sie wieder draußen auf der Straße standen. »Wie kann man einem Kind so ein schmutziges altes Ding schenken!«, schimpfte sie und betrachtete angewidert das Kreuz. »Zuhause werfen wir es gleich fort.«

»Nein!«, widersprach Fanny leidenschaftlich. »Es gehört mir. Meine Großmutter hat es mir gegeben. Ich habe versprochen, es zu behalten. Ich habe es versprochen.«

Sie hatte das Kreuz versteckt, damit es ihr niemand wegnehmen konnte. Ein Jahr später war ihre Mutter gestorben. Wahrscheinlich war ihre Großmutter inzwischen auch längst tot. In Haus Albion wurde sie nie erwähnt. Aber Fanny hatte immer gut auf das Kreuz geachtet.

»Und wer war Ihre Großmutter?«, fragte Gilpin.

»Meine Mutter war, wie Sie wissen, eine Miss Totton«, erwiderte Fanny. »Also war es sicher die alte Mrs. Totton, Mr. Tottons zweite Frau. Seine erste, von der meine Cousins Totton abstammen, war eine geborene Burrard. Vermutlich gehörte sie zu einer der alteingesessenen Seefahrerfamilien Lymingtons.«

»Ganz gewiss«, stimmte Gilpin zu. »Vielleicht war sie eine Button.« Er nickte. »Wenn sie in Lymington geheiratet haben, steht es wahrscheinlich im Kirchenregister.«

»Aber ja. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ganz bestimmt haben Sie Recht.« Fanny lächelte. »Hätten Sie irgendwann Zeit, mit mir nachzusehen?«

Der Abend dämmerte. Die beiden Männer kamen aus unterschiedlichen Richtungen. Kein Beobachter hätte vermuten können, dass sie ein Treffen vereinbart hatten.

Charles Louis Marie, Graf d’Hector, General, Aristokrat und den legendären drei Musketieren an Tapferkeit in nichts nachstehend, schlenderte so lässig über die High Street, als unternehme er nur einen Abendspaziergang. Währenddessen ging sein vertrauter Kamerad ebenso unauffällig eine Seitengasse entlang.

Charles Louis Marie war auch heute wieder der Inbegriff der Eleganz. Während die meisten Männer ihr Haar unbedeckt trugen, schmückten er und die übrigen Emigranten sich mit den kurzen, gepuderten Perücken, die am französischen Hofe üblich gewesen waren. Eine Seidenjacke und Kniehosen rundeten seine Aufmachung ab, als wolle er sagen: »Wir verabscheuen die Revolution in unserem Land nicht nur, sondern leugnen sogar, dass sie überhaupt stattgefunden hat.«

Es lebten etwa ein Dutzend Herren wie der Graf d’Hector in Lymington, manche auch mit ihren Familien. Die meisten hatten bei wohlhabenden Kaufleuten Unterkunft gefunden. Außerdem waren noch drei Einheiten Soldaten in Lymington stationiert. Vierhundert Mann waren in der kleinen Kaserne der Stadt untergebracht, weitere vierhundert Schützen bewohnten die Mälzerei in der New Street, und sechshundert Matrosen der königlich französischen Marine waren auf Bauernhöfen unweit von Buckland einquartiert. Die Anwesenheit dieser Männer stellte eine große Belastung für die Gemeinde dar, doch man duldete sie den galanten Offizieren zuliebe, die sie befehligten. Der Graf hatte erst am Vortag acht seiner Leute an einer Ecke der Church Street ordentlich auspeitschen lassen, um den Einwohnern von Lymington zu zeigen, dass er Disziplinlosigkeit nicht unwidersprochen duldete. Außerdem gaben sich die Offiziere größte Mühe, sich bei den Damen der Stadt und deren Ehegatten beliebt zu machen. Bis jetzt waren sie deshalb noch willkommene Gäste. Aber der Graf machte sich keine falschen Hoffnungen. Wenn ihm auch nur der kleinste Fehler unterlief, würde man ihm das Leben in Lymington gründlich vergällen.

Deshalb hatte ihn der Brief aufgeschreckt, den Grockleton ihm am Morgen zugesteckt hatte. Der Grund allerdings war nicht Mrs. Grockletons Einladung gewesen, er möge doch mit einigen anderen Offizieren nächste Woche zum Abendessen kommen. Nein, es lag an dem anderen Schreiben, das Mr. Grockleton ohne Wissen seiner Gattin in den Umschlag geschmuggelt hatte. Wenn der Franzose diese Nachricht richtig las, handelte es sich um eine Angelegenheit, die äußersten Takt erforderte. Und deshalb hatte der Graf als Vorsichtsmaßnahme einen Freund gebeten, bei der Unterredung an diesem Abend als Zeuge zu fungieren.

»Ich werde es keinem der anderen Offiziere verraten, mon ami«, hatte er erklärt. »Nur Ihnen, weil ich nicht nur Ihrem guten Rat, sondern auch Ihrer Verschwiegenheit vertraue.«

Als er an der Kirche von der High Street abbog, war es fast dunkel.

Von allen Erfindungen englischer Baumeister im letzten Jahrhundert gab es wohl keine hübschere als eine besondere Form der Einfriedung, die man hauptsächlich rund um Gärten antraf.

Man nannte sie eine Zickzackmauer, denn statt wie eine gewöhnliche Mauer in einer geraden Linie zu verlaufen, war sie gewellt und wies Vertiefungen auf, die an kleine Sofas erinnerten. Am weitesten war sie in den Grafschaften von East Anglia verbreitet, doch aus irgendeinem Grund – vielleicht hatte sich ein Baumeister aus East Anglia nach Lymington verirrt – gab es auch hier eine Reihe davon. In vielen Fällen waren diese Mauern so hoch, dass man nicht darüberblicken konnte. Die Vertiefungen waren groß genug, um mehreren Männern Platz zu bieten und sie vor neugierigen Blicken zu schützen. Und aus genau diesem Grund hatte Samuel Grockleton den französischen Grafen gebeten, sich bei Abenddämmerung in der Gasse hinter seinem Garten einzufinden, der von einer Zickzackmauer begrenzt wurde.

Grockleton wartete lautlos, bis jemand leise mit einer Münze auf die andere Seite der Mauer klopfte, wo er zwischen zwei Ziegelsteinen den Mörtel herausgekratzt hatte. Wenn man den Ziegel herauszog, entstand eine Lücke, durch die man sich unterhalten konnte. Er erwiderte das Klopfzeichen und fragte: »Sind Sie das, Graf?«

»Ja, mon ami. Ich bin hier, wie Sie mich gebeten haben.«

»Ist Ihnen jemand gefolgt?«

»Nein.«

»Wir müssen vorsichtig sein. Wussten Sie, dass mein Haus überwacht wird?«

»Das überrascht mich nicht. Angesichts Ihrer Stellung ist das nicht weiter erstaunlich.«

»Obwohl Sie so häufig bei uns speisen, darf ich nicht riskieren, dass man uns zwei miteinander sprechen sieht. Es könnte getratscht werden.«

»Daran zweifle ich nicht.«

»Ich bin beauftragt, Ihnen mitzuteilen, Graf, dass die Regierung Seiner Majestät Ihre Hilfe braucht.« Das stimmte nicht ganz. Niemand hatte Grockleton diese Anweisung gegeben. Da er über die Bestechlichkeit bei den Behörden Bescheid wusste, hatte er beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Wenn er Erfolg hatte, würde man ihn belobigen.

»Mein lieber Freund, ich stehe Ihrer Regierung sehr zu Diensten.«

»Dann lassen Sie mich erläutern, Graf«, begann Grockleton, »was Sie für mich tun können.«

 

 

Nicht nur mit Brandy, sondern auch mit Gold und mit wichtigen Neuigkeiten wurde illegaler Handel betrieben. Insbesondere an der Südküste Englands war der Patriotismus nicht sehr stark ausgeprägt. Offiziere der britischen Marine zogen in die Schlacht, weil sie auf reiche Beute von den eroberten Schiffen hofften. Und ihre Männer kämpften, da sie entführt und auf hohe See verschleppt worden waren. Selbst ein so beliebter Befehlshaber wie Admiral Nelson wagte es nicht, seine Matrosen in einem englischen Hafen an Land zu lassen, denn er wusste genau, dass die meisten dann auf Nimmerwiedersehen verschwunden wären. Und die südenglischen Schmuggler waren nur zu bereit, wichtige Meldungen und Neuigkeiten an die Feinde des Landes zu verkaufen.

»Meine Chancen, mit Hilfe englischer Truppen Schmuggler abzufangen, stehen nicht gut«, erklärte Grockleton dem Franzosen.

Aber was war mit französischen Soldaten? Der Einfall – ein Geniestreich gewissermaßen – war Grockleton vor einer Woche gekommen. Die Franzosen hatten keine Freunde und Verwandten vor Ort und auch keine Verbindungen zu den Schmugglern. Außerdem langweilten sie sich und brauchten eine Aufgabe. Insgesamt waren sie mehr als tausend Mann. Und ihre Anwesenheit wurde von der britischen Regierung nur geduldet. Wenn der Zollinspektor mit ihrer Unterstützung dem Schmuggel einen Riegel vorschob, war ihnen der Dank der Regierung sicher. Auch würde ihm sein Anteil an der Schmuggelware zu einem bescheidenen Vermögen verhelfen.

Falls der Franzose ihm jedoch die Hilfe verweigerte, hatte Grockleton allen Grund, diese Weigerung London zu melden. Der König selbst würde es erfahren, und er würde gar nicht zufrieden sein.

Es war überflüssig, dies dem Franzosen eigens mitzuteilen. »Aber es wird absolut geheim bleiben müssen«, erwiderte er, nachdem Grockleton ihm seinen Plan erläutert hatte.

»Gewiss.«

»Ich werde es meinen Männern erst sagen, wenn es so weit ist. Außerdem müssen wir uns einen Vorwand ausdenken, um sie zusammenzurufen, eine Parade vielleicht, und dann…«

»Ganz richtig. Darf ich also auf Ihre Unterstützung hoffen?«

»Natürlich. Das versteht sich doch von selbst. Der Wunsch des englischen Königs ist mir Befehl.«

»Dann danke ich Ihnen, Sir«, meinte Grockleton und schob den Ziegelstein zurück an seinen Platz.

Eine Weile schlenderten der Graf und sein Kamerad schweigend die Straße entlang.

»Nun, mon ami«, sagte der Graf schließlich. »Haben Sie alles gehört?« Sein Begleiter nickte. »Es bringt uns«, fuhr der Graf fort, »in eine unangenehme Lage. Finden Sie, dass ich richtig reagiert habe?«

»Ja. Ihnen blieb nichts anderes übrig.«

»Gut, dass Sie meiner Meinung sind. Niemand darf ein Wort davon erfahren. Aber daran brauche ich Sie ja nicht zu erinnern.«

»Sie können mir vertrauen.«

»Gut. Dann trennen wir uns jetzt und kehren auf verschiedenen Wegen zurück.«

Ein Abend in Haus Albion. Wie so oft in ihrem jungen Leben saß Fanny im Salon mit zwei alten Leuten zusammen. Hin und wieder züngelte eine Flamme aus dem glühenden Scheitholz im Kamin auf. Die dunkle Eichentäfelung schimmerte sanft im Kerzenschein. Auch wenn Fanny ehrgeizige Pläne hegte, das Haus eines Tages in ein gotisches Schloss zu verwandeln, schien sich das gute, alte Wohnzimmer seit den Tagen von Königin Elisabeth bisher noch nicht verändert zu haben.

Manchmal las Fanny den alten Leuten vor, doch heute waren sie damit zufrieden, schweigend in ihren Sesseln zu sitzen und die Ruhe im Haus zu genießen, die nur gelegentlich vom Ticken der hohen Standuhr in der Vorhalle oder dem Knistern eines brennenden Holzscheites unterbrochen wurde. Endlich ergriff ihr Vater das Wort: »Ich begreife nicht, warum sie den weiten Weg nach Oxford fahren will.«

»Natürlich sollte sie es tun«, meinte Tante Adelaide.

Fanny hielt es für klüger, ein wenig zu warten, bevor sie sich einmischte.

»Wie lange wirst du fortbleiben, Fanny?« Angedeuteter Tadel und tapfer ertragener Abschiedsschmerz.

»Nur sechs Tage, Vater, einschließlich der An- und Abreise.«

»Ausgezeichnet«, meinte Tante Adelaide mit Nachdruck. »Wir werden dich vermissen, aber es ist richtig, dass du deinen Cousin besuchst.«

»Sie will wirklich nach Oxford, obwohl das doch so weit ist.« Das Gespräch drehte sich im Kreis. Ein Holzscheit zerfiel zu Asche.

Francis Albion war achtundachtzig Jahre alt. Es hieß, er sei nur so lange am Leben geblieben, um seine Tochter aufwachsen zu sehen. Außerdem sagten die Leute, er wolle sie vor seinem Tod noch unter die Haube bringen. Aber jede Erwähnung dieses Themas löste bei ihm nur Unbehagen aus.

Eigentlich hatte Francis Albion nicht mehr damit gerechnet, überhaupt noch Vater zu werden. Er war der jüngste Sohn von Peter und Betty Albion und hatte als Anwalt in London, als Makler in Paris und eine Weile sogar als Kaufmann in Amerika gelebt. Sein Einkommen hatte ihm stets ein standesgemäßes Leben ermöglicht, allerdings reichte es nicht, um eine Familie zu gründen. Als er im Alter von vierzig Jahren nach dem Tod seines ältesten Bruders das Gut Albion geerbt hatte, war er ein eingefleischter Junggeselle gewesen, der eigentlich keine Lust verspürte, sich häuslich niederzulassen. Zwanzig Jahre lang hatte seine Schwester Adelaide allein das Gut geleitet, bis Francis endlich zurückgekehrt war, um im New Forest seine Familienpflichten zu erfüllen.

Diese waren nicht sehr anstrengend, und er sorgte dafür, dass sie auch etwas abwarfen. Bald war er Förster eines walks, wie die kleinen Unterabteilungen des New Forest nun hießen. Selbst gemessen an der großzügigen Sichtweise des achtzehnten Jahrhunderts wurde der New Forest sehr nachlässig verwaltet. Vor einigen Jahren hatte die Krone wieder einmal einen Versuch unternommen, Ordnung in die Angelegenheit zu bringen, und eine königliche Kommission eingesetzt. Deren Mitglieder stellten fest, dass der Waldhüter seit achtzehn Jahren keine Bücher mehr führte. Einer der Kommissionäre merkte missbilligend an, er habe bei der Inspektion der Einfriedung in Mr. Albions Bezirk, wo eigentlich die Eichen des Königs hätten wachsen sollen, nicht einen einzigen Baum angetroffen, dafür aber ein großes Kaninchengehege.

Francis Albion versicherte den Herren aus London, er werde etwas dagegen unternehmen, aber zu seiner Schwester sagte er: »Ich habe im letzten Jahr tausend Kaninchen dort gehalten, und im nächsten werden es doppelt so viele.«

Was also hatte Mr. Albion im Alter von fünfundsechzig Jahren dazu getrieben, Miss Totton aus Lymington zu heiraten, die dreißig Jahre jünger war als er?

Einige sagten, es sei Liebe. Andere tuschelten, seine Schwester Adelaide sei an einer schweren Erkältung erkrankt, worauf Albion klar geworden wäre, dass sie möglicherweise nicht ewig für ihn sorgen würde. Doch ganz gleich aus welchen Gründen, Mr. Albion jedenfalls machte Miss Totton einen Heiratsantrag, diese nahm an und zog zu ihm ins Haus Albion.

Dass Miss Totton so lange ledig geblieben war, hatte viele verwundert. Sie war hübsch, gut beleumundet und nicht arm. Vielleicht war sie ja in ihrer Jugend von der Liebe enttäuscht worden. Doch mit fünfunddreißig Jahren gelangte sie offenbar zu dem Schluss, dass es Zeit zum Heiraten sei – auch auf die Gefahr hin, dass sie gebraucht würde. Ihr Halbbruder, das Oberhaupt der Familie, war froh über die verwandtschaftliche Verbindung zu den Albions. Und auf der anderen Seite freute sich auch Adelaide über die Hochzeit ihres Bruders. Sie bewohnte einen eigenen Flügel des Hauses, und die beiden Frauen kamen gut miteinander aus.

Die Ehe war mehr oder weniger glücklich geworden. Francis Albions Lebensgeister schienen nach der Hochzeit neu zu erwachen, und er wirkte plötzlich um Jahre jünger. Dennoch erschrak er ziemlich, als er im Alter von achtundsechzig Jahren von seiner Frau erfuhr, dass sie ein Kind erwartete.

»So etwas kann passieren, Francis«, sagte sie ihm lächelnd. Sie nannten das kleine Mädchen Frances nach ihrem Vater, doch wie es damals modern war, wurde sie Fanny gerufen.

Da sich kein weiterer Nachwuchs einstellte, war Fanny die Alleinerbin. Der alte Mr. Albion genoss seine Vaterschaft, für die man ihm wegen seines vorgerückten Alters Bewunderung zollte. Und auch Fannys Mutter war glücklich. Sie hatte ein Kind, das sie lieben konnte. Und die Mutter der zukünftigen Besitzerin von Haus Albion zu sein, gefiel ihr viel besser als die Rolle der Ehefrau und Pflegerin eines alten Herrn. Adelaide war ebenfalls zufrieden, denn sie hatte nun eine kleine Nichte zum Verwöhnen. Und Mr. Totton aus Lymington war stolz darauf, dass seine Kinder nun eine gleichaltrige Cousine ersten Grades besaßen, die Erbin eines großen Gutes war.

Als Fanny zehn Jahre alt war, starb ihre Mutter. Die Familie trauerte über diesen Verlust und machte sich Sorgen um die Zukunft des Kindes.

»Was sollen wir jetzt tun?«, hatte Francis Albion fassungslos seine Schwester gefragt.

»Uralt werden«, lautete die nüchterne Antwort.

Und das war denn beiden auch gelungen. Fanny war nicht zur Waise geworden. Auch wenn Francis und Adelaide dem Alter nach ihre Großeltern hätten sein können, hatte sie eine glücklich Kindheit. Ihr Vater wurde im Alter ein wenig ängstlich und neigte zum Jammern, aber Edward und Louisa Totton glichen diese Mängel aus, sodass Fanny vor Lebenskraft nur so strotzte. Tante Adelaide mochte zwar immer öfter dieselben Geschichten wiederholen, doch ihren scharfen Verstand wusste Fanny zu schätzen.

Und dann war da noch Mrs. Pride.

Die Haushälterin war eine stattliche Erscheinung, hoch gewachsen und mit elegant zurückgekämmtem grauem Haar. Man sah ihr auf den ersten Blick an, dass sie eine ausgezeichnete Figur hatte. Wahrscheinlich hatte sie nie geheiratet, weil sie es vorzog, einen Herrensitz zu leiten, anstatt sich als Ehefrau eines Kleinbauern oder Kaufmanns in Lymington abzuplagen.

Mrs. Pride ließ es nie an Respekt mangeln. Wenn die Bettlaken ausgetauscht werden mussten, bat sie Adelaide um Erlaubnis. Wenn der Frühjahrsputz nahte, fragte sie, welcher Tag ihrer Arbeitgeberin denn passen würde. Wenn ein Kamin zu zerbröckeln drohte, erkundigte sie sich höflich bei Francis, ob sie die Reparatur veranlassen solle. Sie kannte jede Nische, jeden Winkel und jeden Balken im Haus und behielt stets den Überblick über die Ausgaben. In Wahrheit war Mrs. Pride die Herrin von Haus Albion. Die Albions wohnten lediglich dort.

Für Fanny wurde sie zur Ersatzmutter, ohne dass das kleine Mädchen es zunächst bemerkte. Mrs. Pride nahm Fanny auf Spaziergänge mit, und wenn sie eine Rast einlegte, konnte das Kind an der Furt im Wasser spielen. Als sie in Lymington zufällig Zeichenmaterial entdeckte, nahm sie sich die Freiheit, die Sachen zu kaufen, damit Adelaide sie Fanny schenken konnte. Nach der Kirche erwähnte sie gegenüber dem Vikar Fannys künstlerische Begabung und merkte bescheiden an, man müsse für das Kind wohl bald Hauslehrer kommen lassen, um seine Schulbildung zu vervollständigen. Mr. Gilpin verstand den Wink sofort und nahm die Dinge in die Hand. Mrs. Pride wirkte so geschickt im Verborgenen, dass Fanny sie bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr nur als freundliche, liebevolle Frau wahrnahm, die sich um Kleidung und Essen kümmerte und die sich, wenn sie abends bei einer Kanne Tee und köstlichem Brandykuchen im Wohnzimmer saß, stets über ein bisschen Gesellschaft freute.

Jetzt warf Fanny ihrem Vater einen ärgerlichen Blick zu, doch der hatte nach seiner letzten Bemerkung die Augen geschlossen. Angesichts des Lebens, das er geführt hatte, wunderte sie sich über seine Ängstlichkeit. Manchmal erzählte er von seinen Reisen, schilderte den prächtigen Hof von Ludwig XV, den geschäftigen Hafen von Boston oder die Plantagen in Carolina. Zu jeder gewonnenen Seeschlacht der Briten, zu jeder bewaffneten Auseinandersetzung in Indien hatte er eine Anekdote auf Lager. Und nun machte er sich schon Sorgen, wenn sie einmal ihren Cousin in Oxford besuchen wollte.

»Vielleicht«, brach Tante Adelaide das Schweigen, »lernst du in Oxford ja einen hübschen jungen Mann kennen.«

»Vielleicht.« Fanny lachte. »Mr. Gilpin hat mir heute geraten, mich in einen armen Gelehrten zu verlieben.«

»Ich glaube nicht, dass sich das für eine Miss Albion schicken würde, Fanny.«

»Nein, Tante Adelaide, du hast vollkommen Recht.«

Fanny schmunzelte. Sie fand das aristokratische Gesicht ihrer alten Tante wunderschön und hoffte, eines Tages auszusehen wie sie. Ihrer Ansicht nach hatte Tante Adelaide kein sehr glückliches Leben geführt, aber sie klagte nie. Auch wenn Mrs. Pride sich um die praktischen Belange kümmerte, so war Tante Adelaide doch der Schutzengel dieses Hauses.

Wenn ihr Vater an Abenden wie heute eindöste oder sich in sein Zimmer zurückzog, saßen Fanny und Adelaide ruhig beisammen. Dann begann Adelaide meist zu erzählen. Und das tat sie auch jetzt.

Fanny lächelte. Obwohl die Geschichten stets die gleichen waren, hörte sie diese immer wieder gern. Wahrscheinlich lag es daran, dass die Berichte ihres Vaters – so spannend sie auch sein mochten – nur sein eigenes Leben behandelten, während Tante Adelaide von ihrer Mutter Betty, ihrer Großmutter Alice und der jahrhundertealten Geschichte des Gutes Albion erzählte. Und dies so lebendig, als habe es sich erst gestern ereignet.

»Meine Mutter wurde zur Zeit der Herrschaft von König Karl II. geboren«, erklärte Tante Adelaide, »also vor mehr als hundertdreißig Jahren. Und dennoch ist es, als wäre Betty Lisle immer noch lebendig. Ich habe vierzig Jahre lang mit ihr in diesem Haus gelebt. Den Sessel, auf dem du jetzt sitzt, hatte sie am liebsten.« Und dann erinnerte sie sich an die Rosen, die Betty im Garten gepflanzt hatte, oder an die Ziegelverkleidung, die ihr Urgroßvater angebracht hatte, oder sie erinnerte sich an die Geschichten, die man von ihrer Großmutter erzählte, jener in Rot und Schwarz gehüllten Lady Albion, die in einer Nacht wie dieser beschloss, das ganze Land zur Unterstützung der spanischen Armada aufzurufen. Nur eine Geschichte rührte Tante Adelaide stets zu Tränen, und zwar das tragische Ende ihrer Großmutter Alice Lisle.

Obwohl Tante Adelaide zwanzig Jahre nach diesen schrecklichen Ereignissen geboren war, kannte sie die Geschichte aus den Erzählungen ihrer Eltern oder der alten Tanta Tryphena. Durch ihre Augen und dank ihrer Erzählungen hatte sie die Verhaftung, den schändlichen Prozess und die Hinrichtung gesehen. Sie erschauderte immer noch, wenn sie an Moyles Court, das inzwischen nicht mehr der Familie gehörte, oder an der großen Halle in Winchester vorbeikam.

Vielleicht wäre die Erinnerung an Alice im Laufe der Jahre verblasst, wäre da nicht ihre Tochter Betty gewesen.

Im ersten Jahr nach der Hinrichtung ihrer Mutter hatte Betty sich nach Haus Albion zurückgezogen und dort wie eine Einsiedlerin gelebt. Auf Peters Briefe hatte sie nur ausweichend geantwortet, und als er sie aufsuchte, schickte sie ihn fort. Sie ertrug seine Anwesenheit einfach nicht mehr. Doch Peter blieb beharrlich, warb drei Jahre um sie, und als Betty sich ein wenig von ihrer Niedergeschlagenheit erholt hatte, heiratete sie ihn.

War ihre Ehe glücklich gewesen? Inzwischen zweifelte selbst Adelaide zuweilen daran. Einige ihrer Geschwister hatten nur das Kindesalter erreicht. Ihr ältester Bruder hatte geheiratet, war aber ohne Erben gestorben. Nur noch sie selbst und Francis waren übrig geblieben. Peter hatte sich häufig in London aufgehalten und Betty in Haus Albion allein gelassen. Als Adelaide zehn Jahre alt gewesen war, hatte sie gespürt, dass ihre Mutter häufig an Einsamkeit litt. Ein paar Jahre später war Peter mit noch nicht einmal sechzig Jahren in London verschieden, an Überarbeitung, wie es hieß. Erst kurz zuvor hatte er beschlossen, in Zukunft mehr Zeit auf dem Land zu verbringen.

Francis lebte damals in Oxfordshire im Hause eines Vikars, besuchte dort die Schule und studierte später Jurisprudenz. Mit der Zeit zog Betty sich immer mehr in ihr Haus zurück wie eine Muschel in ihre Schale. Hin und wieder besuchte sie Nachbarn oder kaufte in Lymington ein, aber das Haus wurde der Mittelpunkt ihres Lebens. Adelaide leistete ihr Gesellschaft, und als die Jahre vergingen, ergriffen die Schatten der Vergangenheit immer mehr Besitz von ihnen. Und der wichtigste von ihnen war Alice.

»Wenn ich mir vorstelle, dass ich in jener schrecklichen Nacht mit Peter hier war!«, rief Betty von Selbstvorwürfen gequält aus. Und es nützte nichts, sie darauf hinzuweisen, dass sie machtlos gewesen wäre. »Wir hätten überhaupt nicht nach Moyles Court fahren sollen.« Auch das stimmte möglicherweise, konnte das Geschehene aber nicht rückgängig machen. »Nur wegen Peter ist sie aus London abgereist.« Das war ebenfalls wahr – Tryphena hatte es ihr erklärt –, half jedoch niemandem mehr.

Adelaide war eine vernünftige und recht lebensfrohe junge Frau mit einem starken Willen. Doch das ständige Herumrühren in der Tragödie und die Trauer ihrer Mutter waren nicht folgenlos an ihr vorübergegangen.

Und zu allem Überfluss hatten diese schrecklichen Ereignisse einen Namen, dessen dunkler Schatten sich wie finstere Gewitterwolken über alles legte: Penruddock.

Inzwischen gab es im New Forest keine Penruddocks mehr. Die Familie in Hale war schon zu Anfang des Jahrhunderts fortgezogen. Die Penruddocks aus Compton Chamberlayne bewohnten zwar noch ihr Haus, das jedoch sechzig Kilometer entfernt in einer anderen Grafschaft lag. Also war Adelaide noch nie einem Penruddock persönlich begegnet. Aber sie wusste genau, was sie von dieser Familie zu halten hatte.

»Natürlich sind sie alle Royalisten«, pflegte Betty zu sagen. »Und außerdem hinterhältig. Wenn ich mir vorstelle, dass meine Mutter versucht hat, ihnen in der Not zu helfen. Und das war ihr Dank dafür.«

Die Albions hatten – ebenso wie die Prides – nie ganz verstanden, dass es eigentlich die Furzeys gewesen waren, die Alice aufs Schafott gebracht hatten. Doch für die Penruddocks hatten sie auf jeden Fall nur kalte Verachtung empfunden. Von einer Adelsfamilie war ein Verrat nicht hinzunehmen.

»Sich die ganze Nacht mit seinen dreckigen Soldaten um unser Haus herumzudrücken. Die Tür aufzubrechen. Zuzulassen, dass seine Männer Mutters Wäsche stehlen. Und sie dann im Nachthemd auf das Pferd eines Soldaten zu verfrachten. Es ist eine Schande, so mit einer alten Frau umzuspringen!«, rief Betty, Wut und Verachtung in den Augen, aus. »Pfui!«

Adelaide konnte sich Oberst Penruddock mit seinem düsteren Gesicht und seiner grausamen, rachsüchtigen Art bildlich vorstellen. »Diese Leute«, sagte Adelaide zu Fanny, »sind böse und gemein. Halt dich von ihnen fern.«

Diese Warnung wiederholte sie auch an jenem Abend, und Fanny versicherte ihr, sie werde jeden Kontakt tunlichst vermeiden.

In diesem Moment ertönte ein Geräusch, das die beiden Frauen erschrocken herumfahren ließ. Es war ein keuchendes, raues Husten, gefolgt von einem Röcheln. Der alte Francis Albion hatte es ausgestoßen. Offenbar rang er nach Atem. Fanny erbleichte, stand auf und eilte an seine Seite. »Sollen wir den Arzt rufen lassen?«, flüsterte sie. »Vater scheint…«

»Nein, das ist nicht nötig.« Adelaide blieb seelenruhig sitzen.

Inzwischen hatte Francis die Augen aufgeschlagen, doch er verdrehte sie derart, dass einem Angst und Bange werden konnte. Sein Gesicht war weiß wie ein Leintuch. Dann begann er wieder zu husten.

»Tante Adelaide!«, rief Fanny. »Er…«

»Nein, ihm fehlt gar nichts«, erwiderte ihre Tante missbilligend und wandte sich dann an den alten Hausherrn. »Hör auf, so zu tun, als würdest du gleich sterben, Francis.« Verärgert drehte sie sich wieder zu Fanny um. »Siehst du denn nicht, mein Kind, dass er versucht, deine Reise nach Oxford zu verhindern?«

»Tante Adelaide! Wie kannst du dem armen Papa so etwas unterstellen?« Francis Albion schnappte nach Luft, und seine Tochter erklärte, dass sie niemals die Reise antreten werde, wenn er sich nicht wohl fühle.

»Papperlapapp«, schimpfte Tante Adelaide. Aber das schreckliche Gekeuche ging weiter.

 

 

Isaac Seagull, der Wirt des Angel Inn, ließ sich die feuchte Meeresluft ins Gesicht wehen und blickte zum Penningtoner Marschland hinüber.

Er war ein hoch gewachsener, drahtiger Mann und so groß wie Grockleton, wenn er sich gerade hielt. Doch für gewöhnlich beugte er seinen rundlichen Kopf nach vorne. Wie bei seinen Vorfahren war auch sein Kinn nur schwach ausgeprägt. Sein immer noch schwarzes Haar trug er zu einem Zopf geflochten. Meist blickte er fröhlich drein, doch heute trug er eine ernste Miene zur Schau. Denn Isaac Seagull hatte Sorgen.

Der Schmuggel in der Umgebung des New Forest wurde im großen Ausmaß betrieben und war gut organisiert. Schiffe lieferten aus den verschiedensten Häfen die Waren an, hauptsächlich aus Dünkirchen, wo der Handel mit Holland abgewickelt wurde, aus Roseoff in der Bretagne und von den Kanalinseln Jersey und Guernsey. Die größten Schiffe hießen Lugger. Sie hatten nur wenig Tiefgang und viel Frachtraum. Normalerweise fuhren sie in bewaffneten Verbänden. Wenn die Lugger einem der wenigen Zollschiffe begegneten, drehten sie entweder bei und ruderten davon, oder sie flüchteten ins Wattenmeer, wohin ihre Feinde ihnen nicht folgen konnten. Manchmal benutzten die Schmuggler auch schnelle Klipper, die einfach nicht einzuholen waren.

Während der Überfahrt war der Kapitän für das Schiff oder den Verband zuständig. Nach dem Löschen wurden die Waren von einer großen Karawane abgeholt und verteilt. Und diese Arbeit wurde vom Schauermann überwacht.

Isaac Seagull war der für den New Forest verantwortliche Schauermann.

Hinter ihm jedoch stand ein Mensch, den kaum jemand zu Gesicht bekam. Er streckte das Geld vor, kaufte die Waren auf und heuerte die Schiffe an: der Unternehmer.

Niemand kannte seinen Namen. Und wer eine Vermutung hatte, behielt diese tunlichst für sich. Da der Gemeindeschreiber von Lymington die Bücher der Schmugglerbande führte, war er sicher im Bilde. Der örtliche Gutsverwalter, der die Beiträge der Bauern und Kaufleute einsammelte, die sich an dem Unternehmen beteiligen wollten, wusste sicher auch, wer er war. Und da der Schmuggel in großem Rahmen betrieben wurde, musste es sich um einen reichen Mann handeln, bestimmt um einen Adeligen.

Grockleton hatte Mr. Luttrell in Verdacht. Er besaß ein prächtiges Anwesen namens Eaglehurst, jenseits von Mr. Drummonds Gut Cadland, dort wo der Solent auf die Bucht von Southampton trifft. Mr. Luttrell hatte sich einen Turm gebaut, von dem aus er den ganzen Solent und die Insel Wight überblicken konnte. Dass einige der Brandylieferungen bei Luttrells Turm gelöscht wurden, stand außer Zweifel. Allerdings war dieses Treiben für ihn bestimmt nur ein Zubrot. War Luttrell wirklich die graue Eminenz hinter dem Schmuggel an der Küste des New Forest? Möglicherweise waren es sogar mehrere Adelige – oder alle gemeinsam.

Der Freihandel lief nach festen Regeln ab. Den höchsten Gewinn erzielte man mit Brandy, weshalb er mit Vorliebe geschmuggelt wurde, und zwar nach folgender Methode:

Ein Fass Brandy hatte in London einschließlich Steuern einen Einzelhandelspreis von etwa zweiunddreißig Schilling, also doppelt so viel wie in Frankreich. Wenn ein Freihändler ihn um dreißig Prozent billiger verkaufte, blieb ihm eine Differenz von ungefähr zwanzig Prozent. Außerdem hatte er die Gewissheit, dass er seine gesamten Bestände schnell und gegen Bares losschlagen konnte. Nach Abzug der Frachtkosten und weiterer Verbindlichkeiten ergab das einen Gewinn von zehn Prozent des Umsatzes.

Also machte sich bei einigen Schmuggelfahrten pro Jahr sein Kapitaleinsatz mehr als bezahlt.

Dank Isaac Seagull funktionierte die Verteilung ausgezeichnet. Noch nie war eine seiner Fuhren abgefangen worden.

Warum also zuckten seine Mundwinkel besorgt, als er nun über die Marschen blickte?

Der Unternehmer hatte für das kommende Jahr große Pläne – wirklich sehr große. Es durfte kein Fehler passieren, und Seagulls Aufgabe als Schauermann war es, Missgeschicke zu vermeiden.

Aber es drohten einige Gefahren. Wenn die Berichte stimmten, würden im nächsten Jahr einige Abteilungen Dragoner in die neue Kaserne in Christchurch einziehen, was unabsehbare Folgen haben konnte. Es war noch zu früh, um zu sagen, aus wie viel Mann diese Truppen bestehen würden. Doch es war ratsam, umfangreiche Lieferungen vor ihrem Eintreffen abzuwickeln.

Und dann war da noch Grockleton. Manche Zollbeamte waren bestechlich, Grockleton aber nicht. Isaac empfand eine gewisse Achtung vor diesem Mann, der sich dem Kampf stellen wollte.

Was war, wenn Grockleton einen Spion hatte, der für ihn arbeitete? Einen, der bei den Freihändlern aus und ein ging? Diese Möglichkeit musste ernsthaft erwogen und überprüft werden.

 

 

Nathaniel Furzey lebte bei den Prides in Oakley. Die Prides waren eine zufriedene, lebhafte Familie, und er hatte sich rasch mit Andrew angefreundet. Andrews Vater besaß eine kleine Kuhherde und war außerdem im Holzhandel tätig. Er veräußerte es dann weiter. Seine Ware hatte er am Rande des Dorfangers von Oakley gestapelt.

In den ersten Wochen bei den Prides hatte Nathaniel sich von seiner Schokoladenseite gezeigt. Doch bald war der Flegel in ihm wieder zum Vorschein gekommen, und seitdem heckte er ständig neue Streiche aus.

Denn der kleine Nathaniel Furzey mit seinem Lockenschopf langweilte sich rasch. Das Lernen in der Schule fiel ihm so leicht, dass er für gewöhnlich mit seinen Aufgaben schon fertig war, wenn die anderen Kinder gerade einmal die Hälfte erledigt hatten. Mr. Gilpin war daher sogar versucht gewesen, ihm ein wenig Latein beizubringen.

»Was soll ich Ihrer Ansicht nach tun?«, hatte er einen Glaubensbruder gefragt. »Der Junge ist nicht nur klug wie der kleine Andrew Pride, sondern überdurchschnittlich begabt, ein geborener Gelehrter, der sein Leben in Oxford oder in Cambridge verbringen könnte.« Er seufzte. »Wenn Sir Harry Burrard oder die Albions die Kosten übernehmen würden, könnte ich sie bitten, den Kleinen auf eine gute Schule zu schicken. Natürlich nur, falls die Eltern einverstanden wären. Aber…«

»Damit würden Sie ihn von seiner Familie und seinen Freunden im New Forest trennen«, entgegnete sein Glaubensbruder. »Und falls er scheitert…«

»Wäre er gestrandet wie ein Schiff auf einer Sandbank.«

»Das meine ich auch.«

»In Städten ist es weniger schwierig. Wenn er in Winchester oder in London leben würde…«, überlegte Gilpin. »Aber vermutlich ist unser ganzes Land so. Bäume wachsen tief im Wald. Wunderschöne Bäume, die Tausende von Eicheln hervorbringen. Und nur aus einer von einer Million entsteht ein prächtiges Möbelstück. Natur ist Verschwendung.«

»Wahr, Gilpin. Allerdings auch Englands Reichtum. Wir haben genug davon.«

Also beließ der Vikar den kleinen Nathaniel in der Dorfschule und hoffte, dass er als Erwachsener ein ruhiges Leben im New Forest führen würde. Doch im Augenblick war der Junge schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe.

Sein reger Verstand brütete ununterbrochen neue Streiche aus. Andrew machte zwar gerne mit, aber selbst er erstarrte angesichts der ausgeklügelten Gemeinheiten, die Nathaniel ausheckte, zuweilen vor Schrecken. Die letzten Opfer seines Freundes waren die Furzeys gewesen.

Obwohl Nathaniel auch den Namen Furzey trug, machte er sich bald die Einstellung der Prides gegenüber ihren Nachbarn zu Eigen. Selbst wenn man vergaß, dass sie damals Alice Lisle verraten und eine Tragödie verschuldet hatten, fanden die Prides, dass Caleb Furzey ein wenig an geistiger Trägheit litt. Überdies war er ausgesprochen abergläubisch. »Ich trage immer etwas Salz bei mir«, erklärte Furzey, »um es über meine Schulter zu werfen.« Nach Burley setzte er keinen Fuß »wegen der Hexen«. Überall sah er Unglücksboten. Wenn er eine einsame Elster erblickte, sprach er sie sofort an. Leitern wurden sorgfältig umrundet. Und beim Anblick einer schwarzen Katze ohne weiße Flecken – »Hexenkatze« – ergriff er sofort die Flucht.

Und nun hatte Nathaniel eine schwarze Katze gefunden. Sie war schon tot und auch nicht ganz schwarz, denn sie hatte ein paar weiße Haare am Kinn. Nachdem er einen Mann gefunden hatte, der sie für ihn ausstopfte, und den weißen Fleck mit Tinte übermalte, sah sie ziemlich echt aus. Dann machten sich Andrew Pride und er an die Arbeit.

Plötzlich stieß Caleb überall auf die schwarze Katze. Wenn er durch den Wald ging, stand er ihr auf einmal gegenüber. Und da er sich sofort vor Schrecken abwandte, bemerkte er die Schnur nicht, mit der sie wieder ins Gebüsch gezogen wurde. Also nahm er einen anderen Weg, wo die Jungen ihm erneut eine Falle stellten. Am nächsten Tag erschien die Katze an Calebs Fenster. Doch Nathaniel übertrieb es nicht. Tage vergingen, in denen Caleb sich sicher wähnte, und dann tauchte das Tier zu seinem Entsetzen wieder wie aus heiterem Himmel auf. Bald suchte ganz Oakley nach dem geheimnisvollen Tier. Schließlich schöpfte Andrews Vater Verdacht, verabreichte den beiden Jungen ein paar Kopfnüsse und verhalf der ausgestopften Katze zu einem diskreten, aber anständigen Begräbnis. Die Sache wurde mit keinem Wort mehr erwähnt. Die beiden Missetäter erfuhren nie, dass der Holzhändler und seine Frau Tränen gelacht hatten, als er ihr davon berichtete.

Nathaniel entdeckte in Oakley noch weitere spannende Dinge. Schon in Minstead hatte er hin und wieder die Packpferde der Freihändler gesehen. Und an der Küste unweit von Oakley war in dieser Hinsicht noch viel mehr geboten. Ihm fiel auf, dass Andrews Vater gelegentlich über Nacht wegblieb, bei Morgengrauen, sein Pony am Zügel, vergnügt zurückkehrte und wortlos einen Sack Tee auf den Küchentisch warf.

Eines Morgens kamen drei berittene Offiziere nach Oakley und machten sich daran, Prides Holzstoß am Dorfanger zu durchsuchen. Amüsiert sah Pride zu, wie sie alles auseinander nahmen. Es war eine schwere Arbeit, die den ganzen Vormittag in Anspruch nahm. Als Grockleton gegen Mittag erschien, musste er feststellen, dass sie nichts gefunden hatten.

»Ich will hoffen, dass Ihre Herren Offiziere das Holz so wieder aufstapeln, wie es zuvor geschichtet war, Mr. Grockleton«, meinte Pride.

»Das glaube ich nicht, Mr. Pride«, erwiderte Grockleton kühl, und damit blieb diese mühevolle Arbeit an Familie Pride hängen.

Eines Tages begegnete Nathaniel dem Zollinspektor Grockleton höchstpersönlich. Es war etwa zwei Wochen nach der Pockenimpfung. Nach der Schule waren er und Andrew Pride nicht wie sonst an Mr. Gilpins Haus vorbei zurück nach Oakley gegangen. Stattdessen nahmen sie den anderen Weg, der zur Kirche von Boldre führte.

Ihr Ziel war Haus Albion, wo Prides Tante als Haushälterin arbeitete. Andrew hatte Anweisung, der würdigen Dame nach der Schule einen Besuch abzustatten, und Nathaniel begleitete ihn gern. Schließlich wohnte hier die junge Dame, die ihn zu der Impfung überredet hatte. Außerdem war es ein großes Haus, ein Herrensitz. Noch nie hatte Nathaniel ein solches Gebäude betreten.

Gerade trabten sie die Straße zur Kirche entlang, als sie hinter sich ein Pferd hörten. Sie drehten sich um und sahen Grockleton näher kommen. Als er sie eingeholt hatte, beugte er sich freundlich zu ihnen herunter und fragte, wohin sie denn wollten.

Abgesehen von seinen klauenähnlichen Händen machte der Zollinspektor einen recht einnehmenden Eindruck – falls er nicht gerade auf der Jagd nach Schmuggelware war. Als er hörte, dass Haus Albion ihr Ziel war, holte er einen versiegelten Brief aus der Jackentasche und meinte lächelnd: »Wollt ihr beide euch zwei Pence verdienen?«

»Das würde jeder von uns gern«, erwiderte Nathaniel blitzschnell.

Grockleton zögerte kurz und kicherte. »Also gut. Das ist ein Brief von meiner Frau an den alten Mr. Albion. Könnt ihr den für mich abgeben?«

»O ja, Sir«, riefen die beiden Jungen im Chor.

»Damit erspart ihr mir einen Weg.« Er suchte das Geld heraus und sagte dabei beiläufig: »Aber jetzt müsst ihr euch sputen. Ihr wisst doch sicher, wie man einen Brief abgibt.«

»Für zwei Pence bin ich bereit, überall im New Forest Briefe abzugeben«, erwiderte Nathaniel im Brustton der Überzeugung.

»Gut. Hier habt ihr das Geld.«

Er reichte ihnen die Münzen und blickte ihnen nach. Doch er ritt nicht sofort weiter, so als ob ihm plötzlich ein Gedanke gekommen wäre. Eine ganze Minute rührte er sich nicht von der Stelle und starrte den Jungen hinterher. Als Nathaniel sich umdrehte, bemerkte er, dass Mr. Grockleton ihn gedankenversunken ansah.

 

 

Oxford! Endlich in Oxford. Da lag es vor ihnen. Seine Türme und Kuppeln erhoben sich aus dem leichten Morgennebel, der über den großen, grünen Wiesen hing. Sanft schlängelte sich der Fluss an den Colleges vorbei. Oxford am Fluss Isis, wie die Themse auf dieser Etappe ihrer langen Reise heißt. Fanny und Louisa gaben sich keine Mühe, ihre Aufregung zu verhehlen.

»Und wenn ich mir vorstelle, Fanny, meine liebste, beste Freundin!«, rief ihre Cousine Louisa aus, »dass wir beinahe gar nicht gefahren wären.«

Wie hübsch Louisa heute aussieht, dachte Fanny erfreut. Schon immer hatte sie Louisas dunkles Haar und ihre leuchtenden braunen Augen bewundert. Heute Morgen war ihre Cousine, die gleichzeitig ihre beste Freundin war, ganz besonders reizend anzuschauen.

Beinahe wäre die Reise wegen einer Erkrankung abgesagt worden. Daran war nicht etwa der alte Francis Albion schuld, den seine Schwester durch Strenge von der Schwelle des Todes zurückgeholt hatte und der sich nun wieder bester Gesundheit erfreute. Nein, Louisas Mutter, Mrs. Totton, die sie eigentlich hätte begleiten sollen, hatte sich durch einen Sturz eine so schmerzhafte Zerrung am Bein zugezogen, dass sie unmöglich reisen konnte. Nur Mr. Gilpins Hilfe war es zu verdanken, dass es doch geklappt hatte.

»Meine Frau findet, ich säße nun schon zu lange untätig in Boldre herum«, versicherte er den dankbaren Tottons, und zwar so nachdrücklich, als ob es wahr gewesen wäre. »Sie besteht darauf, dass ich die Mädchen begleite. Und da ich selbst in Oxford studiert habe, wäre es mir ein großes Vergnügen, die Stadt wieder zu sehen.«

Mit einem Vikar als Anstandsdame war für die Sittsamkeit der Mädchen ausreichend gesorgt. »Außerdem«, erinnerte Fanny Louisa, »ist es wirklich eine große Ehre für uns, in der Gesellschaft eines so angesehenen Mannes zu reisen.« Also hatte man sich froh gelaunt in der besten Kutsche der Albions auf den Weg gemacht. Von Winchester aus hatten sie die alte Straße genommen, die nach Norden ins sechzig Kilometer entfernte Oxford führte.

Am späten Vormittag nahmen sie im Blue Boar, dem besten Gasthof von Cornhill, Quartier. Die Mädchen teilten sich ein Zimmer. Mr. Gilpin bewohnte das zweite. Und pünktlich zur Mittagszeit erschien ihr Cousin Edward Totton.

Nachdem er seine Schwester und seine Cousine umarmt und seine Freude über Mr. Gilpins Anwesenheit ausgedrückt hatte, stellte er fest, wie sehr alle darauf brannten, die Stadt zu erkunden. Also schlug Edward zuerst einen Bummel vor.

Es war wirklich ein hübsches Städtchen, mit breiten kopfsteingepflasterten Straßen, winkeligen mittelalterlichen Gassen, alten gotischen Kirchen und prächtigen klassizistischen Fassaden. Seit mehr als fünfhundert Jahren wurde die Universität beständig größer. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen: Geistliche, arme Gelehrte, reiche junge Männer mit gepudertem Haar, gestrenge Professoren im Talar und natürlich zahlreiche Besucher. Immer wieder kamen Edward und seine Gäste an beeindruckenden Torbögen und Pförtnerhäuschen vorbei, die aussahen wie der Eingang zu einem Palast. In winzigen Seitengassen entdeckten sie winzige, finstere Höfe, die wirkten, als hätte sie seit der Zeit der Mönche vor vierhundert Jahren niemand mehr betreten.

Edward und die Mädchen waren bester Laune und vergnügt. Fanny stellte bewundernd fest, wie zurückhaltend der Vikar sich betrug. Er war ein angenehmer, aber auch schweigsamer Gesellschafter. Hin und wieder – zum Beispiel vor der Bodleian Bibliothek oder vor Christopher Wrens vollendet gestaltetem Sheldionian Theater – trat er vor und wies mit ruhiger, dunkler Stimme auf die Besonderheiten des Gebäudes hin. Sie besuchten das Queen’s College, dessen Absolvent Gilpin war, und er führte sie dort herum. Ansonsten jedoch blieb er lieber im Hintergrund und überließ es Edward, den Mädchen die Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Und er verzog keine Miene, wenn Edward wieder einmal etwas verwechselte. Offenbar hatte der Geistliche genauso viel Spaß wie die jungen Leute, steckte mit einem begeisterten »Aha« den Kopf in jeden Winkel und stellte fest, dass sich in den letzten fünfzig Jahren hier nichts verändert hatte. Sie besichtigten das gewaltige Balliol College, das beeindruckende Christchurch College und das gemütliche Oriel College und erreichten gegen drei Uhr Merton College, wo Edward studierte.

»Angeblich ist es das älteste«, teilte er ihnen mit.

»Einspruch«, meinte Gilpin kichernd.

»Zumindest dem Bauwerk nach«, erwiderte Edward schmunzelnd. »Es wurde 1664 errichtet. Wir sind sehr stolz darauf. Der Direktor wird als warden bezeichnet.«

Das Merton College hatte wirklich eine hübsche Anlage, nicht groß und gewaltig, sondern eher heimelig und reizend altmodisch. Die Kapelle hingegen suchte ihresgleichen. An ihrem westlichen Ende befanden sich einige Denkmäler und Gedenksteine. Vor einem kunstvoll gestalteten Stein, der an den vor einigen Jahrzehnten verstorbenen Direktor Robert Wintle erinnerte, blieben sie stehen. »Ein hervorragender Gelehrter«, begann Gilpin, doch Edward unterbrach ihn mit einem Jubelruf. »Ach, da ist er ja! Ich habe ihm gesagt, wir könnten uns im Merton treffen.«

Zu ihrem großen Erstaunen sahen Mr. Gilpin und die beiden jungen Damen einen elegant gekleideten Mann näher kommen, der ein paar Jahre älter und ein wenig größer als Edward war. Der Fremde hatte ein bleiches, aristokratisches Gesicht und einen dichten, vom Wind zerzausten dunklen Haarschopf. Bei Edwards Anblick nickte er lächelnd und verbeugte sich dann höflich vor Gilpin und den Damen.

»Ich habe nichts verraten, weil ich nicht wusste, ob er kommt«, meinte Edward. »Er versetzt einen nämlich öfter. Das ist Mr. Martell«, fügte er hinzu.

Rasch waren alle einander vorgestellt. Mr. Martell verbeugte sich noch einmal feierlich vor Gilpin, Fanny und Louisa, doch es war schwer zu sagen, ob es sich nur um eine Geste oder um ehrliches Interesse handelte.

»Als ich nach Oxford kam, war Martell im Abschlussjahr«, erklärte Edward. »Er war sehr nett zu mir und hat sogar mit mir geredet.« Edward lachte auf. »Er redet nämlich nicht mit jedem.«

Fanny warf Martell einen Blick zu und erwartete, dass er dies abstreiten würde, was er jedoch tunlichst unterließ.

»Gehören Sie vielleicht zur Familie Martell aus Dorset?«, fragte Gilpin.

»Richtig, Sir«, erwiderte Martell. »Leider muss ich zugeben, dass mir der Name Gilpin nichts sagt.«

»Meine Familie besitzt Scaleby Castle in der Nähe von Carlisle«, entgegnete der Vikar spitz. Fanny hatte das gar nicht gewusst, und sie betrachtete ihren alten Freund mit neuem Interesse.

»Ach, wirklich, Sir? Dann kennen Sie gewiss Lord Laversdale.«

»Schon mein ganzes Leben. Seine Ländereien grenzen an die unserigen.« Nachdem diese Angelegenheit geklärt war, wies Gilpin auf Fanny und meinte beiläufig: »Sie haben doch sicher vom Gut der Albions im New Forest gehört.«

»Selbstverständlich, obwohl ich noch nie das Vergnügen hatte, es zu sehen«, erwiderte Mr. Martell und bedachte Fanny wieder mit einer leichten Verbeugung, die jetzt aber nicht mehr ganz so förmlich routiniert wie bei der Begrüßung wirkte.

»Gehen wir nach draußen«, schlug Edward Totton vor.

 

 

Sie waren hübsch anzusehen, wie sie in die idyllische Landschaft hinausschlenderten: die beiden Mädchen in ihren schlichten langen Kleidern, Mr. Gilpin mit dem Hut eines Geistlichen und die beiden Männer in Gehröcken, Kniehosen und gestreiften Seidenstrümpfen. Als sie das College verließen, plauderte Edward angeregt und erklärte, warum sein Freund sich in der Gegend aufhielt. Wie er erzählte, war er während seiner Studienzeit ein ausgezeichneter Sportler und offenbar auch ein begabter Gelehrter gewesen. Doch als sie das Merton Field erreichten, schien das Gespräch vorübergehend zu erlahmen. Denn weder Fanny noch Louisa wollten sich gegenüber dem Fremden in den Vordergrund drängen, und auch Mr. Martell wirkte ziemlich wortkarg. Also ergriff Mr. Gilpin die Initiative und ging neben Martell her, während die anderen in einigem Abstand folgten und zuhörten.

»Haben Sie sich bereits für einen Beruf entschieden, Mr. Martell?«, fragte der Reverend.

»Noch nicht, Sir.«

»Haben Sie denn schon Pläne?«

»Ich hatte welche. In Oxford habe ich mir überlegt, Geistlicher zu werden. Doch familiäre Verpflichtungen hindern mich daran.«

»Ein Mann kann ein großes Gut besitzen und dennoch der Kirche dienen«, widersprach Gilpin. »Mein Vater hat es getan.«

»Gewiss, Sir. Allerdings ist kurz nach meinem Studienabschluss in Oxford ein Verwandter meines Vaters gestorben und hat mir ein großes Gut in Kent hinterlassen. Dieses und die Güter in Dorset werden nach dem Tod meines Vaters mir gehören. Die beiden Besitzungen liegen weit auseinander. Und wenn ich nicht eine von ihnen aufgebe, was ich als Missbrauch des in mich gesetzten Vertrauens betrachten würde, wäre es meiner Ansicht nach unmöglich, gleichzeitig meinen Pflichten als Geistlicher gerecht zu werden. Natürlich könnte ich einen ständigen Kurator einstellen. Aber dann wäre es ziemlich sinnlos, überhaupt ein Kirchenamt zu übernehmen.«

»Ich verstehe«, erwiderte Mr. Gilpin.

»Ich spiele mit dem Gedanken«, fuhr Mr. Martell fort, »in die Politik zu gehen.«

»Er hätte gerne einen Sitz im Parlament«, sagte jetzt Edward. »Ich habe ihm gesagt, er soll sich an Harry Burrard wenden, denn er entscheidet über die Abgeordneten aus Lymington.« Er lachte auf. »Ich finde, Martell sollte uns vertreten, Mr. Gilpin. Was halten Sie davon?«

Die Antwort des Vikars von Boldre sollten die anderen nie erfahren, denn Fanny stieß plötzlich einen Schrei aus: »Oh, sehen Sie, Mr. Gilpin! Eine Ruine.«

Sie wies auf eine kleine Brücke über dem Fluss, die ein wenig links von ihnen lag. Man konnte sie zwar nicht unbedingt als Ruine bezeichnen, doch sie befand sich in einem recht heruntergekommenen Zustand und wirkte mit ihren vom Zerfall bedrohten Bögen ausgesprochen baufällig.

»Folly Bridge«, verkündete Mr. Gilpin, der offenbar erleichtert war, das Thema wechseln zu können. »Nun, Edward, wissen Sie, wann sie erbaut wurde? Nein? Mr. Martell? Ebenfalls nein. Nun, man datiert sie auf das späte elfte Jahrhundert, etwa um die Zeit, als König Wilhelm Rufus regierte. In diesem Fall wäre sie viel älter als die Universität.«

Nachdem diese Mitteilung mit gebührender Achtung entgegengenommen worden war, fand Fanny, dass es nun schicklich war, den Fremden anzusprechen. »Was halten Sie von Ruinen, Mr. Martell?«

Er drehte sich zu ihr um und sah sie an. »Ich bin mir nach der äußerst lehrreichen Lektüre von Mr. Gilpins Traktat« – er neigte kurz den Kopf in Richtung des Vikars – »der pittoresken Natur von Ruinen bewusst; ganz sicher sind antike Bauwerke sehr bewundernswert, und sie vermitteln uns viel Wissen. Allerdings muss ich zugeben, Miss Albion, dass ich die lebendige Kraft eines bewohnten Gebäudes der Dekadenz ihrer Überreste vorziehe.«

»Doch es gibt sogar Menschen, die Ruinen bauen«, wandte Fanny ein.

»Ein Freund von mir hat es getan. Aber ich finde es geschmacklos.«

»Oh.« Als sie an ihre eigenen Pläne dachte, errötete sie unwillkürlich. »Warum?«

»Ich würde nie so viel Geld für etwas derart Nutzloses ausgeben. Ich sehe darin keinen Sinn.«

»Aber, aber, Sir«, sprang Gilpin für Fanny in die Bresche. »Ihr Widerspruch hat eindeutig eine Schwäche: Sie könnten dasselbe über jedes Kunstwerk sagen. Ihnen zufolge dürfte man auch keine Ruinen malen.«

»In gewisser Hinsicht haben Sie Recht, Sir«, entgegnete Martell. »Trotzdem genügt mir Ihre Begründung nicht ganz. Meiner Ansicht nach ist es eine Frage des Aufwandes. Ein Maler, ganz gleich, wie sehr er sich auch ins Zeug legt, verbraucht nur seine Zeit, Farben und Leinwand. Hingegen könnte man für den Preis einer kleinen Ruine unzählige Häuser bauen, die nützlich wären und zugleich einen angenehmen Anblick böten.« Er hielt inne. Offenbar gefiel es ihm nicht, so lange sprechen zu müssen. »Und da gäbe es noch etwas, Sir. Ein Haus ist das, was es vorstellt, nämlich ein Gebäude. Ein Gemälde ist ein Gemälde. Aber eine nachgebaute Ruine spiegelt vor, etwas zu sein, was sie nicht ist. Sie ist künstlich. Demzufolge sind die Gefühle und Träume, die sie auslöst, ebenfalls nicht echt.«

»Dann sind Sie also kein Freund der gotischen Architektur?«, fragte Fanny.

»Sie meinen, dass man ein schönes Haus nimmt und es mit gotischen Ornamenten verziert, um einen anderen Eindruck zu erwecken. Nein, ganz gewiss nicht, Miss Albion. Ich verabscheue diese Mode.«

Dennoch gingen sie hinüber, um sich Folly Bridge aus der Nähe anzusehen. Edward plauderte weiter. Die Stimmung war gelöst. Nach der Besichtigung der Brücke wollten Mr. Gilpin und die Mädchen zum Blue Boar Inn zurückkehren, um etwas zu essen und sich auszuruhen. Edward und Mr. Martell begleiteten sie zum Gasthof, und man verabredete, am nächsten Morgen wieder mit Edward einen Spaziergang durch Oxford zu unternehmen. Mr. Martell hatte offenbar andere Verpflichtungen. Außerdem schlug Edward vor, an ihrem letzten Tag in das Dorf Woodstock zu fahren und den gewaltigen Landsitz Blenheim Palace zu besuchen, der unweit der Ortschaft in einem prächtig gestalteten Park lag.

»Der Herzog ist zwar stets zugegen«, erklärte Edward, »aber man darf das Haus nach vorheriger Anmeldung – was ich bereits erledigt habe – besichtigen.«

»Ausgezeichnet!«, rief Gilpin aus. »Der Herzog besitzt einige Gemälde von Rubens, die man sich nicht entgehen lassen sollte.«

»Martell«, meinte Edward, »möchtest du nicht mitkommen?« Als sein Freund zögerte, fragte er: »Warst du schon einmal in Blenheim?«

»Ich habe ein- oder zweimal dort übernachtet«, entgegnete Martell ruhig.

»O Gott, Martell«, erwiderte Edward ohne jede Verlegenheit. »Ich hätte mir denken können, dass du den Herzog kennst. Also los. Möchtest du diesen beiden Damen nicht Gesellschaft leisten, oder fährst du nur nach Blenheim, wenn du vom Besitzer persönlich empfangen wirst?«

Zu Fannys Erstaunen schüttelte Martell bloß den Kopf und schmunzelte über diese Neckerei. Offenbar störte es ihn nicht, wenn Edward ihn freundschaftlich hänselte. »Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie zu begleiten«, sagte er mit einer leichten Verbeugung; doch Fanny war nicht sicher, ob er es ehrlich meinte.

Nachdem Mr. Martell sich verabschiedet hatte, speisten die beiden Mädchen mit Edward und Mr. Gilpin. Fanny war es lieber so, denn sie empfand die Anwesenheit eines Mannes, der offenbar keine Freude an einem Gespräch hatte, als anstrengend. Sie erkundigte sich bei Mr. Gilpin nach seiner Meinung über Edwards Freund.

»Ein kluger Kopf«, erwiderte Mr. Gilpin taktvoll, »allerdings vielleicht ein wenig zu hitzig. Ich müsste ihn besser kennen lernen.« Diese Antwort war zwar interessant, doch Fanny hatte eigentlich etwas anderes gemeint.

»Er ist unverschämt reich«, ergänzte Edward. »Das kann ich euch versichern.«

In ihrem Zimmer fragte Fanny später ihre Cousine, was sie von Martell hielt.

»Nun, er ist eine gute Partie, und das weiß er auch.«

»Und wie beurteilst du seinen Charakter und seine Einstellung?«

»Aber, Fanny, was soll ich dazu sagen? Schließlich hast du doch mit ihm gesprochen.« Bis jetzt hatte Fanny noch gar nicht darüber nachgedacht, aber nun fiel ihr auf, dass Louisa während des Spaziergangs mit Mr. Martell kaum ein Wort von sich gegeben hatte. »Eines jedoch habe ich bemerkt, Fanny«, fuhr ihre hübsche Cousine lächelnd fort.

»Was denn, Louisa?«

»Dass er dir gefällt.«

»Mir? Ach, nein, Louisa. Das bildest du dir nur ein. Wie kommst du bloß darauf?«

Doch Louisa verweigerte die Antwort und setzte sich ans Fenster. Sie griff nach einem Buch und begann etwas auf das Deckblatt zu zeichnen. Sie war völlig in ihre Beschäftigung versunken und sprach kein Wort, während Fanny sich bettfertig machte. Schließlich rief Louisa nach ihrer Cousine, reichte ihr wortlos das Buch und zeigte ihr im Dämmerlicht die Zeichnung.

Sie stellte einen brunftigen Rothirsch bei Morgengrauen auf der Heide dar. Das prächtige Geweih in den Nacken gelegt, stieß er ein mächtiges Röhren aus. Das Tier war wirklich gut getroffen, die Zeichnung kunstfertig ausgeführt – nur mit einer kleinen Abänderung: Der Hirsch hatte Mr. Martells Gesicht.

»Ein Glück, dass wir ihn morgen nicht sehen«, sagte Fanny, »denn dann würde ich bestimmt zu lachen anfangen.«

 

 

Am nächsten Tag, der sehr angenehm verlief, wurde Mr. Martell mit keinem Wort erwähnt. Am folgenden Morgen jedoch stand er, in braunem Rock, Reithosen und passendem braunem Hut, pünktlich vor ihrer Tür. Er ritt auf einem prächtigen Rotfuchs neben ihrer Kutsche her und erklärte, das Wetter sei heute so schön und das Pferd habe zwei Tage lang im Stall gestanden, weshalb es dringend Bewegung brauche. Obwohl diese Begründung völlig glaubwürdig klang, konnte Fanny sich des Gedankens nicht erwehren, dass er so zumindest nicht in die Verlegenheit kommen würde, unterwegs mit ihnen plaudern zu müssen. Es war eine schöne Fahrt. Allerdings hielt Mr. Gilpin nicht viel von der Landschaft rings um Oxford. »Sie ist zu eben«, meinte er. »Ich kann sie nur als kultivierte Langeweile bezeichnen.« Obwohl der Gegend bedauerlicherweise die pittoresken Eigenschaften fehlten, hatte sie eine interessante Geschichte vorzuweisen. Der Vikar erinnerte die jungen Leute daran, dass ein mittelalterlicher König seine Geliebte, die schöne Rosamund, in Woodstock untergebracht hatte. Die Königin war so eifersüchtig auf diese Dame, dass sie sie vergiften wollte. Und deshalb, so lautete die Legende, ließ der König einen Irrgarten rings um Rosamunds Haus anlegen, zu dem nur er den Eingang kannte. »Eine hübsche Geschichte, auch wenn sie nicht wahr ist«, stellte der Reverend fest und unterhielt die jungen Frauen mit weiteren Anekdoten, bis sie das Parktor des großen Palasts von Blenheim erreichten, den John Churchill, ein Höfling und erfolgreicher Soldat, errichtet hatte, nachdem er zur Zeit Karls II. zum Herzog von Marlborough ernannt worden war.

Während die Kutsche die Auffahrt entlangrollte, hielt Fanny neugierig nach dem Landhaus Ausschau, das sie bald jenseits einer riesigen Rasenfläche entdeckte.

Der Anblick war so einschüchternd, dass sie vor Ehrfurcht nach Luft schnappte. Sie kannte die Herrensitze im New Forest und hatte das große Haus der Wiltons in Sarum besucht. Doch nichts hatte sie auf diese Pracht vorbereitet.

Der gewaltige Palast von Blenheim – benannt nach dem größten Sieg des Herzogs über König Ludwig XIV. von Frankreich – ruhte nicht in der Landschaft, sondern nahm sie ein wie eine in Stein gehauene Kavallerie. Die Fassaden im griechisch-römischen Stil erinnerten weniger an ein Landhaus als vielmehr an Paläste wie den Louvre.

Zuerst besichtigten sie das Haus. Die Marmorhallen und Emporen des Herzogs von Marlborough strahlten eine unnahbare Würde aus, wie Fanny sie noch nie gesehen hatte. Ihr wurde klar, dass diese Welt des Hochadels ihr für immer verschlossen bleiben würde, und sie erstarrte fast vor Ehrfurcht. Doch wie ihr auffiel, schien Mr. Martell sich hier wie zu Hause zu fühlen.

»Zwischen Blenheim und dem New Forest gibt es eine Verbindung«, erinnerte Gilpin seine Begleiter. »Der letzte Herzog von Montagu und Besitzer von Beaulieu hat Marlboroughs Tochter geheiratet. Also stammen die heutigen Lords von Beaulieu zum Teil von den Churchills ab.«

Sie bewunderten die Gemälde von Rubens. »Das erste Familienbild in England«, verkündete Gilpin einmal, bezeichnete aber kurz darauf eine Abbildung der Heiligen Familie als »flach. Sie hat nur wenig von der Leidenschaft des Meisters. Bis auf den Kopf der alten Frau, wie Sie mir sicher zustimmen werden, Fanny.« Doch trotz aller Wunder des Palastes war Fanny nicht traurig, als Mr. Gilpin endlich vorschlug, hinaus in den Park zu gehen.

Der Park von Blenheim war gewaltig, in seine Gestaltung hatte Capability Brown seinen ganzen Ehrgeiz gelegt. Die auflockernden Elemente, wie Repton sie bevorzugte, fehlten hier völlig. Keine verschwiegenen Pfade und bunten Blumenbeete, sondern nur kilometerweite Rasenflächen, auf denen Marlboroughs Armeen hätten aufmarschieren können. Gottes Natur, schien der Garten zu sagen, war nur das Rohmaterial, das zuerst von einem englischen Herzog in eine bedeutungsvolle Ordnung gebracht werden musste. Und so erstreckten sich im Park von Blenheim mit seinen Bächen, Seen, Hainen endlose Panoramen bis hin zu einem gezähmten Horizont.

»Man hat alles getan, um Abwechslungsreichtum und Pracht miteinander zu verbinden«, verkündete Gilpin zu Beginn ihres Spaziergangs.

Inzwischen plauderte man unbefangen miteinander. Als Fanny mit Gilpin hinter den anderen herschlenderte, bemerkte sie, dass sogar Louisa ein paar Worte mit Mr. Martell wechselte. Gewiss sprachen sie über die Aussicht oder das Wetter. Mr. Martell wirkte zwar weiterhin wortkarg, schien aber wenigstens die Unterhaltung aufrecht zu erhalten. Ganz gleich, was man von ihm halten mochte, es ließ sich nicht leugnen, dass er sehr gut in diese Szenerie passte.

Schließlich erreichten sie eine Stelle, an der sich ihnen dank Browns Können ein besonders beeindruckender Anblick bot. »Da!«, rief Gilpin aus. »Eine der großartigsten Aussichten, die die Kunst je hervorbringen kann. Pittoresk. Eine Szene, die Sie zeichnen sollten, Fanny. Sicher wäre das Ergebnis bewundernswert.«

Mr. Martell drehte sich um.

»Sie zeichnen, Miss Albion?«

»Ein wenig.«

»Zeichnen Sie auch, Mr. Martell?«, fragte Louisa. Doch er wandte sich nicht zu ihr um.

»Ziemlich schlecht, wie ich fürchte. Aber ich habe die größte Hochachtung vor Menschen, die es können.« Bei diesen Worten sah er Fanny lächelnd an.

»Meine Cousine Louisa zeichnet genauso gut wie ich, Mr. Martell«, erwiderte Fanny und errötete leicht.

»Daran habe ich keinen Zweifel«, entgegnete er höflich und widmete sich wieder seinem Gesprächspartner.

Nachdem sie eine Weile dahinspaziert waren, blickte Fanny zurück zum Palast der Churchills und erkundigte sich, nur um Konversation zu betreiben, nach den Ursprüngen der Familie.

»Gewiss waren sie während des Bürgerkriegs Royalisten«, sagte Gilpin. »Eine Familie aus Westengland, allerdings keine Angehörigen des alten Hochadels.«

»Im Gegensatz zu dir, Martell«, meinte Edward lachend. »Er ist Normanne. Die Martells kamen mit Wilhelm dem Eroberer ins Land, richtig?«

»So heißt es zumindest«, erwiderte Martell lächelnd.

»Seht ihr«, fuhr Edward fröhlich fort. »Kein Tropfen niederen Blutes floss je durch seine Adern. Sein Wappen wurde nie von schnöden Geschäften beschmutzt. Gib es zu, Martell. Es ist eine Gnade, dass du überhaupt mit uns redest.«

Martell schüttelte nur belustigt den Kopf.

Fanny war überrascht, dass Edward dieses Thema angeschnitten hatte. Schließlich war er ein Totton und Kaufmannssohn, was ihn eindeutig in den Nachteil versetzte. Aber als sie Martells Schmunzeln bemerkte, wurde ihr klar, dass ihr Cousin mit seiner jungenhaften Offenheit etwas bezweckte. Immerhin entstammte seine Mutter dem niederen Adel. Und durch seine familiären Verbindungen mit den Burrards und seine enge Freundschaft mit ihr, einer Albion, hatte der junge Totton bereits Zugang zu Adelskreisen gefunden. Mit seiner Andeutung, dass seine eigene Familie Kaufleute waren, wollte er Mr. Martell nur zu der Antwort auffordern, das sei doch nicht weiter wichtig.

»Zuweilen erstaunt es mich selbst«, merkte Martell, der kein Spielverderber war, an, »dass ich überhaupt mit jemandem spreche.«

Edward brach in Gelächter aus. Louisa lächelte. Und Fanny war insgeheim sehr froh darüber, eine Albion zu sein.

Sie kehrten zur Kutsche zurück. Alle schienen bester Stimmung, bis auf Mr. Gilpin, der ein wenig einsilbig war.

An der Kutsche verabschiedeten sie sich von Mr. Martell, der noch einen Besuch in der Nachbarschaft machen wollte.

»Aber wir müssen uns nicht für lange trennen«, verkündete Edward, »denn Martell hat die Einladung angenommen, zu uns nach Lymington zu kommen. Sehr bald, sagt er. Es ist schon alles vereinbart.«

Das war wirklich eine Überraschung, die Fanny, wie sie sich eingestehen musste, nicht ganz unwillkommen war. Falls er bei den Tottons wohnte, würde sie ihn nicht öfter sehen müssen, als es ihr gefiel.

Also sagten sie einander Lebewohl, blickten ihm nach, wie er davonritt, und fuhren dann zu ihrem letzten gemeinsamen Abendessen nach Oxford. Am nächsten Morgen würden die Mädchen mit Mr. Gilpin abreisen, und selbstverständlich vergaßen sie nicht, sich beim Essen gebührend bei ihm zu bedanken.

Als Fanny, unterstützt von einem Zimmermädchen, ihre Sachen packte, war sie ausgezeichneter Stimmung.

Louisa, die ebenfalls die Rückreise vorbereitete, sagte plötzlich: »Fanny, ich glaube, du magst Mr. Martell.«

»Ich? Aber nein, Louisa. Nicht wirklich.«

»Oh?«, entgegnete Louisa und bedachte sie mit einem Seitenblick. »Ich jedenfalls mag ihn.«

 

 

Seit vielen Jahren lebte Puckle nun schon in Beaulieu Rails. Hin und wieder besuchte er seine Verwandten auf der westlichen Seite des New Forest. Als er sich an diesem Sonntagmorgen auf den Weg über die Heide machte, nahmen seine Nachbarn an, dass er auch diesmal dorthin wollte. Sie wären sehr überrascht gewesen, hätten sie gesehen, wie er durch den Wald nach Norden marschierte, vorbei an Lyndhurst und an Minstead. Am späten Vormittag erreichte er den verabredeten Treffpunkt, einen Gedenkstein.

Die Rufuseiche war verschwunden. Ihr morscher, ausgehöhlter Stamm war schließlich verrottet, und auch der verbliebene Baumstumpf war schon vor einem Jahrhundert zerfallen. Stattdessen hatte man einen Gedenkstein aufgestellt, der an die historische Bedeutung dieses Ortes erinnern sollte. Viele erinnerten sich noch daran, dass der Baum auf wundersame Weise im Winter Blätter getrieben hatte. Eine Inschrift im Stein verkündete, dass König Wilhelm Rufus hier an der Eiche zu Tode gekommen war.

Puckle blieb stehen und sah sich um. Ganz in der Nähe standen die beiden Söhne des alten Baumes. Einer war beschnitten worden, den anderen hatte man seinem natürlichen Wachstum überlassen. Puckles geschulter Blick erkannte sofort, dass der beschnittene Baum kein gutes Schiffsbauholz abgeben würde. Der andere Baum hingegen war reif zum Fällen. Und hinter diesem Baum zeigte sich nun eine Gestalt – Grockleton war pünktlich.

Vorsichtig näherte sich Puckle dem Zollinspektor, der hinter dem Baum verharrte, hielt inne und schaute sich wieder um.

»Wir sind allein«, sagte Grockleton. »Ich habe aufgepasst.«

»Dann ist ja alles in Ordnung.«

Grockleton wartete darauf, dass der Waldbewohner das Wort ergriff. Als dieser schwieg, begann er zu sprechen: »Und Sie glauben, dass Sie mir helfen können?«

»Vielleicht.«

»Wie?«

»Ich könnte Ihnen so manches erzählen.«

»Warum sollten Sie das tun?«

»Ich habe meine Gründe.«

Grockleton stand die Szene noch lebhaft vor Augen. Bis jetzt war er noch nicht dahinter gekommen, womit dieser Waldbewohner den Wirt des Angel Inn gegen sich aufgebracht hatte. Doch offenbar ging es um mehr als um betrunkenes Randalieren. Puckle hatte sogar ziemlich ruhig und nüchtern gewirkt. Dennoch hatte Isaac Seagull ihn aus unbekannten Gründen zur Tür geschleppt und ihn mit einem Tritt in den Allerwertesten hinaus auf die High Street befördert. Den Blick, mit dem Puckle den Wirt bedacht hatte, während er sich aufrappelte, würde Grockleton nie vergessen: blanker Hass.

Kurz danach war er auf dem Nachhauseritt dem Waldbewohner begegnet. Nachdem er ihn auf der menschenleeren Landstraße eingeholt hatte, meinte er, er werde sich nicht lumpen lassen, falls Puckle ihm etwas zu sagen hätte. Es war nur eine Vermutung gewesen, doch solche Anwerbungsversuche gehörten zu den Aufgaben eines Zollinspektors. Und er hegte schon seit geraumer Zeit den Verdacht, dass Seagull als Pächter des Gasthofs Schmugglerware bezog.

Zwei Tage später hatte Puckle Verbindung mit ihm aufgenommen. Und nun sprachen sie miteinander.

»Was hätten Sie mir denn mitzuteilen? Etwas über Isaac Seagull?«

»Er ist ein elender Dreckskerl«, sagte Puckle verbittert.

»Offenbar haben Sie Streit miteinander.«

»Stimmt.« Puckle hielt inne. »Doch das ist noch nicht alles. Sie haben sicher gehört, dass vor ein paar Jahren Ambrose Hole ausgeräumt wurde.«

»Natürlich.« Grockleton wusste genau über die Aktion gegen die Bande von Straßenräubern Bescheid, die kurz vor seiner Versetzung nach Lymington stattgefunden hatte.

Puckle spuckte angewidert aus. »Zwei der Gefangenen gehörten zu meiner Familie. Und dreimal können Sie raten, wer sie verpfiffen hat. Der verdammte Isaac Seagull! Und er weiß genau, dass ich im Bilde bin.« Das war wirklich ein Grund, den Mann zu hassen. Grockleton hörte aufmerksam zu. »Er behandelt mich wie den letzten Dreck«, fuhr Puckle erbost fort. »Weil er glaubt, dass ich mich vor ihm fürchte.«

»Fürchten Sie sich denn vor ihm?«

Puckle schwieg, als fiele es ihm schwer, das zuzugeben. Sein wettergegerbtes Gesicht erinnerte Grockleton an eine verkrüppelte Eiche, so wie er Seagull stets mit einem schnellen Schiff mit zum Wind gedrehten Segel verglich.

»Ja«, antwortete der Waldbewohner schließlich leise. »Ich habe Angst vor ihm. Und das ist auch sehr vernünftig.«

Grockleton verstand. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Schmugglern und Zöllnern waren zwar selten, lagen aber durchaus im Bereich des Möglichen. Hin und wieder geschah es, dass die Schmuggler an die Tür eines Inspektors klopften, der ihnen zu sehr zusetzte, und ihm eine Kugel in den Kopf verpassten.

»Und was wollen Sie?«, erkundigte sich Puckle.

»Eine große Lieferung abfangen. Was sonst?«

»Dazu haben Sie nicht genügend Leute.«

»Das ist meine Sache.«

Puckle blickte nachdenklich drein. »Es würde Sie einiges kosten«, meinte er dann.

»Einen Anteil an der beschlagnahmten Ware.« Sie wussten beide, dass das ein kleines Vermögen sein konnte.

»Schnappen Sie sich Isaac Seagull?«

»Wenn er dabei ist, ja.«

»Bringen Sie ihn um«, meinte Puckle leise.

»Nur, falls sie auf uns schießen.«

»Das werden sie sicher tun. Aber ich brauche einen Vorschuss. Und ein schnelles Pferd.« Als er Grockletons zweifelnde Miene bemerkte, ergänzte er: »Was, glauben Sie, werden die mit mir anstellen, wenn sie mich erwischen?«

»Vielleicht gar nichts.«

»Darauf verlasse ich mich lieber nicht. Ich werde aus dem New Forest fortgehen, weit, weit weg.«

Grockleton versuchte, sich Puckle außerhalb des New Forest vorzustellen. Das war nicht leicht. Auch als er sich Puckle als reichen Mann ausmalen wollte, versagte seine Phantasie. Er seufzte. Ein Mensch konnte sich durch Wohlstand sehr verändern. »Fünfzig Pfund«, sagte er. »Den Rest später. Wir können einen Übergabeort in Winchester oder in London vereinbaren. Wo immer Sie wollen.«

Er bemerkte, dass es Puckle Mühe kostete, seine Verblüffung zu verbergen. Offenbar hatte ihn die Summe beeindruckt.

»Aber es wird eine Weile dauern«, meinte Puckle. »Darüber müssen Sie sich im Klaren sein.«

Grockleton nickte. Die großen Schmuggelfahrten fanden für gewöhnlich im Winter statt, wenn die Nächte länger waren.

»Und da wäre noch etwas«, fuhr Puckle nachdenklich fort. »Wie soll ich mit Ihnen Verbindung aufnehmen? Schließlich darf ich mich nicht mit Ihnen blicken lassen.«

»Das ist mir klar, daher habe ich mir auch schon etwas überlegt. Vielleicht habe ich eine Lösung.«

»Und wie sieht die aus?«

»Ein Junge«, erwiderte Grockleton.

 

 

Es vergingen einige Wochen, bis Mr. Martell sich in Lymington blicken ließ, doch er hatte den Zeitpunkt sorgfältig gewählt.

Es war ein schöner Sommermorgen, und er war guter Stimmung. Es war ihm lieber gewesen, vorauszureiten und seinen Diener mit den Koffern folgen zu lassen. Als er den Schlagbaum an der Gemeindegrenze passierte, wurde ihm klar, dass er noch nie hier gewesen war.

Er zweifelte nicht daran, dass sein Aufenthalt sehr angenehm und lehrreich werden würde. Er mochte den jungen Edward Totton. Auch wenn sie nur wenig gemeinsam hatten, gefielen ihm seine fröhliche Art und der Umstand, dass Totton anders als viele Menschen nicht in Ehrfurcht vor ihm erstarrte. Sein Ruf hatte als unnahbarer Mann auch seine Vorteile, denn er schützte ihn vor Leuten, die ihn nur ausnutzen wollten. Doch es amüsierte ihn, wenn ein junger Mann wie Totton ihm den Respekt verweigerte. Und außerdem war es in diesem Fall er selbst, der beabsichtigte, Edward Totton für seine Zwecke einzuspannen.

Mr. Wyndham Martell befand sich in der beneidenswerten Lage, sich bei niemandem beliebt machen zu müssen. Er war Herr eines großen Gutes, zukünftiger Erbe eines zweiten, Absolvent von Oxford und gut beleumundet. In den Kreisen, in denen er verkehrte, fanden auch die bösesten Zungen nichts an ihm auszusetzen. Seine – wenngleich distanzierte – Höflichkeit entsprang seinem stark ausgeprägten Pflichtgefühl. Während viele begüterte junge Männer seiner Gesellschaftsschicht Gefahr liefen, dem Spiel oder der Völlerei zu verfallen, war Martell eher geistigen Zerstreuungen zugetan. Seine Eitelkeit sorgte dafür, dass er sich stets gut darstellte. Und er war zu dem recht vernünftigen Schluss gelangt, dass es bei einem Mann in seiner Position nur als Koketterie gewertet werden würde, wenn er sich bescheiden gab. Seiner Familie zuliebe und auch um seiner selbst willen hatte er sich vorgenommen, es in der Welt zu etwas zu bringen, und er konnte es sich leisten, Bedingungen zu stellen. Er sah sich als unabhängigen Politiker – eine Spezies, wie sie zu jeder Zeit nur selten anzutreffen ist, und er beabsichtigte nicht, sich kaufen zu lassen. Und wer daraus schloss, dass sein Stolz tatsächlich über das gewöhnliche Maß hinausging, hatte durchaus Recht.

Der wahre Grund für seinen Besuch beim jungen Edward Totton – den er wirklich sehr gern hatte – war, dass Lymington, das praktischerweise zwischen seinen beiden Gütern lag, zwei Parlamentsmitglieder stellte.

»Und ich denke«, hatte er vor kurzem seinem Vater bekannt, »dass ich nach der kommenden Wahl gerne einer von ihnen wäre.« Dazu musste er aber die vierzig Kopf starke Bürgerversammlung, die von den Kaufleuten und Freibauern der Stadt gewählt wurde, und den Bürgermeister von Lymington, Mr. Burrard, für sich gewinnen.

Martells Vater hätte es lieber gesehen, wenn sein Sohn sich für einen Sitz in der Grafschaft beworben hätte, denn diese hatten für gewöhnlich die Torys inne, während Lymington wie die meisten Handelsstädte einmütig die Whigs unterstützte. Die Torys standen traditionell hinter dem König, die Whigs hingegen waren Anhänger des nach 1688 gegründeten Parlaments. Sie waren zwar treue Verfechter der Monarchie, fanden aber, dass es nötig sei, die Macht des Königs einzuschränken. Allerdings traten diese Unterschiede im Alltag häufig nicht zu Tage. Viele Großgrundbesitzer waren Whigs, denn die Parteizugehörigkeit hing oft von familiären Verbindungen ab. Selbst der König zog manchmal einen Whig einem Tory vor. Deshalb unterschieden sich die Interessen des Baronets Sir Harry Burrard und des Kleinadels von Lymington eigentlich nicht sehr von denen des Aristokraten Mr. Martell.

Nur zwei Dinge an Mr. Martells Verhalten an diesem Morgen wären seinen Zeitgenossen wohl seltsam erschienen: Wenn er einen der Parlamentssitze von Lymington anstrebte, warum zum Teufel schrieb er dann nicht einfach an Burrard oder traf sich mit ihm in London? Und was noch merkwürdiger war: Weshalb hatte Martell für seine Reise nach Lymington absichtlich einen Zeitpunkt gewählt – er hatte nämlich Erkundigungen eingezogen –, zu dem der Baronet gar nicht in der Stadt weilte?

Die Antwort war ganz einfach: Da er Abgeordneter für Lymington werden wollte, hielt er es für angebracht, zuerst wie ein guter General die Lage zu sondieren.

Bürgermeister Burrard mochte möglicherweise Anstoß daran nehmen, wenn ein Freund der Großgrundbesitzer in seiner Stadt herumschnüffelte. Aus diesem Grund hatte Martell beschlossen, sich unter dem Vorwand eines Besuchs beim jungen Totton ein wenig umzusehen. Wenn er am Ende der Woche gut genug Bescheid wusste, wollte er den endgültigen Entschluss fassen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Angelegenheit voranzutreiben sei.

Außerdem kannte er hier abgesehen von Edward zwei reizende junge Damen. Louisa Totton war ein hübsches, lebhaftes Mädchen. Und Miss Albion war zwar keine Schönheit, aber dafür sehr sympathisch.

»Du musst zugeben«, sagte Edward Totton ruhig zu seiner Schwester, während sie darauf warteten, dass ihr Gast aus dem Haus kam, »dass ich dir nur die Besten vorstelle.«

Mr. Wyndham Martell war der dritte Junggeselle, den er innerhalb eines Jahres ins Haus gebracht hatte. Der erste war ein junger – wenn auch ein wenig unreifer – Bursche gewesen, der einmal ein großes Vermögen erben würde und mit Edward in Oxford studierte. Ein anderer Kommilitone, den Edward mit der Aussicht auf die Pferderennen am Ort hergelockt hatte, hatte tatsächlich starkes Interesse an Louisa gezeigt – so stark, dass er zudringlich wurde, nachdem er zu viel getrunken hatte, sodass man ihm die Tür weisen musste. Dennoch hatten diese Begegnungen Louisas Menschenkenntnis geschärft und ihr begrenztes Wissen über die Außenwelt vermehrt. Auch wenn sie es selbst wohl nicht so unverblümt ausgesprochen hätte, empfand sie diese Besuche als willkommene Abwechslung.

Martell hingegen unterschied sich sehr von besagten jungen Herren. »Mit dem lässt sich nicht spielen«, meinte ihr Bruder, denn er vermutete, dass sie sich vor dem strengen Großgrundbesitzer fürchtete.

»Ich habe ihn beobachtet«, erwiderte sie. »Er ist stolz – aber schließlich hat er allen Grund dazu. Und er amüsiert sich gerne.«

»Also hast du vor, ihn zu amüsieren?«

»Nein«, entgegnete sie nachdenklich. »Doch ich werde ihn glauben machen, dass ich es tun würde.« Sie blickte zur Tür. »Da kommt er ja.«

Martell war ausgezeichneter Stimmung. Anfangs war er nicht sicher gewesen, was ihn im Haushalt eines Kaufmannes in der Provinz erwartete. Doch jetzt war er angenehm überrascht. Das stattliche Haus im georgianischen Stil verfügte über eine breite Auffahrt und Seeblick. Es hatte etwa die Größe eines Pfarrhauses und entsprach dem Heim des jüngeren Bruders eines Gutsbesitzers, eines Admirals oder eines Mannes in vergleichbarer Stellung. Mrs. Totton hatte sich als hübsche Frau und Angehörige seines Standes entpuppt, die mit einigen ihm bekannten Familien verwandt war. Mit Edwards Vater, dem Kaufmann, hatte er zwar erst ein paar Worte gewechselt, hielt ihn aber für vernünftig, umgänglich und für einen Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Martell beschloss, dem jungen Edward den Kopf zurechtzurücken, falls dieser mit seinem gesellschaftlichen Stand hadern sollte, denn er hatte allen Grund, stolz auf seine Eltern zu sein.

»Zuerst besichtigen wir die Stadt«, schlug Edward vor, als Wyndham Martell sich zu ihnen gesellte. Und da das Wetter schön war, beschlossen sie, zu Fuß zu gehen.

Gemächlich schlenderten sie die High Street hinunter durch Lymington. Martell bewunderte die Läden – Swateridge, der Uhrmacher, Sheppard, der Büchsenmacher, und Wheelers Porzellanhandlung –, betrachtete das Messingschild am Haus des angesehenen Arztes und stellte fest, dass der Kaufmann Mr. St. Barbe sogar eine Bank eröffnet hatte. Die Geschwister erzählten ihm, dass viermal pro Woche aus London die Post gebracht und im Angel Inn abgegeben wurde. Die Postkutsche bewältigte die rund fünfundzwanzig Kilometer nach Southampton in nur zweieinhalb Stunden. Martell war gebührend beeindruckt.

Sie gingen zum Kai, wo einige kleine Boote vertäut waren. Nach einem Umweg über die Salzgärten kehrten sie rechtzeitig zum Abendessen nach Hause zurück.

Mr. Totton und seine Frau legten Wert auf eine hervorragende Küche. Als Vorspeise gab es eine leichte Erbsensuppe mit Brot. Darauf folgte ein Fischgang, nach dem schließlich der Hauptgang serviert wurde: Rinderbraten, Truthahn in Pflaumensauce, gedünstetes Wild und gebratener Sellerie. Die Männer tranken Claret. Und Louisa, die zu Hause für gewöhnlich Johannisbeerwein bevorzugte, genehmigte sich mit ihrer Mutter ein Gläschen Champagner.

Bei Tisch wurde angenehm geplaudert. Mrs. Totton erzählte von den Hirschen im Wald und dem kürzlichen Besuch des Königs und schilderte dem Gast die Sehenswürdigkeiten. Louisa, in deren Augen Martell trotz ihres bescheidenen Betragens den Schalk funkeln sah, berichtete von den Stücken, die im Theater gegeben wurden und von den Leistungen der Schauspieler.

Edward erwähnte die Rennbahn, die gerade oberhalb von Lyndhurst gebaut wurde. »Wir veranstalten hier nicht nur Pferderennen, Martell«, fügte er hinzu. Ein besonders launiger Herr am Ort besaß einen Rennochsen, den er sogar selbst ritt und mit dem er andere zum Rennen herausforderte.

Als der zweite Gang serviert wurde – Kartoffelpüree, Sardellentoast, geschmorte Tauben und Gebäck –, dämmerte Martell die Erkenntnis, dass die Küstenstadt am New Forest vermutlich eine der hübschesten Gemeinden in England war, deren Vertreter man werden konnte.

Nachdem das Tischtuch entfernt worden war, wurden Aspikhäppchen, Nüsse, zu Pyramiden aufgetürmte Süßigkeiten und Käseplatten aufgetragen. Für die Herren gab es Portwein, für die Damen Kirschlikör. Erst dann fiel es Martell ein, sich nach Fanny Albion zu erkundigen.

»Die arme Fanny!«, rief Louisa aus. »Man kann sie mit Fug und Recht eine Heilige nennen.«

Offenbar bestanden nur geringe Chancen, die junge Dame zu Gesicht zu bekommen. »Obwohl wir uns größte Mühe geben werden, sie vor die Tür zu locken«, sagte Edward. Da Tante Adelaides beste Freundin, die in Winchester lebte, erkrankt war, hatte die unerschrockene alte Dame darauf bestanden, trotz ihrer vorgerückten Jahre in ihrer Kutsche hinzufahren und ein paar Tage bei ihr zu verbringen. Deshalb mussten Fanny und Mrs. Pride den alten Mr. Albion allein versorgen. Vor ihrer Abreise hatte Adelaide ihrem Bruder streng verboten, während ihrer Abwesenheit zu erkranken, doch leider hatte er diese Anweisungen in den Wind geschlagen. Und dass sich die genaue Ursache seines augenblicklichen Leidens nicht ermitteln ließ, lag – wie er selbst beteuerte – nur daran, dass es schon zu weit fortgeschritten sei. Also musste Fanny bei ihm zu Hause bleiben und wagte nicht auszugehen.

»Vielleicht sollten wir deine Cousine besuchen«, schlug Martell vor.

»Ich werde sie fragen«, erwiderte Edward. »Aber sie wird wahrscheinlich ablehnen.«

Nachdem die Damen sich zurückgezogen hatten, hatte Martell Gelegenheit, Mr. Totton bei einem Glas Portwein über die geschäftliche Lage der Stadt zu befragen. Wie erwartet war Edwards Vater ausgezeichnet im Bilde.

»Natürlich war Salz viele Jahrhunderte lang unsere wichtigste Handelsware. Sie werden feststellen, dass die meisten großen Kaufleute in verschiedenen Branchen tätig sind, und für gewöhnlich gehört Salz dazu. St. Barbe zum Beispiel handelt mit Lebensmitteln, Salz und Kohle. Mit der Kohle werden übrigens die Salzsiedeöfen beheizt. Sie dürfen nicht vergessen, dass man Salz nicht nur zum Haltbarmachen von Fisch und Fleisch verwendet, es dient auch als Mittel gegen Skorbut und ist deshalb für die Marine besonders wichtig. Außerdem benutzt man es beim Gerben von Leder, als Schmelzmittel bei der Glasherstellung, bei der Verhüttung von Eisen und als Glasur für Töpfereiwaren.«

»Soweit ich weiß, gibt es billigere Methoden der Salzgewinnung, als es aus dem Meer zu holen.«

»Ja. Auf lange Sicht haben Lymingtons Salzgärten keine Zukunft. Doch das wird noch eine Weile dauern.«

»Und Sie exportieren Holz?«

»Ein wenig. Nicht so viel wie früher. Der Großteil unserer örtlichen Vorkommen wird für den Bau von Marine schiffen und anderen Booten verbraucht. Aber im Hafen gibt es viel zu tun. Kohle kommt aus Newcastle. Viele Kaufmannsschiffe fahren nach London, Hamburg, Waterfort und Cork in Irland, ja sogar bis nach Jamaika.«

»Und die Manufakturen?«

»Abgesehen von denen, die ich bereits erwähnt habe, gibt es in den meisten Gemeinden Tonvorkommen, weshalb einige Ziegelbrennereien in Betrieb sind. Aus diesem Grunde stehen in dieser Gegend inzwischen einige hübsche Backsteingebäude. Das größte Werk befindet sich in Brockenhurst. Außerdem haben wir eine Seilerei in der Abtei von Beaulieu, die Taue für die Marine herstellt. Einige Bewohner des Waldes sind auch nach Southampton gezogen, wo es abgesehen vom Hafen auch noch einige Betriebe gibt, die Kutschen bauen.«

»Aber wir haben noch viel ehrgeizigere Pläne«, fügte Edward lächelnd hinzu. »Wir werden ein modischer Badeort werden, ein zweites Bath.«

»Ach, ja.« Sein Vater lachte laut auf. »Falls Mrs. Grockleton ihren Willen durchsetzt. Mrs. Grockleton haben Sie wohl noch nicht kennen gelernt, Mr. Martell?«

»Ich hatte noch nicht das Vergnügen.«

»Sie hat uns zum Tee eingeladen«, kicherte Edward. »Morgen.«

Am nächsten Vormittag besuchten sie Hurst Castle. Der Tag war zwar sonnig, aber es wehte ein frischer Wind über die Pennington Marshes, der die kleinen Windpumpen an den Salzgärten zum Klappern brachte. Mrs. Beestons Badeanstalt, die dicht neben einer der Pumpen stand, lag verlassen da. In dem Meeresarm zwischen der Festung und der Insel Wight trugen die Wellen weiße Schaumkronen. Das aufgewühlte Wasser des offenen Meers schimmerte grün. Die Luft war klamm und roch nach Salz. Louisa, das Gesicht gerötet und feucht von der Gischt, war heute ganz besonders hübsch, als der Wind ihr dunkles Haar zerzauste. Martell spürte seinen kräftigen Herzschlag, als sie lachend durch die wilden Küstenmarschen liefen.

Sie hatten bereits die Hälfte des Rückwegs hinter sich, als sie dem Grafen d’Hector begegneten. Er war allein und wirkte bedrückt.

Martell war die Anwesenheit der französischen Truppen in der Stadt bereits aufgefallen, und Edward hatte ihm die Hintergründe erklärt. Er stellte Charles Louis Marie und Martell einander vor. Martell sprach ausgezeichnet Französisch, und der Graf war überglücklich, einen anderen Aristokraten zu treffen, und brannte darauf, sich mit ihm anzufreunden.

»Sie sind einer von uns!«, rief er aus und umfasste Martells Hand. »Wie schön, dass wir uns in dieser Wildnis kennen lernen.« Ob er damit die Marschen oder Lymington selbst meinte, blieb unklar. Er erkundigte sich nach Martells Besitzungen und seinem normannischen Erbe und beharrte darauf, dass zwischen ihnen eine verwandtschaftliche Beziehung bestehen müsse. Und zwar durch die Familie Martell-St. Cyr, obgleich Martell ihm versicherte, dass er noch nie von diesen Leuten gehört hatte. Dann fragte der Franzose seinen Gesprächspartner, ob er gern jage, was dieser bestätigte.

»In der Heimat jagen wir Wildschweine«, meinte der Graf d’Hector wehmütig. »Ich wünschte, mein Freund, ich könnte Sie dazu einladen, aber leider würde man mich köpfen, sobald ich einen Fuß auf heimatliche Erde zu setzen wagte.« Er zuckte die Achseln. »Besitzen Sie vielleicht auch Fischgründe?«

Martell bejahte dies und versicherte ihm, sie seien ausgezeichnet.

»Ich fische sehr gern«, sagte der Graf.

Als Martell darauf nur mit einer höflichen Verbeugung und Schweigen antwortete, rettete Edward die Situation, indem er dem Franzosen mitteilte, dass sie bei Mrs. Grockleton zum Tee eingeladen seien und sich deshalb verabschieden müssten.

»Eine bemerkenswerte Frau«, entgegnete der Graf. »Dann also au revoir, mein lieber Freund«, wandte er sich an Martell. »Ich fische sehr gern«, fügte er hoffnungsfroh hinzu. Da die Engländer sich bereits entfernten, setzte er seinen traurigen Spaziergang zu den Windpumpen an der Küste fort.

»Wie Sie sehen, Mr. Martell«, sagte Mrs. Grockleton, als sie geschniegelt und gebügelt um drei Uhr zum Tee bei ihr im Salon saßen, »bietet Lymington eine ganze Reihe von Möglichkeiten.«

Mr. Martell versicherte ihr, dass ihm die Stadt ausgezeichnet gefalle.

»Oh, Mr. Martell, Sie wollen uns gewiss nur schmeicheln. Es gibt noch so viel zu tun.«

»Zweifellos werden Sie der Landschaft genauso Ihren Stempel aufdrücken wie Capability Brown einem Park, Madam.«

»Ich, Sir?« Fast wäre sie errötet, denn sie missverstand das als Kompliment. »Allerdings kann ich nichts weiter tun, als Anregungen zu geben. Die Lage der Stadt, ihre Bewohner und die königlichen Besucher werden den Wandel bewirken.«

»Meeresluft ist sehr erfrischend, Madam«, erwiderte Martell ausweichend.

»Das Meer. Selbstverständlich ist das Meer erfrischend!«, rief Mrs. Grockleton aus. »Aber haben Sie die grässlichen Windpumpen, die Schlote und die Salzgärten gesehen? Die müssen weg, Mr. Martell. Kein Mitglied der besseren Gesellschaft würde im Schatten einer Windpumpe baden.«

Auf diese Bemerkung gab es nichts zu erwidern. Doch angesichts des Umstandes, dass die führenden Kaufleute der Stadt, sein Gastgeber eingeschlossen, im Salzhandel tätig waren, fühlte sich Martell verpflichtet zu widersprechen. »Vielleicht ließe sich ein geeigneterer Badeplatz finden«, schlug er vor.

Leider erfuhr er nicht, was Mrs. Grockleton davon hielt, da in diesem Augenblick der Hausherr hereinkam.

Martell hatte bereits von Edward eine eingehende Beschreibung Samuel Grockletons erhalten, und er musste seinem Freund Recht geben – obwohl es vielleicht ein wenig grausam war, den Zollinspektor mit dem Spitznamen »die Klaue« zu belegen. Kaum hatte sich Grockleton gesetzt und die von seiner Frau angebotene Tasse Tee entgegengenommen, als das Dienstmädchen, das bei Tisch servierte, stolperte, sodass sich die heiße Flüssigkeit über das Bein des Familienoberhauptes ergoss.

»Meiner Treu!«, rief Mrs. Grockleton aus. »Du hast meinen armen Mann verbrüht. Oh, Mr. Grockleton.« Der Zollinspektor verzog zwar das Gesicht, griff jedoch mit bemerkenswerter Geistesgegenwart nach der Blumenvase und schüttete sich kaltes Wasser aufs Bein.

»Was hast du vor, lieber Mann?«, fragte die Gastgeberin ein wenig verärgert.

»Ich kühle die Verbrennung«, entgegnete er finster und nahm wieder Platz. »Jetzt hätte ich gern ein Stück Walnusskuchen, Mrs. Grockleton«, meinte er dann.

Martell, der diese Beherztheit sehr bewunderte, knüpfte ein Gespräch mit seinem Gastgeber an und erkundigte sich geradeheraus, ob im New Forest viel geschmuggelt werde.

»Genauso wie in Dorset«, entgegnete der Zollinspektor.

Da Martell genau wusste, dass von Sarum bis nach Dorset und Westengland wahrscheinlich keine einzige versteuerte Flasche Brandy im Umlauf war, beschränkte er sich auf ein Nicken. »Und wird man den Schmugglern je das Handwerk legen?«, fragte er.

»An Land vermutlich nicht«, antwortete Grockleton. »Und zwar aus dem einfachen Grund, dass man dafür zu viele Leute bräuchte. Wie bei allen Belangen unserer Nation, Sir, ist das Meer der Schlüssel. Unsere Landstreitkräfte nützen uns meistens nicht viel.«

»Sie wollen mit Hilfe von Schiffen die Waren auf dem Meer abfangen? Dann müssten sie aber schnell und bis an die Zähne bewaffnet sein.«

»Und gut bemannt, Sir.«

»Würden Sie Kapitäne der Marine einsetzen?«

»Nein, Sir. Schmuggler, die sich aus dem Geschäft zurückgezogen haben.«

»Gesetzesbrecher im Dienste der Krone?«

»Auf jeden Fall. Das war bis jetzt immer erfolgreich. Sir Francis Drake und seinesgleichen, damals zu Zeiten der guten Königin Elisabeth, Sir, waren samt und sonders Piraten.«

»Pfui, Mr. Grockleton!«, rief seine Frau aus. »Was redest du da?«

»Nur die Wahrheit«, entgegnete er spöttisch. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss mich umziehen.« Er stand auf und verließ mit einer Verbeugung den Raum.

»Nun«, meinte Mrs. Grockleton, offenbar enttäuscht von ihrem Gatten. »Was werden Sie jetzt bloß von uns denken, Mr. Martell?«

An Stelle einer Antwort merkte Martell ruhig an, er habe vom wachsenden Erfolg ihrer Akademie gehört.

»Aber ja, Mr. Martell. Da bin ich ganz Ihrer Ansicht. Louisa, erzählen Sie Mr. Martell doch von unserer kleinen Schule.«

Louisa sah ihn mit großen Augen an und schilderte mit dem angemessenen Ernst den Kunstunterricht und die weiteren Bildungsveranstaltungen, welche die Akademie zu bieten hatte.

»Darüber hinaus«, ergänzte Mrs. Grockleton, »unterrichte ich persönlich die Mädchen in Französisch. Zudem lasse ich sie die Werke der wichtigsten Schriftsteller lesen. Im letzten Jahr war unsere Lektüre…« Ihr war der Name entfallen.

»Racine?«, schlug Louisa vor.

»Aber ja, Racine. Der muss es gewesen sein.« Sie strahlte ihre ehemalige Schülerin anerkennend an. »Ohne Zweifel sprechen Sie fließend Französisch, Mr. Martell?«

In diesem Augenblick hatte Martell das deutliche Empfinden, dass er genug von Mrs. Grockleton hatte. Er sah sie verständnislos an.

»Vous parlez français, Mr. Martell?«

»Ich, Madam? Nein, kein Wort.«

»Sie enttäuschen mich. In der besten Gesellschaft… Hat Eduard nicht erzählt, Sie hätten sich mit dem Grafen unterhalten?«

»Das ist richtig, Mrs. Grockleton. Aber wir haben nicht Französisch gesprochen, sondern Latein.«

»Tatsächlich?«

»Gewiss. Ich bin sicher, dass Sie den jungen Damen auch Latein beibringen.«

»Aber nein, Mr. Martell. Das nicht.«

»Ich bedauere, das zu hören. Unter gebildeten Menschen… Nach den Schrecken der Revolution, Mrs. Grockleton, haben viele Leute Abscheu gegen die französische Sprache entwickelt. Meiner Ansicht nach wird man an den Höfen Europas bald nur noch Latein sprechen. Wie schon in den alten Zeiten«, fügte er mit Gelehrtenmiene hinzu.

»Nun.« Zum ersten Mal in ihrem Leben fehlten Mrs. Grockleton die Worte. »Ich hätte nie gedacht…«, stammelte sie. Plötzlich erhellte sich ihr rundes Gesicht, und sie hob den Zeigefinger. »Mir deucht, Mr. Martell«, meinte sie mit einem viel sagenden Lächeln. »Mir deucht, dass Sie mich auf den Arm nehmen wollen.«

»Ich, Madam?«

Inzwischen war ein drohendes Funkeln in ihre Augen getreten. Martell wurde bewusst, dass diese sich selbst sehr wichtig nehmende Dame ohne ein Quäntchen Skrupellosigkeit und Schlauheit wohl niemals Leiterin einer Akademie geworden wäre. »Mir deucht, Sie wollen mich verspotten.«

Es war an der Zeit, einen Rückzieher zu machen, wenn er sich in Lymington keine Feinde schaffen wollte. »Ich gestehe«, erwiderte er deshalb mit einem charmanten Lächeln, »dass ich zwar ein wenig Französisch spreche, aber vermutlich nicht genug, um Sie zu beeindrucken, Madam. Also gebe ich es nicht gerne zu. Und was meinen Scherz über das Lateinische betrifft«, er betrachtete sie ernst, »frage ich mich nach den Gräueln, die wir in Paris gesehen haben, allen Ernstes, ob Französisch noch lange die Sprache der besseren Gesellschaft bleiben wird.«

Offenbar war Mrs. Grockleton damit zufrieden, und sie begann das Schicksal der französischen Aristokratie so lebhaft zu bedauern, als gehöre sie selbst dazu. Man war sich einig, dass der galante Graf d’Hector und seine treuen Truppen in Lymington so rasch wie möglich nach Frankreich zurückkehren sollten, um dort für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Schließlich wandte sich Mrs. Grockleton wieder ihrem Lieblingsthema zu. Alle stimmten überein, dass man dringend ein neues Theater, neue Versammlungsräume und am besten auch neue Einwohner brauche. Und als man sich verabschiedete, hatte Mrs. Grockleton deshalb auch keine Scheu zu verkünden: »Ich beabsichtige, bald einen Ball in den Versammlungsräumen zu geben. Hoffentlich, Mr. Martell, enttäuschen Sie uns nicht, indem Sie die Einladung ablehnen.«

Nur mit Mühe rang sich Martell zu der Antwort durch, dass er mit Freuden kommen werde, falls er sich in der Gegend befinden sollte. Diese Floskel hätte ihn unter gewöhnlichen Umständen zu nichts verpflichtet, jetzt jedoch hatte er ein mulmiges Gefühl: Auf irgendeine Weise würde diese Dame schon dafür sorgen, dass er auch wirklich erschien.

»Nun«, flüsterte Edward, als sie wieder auf der Straße standen. »Was hältst du von ihr?«

»Da ist mir ›die Klaue‹ zehnmal lieber«, murmelte Martell.

Am nächsten Tag fuhren sie morgens in der Kutsche los, um Mr. Gilpin einen Besuch abzustatten, der sie ausgesprochen herzlich im Pfarrhaus von Boldre willkommen hieß. Sie trafen ihn in der Bibliothek an, wo er zu seiner Zerstreuung einem Jungen aus der Dorfschule Mathematikunterricht erteilte. Es war Nathaniel Furzey.

Gerne zeigte der Vikar Martell seine Bibliothek, die einige wertvolle Bände enthielt, und auch die Skizzen, welche er vor kurzem von Landschaften im New Forest angefertigt hatte.

»Von Zeit zu Zeit versteigere ich sie«, erklärte er Martell, »und Männer wie Sir Harry Burrard bezahlen mir übertriebene Preise dafür, weil sie wissen, dass das Geld für die Schule und andere wohltätige Zwecke bestimmt ist, für die ich mich einsetze. Das Leben eines Geistlichen« – er bedachte Martell mit einem Seitenblick – »ist sehr erfüllend.«

Mr. Gilpins dreistöckiges, geräumiges Pfarrhaus war wirklich eines Gentlemans würdig. Vom Garten aus genoss man eine großartige Aussicht auf die Insel Wight. Der Wind war noch so kühl wie am Vortag, und über dem Solent ballten sich graue Wolken. Ihr silbriger Schimmer ließ die Landschaft schwermütig wirken, und der Wechsel von Licht und Schatten war eindeutig pittoresk. Nachdem sie dieses Naturschauspiel bewundert hatten, erkundigte sich Martell nach Fanny.

»Sie ist in Haus Albion«, erwiderte Gilpin. »Und das erinnert mich daran«, fügte er nachdenklich hinzu, »dass ich ihr noch etwas sagen wollte. Aber das kann warten.« Er sah Edward an. »Beabsichtigen Sie, sie zu besuchen?«

Edward entgegnete nach kurzem Zögern, er sei nicht sicher, ob sie zur Zeit willkommen seien.

Gilpin seufzte. »Sie ist gewiss einsam«, meinte er. Dann rief er nach dem Jungen. »Nathaniel, du kennst doch den Weg nach Haus Albion. Lauf rasch hin und frage nach, ob Miss Albion nicht doch Mr. Martell und ihre Cousins empfangen möchte.«

Erfrischungen wurden serviert. Mr. Gilpin beantwortete viele Fragen über seine Person und die Gegend und unterhielt seine Gäste etwa eine halbe Stunde lang, bis der kleine Nathaniel zurückkehrte.

»Ich soll ausrichten, dass sie einverstanden ist, Sir«, meldete Wyndham Martell hatte sich das Haus ein wenig anders vorgestellt, warum, wusste er nicht genau. Vielleicht lag es daran, dass die Bäume so dicht zusammenstanden, als sie von der Straße abbogen und durch das Tor fuhren. Möglicherweise waren es auch die heranrückenden grauen Wolken, die auf dem Weg von der alten Kirche von Boldre her schimmernd über sie hinweggezogen waren und dunkle Schatten auf die Straße geworfen hatten. Jedenfalls schien der Himmel sich zu verdunkeln, als sie sich am Ende der schmalen Auffahrt näherten. Auf einmal fühlte Martell sich merkwürdig benommen und unwohl.

Als sie um die Kurve bogen, lag plötzlich Haus Albion vor ihnen.

Es lag nur am Licht, so sagte er sich, dem grauen Schimmer, der sich durch die Wolken stahl, dass das Haus so düster wirkte. Es war so alt mit seinen nackten Giebeln, und der grüne Rasen ringsum wurde von Bäumen förmlich umzingelt. Die Ziegelmauern waren dunkel wie Blutflecke. Das gewellte Dach wies darauf hin, dass sich darunter ein alter hölzerner Dachstuhl aus der Tudorzeit verbarg. Die Fenster wirkten kahl, sodass man hätte meinen können, das Haus wäre unbewohnt und nur noch von den Geistern bevölkert. Jahr um Jahr würden sie dort verharren, bis das ganze Gebäude allmählich zur Ruine verfiel.

Eine hoch gewachsene Frau empfing sie an der Tür. »Mrs. Pride, die Haushälterin«, sagte Edward leise. Martell glaubte, einen argwöhnischen, ängstlichen Ausdruck in ihren Augen zu erkennen.

Die letzten Tage waren für Fanny nicht leicht gewesen. Um die Gesundheit ihres Vaters stand es sehr schlecht, und er hatte viel geklagt. Einmal hatte er sogar einen Wutanfall bekommen, was sehr ungewöhnlich für ihn war. Deshalb hatte Fanny am Vortag und auch heute fast ständig bei ihm gesessen. Und obwohl er ein wenig Tee, etwas Brühe und ein Glas Wein zu sich genommen hatte, sah es aus, als würde er den großen Ohrensessel neben seinem Bett, wo er in eine Decke gehüllt saß, nicht mehr verlassen.

Fanny war erschrocken, als Mrs. Pride ihr vor einer halben Stunde den Besuch der jungen Tottons und Martells angekündigt hatte.

»Wir werden sie nicht empfangen!«, rief sie aus. »Was Vater betrifft… Oh, Mrs. Pride, Sie hätten mich zuerst fragen sollen.

Sie hätten ihnen nicht erlauben dürfen zu kommen.« Mrs. Pride entschuldigte sich: Sie habe angenommen, damit nur Miss Albions Wünschen zu entsprechen. Jetzt sei es zu spät für eine Absage. »Also machen wir das Beste daraus«, sagte sie.

Doch zu Fannys großem Erstaunen erholte sich ihr Vater auf wundersame Weise, als sie ihm von den ungebetenen Besuchern berichtete und versprach, sie wegzuschicken, sobald die Höflichkeit es gestattete. Er war zwar noch ein wenig gereizt, bestand aber darauf, dass sie ihm einen Spiegel, ein sauberes Halstuch, Schere, Bürste und Pomade brachte. Innerhalb kürzester Zeit scheuchte er alle Dienstboten auf, sodass Fanny sich rasch davonstehlen konnte, um sich ihrem eigenen Äußeren zu widmen.

 

 

Als die Gäste, das graue Tageslicht im Rücken, zur Tür hereinkamen, stand Fanny oben auf der Treppe. Zuerst trat Edward ein, gefolgt von Louisa und Mr. Martell. Edward Totton sah sich um. Und kurz bevor sich die schwere Tür hinter ihnen schloss, wandte sich Louisa an Mr. Martell und sagte etwas, worauf er sie leicht am Arm berührte. Wie blass sie aussieht, hier auf der dunklen Treppe, dachte er, als Fanny ihnen entgegenschritt. In ihrem langen Kleid wirkte sie wie eine Geistergestalt aus einem alten Theaterstück. Die Erschöpfung hatte sich in ihren Gesichtszügen eingenistet.

Wortlos brachte sie ihre Gäste in den Salon mit der alten Holztäfelung und entschuldigte sich dafür, dass sie nicht besser auf Besuch vorbereitet sei. Anschließend erkundigte sie sich höflich nach Martells Gesundheit und nach seiner Familie.

Als Louisa die Einladung zum Tee bei Mrs. Grockleton schilderte, huschte ein leichtes Lächeln über Fannys Gesicht. Louisa gab eine wunderbare Imitation von Mr. Grockleton zum Besten, wie er sich das Blumenwasser übers Bein geschüttet und dann den Strauß zurück in die Vase gesteckt hatte, und nun stimmte auch Fanny in das allgemeine Gelächter ein.

»Sie sollten zur Bühne gehen, Miss Totton«, verkündete Martell mit einem amüsierten Kopfschütteln und einem anerkennenden Blick in ihre Richtung. »Das Beisammensein mit Ihrer Cousine, Miss Albion«, meinte er zu Fanny, »ist wirklich ein ausgesprochenes Vergnügen.«

»Das freut mich aber«, erwiderte Fanny müde.

Doch das fröhliche Geplänkel fand ein jähes Ende, als der alte Mr. Albion ins Zimmer trat. Mit der einen Hand stützte er sich auf einen Spazierstock mit silbernem Knauf, der andere Arm wurde von Mrs. Pride gehalten. Seine Seidenhose, seine Weste und sein Halstuch waren makellos rein, sein schneeweißes Haar war ordentlich gebürstet. Der Rock schlotterte dem Greis um den mageren, gebrechlichen Körper. Als er langsam durch den Raum auf einen Stuhl zuging, schien es, als nehme er seine letzte Kraft zusammen, um seine Gäste würdevoll zu begrüßen.

Wie so oft in Anwesenheit eines alten Menschen richteten die Besucher nacheinander das Wort an ihn. Da Mr. Albion den Gast noch nicht kannte, war dieser zuerst an der Reihe. Nach den üblichen Komplimenten, die wohl aufgenommen wurden, merkte Martell an, er habe Fannys Gesellschaft bereits im Frühjahr in Oxford genießen dürfen. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dies dem alten Mann gar nicht recht war. Dann meinte Martell, er sei vor kurzem aus Dorset eingetroffen und plane, von hier aus nach Kent weiterzureisen, eine Feststellung, auf die für gewöhnlich eine Höflichkeitsfloskel folgte.

»Dorset?«, fragte Mr. Albion mit nachdenklicher Miene. »Ich fürchte, dort hat es mir noch nie sehr gefallen«, fügte er bedauernd hinzu.

»Zu viele Berge?«, fragte Martell, um das Gespräch in Gang zu halten.

»Inzwischen verlasse ich das Haus nicht mehr.«

»Soweit ich weiß, waren Sie sogar schon in Amerika.«

Die blauen Augen des Greises musterten ihn aufmerksam. »Ja, das ist richtig.« Offenbar überlegte Mr. Albion, und Martell nahm an, dass er noch etwas ergänzen würde. Doch nach einer Weile schien der alte Mann das Interesse zu verlieren, denn sein Blick schweifte zu Louisa hinüber, und er wies mit dem Spazierstock auf sie. »Sie ist sehr hübsch, finden Sie nicht?«

»In der Tat, Sir.«

Offenbar hatte Mr. Albion keine Lust, weiter mit Martell zu plaudern; er deutete wieder auf Louisa. »Du siehst heute wirklich sehr hübsch aus.«

Sie machte einen Knicks, lächelte und nahm seine Bemerkung als Stichwort, zu ihm hinüberzugehen und sich anmutig neben ihn zu knien.

»Hast du es auch bequem da unten?«, fragte der alte Mann.

»Ich habe es immer bequem, wenn ich bei Ihnen bin«, erwiderte sie.

Da der Greis ihm anscheinend nichts mehr zu sagen hatte, zog sich Martell zurück, während Fanny sich vergewisserte, dass es ihrem Vater an nichts fehlte.

»Miss Albion tut mir Leid«, flüsterte Martell jetzt Eduard zu. »Wohin wollten wir morgen fahren?«

»Nach Beaulieu, falls das Wetter mitmacht«, antwortete Edward.

»Könnten wir deine Cousine nicht einladen, uns zu begleiten?«, schlug Martell vor. »Es muss schrecklich für sie sein, den ganzen Tag mit ihrem Vater im Haus zu sitzen.«

Edward fand den Einfall sehr gut und stimmte zu. »Ich werde mein Bestes tun«, versprach er.

Kurz darauf gesellte Fanny sich zu ihnen, sodass Martell Gelegenheit hatte, ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Inzwischen schien sie ein wenig fröhlicher, und sie plauderten so vertraut miteinander wie damals in Oxford. Martell stellte fest, dass sie hier in diesem Haus älter, trauriger und sogar ein wenig tragisch wirkte. Sie muss fort von hier, dachte er, jemand muss sie aus dieser Lage befreien. Allerdings war ihm klar, dass dies kein einfaches Unterfangen würde. Aber vielleicht würde der Ausflug nach Beaulieu sie ein wenig aufheitern. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Edward zu dem alten Mann hinüberging. Der Charme des jungen Totton würde seine Wirkung gewiss nicht verfehlen.

»Ich glaube, Sir«, sprach Edward den alten Hausherrn mit einem freundlichen Lächeln an, »Louisa und ich müssen Sie um die Erlaubnis bitten, unsere Cousine Fanny für ein oder zwei Stunden zu entführen, sofern das Wetter morgen schön ist.«

»Oh?«, sagte Mr. Albion argwöhnisch. »Warum?«

»Wir wollten einen Ausflug nach Beaulieu unternehmen.«

Für einen Augenblick, fast unmerklich, verdüsterte sich Louisas Miene. »O ja!«, rief sie dann aus. »Gestatten Sie Fanny, uns zu begleiten. Ganz bestimmt«, fügte sie hinzu, »bleiben wir nicht länger als einen halben Tag fort.« Sie bedachte Mr. Albion mit einem Lächeln, das ihn sicher erweicht hätte, hätte er den Blick nicht abgewandt.

»Beaulieu?« Es klang, als hätten sie eine Reise nach Schottland vorgeschlagen. »Das ist aber weit weg.«

Niemand wagte, ihn darauf hinzuweisen, dass es sich um eine Entfernung von sechs Kilometern handelte. Man musste Edward zugute halten, dass er noch ein freundliches Lachen zu Stande brachte. »Nicht viel weiter als der Weg, den wir heute gefahren sind, um Sie zu besuchen. Sie werden kaum bemerken, dass wir überhaupt weg gewesen sind.«

Mr. Albions Miene drückte noch immer Zweifel aus. »Die Abwesenheit meiner Schwester und mein Gesundheitszustand…« Kopfschüttelnd runzelte er die Stirn. »Es ist niemand da, der sich um mich kümmert.«

»Sie haben doch Mrs. Pride, Sir«, widersprach Edward.

Allerdings stieß er mit dieser Einmischung in Haushaltsangelegenheiten bei dem alten Herrn auf Unverständnis. »Mrs. Pride hat damit nichts zu tun«, schimpfte er.

»Ich denke, Edward«, wandte Fanny ein, die ihren Vater vor weiterer Aufregung bewahren wollte, »dass ich wohl besser hier bleibe.«

»Seht ihr«, meinte Mr. Albion brummig, jedoch mit einem triumphierenden Glitzern in den Augen. »Sie will gar nicht mit.«

Diese Behauptung war so empörend, dass Martell, der Widerspruch ohnehin nicht gewohnt war, nicht mehr an sich halten konnte. »Darf ich mir die Bemerkung erlauben, Sir«, sagte er ruhig, doch mit Nachdruck, »dass dieser kurze Ausflug Miss Albion gewiss gut tun würde.«

Mr. Albion ließ das Kinn auf den Kragen sinken und saß eine Weile schweigend da. Plötzlich fuhr der Kopf des alten Mannes hoch, sodass er mit seinem mageren Hals einem aufgebrachten Truthahn ähnelte. Auch wenn seine Haut faltig sein mochte, die blauen Augen funkelten lebhaft und zornig. »Dann werden Sie mir wohl die Bemerkung erlauben, Sir!«, rief er, »dass die Gesundheit meiner Tochter Sie nichts angeht. Soweit ich weiß, ist die Führung dieses Haushalts nicht Ihre Angelegenheit, Sir.« Er hob den Spazierstock mit dem Silberknauf und stieß ihn bei jedem Wort aus Leibeskräften auf den Boden. »Der – Herr – dieses – Hauses – bin – immer – noch – ich!«

»Daran habe ich keine Minute gezweifelt, Sir«, erwiderte Martell errötend. »Und ich wollte Sie nicht beleidigen, Sir, sondern nur…«

Aber Mr. Albion hatte keine Lust, ihn anzuhören. Er war bleich vor Wut. »Sie beleidigen mich. Und ich würde es vorziehen, Sir« – erbost stieß er diese Worte hervor –, »wenn Sie Ihre Meinungen in Zukunft anderswo zum Besten geben. Sie würden mir einen Gefallen tun, Sir« – mühsam machte er Anstalten, sich zu erheben –, »wenn Sie dieses Haus auf der Stelle verließen!« Bei den letzten Worten überschlug sich seine Stimme. Nach Luft ringend sank er auf seinen Stuhl zurück.

Fanny erbleichte. Da sie befürchtete, ihr Vater könne einen Schlaganfall erleiden, sah sie Martell flehend an. Zögernd – denn er glaubte, Fanny würde Hilfe brauchen, wenn Mr. Albion tatsächlich einen Anfall bekam – trat dieser, gefolgt von Edward und Louisa, den Rückzug an. Mrs. Pride, die auf wundersame Weise plötzlich aufgetaucht war, unterzog ihren Arbeitgeber einer raschen Untersuchung und bedeutete den Gästen, dass sie unbesorgt gehen konnten.

Draußen vor der Tür schüttelte Edward belustigt den Kopf. »Unser Besuch war offenbar kein großer Erfolg.«

»Nein.« Martell fehlten vor Überraschung zunächst die Worte. »Das war das erste Mal«, meinte er spöttisch, »dass ich aus einem Haus geworfen wurde. Ich habe nur Mitleid mit der bedauernswerten Miss Albion.«

»Die arme, liebe Fanny«, sagte Louisa. »Ich werde heute Nachmittag mit Mutter wiederkommen.«

»Eine gute Idee, Louisa«, lobte ihr Bruder.

»Es heißt, in der Familie Albion gebe es schlechtes Blut«, fuhr Louisa traurig fort. »Wahrscheinlich liegt es daran. Fanny kann einem wirklich Leid tun.«

Eine Stunde später, nachdem Mrs. Pride den Hausherrn in sein Zimmer gebracht und die weinende Fanny getröstet hatte, schlich sie sich aus dem Haus, um Mr. Gilpin aufzusuchen.

 

 

Als Edward und Louisa sich am nächsten Morgen wieder mit Mr. Martell auf den Weg machten, schien die Sonne. Leider war Mrs. Totton am Vortag beschäftigt gewesen, sodass Louisa ihrer Cousine keinen Besuch mehr hatte abstatten können. Doch sie hatte Fanny einen liebevollen Brief geschrieben und ihn noch am Nachmittag durch einen Burschen überbringen lassen.

Sie war vergnügter Stimmung, als die Kutsche die Straße entlang nach Lyndhurst holperte, wo sie vor der Überquerung der Heide kurz Station machen wollten. Mr. Martell war gesprächig. Und natürlich gefiel es Louisa sehr, dass er sie so eingehend befragte. Mr. Martell blieb zwar stets höflich, aber sie bemerkte, dass er nicht mehr locker ließ, wenn er sich erst einmal für ein Thema erwärmt hatte. So eine Beharrlichkeit war ihr zwar noch nie untergekommen, doch bei einem Mann hielt sie sie nicht für unpassend.

»Ich stelle fest, Mr. Martell«, meinte sie, »dass Sie sehr wissbegierig sind.«

Er lachte auf. »Entschuldigen Sie, meine liebe Miss Totton, das liegt mir nun einmal im Blut. Bin ich Ihnen zu nahe getreten?«

Noch nie hatte er sie mit »liebe Miss Totton« angesprochen oder sich nach ihrer Meinung über ihn erkundigt.

»Ganz und gar nicht, Mr. Martell«, erwiderte sie mit einem Lächeln, das ein klein wenig ernsthaft wirkte. »Offen gestanden hat man in Gesprächen von mir bis jetzt nie sehr viel Verstand verlangt. Ich empfinde diese geistige Herausforderung als sehr anregend.«

»Aha«, entgegnete er ebenso zufrieden wie nachdenklich.

Das Dorf Lyndhurst hatte sich seit dem Mittelalter kaum verändert. Das Grafschaftsgericht des New Forest trat immer noch hier zusammen. Die königliche Residenz war zwar ein wenig vergrößert worden und verfügte nun über geräumige Stallgebäude und ausgedehnte eingezäunte Gärten, war aber genau genommen noch immer nicht viel mehr als eine Jagdhütte. In der Nähe befanden sich zwei Herrensitze namens Cuffnell und Mountroyal. Doch die Streusiedlung Lyndhurst selbst war ein Weiler geblieben. Allerdings hob die hübsche Kirche, welche die alte königliche Kapelle ersetzt hatte und ein wenig erhöht neben der Residenz stand, die Stellung der Ortschaft. Man konnte sie schon aus vielen Kilometern Entfernung sehen.

Sie machten kurz vor der Residenz Halt und besichtigten dann die Rennbahn. Eigentlich handelte es sich nur um eine große Wiese nördlich von Lyndhurst. Sitzreihen gab es nicht, denn in jener Zeit war es üblich, sich Rennen von der Kutsche oder vom Wagen aus anzusehen.

»Eine der Hauptattraktionen hier sind die Ponyrennen im New Forest«, erklärte Edward. »Du wärst überrascht, wie schnell sie laufen können und wie sicher sie sind. Du musst unbedingt wiederkommen, wenn ein Rennen stattfindet, Martell.«

Und etwas in Martells Miene sagte Louisa, dass er das sicher tun würde.

Dann ging es weiter nach Beaulieu. Der Pfad zu der alten Abtei, der in südöstlicher Richtung über die Heide verlief, begann unterhalb der Rennbahn von Lyndhurst. Unterwegs kamen sie an zwei ausgesprochen merkwürdigen Sehenswürdigkeiten vorbei, die sofort Martells Neugier weckten. Die erste war ein großer, mit Gras bewachsener Hügel.

»Man nennt ihn Bolton’s Bench«, antwortete Edward auf seine Frage.

Der Herzog von Bolton, ein bedeutender Magnat aus Hampshire, hatte zu Anfang des Jahrhunderts beschlossen, den ehemaligen Aussichtspunkt des Försters Cola zu erhöhen, sodass man von dort aus ganz Lyndhurst überblicken konnte. Der Herzog war dafür bekannt, dass er gern verändernd in die Landschaft eingriff. An einer anderen Stelle des New Forest hatte er eine gewaltige gerade Schneise durch den alten Wald schlagen lassen, um dort mit seinen Freunden auszureiten. Doch was Martell noch mehr verblüffte als Boltons künstlicher Hügel, war der riesige, mit Gras bewachsene Erdwall, der sich dahinter erstreckte.

»Das ist Park Pale«, erläuterte Edward. »Früher wurden hier Hirsche zusammengetrieben.«

Die große Hirschfalle, wo Cola die Jagd überwacht hatte, war wirklich ein beeindruckender Anblick. Fünf Jahrhunderte zuvor war sie vergrößert worden. Nun verlief der hohe Wall fast drei Kilometer lang quer durch die Landschaft, bevor er eine Kurve zurück in den Wald unterhalb von Lyndhurst beschrieb. Im klaren Morgenlicht wirkte das verlassene Bauwerk wie ein Überbleibsel aus prähistorischer Zeit. Doch es gab immer noch Hirsche im Wald, die auch weiterhin gejagt wurden. Bis auf die nahe gelegene Straße und die Kirche auf dem Hügel bei Lyndhurst sah es in dieser Gegend noch aus wie damals im Mittelalter. Und während die Ausflügler den Erdwall betrachteten, war ihnen, als könnte jederzeit ein weißlicher Hirsch hinter Bolton’s Bench auftauchen und über die Heide davonspringen.

In diesem Augenblick hörten sie hinter sich einen Freudenruf. Als sie sich umdrehten, sahen sie eine kleine offene Kutsche den Pfad hinter Bolton’s Bench entlangfahren. Darin erkannten sie Mr. Gilpins kräftige Gestalt. Der Geistliche schwenkte fröhlich den Hut. Neben ihm saßen der junge Furzey – und Fanny Albion.

»Oh«, sagte Louisa.

 

 

Der Besuch der Haushälterin Mrs. Pride am Vortag hatte ihn überrascht. Doch seine Neugier war geweckt, und der Reverend war gerne bereit, etwas für Fanny zu tun. Er stimmte mit Mrs. Pride überein, dass Miss Albion ihre Cousins unbedingt begleiten müsse – vor allem, wenn man sich Mr. Albions gestriges Benehmen vor Augen hielt. Allerdings wies er Mrs. Pride darauf hin, dass es wohl kaum möglich sein würde, Fanny loszueisen, solange sich die Missstimmung des Alten nicht legte.

Mrs. Pride teilte diese Auffassung zwar, erwiderte aber: »Manchmal, Sir, schläft Mr. Albion den ganzen Tag und würde Miss Albions Abwesenheit gar nicht bemerken.«

»Denken Sie, dass morgen so ein Tag sein könnte?«, fragte der Vikar.

»Er hat sich heute Nachmittag so aufgeregt, Sir, dass es mich nicht wundern würde.«

»Ich glaube fast«, meinte Mr. Gilpin später zu seiner Frau, »dass Mrs. Pride ihm etwas eingeben wird.«

»Gehört sich das denn, Liebling?«, verwunderte sich seine Frau.

»Ja«, antwortete Mr. Gilpin.

Also hatte er sich an diesem Morgen vergnügt in seiner leichten, zweirädrigen Kutsche auf den Weg gemacht. Zuerst hatte er den kleinen Furzey von der Schule abgeholt. Er wusste, dass er das besser nicht hätte tun sollen. Doch der Junge war so klug, dass der Geistliche der Verlockung nicht widerstehen konnte, seine Bildung zu mehren.

Bei seiner Ankunft in Haus Albion erfuhr er, dass Mr. Albion tief und fest schlief. Mr. Gilpin war versucht, ein Stoßgebet zum Himmel zu schicken und ihm die ewige Ruhe zu wünschen. Dennoch war es nicht leicht, Fanny zum Mitkommen zu bewegen. Wie sich herausstellte, lag das nicht an der Angst, ihren Vater allein zu lassen, sondern daran, dass sie sich nach der gestrigen Blamage vor einer Begegnung mit Mr. Martell fürchtete.

»Mein liebes Kind«, versicherte ihr der Vikar. »Sie haben sich überhaupt nicht blamiert. Der Ausbruch Ihres Vaters war zwar völlig unberechtigt, doch er hat sich für einen Mann seines Alters wacker geschlagen.«

»Aber dass Mr. Martell in unserem Haus ein solcher Empfang bereitet wurde…«

»Meine liebe Fanny«, entgegnete Mr. Gilpin schlau, »da Mr. Martell wahrscheinlich meist von Speichelleckern umgeben ist, weiß er die Abwechslung sicher zu schätzen. Außerdem«, fügte er hinzu, »habe ich keine Ahnung, ob Ihre Cousins wirklich nach Beaulieu gefahren sind. Also werden Sie vielleicht mit mir und dem kleinen Furzey vorlieb nehmen müssen. Bitte, kommen Sie mit. Ich muss nämlich unterwegs noch einen Brief in Lyndhurst abgeben.«

Nun ließ Mr. Gilpin sich von den beiden Tottons in die Mitte nehmen. Fanny folgte mit Mr. Martell.

Mr. Martell gelang es, Fannys Verlegenheit wegen des gestrigen Zwischenfalls zu verscheuchen. Er scherzte sogar, er sei zwar noch nie aus einem Haus geworfen worden, es werde jedoch gewiss nicht das letzte Mal bleiben. »Wirklich, Miss Albion, Ihr Vater erinnert mich sehr an meinen eigenen. Doch wenn wir die beiden wie Ritter in einem Turnier gegeneinander antreten lassen würden, würde Ihrer wahrscheinlich gewinnen.«

»Sie sind zu freundlich, Sir«, sagte sie, »aber ich muss zugeben, dass mir das alles schrecklich peinlich ist.«

Martell überlegte. Ihm war nicht ihre Verlegenheit im Gedächtnis geblieben, sondern der Eindruck, den sie bei ihm hinterlassen hatte, als sie ihnen in der Vorhalle entgegengekommen war: bleich, bedrückt, ja sogar tragisch. Ohne dass es ihm in diesem Moment selbst klar gewesen war, hatte es in ihm den Wunsch geweckt, sie zu beschützen. Heute jedoch waren ihre Wangen von der Fahrt durch die Morgenluft gerötet, und sie wirkte sehr lebendig. Zwei Seiten ein und derselben Person, was ihn neugierig machte. Er beschloss, sie ein wenig aufzuheitern.

»Ach«, sprach er gut gelaunt weiter, »wenn wir nur Einfluss auf unsere Eltern hätten. Aber Ihr Vater hat wunderschöne Augen, wenn sie so zornig blitzen.« Forschend sah er sie an. »So wie Ihre, Miss Albion. Sie haben seine Augen geerbt.«

Was sollte sie darauf antworten? Sie errötete. Noch nie hatte sie ihn so freundlich erlebt.

»Ich habe gehört, dass Ihre Familie schon lange im New Forest ansässig ist«, fuhr er fort.

»Es heißt, wir stammen von den Angelsachsen ab, Mr. Martell. Wir besaßen schon vor der Zeit der Normannen Güter im New Forest.«

»Ach, du meine Güte, Miss Albion. Und dann haben wir Normannen sie Ihnen weggenommen? Kein Wunder, dass Sie unsereinem die Tür weisen!«

»Ich glaube, Mr. Martell«, meinte sie lachend, »dass Sie uns erobert haben.« Und ohne besondere Absicht sah sie ihm bei diesen Worten in die Augen.

»Aha.« Er erwiderte ihren Blick, als habe das Wort »erobern« auch für ihn plötzlich eine andere Bedeutung gewonnen. Eine Weile starrten sie einander an, bis er nachdenklich den Kopf abwandte. »Wir alten Familien«, sagte er in einem vertrauten Ton, der sich ihr wie ein warmer Umhang um die Schultern legte, »beschäftigen uns vielleicht zu sehr mit der Vergangenheit. Und dennoch…« Er sah die Tottons an, und sein Augenausdruck besagte, dass ihnen, obwohl sehr nette Leute, eine wichtige Gemeinsamkeit mit den Martells oder den Albions fehlte. »Ich glaube, wir gehören auf andere Weise als viele Menschen zu diesem Land.«

»Ja«, entgegnete sie leise, denn sie empfand genauso.

»Also«, meinte er so spielerisch, als würde er jeden Moment den Arm um sie legen. »Sind Sie und ich nun Ruinen oder nur pittoresk?«

»Ich bin pittoresk, Sir«, antwortete sie mit Nachdruck, »und bitte erklären Sie mir jetzt nicht, Sie seien eine Ruine.«

»Ich schwöre«, sagte er leise, »dass ich keine bin.«

Der Fluss von Beaulieu war den Gezeiten unterworfen. Als sie die Brücke zu dem alten Pförtnerhaus überquerten, herrschte gerade Ebbe, weshalb der große Teich zu ihrer Linken fast leer dalag.

Obwohl längst verfallen, hatte die Abtei ihre mittelalterliche Atmosphäre hervorragend bewahrt. Nicht alle Gebäude waren zerstört worden; das Pförtnerhaus und der Großteil der Mauer standen noch. Das Haus des Abtes war wieder hergestellt und zu einem bescheidenen Gutshaus ausgebaut worden. Auch ein Teil des Kreuzgangs war erhalten. Das große domus der Laienbrüder bildete eine der vier Seiten. Zwar war von der gewaltigen Klosterkirche kaum noch ein Stein übrig, aber man hatte das gegenüberliegende Refektorium in eine hübsche Pfarrkirche verwandelt. Die augenblickliche Erbin, eine Montagu, weilte nur selten hier, denn sie hatte – wie in ihrer Familie üblich – eine gute Partie gemacht. Ihr Gatte war ein Abkömmling des Herzogs von Monmouth. Der glücklose uneheliche Sohn von Karl II. war zwar nach dem Aufstand von 1685 enthauptet worden. Doch dank der Bemühungen seiner Frau waren seine großen Güter auf seine Erben übergegangen und inzwischen mit den Besitzungen der Montagus vereint worden. Allerdings sorgte die Familie für die Instandhaltung der Abtei, deren graue Gemäuer eine altertümliche Ruhe verbreiteten.

»Also, Mr. Martell«, meinte Louisa, sobald sie das Pförtnerhaus passiert hatten. »Haben wir Sie nun an Fanny verloren?« Sie bedachte Martell mit einem merkwürdigen Blick, so als wäre etwas nicht in Ordnung mit Fanny. Aber Martell lächelte nur und ging nicht weiter darauf ein.

»Ich plaudere ebenso gerne mit ihr wie mit Ihnen«, entgegnete er höflich. »Möchten Sie sich uns nicht anschließen?« Und so schlenderte er, eine junge Dame an jedem Arm, über das Klostergelände. Sie waren noch nicht weit gekommen, als er plötzlich sagte: »Diese Abtei liegt so idyllisch; die Luft…« Er hielt inne. Louisa sah ihn verständnislos an.

Fanny lachte. »Die sich in ihrer Frische und Süße selbst empfiehlt«, beendete sie den Satz. Als sie Louisas immer noch verdatterte Miene bemerkte, rief sie aus: »Aber Louisa, das ist doch aus Macbeth von Shakespeare. Wir haben das Stück bei Mrs. Grockleton gelesen. Nur, dass es im Original nicht um eine Abtei, sondern um ein Schloss geht.«

»Das hatte ich ganz vergessen«, entgegnete Louisa und runzelte verärgert die Stirn.

»Mr. Martell, Sie erinnern sich sicher noch, dass der König kurz nach dieser Bemerkung ums Leben kommt«, meinte Fanny. »Also sollten Sie besser auf der Hut sein.«

»Nun, Miss Albion.« Martell blickte zwischen den beiden Mädchen hin und her. »Ich fühle mich verhältnismäßig sicher, denn keine von Ihnen beiden ähnelt der Furcht erregenden Lady Macbeth.«

»Sie haben mich noch nie mit einem Dolch gesehen«, erwiderte Louisa in scherzhaft drohendem Ton, in dem Versuch, ihren Schnitzer wieder gutzumachen. Fanny hatte den Eindruck, dass Louisa lieber sie als Mr. Martell erdolcht hätte, und sie beschloss, alles zu tun, um ihre Cousine nicht mehr in Verlegenheit zu bringen.

Deshalb hielt sie sich zurück, als Martell, am Hause des Abts angekommen, beiläufig von Louisa wissen wollte, welcher Orden früher hier gelebt habe.

»Orden?« Louisa zuckte die Achseln. »Es waren eben Mönche.« Unwillkürlich sah sie Fanny an.

»Ich bin nicht ganz sicher«, erwiderte Fanny zögernd, obwohl sie es ganz genau wusste. »Haben sie nicht Schafe gehalten, Louisa? Dann müssen es Zisterzienser gewesen sein.«

»In diesem Fall«, sagte Martell, der sich von dieser Scharade keinen Moment täuschen ließ, »wurden die Güter gewiss von Laienbrüdern bewirtschaftet.«

»Ja«, bestätigte Fanny. »Einige der großen Scheunen auf den Gütern stehen bis heute.« Sie wies in die Richtung, wo das Gut St. Leonards lag. Martell nickte interessiert.

Vor ihnen war Mr. Gilpin stehen geblieben, um sich ein paar Bäume anzusehen, die die Montagus in geraden Reihen gepflanzt hatten. Da er Eduard und dem kleinen Furzey einen Vortrag darüber hielt, wie sehr er diesen Eingriff missbilligte, mussten sie warten, bis er fertig war. In diesem Moment schwebte plötzlich ein Flussuferläufer über dem Pförtnerhaus im Himmel, ein so reizender Anblick, dass alle gebannt hinsahen. Fanny fragte sich, welcher Teufel Louisa reiten mochte, denn diese zeigte auf den schlanken, eleganten Schreitvogel und rief: »Schaut nur, eine Möwe!«

Zuerst hielten Fanny und Martell das für einen Scherz, doch bald wurde ihnen klar, dass sie es ernst meinte. Fanny wollte schon etwas einwenden, verkniff sich aber die Bemerkung. Sie und Martell wechselten Blicke. Und dann – sie konnten sich einfach nicht dagegen wehren – brachen sie beide in Gelächter aus. Anschließend beging Martell ganz unwillkürlich den schweren Fehler, von Louisa abzurücken und freundschaftlich Fannys Arm zu drücken. Louisa musste miterleben, dass die beiden – und das war unverkennbar – sich wie ein Liebespaar gegen sie verbündeten und sich über sie lustig machten. Ihre Miene verdüsterte sich.

»Mr. Gilpin!« Gewiss war es einer glücklichen Vorsehung zu verdanken, dass genau in diesem Augenblick ein Ruf ertönte. Er kam von der Klostermauer her, und im nächsten Moment eilte eine Gestalt auf sie zu. »Es ist uns eine große Ehre.« Mr. Adams, der Hilfsgeistliche von Beaulieu – eigentlich war er der hiesige Pfarrer, denn der Mann, der diesen Posten eigentlich innehatte, ließ sich nie hier sehen –, war der älteste Sohn von Mr. Adams, des Schiffsbaumeisters in Buckler’s Hard. Während seine Brüder ins Geschäft eingetreten waren, hatte Adams in Oxford studiert und sich danach zum Priester weihen lassen. Nachdem Gilpin ihn freundlich begrüßt und seine Begleiter vorgestellt hatte, erbot sich der Hilfsgeistliche, sie herumzuführen. Zuerst brachte er sie ins Haus des Abtes. »Aus mir unbekannten Gründen wird es heute als Palace House bezeichnet«, erklärte er. Die Gäste bewunderten die Räume mit den prächtigen Gewölben. Martell folgte, höflich wie immer, den Erläuterungen des Geistlichen, während Fanny und der kleine Furzey ein wenig zurückblieben. Offenbar hatte der Junge sie zu seiner Herzensfreundin auserkoren.

Danach traten sie hinaus auf den Hof und gingen zum alten Refektorium hinüber, das inzwischen als Pfarrkirche diente. Da Fanny das Gebäude gut kannte und der kleine Nathaniel inzwischen ungeduldig wurde, schlug sie vor, draußen zu warten. Die anderen verschwanden, und Fanny blieb mit dem Jungen im Kreuzgang zurück.

Zur Blütezeit der Abtei war der Kreuzgang ein angenehmer Aufenthaltsort gewesen, und selbst als Ruine strahlte er noch einen ganz eigenen Charme aus. Die nördliche Wand mit ihren Nischen war mehr oder weniger unbeschädigt. Die übrigen Mauern waren von Efeu überwachsen und befanden sich in verschiedenen Stadien des Verfalls. Hie und da bildeten kleine Torbögen eine Abtrennung; dahinter boten die mit Gras überwucherten Fundamente eingestürzter Gebäude eine malerische Aussicht. Da sich der Bau einer Ruine für die Montagus somit erübrigt hatte, hatten sie einen Rasen und neben den bröckelnden Mauern und Säulen kleine Blumenbeete angelegt. Auf diese Weise war ein hübscher Garten entstanden, wo man im anheimelnden Schatten der alten Mauern erholsame Spaziergänge unternehmen konnte.

Fanny ließ Nathaniel umhertollen und suchte sich im Garten ein Plätzchen, um sich zu setzen. Die geschützten Nischen in der Nordmauer wirkten sehr einladend, da sie windgeschützt waren und warm von der Sonne beschienen wurden. Fanny entschied sich für eine Nische in der Mitte, ließ sich auf der steinernen Bank nieder und lehnte den Rücken an die Mauer. Es war wirklich sehr hübsch hier. Vor ihr, auf der anderen Seite des Kreuzgangs, erhob sich die hohe Endmauer des Refektoriums wie ein Dreieck in den blauen Himmel. Ihre Begleiter besichtigten noch die Kirche. Es war ganz still. Auch Nathaniel war nirgendwo zu sehen. Fanny holte tief Luft, schloss die Augen und ließ ihr Gesicht von der Sonne bescheinen.

Warum nur war sie so glücklich? Sie glaubte, den Grund zu kennen. Allerdings war sie – wie sie sich sagte – nicht so närrisch anzunehmen, dass Mr. Martells Freundlichkeit auf mehr als auf bloßer Sympathie beruhte. Zweifellos hatte der Adelige freie Wahl unter den jungen Damen Englands. Dennoch war es sehr angenehm, dass er ihre Vorzüge – eine gute Familie, Intelligenz und Schlagfertigkeit – zu schätzen wusste. Fanny fehlte die Erfahrung mit Männern. Und nun hatte sie einen sehr begehrenswerten Vertreter dieser Spezies kennen gelernt, dem sie offenbar gefiel. Sie fühlte sich sehr geschmeichelt und vermutete, dass das die Erklärung für ihre Hochstimmung war.

Allerdings gab sie sich mit dieser Antwort noch nicht zufrieden. Nein, es musste mehr dahinter stecken, etwas, das sie gespürt hatte, als sie mit Mr. Martell fröhlich lachend einhergeschlendert war.

In seiner Gegenwart fiel die Befangenheit von ihr ab, und sie hatte zum ersten Mal im Leben das Gefühl, sich ungezwungen bewegen zu können. Eine Leichtigkeit ergriff sie, und Schmerz und Elend schienen ihr meilenweit entfernt.

Fanny schmunzelte in sich hinein. Unwillkürlich zog sie ihr geliebtes Holzkreuz unter ihrem Kleid hervor und betastete die alten Schnitzereien. So saß sie eine Weile da und genoss die friedliche Umgebung.

Kurz darauf kehrte Nathaniel zurück und ließ sich neben ihr nieder. »Was ist das?«, fragte er beim Anblick des Kruzifixes aus Zedernholz.

»Ein Kreuz. Meine Großmutter hat es mir geschenkt. Ich glaube, es ist sehr alt.«

Er betrachtete es und nickte feierlich. »Es sieht auch alt aus.« Er machte es sich auf der Bank bequem und ließ den Blick über den Kreuzgang schweifen. »Gefällt es Ihnen hier?«, wollte er wissen, und als sie dies bejahte, meinte er: »Mir auch.«

So verharrten sie eine Weile, bis Nathaniel auf eine Stelle an der Mauer hinter Fanny zeigte. Sie blickte in die angegebene Richtung und verstand zuerst nicht, was er meinte. Dann aber bemerkte sie, dass jemand den Buchstaben »A« in den Stein geritzt hatte. Er war ziemlich klein und ordentlich in gotischer Handschrift geformt, so als stamme er aus der Hand eines Mönches aus uralter Zeit. Sie lächelte. Dieser Buchstabe »A« war ein winziger Hinweis auf ein längst verloschenes Leben.

»Wie würde sich der Mönch, der das eingeritzt hat – falls es wirklich einer war –, wundern, wenn er uns hier in seinem Kreuzgang sitzen sehen könnte«, meinte sie. »Er wäre gewiss nicht erfreut«, fügte sie lächelnd hinzu.

Und deshalb war es ein Jammer, dass Bruder Adam seinen Nachkommen nicht sagen konnte, dass er im Gegenteil sehr glücklich darüber war.

Kurz darauf erschien Mr. Gilpin und verkündete, man werde jetzt die Seilerei und anschließend die Werft in Buckler’s Hard besichtigen.

 

 

Ganz langsam bewegte sich der gewaltige Baum vorwärts. Angestrengt stemmten sich die sechs großen, hintereinander angeschirrten Kutschpferde in die Ketten. Der Wagen, den sie zogen, ächzte und schlingerte unter seiner Last. Sie brachten eine Eiche aus dem New Forest zum Meer.

Puckle seufzte. Was hatte er getan?

An dem Tag seines Treffens mit Grockleton beim Rufusstein hatte er den Wert des Baumes ganz richtig eingeschätzt. Für gewöhnlich wurden die Bäume im Winter gefällt und im Sommer weggeschafft, wenn der Boden hart war. Doch aus irgendeinem Grund hatte Mr. Adams gestattet, diesen Baum später zu schlagen. Und während man seinen beschnittenen Bruder noch ein oder zwei Jahrhunderte am Leben ließ, hatte dieser prächtige Sohn der alten Zaubereiche die scharfen Äxte zu spüren bekommen. Immer weiter hatten sie sich zu seinem zweihundertjährigen Kern vorgefressen, und schließlich war er – unweit des ehemaligen Standortes seines knorrigen alten Vaters – mit lautem Krachen auf den mit Moos und Laub bedeckten Waldboden gefallen. Dann hatten sich die Holzfäller mit Sägen und Beilen an die Arbeit gemacht.

Bei einer gefällten Eiche unterschied man drei Teile. Zuerst einmal die Enden, Äste und Wurzeln also, die man zum Schiffsbau nicht verwenden konnte. Sie wurden rasch abgetrennt und als Brennholz abtransportiert. Das wichtigste Stück des Baumes, den mächtigen Stamm, zerkleinerte man zu gebrauchsfertigen Stücken für den Schiffsbau. Und schließlich waren da noch die wichtigen Verbindungsstücke, die so genannten Knie, die Ansätze der Äste, aus denen man Winkel herstellte. Zu guter Letzt wurde die Rinde abgeschält und von Holzhändlern an Gerbereien verkauft. Allerdings lehnte Mr. Adams diese Praxis ab, weshalb die Eichen mit Rinde in Buckler’s Hard angeliefert wurden.

Nun schleppte man den Stamm – mit Ketten und Haken gesichert, das dickere Ende voran – durch den New Forest zur Werft, um ihn dort vor der Verarbeitung zwei Jahre lang zu lagern. Zum Bau des gewaltigen Vorderstevens und des Achterschiffs brauchte man einen Stamm von mindestens drei Metern Umfang. Aus einem Baum wie diesem hier ließen sich etwa vier Fuhren – oder Tonnen – Holz gewinnen. Ein Kriegsschiff war aus mehr als zweitausend Fuhren gefertigt, was dem Eichenbestand von etwa sechzehn Hektar Wald entsprach. Deshalb waren ständig die Äxte der Holzfäller zu hören. Eine alte Eiche nach der anderen stürzte auf den Waldboden, und die Holztransporte strömten dem Meer entgegen wie die kleinen Bächlein, die durch den New Forest flossen.

Inzwischen hatte der Baum das Ende seiner Reise auf dem Landweg erreicht. Puckle, der neben dem Leitpferd herging, blickte nach Buckler’s Hard hinunter.

Was hatte er getan? Er wusste nicht, warum ihn ausgerechnet an diesem Morgen die Erkenntnis getroffen hatte wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Als er die in zwei Reihen angeordneten Backsteinhäuschen betrachtete, hätte er weinen können. Nun würde er alles, was er liebte, hinter sich lassen müssen.

Buckler’s Hard war seine Heimat geworden. Wie viele Jahre arbeitete er hier nun schon im Schiffsbau? Wie viele Jahre ging er nun schon zu dem verschwiegenen Plätzchen am Fluss, wo die Schmuggler die Fässer mit dem feinsten Brandy anlandeten, und brachte die kostbare Fracht dann zum Schuster in Buckler’s Hard. Dort wurden die Flaschen in einem verborgenen Keller abgefüllt und diskret an die Gutshäuser auf der Ostseite des New Forest verteilt. Wie oft war er an Mr. Adams, dem Meister, und seinen Freunden auf der Werft – ja sogar am jungen Mr. Adams, dem Hilfsgeistlichen von Beaulieu – zu ungewöhnlicher Stunde vorbeigeschlendert, ohne dass diese ihn bemerkten.

Denn Mr. Adams hatte einen einfachen Lebensgrundsatz: Er sah in die andere Richtung. In Buckler’s Hard wurde keine Schmuggelware gelöscht. Und was der Schuster in seinem Keller trieb, kümmerte ihn ebenso wenig wie die nach Einbruch der Dunkelheit gelieferten und wieder abgeholten Waren. Wenn eine Flasche besten Brandys vor seiner Tür stand, fragte er nicht nach deren Herkunft. Und solange man sich an diese Vorgaben hielt, war er wirklich auf erstaunliche Weise mit Blindheit geschlagen. Falls Puckle nach einer großen Schmuggelfahrt auf die andere Seite des New Forest zu spät zur Arbeit kam – und manchmal verpasste er einen ganzen Tag –, hätte Mr. Adams schwören können, dass er auf der Werft gewesen und auch dafür bezahlt worden sei.

Puckle, dem man vertraute. Puckle, der viele Freunde hatte. Puckle, der Waldbewohner. Wie konnte er von hier fortgehen?

Natürlich hatte er darüber nachgedacht und sich eingeredet, er würde sich schon aus der Affäre ziehen können. Doch es war zwecklos. So eine Tat würde man ihm nie verzeihen, und man würde sich dafür an ihm schadlos halten. Auch wenn es Wochen oder gar Monate dauerte, irgendwann würde er dafür büßen müssen.

Und wenn er sich jetzt einfach weigerte? War das möglich? Grockletons klauenähnliche Hand und Isaac Seagulls argwöhnischer Blick standen ihm vor Augen. Nein, es war zu spät. Ein Rückzieher kam nicht mehr in Frage. Während die anderen Männer das Fuhrwerk übernahmen, ging Puckle zur Helling hinunter, um sich durch die Arbeit an einem Schiff von seinen Grübeleien abzulenken.

Kurz bevor er sein Ziel erreichte, sah er, dass Mr. Adams vor seinem Haus stand und sich mit einigen Besuchern unterhielt.

 

 

Fanny fand den alten Mr. Adams um einiges interessanter als seine beiden Söhne. Er hatte ein wettergegerbtes Gesicht und trug eine altmodische weiße Perücke. Trotz seiner mehr als achtzig Jahre hielt er sich noch kerzengerade und ritt auch weiterhin selbst nach London, um Verträge mit der Marine auszuhandeln. Obwohl er die Besucher als Störenfriede empfand, war er so höflich, sie herumzuführen.

Außerdem fiel Fanny auf, dass mit Mr. Martell eine Verwandlung vorgegangen war. Bis jetzt hatte sie ihn als stolzen Aristokraten, gebildeten Mann und – das gestand sie sich offen ein – angenehmen Gesellschafter empfunden. Doch als er den Ausführungen des alten Mr. Adams folgte, bemerkte sie noch einen anderen Zug an ihm. Er beugte sich ein wenig zu dem Schiffsbauer hinunter, damit ihm auch kein Wort entging, und stellte kluge Fragen, die der alte Mann ihm respektvoll beantwortete. Sein ebenmäßiges, düsteres Gesicht war aufmerksam und angespannt. Auf Fanny wirkte er wie der Inbegriff eines einflussreichen Großgrundbesitzers und normannischen Ritters, der wusste, wovon er sprach, und der Gehorsam verlangte. Zu ihrem Erstaunen wurde sie von einem Schauder ergriffen, als sie ihn beobachtete. Ihr war gar nicht klar gewesen, über welche Macht er verfügte.

Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts war der Bau eines Hochseeschiffes ein aufwendiges Unterfangen. Wie in den meisten Industriezweigen jener Zeit wurde auch in dieser Branche auf dem Land, in kleinen Betrieben und mit der Hand gearbeitet. Dennoch war die kleine Werft am Rande des New Forest sehr produktiv. Nicht nur viele Handelsschiffe, sondern auch ein Zehntel der neuen Kriegsmarine stammten von der Werft am Ufer des Flusses von Beaulieu.

Mr. Adams brachte sie zuerst zu einem großen, scheunenähnlichen Holzgebäude oberhalb der Hellinge, das neben der Schmiede stand. Dort zeigte er ihnen eine große, längliche Halle, auf deren Boden verschiedene Muster eingezeichnet waren. »Das nennen wir den Schnürboden«, erklärte er. »Hier legen wir die Formen maßstabgetreu aus und fertigen hölzerne Modelle an, um sie während des Baus mit jedem Zentimeter des Schiffes zu vergleichen.«

Sie gingen hinauf zur gewaltigen Sägemühle. Zwei Männer waren mit dem Zerteilen eines Baumstamms beschäftigt. Einer stand auf dem Stamm und hielt das obere Ende fest, während der andere unten in einer Grube das andere bearbeitete.

»Der Mann oben ist der Meister. Er führt die Säge«, erklärte Mr. Adams. »Der Mann unten ist sein Lehrling. Er muss sich abmühen, denn er zieht die Säge.«

»Warum trägt der Mann in der Grube so einen großen Hut?«, fragte Louisa.

»Das werden Sie gleich sehen«, erwiderte Mr. Adams mit einem spöttischen Blick. Im nächsten Moment wurde der Grund klar, denn die Säge sauste nach unten, und ein Schwall Sägemehl ergoss sich auf den Kopf des bedauernswerten Arbeiters.

Offenbar verfehlte die sachliche, strenge Art des Adeligen ihre Wirkung auf Mr. Adams nicht, denn nach einer Weile war er recht aufgeräumter Stimmung. Er führte seinen Gästen verschiedene Arbeitsschritte vor. Ein Mann schnitzte mit Hohleisen und Meißel ein großes Steuerruder. Ein anderer trieb mit einem Gerät, das einem Korkenzieher mit zwei Griffen ähnelte, Löcher in einen Pfahl.

»Zuerst bohrt er mit dem Schneckenbohrer die Löcher«, erläuterte der Schiffsbauer, »und dann steckt er die Teile damit zusammen.« Er griff nach einem armlangen Holzzapfen. »Das ist ein Dübel. Wir stellen sie hier her, und zwar immer aus demselben Holz wie die Stücke, die wir damit befestigen wollen. Ansonsten lockern sie sich, und das Schiff verrottet. Es gibt sogar noch größere als diesen da.«

»Verwenden Sie denn im Schiffsbau keine Eisennägel?«, fragte Edward.

»Schon.« Dem alten Mann fiel etwas ein. »Sie sind doch in der Seilerei in Beaulieu gewesen. Dort, in Sowley, haben die Mönche vor langer Zeit einen großen Fischteich angelegt. Nun stellen wir dort unsere Eisennägel her.« Er lächelte. »Auf diese Weise kann selbst ein Kloster« – ganz offensichtlich meinte er »etwas Nutzloses und Papistisches wie ein Kloster« – »zu etwas Sinnvollem dienen.« Anscheinend zufrieden mit seinem Geistesblitz, führte er sie zum Fluss hinunter.

Auf den Hellingen befanden sich drei Schiffe unterschiedlicher Größe, an denen emsig gearbeitet wurde.

Martell musterte sie anerkennend. »Wie ich annehme, geschieht es aus Sparsamkeit, dass Sie neben dem großen Schiff auch ein kleines bauen«, merkte er an.

»Genau, Sir. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen«, erwiderte Mr. Adams. »Auf diese Weise können wir alle Teile ein und desselben Baumes gleichzeitig verwenden. Dennoch«, fügte er, an Martell gewandt, hinzu, »haben wir viel Verschnitt, weil nur das Innere des Baumes hart genug für den Schiffsbau ist. Wir verkaufen so viel Abfallholz, wie wir können, aber…« Offenbar hielt der Schiffsbauer überhaupt nichts von Verschwendung.

»Stammen alle Eichen aus dem New Forest?«, fragte Fanny.

»Nein, Miss Albion. Natürlich« – er wies auf den umliegenden Wald – »beziehen wir den Großteil von hier. Doch wir müssen uns auch ein wenig weiter umsehen. Außerdem bestehen Schiffe nicht nur aus Eichenholz. Den Kiel macht man aus Ulme, die Außenhaut aus Buche. Für Maste und Rundhölzer benutzen wir Fichte. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«

Auf der größten Helling stand ein großes, fast vollendetes Kriegsschiff.

»Das ist die Cerberus«, verkündete Mr. Adams. »Zweiunddreißig Kanonen, fast achthundert Tonnen. Die größten Kriegsschiffe sind nur fünfzehn Meter länger, aber doppelt so schwer. Im September läuft sie vom Stapel, wird dann die Küste entlang nach Portsmouth geschleppt und dort auf der Werft der Marine bestückt. Das kleinere Schiff daneben ist ein Handelsschiff, das für den Westindienhandel bestimmt ist. Es wird nächstes Jahr fertig. Und der kleine Bursche auf dem dritten Dock ist ein Fünfzig-Tonnen-Leichter für die Marine. Bei dem Handelsschiff steht bereits das gesamte Gerippe.«

»Bauen Sie auch große Kriegsschiffe?«, erkundigte sich Fanny.

»Ja, Miss Albion, allerdings nur selten. Das größte, das wir gebaut haben, war die Illustrious vor fünf Jahren. Ein Ungeheuer mit vierundsiebzig Kanonen. Das meiner Ansicht nach schönste Schiff, das je hier vom Stapel gelaufen ist, war die Agamemnon mit vierundsechzig Kanonen.« Er schmunzelte. »Die Seeleute tun sich mit dem Namen ein bisschen schwer.«

»Verfolgen Sie, was aus den Schiffen wird, nachdem sie das Dock verlassen haben?«

»Wir versuchen es. Die Agamemnon zum Beispiel wurde einem neuen Kapitän unterstellt, der Horatio Nelson heißt.« Er zuckte die Achseln. »Von dem habe ich noch nie gehört.« Er sah sich um, auch die anderen zuckten die Achseln. »Nun«, fuhr er fort. »Möchten Sie an Bord der Cerberus gehen?«

 

 

Puckle war allein im Zwischendeck. Bis vor kurzem hatte ein Hämmern davon gekündet, dass die letzten Decksplanken angebracht wurden. Doch inzwischen hatte der Lärm aufgehört. Es war still auf dem Schiff.

Durch die Schießscharten fiel Licht hinein, und das Schiff wirkte wegen der plötzlichen Ruhe unheimlich und verlassen.

Der Raum zwischen den beiden Decks war bis auf einige Raumstützen leer, keine Trennwände, keine Kanonen, keine Vorräte für die Kombüse, keine Hängematten, Taue oder Truhen. Das Schiff würde erst in Portsmouth ausgerüstet werden. Puckle sah um sich herum nur Holz. Ein Holzboden, hölzerne, dreißig Meter lange Wände. Im Dämmerlicht konnte er die Maserung erkennen; der Duft des Holzes und der scharfe Geruch des zum Versiegeln verwendeten Pechs stiegen ihm in die Nase. Wo das Deck auf den Rumpf traf, waren die Ecken mit Winkeln aus Eichenästen verbunden. Puckle war, als befänden sich nicht Planken über seinem Kopf, sondern ein ausladendes Blätterdach, und er fühlte sich so still und friedlich, als wäre er im Wald gewesen. Dann hörte er Schritte. Mr. Adams und seine Gäste stiegen die Leiter vom Deck hinunter.

 

 

Ein komisch aussehender Bursche, dachte Martell: gebeugte Schultern, struppiges, braunes Haar und ein Gesicht, das an Eichenrinde erinnerte. Die Besucher kletterten, einer nach dem anderen, die Leiter hinab und sahen den Schiffsarbeiter an.

Mr. Adams, der als Letzter folgte, nickte ihm kurz zu. »Er heißt Puckle«, erklärte er. »Ich glaube, er ist schon seit fünfzehn Jahren bei uns.«

»Siebzehn, Sir«, verbesserte Puckle.

»Puckle.« Edward lachte auf. »Ein seltsamer Name.«

»Das ist ein guter alter Name aus dem New Forest«, fiel Fanny ihm ins Wort, denn sie fand, dass sich ihr Cousin unhöflich betrug. »Die Puckles leben gewiss schon so lange im New Forest wie die Albions. Zumeist drüben in Burley, richtig?«, fragte sie ihn mit einem freundlichen Lächeln.

»Das stimmt.« Puckle kannte Miss Albion, und er hatte sie gern. Schließlich gehörte sie in den New Forest.

Währenddessen gafften die Tottons den Arbeiter noch immer belustigt an, als wäre er eine Sehenswürdigkeit. Martell, der sich inzwischen umgeblickt hatte, begutachtete, wie Deck und Rumpf zusammengefügt waren. Mr. Gilpin wirkte geistesabwesend.

»Hier unten«, Fanny zögerte, denn sie war nicht sicher, wie sie sich ausdrücken sollte, »ist es irgendwie seltsam.« Sie blickte die anderen an, die nicht zu verstehen schienen, was sie meinte. Dann wandte sie sich zu Puckle um. »Fühlen Sie es auch?«, fragte sie. Zu ihrem Verdruss hörte sie, wie Louisa hinter ihr zu kichern anfing.

Weil es ihm genauso erging und weil er Fanny mochte, versuchte Puckle zum ersten Mal in seinem Leben, einen komplizierten Gedanken in Worte zu fassen. »Es sind die Bäume«, meinte er und wies mit dem Kopf auf den Rumpf. Dann überlegte er, wie er es am besten ausdrücken sollte: »Wenn wir einmal gehen müssen, Miss, bleibt nicht viel von uns übrig. Wenigstens nicht nach ein oder zwei Jahren unter der Erde.«

»Was ist mit der unsterblichen Seele, guter Mann?«, unterbrach Gilpin ihn streng. »Das dürfen Sie nicht vergessen.«

»Das werde ich nicht, Herr Vikar«, erwiderte Puckle höflich, wenn auch nicht im Brustton der Überzeugung. »Nur Bäume«, meinte er zu Fanny, »die angeblich keine Seele haben, bekommen nach dem Fällen noch ein zweites Leben. Manchmal, wenn ich hier unten bin, fühle ich mich, als wäre ich im Inneren eines Baumes.« Eifrig und ein wenig verlegen lächelte er sie an. »Es ist komisch und wahrscheinlich albern. Aber ich bin eben kein gebildeter Mann.«

»Ich finde es gar nicht albern«, antwortete Fanny freundlich. Doch sie ging nicht weiter auf das Thema ein, denn Mr. Gilpins Hüsteln wies darauf hin, dass er und Mr. Adams genug hatten. Kurz darauf stand sie wieder draußen im hellen Sonnenlicht.

Louisa wollte sich vor Lachen ausschütten. »Ich muss sagen«, rief sie aus, »dass dieser merkwürdige Kerl selbst aussieht wie ein Baum. Meinen Sie nicht auch, Mr. Martell?«

»Mag sein«, stimmte er schmunzelnd zu.

»Aber mir hat gefallen, was er gesagt hat.« Fanny sah Mr. Martell Hilfe suchend an.

»Ja, Miss Albion«, erwiderte er. »Seine theologischen Kenntnisse stehen zwar auf tönernen Füßen, doch auch diese Bauern sind auf ihre Art weise.«

»Kaum zu fassen«, beharrte Louisa, »dass ein solches Geschöpf überhaupt ein Mensch ist. Für mich sieht er eher aus wie ein Troll oder ein Gnom. Bestimmt lebt er in einer Erdhöhle.«

»Als guter Christ muss ich dem widersprechen«, entgegnete Martell lachend. »Allerdings weiß ich, was Sie meinen, meine liebe Miss Totton.«

Es war Zeit zum Aufbruch. Die Tottons und Martell wollten die Straße nehmen, die an Sowley vorbei nach Lymington führte. Mr. Gilpin beabsichtigte, über die Heide zu der Furt oberhalb von Haus Albion zu fahren.

Bevor sie sich voneinander verabschiedeten, nahm Mr. Martell zärtlich Fanny beiseite. »Mein Aufenthalt hier neigt sich dem Ende zu, Miss Albion«, sagte er leise, »aber ich werde sicher wiederkommen. Hoffentlich treffe ich Sie dann hier an, denn ich würde Ihnen gern meine Aufwartung machen.«

»Selbstverständlich, Mr. Martell. Allerdings fürchte ich, dass ich für das Benehmen meines Vaters nicht garantieren kann.«

»Ich verspreche Ihnen, Miss Albion« – bei diesen Worten sah er ihr unverwandt in die Augen –, »dass ich bereit bin, mich seinem Zorn zu stellen.«

Sie neigte den Kopf, um ihr Schmunzeln zu verbergen. »Dann kommen Sie mich besuchen, Sir«, erwiderte sie leise.

Kurz darauf saß sie mit dem kleinen Nathaniel und Mr. Gilpin in der Kutsche und holperte über die Heide. Der Wind wehte ihr ins Gesicht, und sie war überglücklich.

 

 

Nachdem die Besucher fort waren, blieb Puckle noch eine Weile unten im Schiff. Die Tottons verabscheute er, doch das Gespräch mit Miss Fanny Albion hatte er genossen. Ihm gefiel der Ausdruck ihrer blauen Augen. Nun war er wieder allein und sah sich traurig in dem großen, hölzernen Raum um. Ständig gingen ihm dieselben quälenden Gedanken durch den Kopf:

In ein paar Monaten würde Miss Albion noch immer hier im New Forest leben. Und wo würde er dann sein? Ganz allein in der Fremde.

Was hatte er nur getan? Konnte er noch etwas dagegen unternehmen?

 

 

Die Kutsche hielt vor Haus Albion. Mr. Gilpin half Fanny beim Aussteigen und begleitete sie zur Tür. Dort angekommen, blieb er stehen und merkte beiläufig an: »Übrigens wollte ich Ihnen noch etwas sagen, Fanny. Erinnern Sie sich an unser Gespräch über die Ehe Ihrer Großmutter?«

»Ja, natürlich«, antwortete sie fröhlich. »Wir wollten doch zusammen nachschlagen.«

»Ganz richtig. Und als ich vor einer Weile zufällig etwas im Gemeinderegister in Lymington überprüfen musste, habe ich mir die Freiheit genommen, ein wenig zurückzublättern und in den Listen zu stöbern.«

»Und haben Sie etwas gefunden?«, fragte sie aufgeregt.

»Ja, ich denke schon.« Er hielt inne. »Es wird Sie überraschen, vielleicht sogar schockieren.«

»Oh?«

»Natürlich sind solche Verbindungen in vielen Familien, insbesondere in der mütterlichen Linie, nicht selten. Sie wären erstaunt, wie häufig es vorkommt.«

»Bitte erzählen Sie, Mr. Gilpin.«

»Offenbar, Fanny, hat Mr. Totton, der Vater Ihrer Mutter, bei seiner zweiten Verehelichung eine gewisse Miss Seagull aus Lymington geheiratet. Wie Sie sicher wissen, ist diese Familie in der Stadt gut bekannt.«

»Meine Großmutter, die alte Dame, die mir das hier geschenkt hat« – sie betastete das hölzerne Kruzifix an ihrem Hals –, »war eine geborene Seagull?«

»Ja.«

»Also stammte sie nicht aus einer adeligen Familie. Nicht einmal aus einer anständigen.«

»Ich bin sicher, dass sie selbst eine sittsame Frau war, Fanny. Sonst hätte Ihr Großvater, Mr. Totton, sie sicher nicht geheiratet.«

»Glauben Sie« – Fanny runzelte die Stirn –, »dass Eduard und Louisa davon wissen?«

Der Geistliche lächelte spöttisch. »Ich würde meinen, dass die Tottons über ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Albions sehr erfreut sind. Mehr kümmert sie nicht.«

»Vielleicht die Seagulls…«

»Seitdem ist viel Zeit vergangen, Fanny. Sie können also getrost davon ausgehen, dass außer uns beiden niemand im Bilde ist. Außerdem brauchen Sie sich nicht deshalb zu schämen, mein Kind.« Zum ersten Mal ertappte Fanny den Vikar bei einer Lüge.

»Was soll ich jetzt unternehmen?«

»Überhaupt nichts. Ich wollte es Ihnen nur mitteilen…«

»Um mir eine peinliche Enthüllung, womöglich durch einen neugierigen Gemeindeschreiber, zu ersparen.« Sie nickte. »Danke, Mr. Gilpin.«

»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, Fanny. Es ist völlig unbedeutend.«

»Einverstanden. Auf Wiedersehen. Und danke für den Ausflug nach Beaulieu.«

Fanny ging nicht sofort ins Haus, sondern blickte der Kutsche nach, bis diese hinter einer Kurve der Auffahrt verschwand. Dann setzte sie sich auf eine Bank unter einen Baum und dachte eine Weile über diese neue Entdeckung nach.

Sie fragte sich, was Mr. Martell, dessen adeliger Familienstammbaum keinen Makel aufwies, wohl davon halten würde, dass sie eng mit den gewöhnlichen Seagulls aus Lymington verwandt war.

 

 

»Ich hege große Hoffnungen«, verkündete die Gründerin der Akademie für junge Frauen im Hochsommer, »dass sich unsere Lage bessern wird. Ich muss wirklich sagen, dass ich noch nie glücklicher gewesen bin, Mr. Grockleton.« Diese Feststellung löste bei ihrem Gatten eine böse Vorahnung aus, denn wenn Mrs. Grockleton sich für etwas begeisterte, war es angebracht, sich in Acht zu nehmen. »Und wenn man sich vorstellt«, fuhr sie fort, denn sie nahm in solchen Dingen kein Blatt vor den Mund, »dass wir das alles Louisa zu verdanken haben. In der Tat ein kluges Mädchen.«

Obwohl der Zollinspektor sich nicht den geringsten Grund denken konnte, Louisa Totton dankbar zu sein, hüllte er sich in Schweigen. Er sah seine Gattin fragend an, was diese als Zustimmung zu werten schien, denn sie plapperte munter weiter.

»Niemand kann mich davon abbringen, dass es Louisa war, die in Mr. Martell ein derartiges Interessse an Lymington geweckt hat. Nun hat er offenbar mit Sir Harry Burrard über seine Kandidatur fürs Parlament gesprochen.«

»Das muss nicht unbedingt an Louisa liegen«, wandte ihr Mann ein.

»Doch, doch, mein Schatz, muss es wohl. Ist es nicht Beweis genug, dass er Louisa und Edward zu sich nach Dorset eingeladen hat? Nächste Woche reisen sie ab. Also! Ich sage dir, Mr. Grockleton, er will sie ganz sicher heiraten.«

»Da die Tottons ihn bei sich aufgenommen haben, ist es doch nur natürlich, wenn er ihre Gastfreundschaft erwidert«, entgegnete ihr Mann.

»Oh, Mr. Grockleton, du verstehst einfach nichts von diesen Dingen!«, rief sie aus. »Ganz im Gegensatz zu mir. Aber sicher begreifst auch du, was das für uns bedeutet.«

»Für uns, Mrs. Grockleton? Ich glaube, da komme ich nicht ganz mit.«

»Aber, Mr. Grockleton, es ist ausgesprochen wichtig. Unsere gute, reizende Louisa, meine Lieblingsschülerin, mein begabtester Schützling, heiratet ein Mitglied des Parlaments, das darüber hinaus ein wohlhabender Großgrundbesitzer und ein enger Freund der Burrards ist.«

»Und die Albions?«

»Die Albions?« Sie starrte ihn verdattert an. »Was haben denn die Albions damit zu tun? Das sind doch nur die beiden alten Leute und…«

»Fanny.«

»Ja, natürlich, Fanny. Das arme Kind. Doch weiche jetzt nicht vom Thema ab. Fanny braucht uns nicht zu kümmern. Wenn Louisa und Mr. Martell unsere Freunde sind, werden wir bestimmt im Handumdrehen bei den Burrards ein und aus gehen. Alles wird sich« – sie strahlte ihn an – »wie von selbst ergeben.« Ihre Augen nahmen den Ausdruck eines Entdeckers an, der endlich das gelobte Land gefunden hat. »Wenn Mr. Martell das nächste Mal hier ist«, meinte sie nachdenklich, »veranstalte ich meinen Ball. Ganz gewiss werden die Burrards auch erscheinen.«

»Dann sollte er besser vor dem Herbst kommen«, murmelte der Zollinspektor, aber seine Frau hörte ihn nicht.

Doch selbst wenn, hätte sie wohl nicht gewusst, was ihr Mann mit dieser geheimnisvollen Andeutung meinte. Und genau das war auch Mr. Grockletons Absicht. Allerdings bewegte ihn diese Überlegung dazu, ein Thema anzusprechen, das ihn in letzter Zeit immer häufiger bewegte. »Hast du je daran gedacht, Mrs. Grockleton, dass wir Lymington vielleicht eines Tages verlassen müssen?«

»Lymington verlassen?« Als sie ihn ansah, schien sie zunächst durch ihn hindurchzublicken. »Von hier fortgehen?«

»Die Möglichkeit besteht.«

»Aber Zollinspektoren werden doch nie versetzt, Mr. Grockleton. Du hast einen dauerhaften Posten.«

Ein Posten wie der von Mr. Grockleton führte für gewöhnlich weder zu Beförderungen noch zu Versetzungen. Man behielt ihn, bis man in den Ruhestand ging. »Wahr, meine Liebe. Allerdings könnten wir uns aus freien Stücken für einen Umzug entscheiden.«

»Das werden wir nicht tun, Mr. Grockleton.«

»Was wäre«, begann er zögernd, »ich weiß zwar nicht, ob es eintreten wird, aber was wäre, Mrs. Grockleton, wenn wir zu etwas Geld kämen?«

»Zu Geld? Woher denn, Mr. Grockleton?«

»Habe ich dir je von meinem Cousin Balthazar erzählt, meine Liebe?« Diese Frage war ein wenig hinterhältig, da Grockleton besagten Verwandten erst am Vortag erfunden hatte.

»Ich glaube nicht, nein, ich bin mir ganz sicher. Was für ein seltsamer Name.«

»Nicht für jemanden, der eine holländische Mutter hat«, erwiderte er ruhig. »Mein Cousin Balthazar hat in Ostindien ein großes Vermögen gemacht, sich im Norden zur Ruhe gesetzt und führt dort ein Einsiedlerleben. Er hat keine Kinder. Offenbar bin ich sein einziger Verwandter. Wie ich gehört habe, leidet er an einer Krankheit, von der er sich vermutlich nicht mehr erholen wird. Also besteht die Möglichkeit, dass ich das Vermögen erbe.«

»Aber, Mr. Grockleton, warum hast du ihn nie erwähnt? Du musst ihn sofort aufsuchen.«

»Besser nicht. Er hasste meinen Vater wie die Pest, obwohl er zu mir als Kind immer sehr gütig war. Ich habe ihm vor einem Jahr geschrieben. Er antwortete mir zwar sehr freundlich, stellte aber unmissverständlich klar, dass er keine Besucher wünschte. Wahrscheinlich ist er wegen seiner Krankheit kein sehr hübscher Anblick. Wenn er stirbt und mich in seinem Testament bedacht hat, werden sich, wie ich bereits sagte, unsere Umstände verändern. In diesem Fall werde ich mich aus dem Berufsleben zurückziehen.«

Er musterte sie prüfend und war sehr mit sich zufrieden. Anscheinend glaubte sie ihm, und das war wichtig, denn der letzte Teil seiner Ausführungen entsprach der Wahrheit.

 

 

Es war die Unterredung mit Puckle, die ihn zu diesem Entschluss gebracht hatte. Beim Anblick der verängstigten Miene des Mannes, die zweifellos gute Gründe hatte, hatte er sich ausgemalt, wie sich die Schmuggler im New Forest wohl an ihm rächen würden, wenn er seinen Plan in die Tat umsetzte. Möglicherweise würden sie sich einschüchtern lassen und ihm von nun an mit Respekt begegnen; vielleicht würde sich die Bande sogar auflösen. Doch Grockleton war zu klug, um darauf zu vertrauen. Nein, er ging eher davon aus, dass man ihn irgendwann im Laufe der Tage und Wochen nachts in einen Hinterhalt locken und ihm als Vergeltung für all die Unannehmlichkeiten eine Kugel in den Kopf jagen würde. Also hatte er sich die Frage gestellt, ob er es darauf ankommen lassen wollte. Und die Antwort darauf war ein eindeutiges Nein. Er war mutig genug, sich mit den Schmugglern anzulegen – und wenn er Erfolg hatte, würde er ein kleines Vermögen besitzen. In diesem Fall wollte er sich Puckle zum Beispiel nehmen, seinen Profit einstreichen, aus der Gegend verschwinden und seinen Ruhestand genießen. Niemand würde ihm daraus einen Vorwurf machen. Außerdem kümmerte ihn die Meinung seiner Mitmenschen offen gestanden inzwischen nur noch wenig.

Allerdings konnte er seiner Frau schlecht reinen Wein einschenken, denn er traute ihr nicht zu, ein solches Geheimnis für sich zu behalten. Also hatte er Cousin Balthazar und die Erbschaft erfunden, um sie darauf vorzubreiten, dass sich ihre Lebensumstände möglicherweise ändern würden. Nun musterte er sie forschend. Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

»Aber, mein lieber Mann. Falls es zu diesem glücklichen Ereignis kommen sollte und du wirklich reich wirst, gibt es doch keinen Grund, aus Lymington fortzuziehen. Wir könnten weiter hier leben, nur ein wenig stilvoller. Ja, ich verspreche dir, in einem wirklich großzügigen Rahmen. Ach…« Ganz offensichtlich zogen Bilder von Bällen – mit den Burrards, den Martells, ja vielleicht sogar mit Angehörigen des Königshauses als Gästen – an ihrem geistigen Auge vorbei wie Schwäne auf einem Fluss.

»Aha.« Das lag nun ganz und gar nicht in Grockletons Absicht. »Denk doch nur an die Städte, in denen wir leben könnten«, schlug er vor. »Wir könnten sogar in Bath wohnen.«

»Bath? Ich habe überhaupt keine Lust, in Bath zu wohnen. Und für unsere Kinder wäre ein Umzug auch eine Katastrophe.«

»Aber, Mrs. Grockleton.« Er starrte sie entgeistert an. »Du redest doch ständig von Bath. Gewiss…«

»Nein, nein, Mr. Grockleton«, unterbrach sie ihn. »Wenn ich von Bath spreche, meine ich damit, dass es Lymington als Vorbild dienen sollte. Leben will ich dort nicht. In Bath sind die gesellschaftlichen Positionen schon verteilt. Ganz gleich, wie wohlhabend wir auch sein mögen, in Bath werden wir Niemande sein. Hier hingegen, wo wir so viele gute Freunde haben…«

»Unsere Freunde«, entgegnete er sanft, »stehen uns möglicherweise nicht so nah, wie du meinst.«

»Aber bessere«, erwiderte sie streng und mit einem jener Anflüge von Realitätssinn, mit denen sie ihre Zeitgenossen gelegentlich überraschte, »werden Leute wie du und ich vermutlich nie kriegen.«

»Nun, meine Liebe«, meinte er beschwichtigend. »Wir müssen die Angelegenheit nicht gleich entscheiden. Vielleicht hinterlässt mir mein Cousin Balthazar ja gar nichts.«

Allerdings war es ein schwerer Fehler von ihm anzunehmen, dass seine Frau die Dinge nun auf sich beruhen lassen würde, denn sie hatte sich inzwischen in Rage geredet. »Ich bin fest dazu entschlossen, hier zu bleiben, Mr. Grockleton«, sagte sie im Brustton der Überzeugung, was ihm einen kalten Schauder den Rücken hinunterjagte. »In der Tat.« Sie musterte ihn ernst. »Und damit basta.«

Kurz malte sich Grockleton aus, wie es denn sein würde, allein – also ohne Mrs. Grockleton – mit seinem Vermögen in London zu leben, und ein sehnsüchtiger Ausdruck malte sich auf seinem Gesicht. Doch dann nahm er sich rasch zusammen. »Wie du willst, meine Liebe«, erwiderte er, während er sich fertig machte, um zur Arbeit zu gehen. »Glaubst du wirklich«, fragte er, um das Thema zu wechseln, »dass Mr. Martell ein Auge auf Louisa Totton geworfen hat?«

»Ich habe die beiden am Tag vor seiner Abreise zusammen in der High Street gesehen«, entgegnete sie, »und ich habe beobachtet, wie er sich ihr gegenüber verhielt. Er hat sie sehr gern. Und sie ist fest dazu entschlossen, ihn zu heiraten, darauf kannst du Gift nehmen. Außerdem ist sie eine kluge und entschlossene junge Frau.«

»Und setzen entschlossene Frauen immer ihren Willen durch?«, erkundigte er sich mit aufrichtiger Neugier.

»Ja«, antwortete Mrs. Grockleton ruhig, »das tun sie.«

 

 

Die High Street wurde von der warmen Augustsonne beschienen. Wie immer stand der Wirt in der Tür des Angel Inn und sah sich um. Allerdings hatte sich Isaac Seagull die Türschwelle nicht deshalb als Lieblingsplatz ausgesucht, weil er sich für das Treiben auf der Straße interessiert hätte. Der wirkliche Grund befand sich unter seinen Füßen.

Es war ein unterirdischer Tunnel, welcher das Angel Inn mit dem kleineren Gasthaus gegenüber verband. Von dort aus führte er den Hügel hinab bis zum Wasser. Weitere Gänge und Kammern zweigten von dem unterirdischen Gang ab. Und so konnte der Wirt die Waren unbemerkt von seinen Booten auf Gasthöfe und Verstecke in ganz Lymington verteilen. Als er so dastand und nachdenklich mit dem Fuß auf den Boden klopfte, fühlte Isaac Seagull sich wie der Herr über ein altes Labyrinth voller geheimer Schätze.

Solche unterirdischen Schächte existierten in den meisten Küstenstädten Südenglands. Christchurch verfügte sogar über ein kompliziertes Labyrinth, dessen Gänge bei der alten Pfarrkirche endeten. Selbst Dörfer, die mehr als fünfundvierzig Kilometer von der Küste entfernt auf den Kreidefelsen unweit von Sarum lagen, besaßen häufig unterirdische Geheimgänge.

Gerade dachte Seagull über seine Pläne für die nächsten Monate nach, als er aus dem Augenwinkel Miss Albion erkannte. Einen aufgespannten Sonnenschirm in der Hand, schlenderte sie auf ihn zu. Zu seiner Überraschung bat sie ihn um ein Gespräch unter vier Augen.

Da es im Gasthof keine Möglichkeit gab, sich ohne Ohrenzeugen zu unterhalten, brachte er sie in den kleinen Garten gleich hinter dem Hof, wo sie allein waren.

Endlich senkte sie ihren Schirm, betrachtete ihn mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen, blickte ihn aus wunderschönen blauen Augen an und meinte: »Mr. Seagull, sind Sie mein Cousin?«

Isaac Seagull fiel aus allen Wolken.

Es hatte sie große Überwindung gekostet, ihn aufzusuchen. Seit Mr. Gilpin ihr von der Eintragung im Pfarrregister erzählt hatte, wollte es ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte ihren Vater gefragt und auch ihre Tante, als diese vom Krankenbesuch bei ihrer Freundin in Winchester zurückgekehrt war. Doch aus den gleichgültigen Antworten schloss sie, dass beide nichts über die Familie ihrer Mutter wussten. Soweit sie im Bilde waren, war Fannys Mutter eine Totton gewesen, die einen Albion geheiratet hatte, und alles Weitere spielte eigentlich keine Rolle. Fanny gefiel die Vorstellung nicht, selbst noch einmal im Pfarrregister nachzuschlagen. Der Versuch, mehr über die Vergangenheit ihrer Mutter herauszufinden, konnte langwierig und zermürbend werden. Ganz gewiss war es das Vernünftigste, wenn sie Mr. Gilpins Rat befolgte und die Angelegenheit vergaß.

Und sie hatte sich die größte Mühe gegeben. Nach Tante Adelaides Ankunft kehrte im Haus wieder der friedliche Alltag ein. Fanny besuchte die Tottons und ließ sich von Mr. Gilpin für ihre Zeichnungen loben. Insgeheim hoffte sie, dass Mr. Martell wiederkommen und ihr in Haus Albion seine Aufwartung machen würde. Sicher würde ihre Tante dafür sorgen, dass er diesmal freundlicher empfangen wurde.

Dennoch musste sie ständig an die Enthüllung des Vikars denken. Es wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf. Vielleicht lag es daran, dass sie nun mehr über ihre verstorbene Mutter wissen wollte. Doch wenn sie ehrlich mit sich war, musste sie zugeben, dass noch mehr dahinter steckte, und dieses Eingeständnis fiel ihr nicht leicht.

Wenn ich wirklich mit diesen Leuten verwandt bin, dachte sie, schäme ich mich dafür. Ich fürchte mich davor, mich Angehörigen meiner eigenen Familie zu erkennen zu geben. Und für diese Feigheit gibt es keine Entschuldigung.

Nachdem sie eine Weile gegrübelt hatte, wurde ihr klar, dass es einen Menschen gab, der ihr bestimmt helfen konnte: der Vater von Edward und Louisa und Halbbruder ihrer Mutter – Mr. Totton. Sie überlegte, ob sie ihn fragen sollte, aber sie scheute davor zurück. Wenn er im Bilde war, hatte er sicher seine Gründe, darüber zu schweigen. Außerdem würde es einem angesehenen Bürger der Stadt wie Mr. Totton gewiss nicht recht sein, wenn sie ihn auf die Verbindungen seiner Halbschwester zu dieser wenig angesehenen Familie hinwies. Also beschloss Fanny trotz ihrer Neugier, sich lieber nicht an ihn zu wenden.

Deshalb stand ihr nur noch eine andere Informationsquelle offen, die vielleicht die gefährlichste war: die Seagulls selbst. Doch wussten die Seagulls von dieser Verwandtschaft, so sie denn existierte? Womöglich kannte ja ganz Lymington bereits die Hintergründe, ohne dass es ihr, Fanny, selbst zu Ohren gekommen wäre. Welche Folgen würde es haben, wenn sie die Seagulls darauf ansprach? Würden sie sich auf die Verwandtschaft mit ihr berufen, sie in Verlegenheit bringen, die Tottons verärgern und – es lief immer wieder auf dasselbe hinaus – ihre gesellschaftliche Stellung untergraben? Deshalb war es wohl das Beste, wenn sie einen Bogen um die Seagulls machte.

Also hatte Fanny diese delikate Angelegenheit zunächst auf sich beruhen lassen, denn eine Neuigkeit ganz anderer Art sorgte dafür, dass ihre Sorgen kurz in Vergessenheit gerieten.

»Hast du es schon gehört, Fanny?« Ihre Cousine Louisa war ganz allein mit der Kutsche nach Haus Albion gefahren, um es Fanny brühwarm zu erzählen. »Meine liebe, liebe Fanny, was hältst du davon? Mr. Martell hat Edward zu sich nach Dorset eingeladen. Und er hat ausdrücklich gefragt, ob ich auch mitkommen möchte. Nächste Woche reisen wir ab. Ach, küss mich, Fanny!«, rief sie begeistert aus. »Ich bin ja so aufgeregt.«

»Das kann ich mir denken.« Fanny zwang sich zu einem Lächeln. »Du wirst sicher großen Spaß haben.«

Nachdem Louisa fort war, fragte sie sich, ob sie vielleicht auch eingeladen werden würde. Doch die Tage vergingen, ohne dass ein Brief eintraf. Fanny sagte sich, es sei nur recht und billig, dass Mr. Martell die Gastfreundschaft der Tottons erwiderte. Dennoch machte sie sich wider alle Vernunft weiter Hoffnungen. Vielleicht wird Mr. Martell schreiben oder einen Boten schicken, dachte sie. Allerdings hat er dafür gar keinen Grund, schalt sie sich dann. Und sie wartete vergebens. Zehn Tage nach Louisas Besuch brachen die jungen Tottons auf nach Dorset. Fanny fühlte sich einsam.

Drei Tage nach Louisas und Edwards Abreise saß sie draußen im Freien und blätterte geistesabwesend in einem Buch. Ohne es zu bemerken, betastete sie das kleine Holzkreuz an ihrem Hals, als ihr plötzlich etwas einfiel: Gewiss war die alte Frau, die es ihr geschenkt hatte, sehr allein gewesen. Hat meine Mutter sie je besucht? fragte sich Fanny. Vermutlich nicht. Ich bin sicher, dass ich sie nur einmal sehen durfte. Und warum? Ganz bestimmt, weil meine Mutter sich ihrer schämte. Sie wollte nicht einmal, dass ich das Holzkreuz, das einzige Geschenk einer alten Frau an ihre Enkelin, behielt. Und hier sitze ich, überlegte sie weiter, und bemitleide mich selbst, weil ich keine Einladung von einem Mann erhalten habe, den ich ohnehin kaum kenne und der mich wahrscheinlich längst vergessen hat. Wie viele Jahre musste meine Großmutter wohl allein in ihrem Haus in Lymington sitzen, während ihr die Liebe und Zuneigung ihrer Enkeltochter verweigert wurde, und zwar nur aus oberflächlicher Eitelkeit? Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde Fanny klar, dass die Natur mit Liebe ebenso verschwenderisch umgeht wie mit den Eicheln, die sie auf den Waldboden fallen lässt.

»Es ist mir gleichgültig, was sie denken«, murmelte sie. »Morgen fahre ich nach Lymington.«

 

 

Isaac Seagull musterte Fanny neugierig. Er verstand genau, wie kühn ihre Frage gewesen war. In aller Seelenruhe hatte sie die gewaltige gesellschaftliche Kluft überschritten, die sie beide voneinander trennte, wie ein Entdecker, der eine schwankende Brücke betritt. Das Mädchen hat Mut, dachte der Meisterschmuggler. Dennoch fiel seine Antwort sehr vorsichtig aus. »Auf diese Idee wäre ich nie gekommen, Miss Albion«, sagte er. »Wenn es so wäre, dann nur sehr entfernt und vor langer Zeit.«

»Kannten Sie meine Großmutter, die alte Mrs. Totton?«

»Ja.« Er lächelte. »Eine sehr nette Dame.«

»War sie denn keine geborene Miss Seagull?«

»Ich glaube schon, Miss Albion. Genau genommen«, fuhr er fort, »war sie die Cousine meines Vaters. Sie hatte weder Brüder noch Schwestern. Also ist dieser Zweig der Familie ausgestorben.«

»Bis auf mich.«

»Wenn Sie das so sehen wollen.«

»Soll ich es denn anders sehen?«

Isaac Seagull ließ den Blick über den kleinen Garten schweifen. Sein seltsames, kinnloses Gesicht wirkte auf Fanny auf einmal überraschend ebenmäßig.

»So weit ich weiß, Miss Albion, erinnert sich niemand in der Stadt daran, dass die alte Mrs. Totton eine Seagull war. Wahrscheinlich hat außer mir kein Mensch Kenntnis davon.« Er hielt inne und rechnete rasch nach. »Sie hatten sechzehn Ururgroßväter und Ururgroßmütter, und einer davon war mein Urgroßvater, allerdings nur mütterlicherseits. Nein.« Er schüttelte spöttisch den Kopf. »Sie sind Miss Albion aus Haus Albion, und zwar so sicher, wie ich Isaac Seagull, der Wirt des Angel Inn, bin. Wenn ich jetzt anfinge zu behaupten, mit Ihnen verwandt zu sein, Miss Albion, würden die Leute mich auslachen und sagen, ich hätte Flausen im Kopf.« Er lächelte sie freundlich an.

»Wenn meine Großmutter die Tochter eines Mr. Seagull war«, beharrte Fanny, »wer war dann ihre Mutter?«

»Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen.«

»Lügner.«

Es geschah nicht oft, dass jemand es wagte, Isaac Seagull auf diese Weise anzureden. Er blickte in die strahlend blauen Augen des Mädchens. »Es ist besser, wenn Sie es nie erfahren.«

»Überlassen Sie das ruhig mir.«

»Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt«, meinte er zögernd, »könnte sie eine Miss Puckle gewesen sein.«

»Puckle?« Fanny erbleichte wider Willen. Puckle, der gnomenhafte Mann mit dem wettergegerbten Gesicht, dem sie in Buckler’s Hard begegnet war? Puckle, die Familie der Waldbewohner und Köhler, die niedrigsten Bauern des New Forest, von denen einige sogar in Bretterhütten wohnten. »Eine der Puckles aus Burley?«

»Er hatte sie sehr gern, Miss Albion. Außerdem war sie sehr klug und brachte sich selbst das Lesen und Schreiben bei, was – verzeihen Sie mir – vor ihr gewiss noch kein Puckle getan hat. Mein Vater sagte immer, sie sei eine sehr bemerkenswerte Frau gewesen.«

»Ich verstehe.« Fanny saß da wie vom Donner gerührt. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Erdhöhlen, tiefe Gruben und knorrige Wurzeln. Auch Menschen, seltsame Geschöpfe, widerwärtige, affenähnliche Hutzelgestalten, die sie angafften oder auf sie zukamen, um sich ihrer zu bemächtigen. Nackte Angst ergriff sie, als hätte man sie in einer Höhle voller umherflatternder Fledermäuse eingesperrt. Sie, Fanny Albion, war eine Puckle? Keine Totton oder eine Seagull? In ihren Adern floss Köhlerblut? Es war zu schrecklich, um auch nur daran zu denken.

»Miss Albion.« Isaac Seagulls Stimme holte sie zurück in die Wirklichkeit. »Vielleicht irre ich mich ja. Ich habe es nur als Kind gehört.« Er war nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatte. »Außerdem ändert es nichts«, versuchte er sie zu trösten. Aber sie senkte nur den Kopf, murmelte einen Dank und eilte davon.

Kurz darauf stand Isaac Seagull wieder an seinem Stammplatz und genoss den Sonnenschein. Fanny Albions Geheimnis war bei ihm sicher. Schließlich war er ein verschwiegener Mensch. Allerdings wunderte ihn das Ausmaß ihrer Bestürzung. Wahrscheinlich war das der Preis, den man als Angehöriger adeliger Kreise zahlen musste, wo eine lange Ahnenreihe und große Ländereien alles galten. Ihm wäre dieser Preis zu hoch gewesen. Und nicht zum ersten Mal schüttelte der kluge Freihändler über die Eitelkeit der Aristokratie den Kopf.

Ihm persönlich war es lieber, im Verborgenen zu wirken. Und um sein Glück zu machen, verließ er sich aufs wilde, offene Meer.

 

 

Als Fanny ein Stück die High Street hinuntergegangen war, begegnete sie Mrs. Grockleton, die sie ausgesprochen freundlich begrüßte. »Haben Sie schon von Ihrer klugen Cousine Louisa gehört?« Sie strahlte übers ganze Gesicht.

»Nein, Mrs. Grockleton. Ich rechne auch gar nicht damit. Warum bezeichnen Sie sie eigentlich als klug?«

»Aber, aber, meine Liebe.« Mrs. Grockleton drohte scherzhaft mit dem Finger. »Sie und Ihre Cousine müssen nicht glauben, dass Sie Ihre Geheimnisse vor uns alten Leuten hüten können.« Sie bedachte sie mit einem wissenden Blick. »Mir deucht, wir werden bald Nachricht von ihr erhalten.«

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«

»Mein liebes Kind, ich habe Louisa und Mr. Martell am Tag vor seiner Abreise zusammen gesehen. Aber verraten Sie es ihr bloß nicht. Ich habe schließlich Augen im Kopf. Und immerhin hat er sie mit ihrem Bruder nach Dorset eingeladen. Nur die beiden. Wenn er keine ernsten Absichten hätte, hätte er Sie doch gewiss ebenfalls aufgefordert zu kommen.«

»Ich sehe keinen Grund dafür.«

»Ach, Fanny, Sie sind so eine gute und treue Freundin. Ich werde Sie nicht mehr quälen. Aber wir wissen beide, mein liebes Kind, dass Louisa ihn heiraten will. Und meine Lebenserfahrung sagt mir, dass sie ihr Ziel auch erreichen wird.« Sie tätschelte Fanny die Wange. »Das wird sicher ein großes Fest.«

Ohne Fannys Antwort abzuwarten, rauschte sie wie eine Fregatte die Straße entlang.

Im September waren die Tage zwar noch warm, doch die ersten goldenen Blätter an den Eichen wiesen darauf hin, dass bald die aufregende Brunftzeit folgen würde. In Mr. Gilpins Schule in Boldre begann das neue Schuljahr, und jeden Sonntag sah man die Mädchen und Jungen in ihren grünen Mänteln zur Kirche auf dem Hügel hinaufmarschieren.

Nathaniel Furzey war auch dabei. Seine Lust auf freche Streiche hatte auch nach dem Sommer, den er bei seiner Familie in Minstead verbracht hatte, nicht nachgelassen. In der Schule jedoch war er zunächst durch seinen Wissensvorsprung aufgefallen. Mr. Gilpin hatte ihm ein Buch mit einfachen Algebra- und Geometrieaufgaben gegeben, da er das Addieren, das die anderen Kinder noch üben mussten, schon längst beherrschte. Trotz seiner Zweifel hatte der Vikar ihm auch gestattet, einmal wöchentlich in einem Geschichtsbuch zu lesen. Doch die übrige Zeit musste er sich auf die Bibel beschränken. »Da steht genug drin, junger Mann«, sagte Gilpin streng, »um dich für den Rest deines Lebens zu beschäftigen.«

Dennoch bedeutete Nathaniel für den Schulmeister eine Herausforderung. Er veranstaltete seltsame Zahlenspiele, statt wie die übrigen Kinder einfache Rechnungen zu lösen. Wenn er einen Text auswendig lernen sollte, stellte er die Wörter um, sodass sie alberne Reime ergaben. Immer wieder musste der Schulmeister ihn wegen seiner Streiche maßregeln – und dabei hatte das Schuljahr eben erst angefangen. Außerdem fragte der Junge ununterbrochen und wollte Begründungen hören, anstatt einfach zu tun, was ihm aufgetragen wurde. »Sein Verstand ist zu rege«, meldete der Schulmeister dem Vikar. »Er braucht einen Dämpfer.«

Die Prides hingegen hatten mehr Geduld mit dem Jungen. Wenn Nathaniel den kleinen Andrew zu Unsinn anstiftete, drückte der Holzhändler stets schmunzelnd ein Auge zu. »Sollen sie doch ab und zu über die Stränge schlagen«, sagte Pride zu seiner Frau. »Ich war als Kind genauso. Es wird ihnen schon nicht schaden.« Und wenn Andrew und Nathaniel in Schwierigkeiten gerieten und bestraft wurden, ahnten sie auch ohne Worte, dass die Erwachsenen insgeheim über ihre Streiche lachten.

Als Nathaniel eines Nachmittags nach dem Unterricht seinem Freund von seinem neuesten Plan erzählte, riss dieser erschrocken die Augen auf. »Das kannst du nicht tun«, flüsterte Andrew. »Das geht nicht.«

»Warum?«

»Weil… weil es zu schwierig ist. Und außerdem traue ich mich nicht.«

»Unsinn«, verkündete Nathaniel.

 

 

Der September hatte eine merkwürdige Wirkung auf Tante Adelaide, die ganz unerwartet zu Tage trat, als sie und Fanny eines Abends wie immer beisammen saßen.

Obwohl es schon dunkel wurde, hatte Tante Adelaide die Kerzen noch nicht angezündet, sodass sie im schwächer werdenden orangefarbenen Schein der untergehenden Sonne in ihrem Lehnsessel kaum zu sehen war. Bis auf das leise Ticken der Standuhr war es still. Fanny glaubte schon, Tante Adelaide sei eingeschlafen, als diese plötzlich sagte: »Es ist Zeit, dass du heiratest, Fanny.«

»Warum?«

»Weil ich nicht für immer für dich da sein werde. Ich möchte noch erleben, dass du versorgt bist. Hast du schon einen jungen Mann im Auge?«

»Nein.« Fanny zögerte kurz. »Ich glaube nicht.« Und da sie nur wenig Lust hatte, dieses Thema weiter zu verfolgen, fragte sie: »Hast du denn nie daran gedacht zu heiraten, Tante Adelaide?«

»Schon.« Die alte Dame seufzte. »Aber es kam immer etwas dazwischen. Zuerst glaubte ich, meine Mutter nicht verlassen zu dürfen, und sie wurde sehr alt. Als sie starb, war ich schon über vierzig. Und dann musste ich mich um das Haus kümmern, für sie und für die Familie.«

»Auch für die alte Alice?«

»Für sie auch.« Sie nickte und sagte mit einer Leidenschaft, die Fanny anrührte: »Schließlich war es meine Pflicht, Haus Albion in ihrem Sinne zu bewahren. Und du wirst es auch tun, ganz gleich, wen du einmal heiratest. Versprichst du mir das, Fanny?«

»Ja.« Wie oft hatte sie dieses Versprechen schon gegeben? Mindestens hundertmal. Aber sie wusste, dass sie es halten würde.

»Du darfst deiner Familie nie Schande machen. Wenn ich nur«, schimpfte sie wie schon so oft, »an diesen verfluchten Penruddock und seine elenden Soldaten denke, die meine arme, unschuldige Großmutter gezwungen haben, halb nackt durch die Nacht zu reiten. Noch dazu in ihrem Alter. Diese Diebe! Diese Schurken! Und der gemeine Verbrecher Penruddock hat es gewagt, sich als Oberst zu bezeichnen.«

Fanny nickte, es war ihr Stichwort, ihrer Tante die passende Frage zu stellen. »War Penruddock beim Prozess anwesend, Tante Adelaide?«

»Aber natürlich.« Fanny erwartete, dass ihre Tante wie immer die Gerichtsverhandlung schildern würde, doch stattdessen schwieg sie. Fanny fragte sich, wie lange sie wohl noch dem Ticken der Uhr würde lauschen müssen, als Adelaide wieder das Wort ergriff: »Meine Großmutter hat einen Fehler gemacht. Dieser Meinung bin ich schon immer gewesen.«

»Einen Fehler?«

»Beim Prozess.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie war entweder zu schwach oder zu stolz. Die arme Alice. Du darfst nie aufgeben, mein Kind«, brach es plötzlich aus ihr heraus. »Niemals! Du musst kämpfen bis zum Ende.« Fanny wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Ihre Tante fuhr fort: »Vor Gericht hat sie kaum ein Wort gesagt. Sie ist sogar eingeschlafen und hat zugelassen, dass Penruddock, dieser Lügner, und die anderen ihren Namen in den Schmutz zogen. Sie hat sich nicht dagegen gewehrt, dass der Richter alle eingeschüchtert und sie verurteilt hat…«

»Vielleicht war sie machtlos dagegen.«

»Nein!«, widersprach ihre Tante ungewöhnlich heftig. »Sie hätte protestieren sollen. Aufstehen und dem Richter sagen, dass dieser Prozess eine Farce war. Sie hätte mit dem Finger auf sie zeigen müssen.«

»Man hätte sie aus dem Saal geschafft und trotzdem verurteilt.«

»Wahrscheinlich. Aber es ist besser, kämpfend unterzugehen. Wenn du jemals vor Gericht musst, Fanny, versprich mir, dass du kämpfen wirst.«

»Ja, Tante Adelaide«, antwortete Fanny. »Allerdings glaube ich nicht, dass es jemals dazu kommen wird.«

Doch offenbar hatte ihre Tante die letzte Bemerkung nicht gehört. Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster in die Dämmerung. »Hat dein Vater dir gegenüber je Sir George West erwähnt, Fanny?«, fragte sie dann.

»Ein- oder zweimal.« Fanny dachte nach. »Soweit ich mich erinnere, war er ein Freund in London.«

»Eine angesehene alte Familie. Sein Neffe, Mr. Arthur West, hat gerade Hale übernommen. Da ich ohnehin vorhatte, meinen alten Freund, den Vikar von Fordingbridge, zu besuchen, das ganz in der Nähe liegt, dachte ich mir, ich könnte ihn einmal kennen lernen.«

»Ich verstehe.« Fanny schmunzelte. Offenbar war es ihr nicht gelungen, ihre Tante abzulenken. »Ist Mr. Arthur West denn eine gute Partie?«

»Wie man hört, ist er ein Gentleman. Sein Onkel wird ihm einen Teil seines beträchtlichen Vermögens vermachen. Mehr weiß ich bis jetzt auch nicht.«

»Also möchtest du ihn unter die Lupe nehmen?«

»Wir, Fanny. Denn du wirst mich begleiten.«

 

 

Im September kehrte Mr. Martell in den New Forest zurück. Diesmal wohnte er bei Sir Harry Burrard, dem Bürgermeister.

Fanny hatte viel über Mr. Martell und sein großes Gut in Dorset gehört, seit Louisa wieder in Lymington war. »Oh, Fanny, ich habe mich bis über beide Ohren in sein Haus verliebt, dir würde es sicher genauso gehen!«, rief sie aus. »Ein Jammer, dass du es nicht sehen konntest. Die Lage ist ein Traum; ringsherum Kreidefelsen. Und Mr. Martell herrscht als Gutsbesitzer über das ganze Dorf.«

»Ist das Haus alt?«

»Der hintere Teil ist sehr alt und, wie ich zugeben muss, ziemlich düster. Ich würde ihn sofort abreißen. Aber der neue Flügel hat große Zimmer, ist ausgesprochen hübsch, und man hat eine wunderbare Aussicht auf den Park.«

»Das klingt wirklich nett.«

»Und erst die Bibliothek, Fanny! Du wärst gewiss begeistert gewesen. So viele Bücher auf einmal hast du noch nie gesehen, und alle in wunderschönen Einbänden. Auf einem Tisch liegen sämtliche Londoner Zeitschriften, die er sich schicken lässt, um zu wissen, was sich in der feinen Gesellschaft tut. Ich schwöre, ich habe fast eine halbe Stunde dort verbracht.«

»Es freut mich, dass Mr. Martell dich so fleißig erleben durfte.«

»Oh, zu Hause ist er ganz ungezwungen, Fanny, das kann ich dir versichern, überhaupt nicht so gelehrt. Wir haben uns gut amüsiert. Er zeichnet – sehr gut, wie ich sagen muss –, und meine bescheidenen Versuche haben ihm offenbar gefallen. Diese hier fand er besonders gelungen.« Sie holte eine kleine Skizze hervor. »Erinnerst du dich noch an unseren Ausflug nach Buckler’s Hard?«

Fanny musste zugeben, dass die Zeichnung wirklich kunstvoll war. Sehr gut sogar. Natürlich handelte es sich um eine Karikatur, doch der Gegenstand war großartig getroffen. Es war Puckle. Louisa hatte ihn als Gnom, halb Baum, halb Ungeheuer, dargestellt. Allerdings fand Fanny die Abbildung grotesk und ziemlich abstoßend.

Sie erschauderte. »Hältst du das nicht für ein bisschen grausam?«, fragte sie.

»Fanny, glaubst du etwa, dass ich sie diesem Burschen zeige? Sie ist nur für uns bestimmt.«

»Das verändert die Sache vermutlich.« Aber was würdest du sagen, dachte Fanny, wenn du wüsstest, dass ich, eine Albion, vielleicht mit diesem Bauern verwandt bin? Und wie würdest du mich dann zeichnen?

Außerdem erfuhr sie von Louisa, dass Martell bereits wegen des Sitzes im Parlament an den Bürgermeister geschrieben hatte.

Als Mr. Martell bei den Burrards eintraf, kam Louisa noch am selben Tag zu Fanny und verkündete, sie und Edward seien dort zum Abendessen eingeladen. »Schließlich ist Sir Harry unser Verwandter.« Also war es nicht weiter überraschend. Und da Mr. Martell beabsichtigte, mindestens eine Woche zu bleiben, nahm Fanny an, dass er sie zu gegebener Zeit aufsuchen würde. Deshalb war sie recht enttäuscht, als Tante Adelaide sagte: »Am Dienstag fahren wir nach Fordingbridge, Fanny. Mein Freund, der Vikar, wird uns für eine Nacht aufnehmen. Und am Abend speisen wir mit Mr. Arthur West.«

»Können wir das nicht ein bisschen verschieben?«, fragte Fanny. Heute war Samstag. Was war, wenn Martell sich erst am Montag blicken ließ? Oder womöglich am Dienstag, sodass er sie verpassen würde?

»Verschieben? Aber nein, Fanny. Man erwartet uns. Außerdem müssen wir am Mittwochnachmittag zurück sein, da du am Abend in Lymington eingeladen bist.«

»Oh?« Fannys Herz machte einen Satz. »Bei den Burrards?«

»Den Burrards? Nein. Ich habe gerade einen Brief erhalten. Es ist eine ziemlich lästige Pflicht, aber ich nehme an, dass du aus Gründen der Höflichkeit hingehen musst.« Sie reichte Fanny das Schreiben.

Mrs. Grockleton gab einen Ball.

 

 

»Alles passt großartig, siehst du, Mr. Grockleton?« Die Gründerin der Akademie für junge Frauen zwitscherte wie ein Vogel. »Mr. Martell ist hier. Louisa hat mir versprochen, ihn mitzubringen. Außerdem erinnert er sich gewiss noch daran, dass er mir selbst zugesagt hat, und er ist zu sehr Gentleman, um sein Wort zu brechen.«

»Mag sein«, erwiderte Mr. Grockleton mit finsterer Miene.

»Und wenn Louisa und Mr. Martell kommen, bringen sie ganz sicher die Burrards mit. Schließlich ist Mr. Martell ihr Gast. Stell dir das vor, Mr. Grockleton.« Der Zollinspektor tat sein Bestes, sich die Burrards vorzustellen. »Natürlich wird der liebe Mr. Gilpin auch da sein«, fuhr sie fort. »Und der ist eindeutig ein Gentleman.«

»Und Miss Albion?«

»Ja, sie auch.« Fanny war zwar kein so interessanter Fang, stammte allerdings aus sehr guter Familie. Mrs. Grockleton überlegte weiter: Wenn eine Albion, ein Martell und die Burrards kamen, konnte sie vielleicht noch andere Mitglieder des örtlichen Adels anlocken. Möglicherweise die Morants. »Es gibt Erfrischungen und ein Abendessen. Das Orchester vom Theater wird spielen, sicher werden alle hocherfreut sein. Und außerdem brauchen wir Wein, Champagner und Brandy. Darum musst du dich kümmern, Mr. Grockleton.«

»Du weißt, dass ich die Getränke werde kaufen müssen.«

»Selbstverständlich musst du sie kaufen. Was sonst?«

»Du vergisst«, meinte er trocken, »dass ich der einzige Mann zwischen Southampton und Christchurch bin, der den vollen Preis dafür bezahlt.« Falls Mrs. Grockleton diesen Einwand überhaupt vernommen hatte, wusste sie ihn mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit zu übergehen.

»Abgesehen davon, dass du so großen Wert auf Mr. Martells Anwesenheit legst«, fragte nun ihr Mann, »warum veranstaltest du den Ball so kurzfristig? Weshalb am Mittwoch?«

Mrs. Grockleton starrte ihn aufrichtig erstaunt an. »Aber Mr. Grockleton, natürlich muss es am Mittwoch sein!«, rief sie aus und hielt dann inne, um ihm Zeit zu geben, die Antwort selbst zu finden. »Am Mittwoch haben wir Vollmond.«

 

 

Am Dienstagmorgen war das Wetter sonnig und klar. Tante Adelaide war so guter Stimmung, dass sie gleich zwanzig Jahre jünger wirkte. »Francis«, sagte sie zu ihrem Bruder, »du wirst gut mit Mrs. Pride auskommen.« Da es sich um einen Befehl handelte, widersprach Mr. Albion nicht.

Nur in Begleitung des Kutschers und einer Zofe machten sich Adelaide und Fanny früh am Morgen auf den Weg. Sie fuhren durch den New Forest nach Ringwood, wo die bequeme Straße nach Fordingbridge begann. »Gewiss sind wir zur Mittagszeit da«, verkündete Tante Adelaide vergnügt. Und als sie die baumlose Ebene von Wilverley Plain erreichten, merkte sie mit dem Hauch eines Tadels an: »Du machst aber keinen sehr glücklichen Eindruck, Fanny.«