DIE JAGD

 

 

 

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Die Hirschkuh zuckte zusammen, und ein Beben fuhr durch ihren Körper, als sie aufmerksam die Ohren spitzte.

Der nächtliche Frühlingshimmel wirkte noch wie von einem gräulich-schwarzen Schleier überzogen. Am Waldesrand mischte sich der torfige Geruch der nahen Heide mit dem des vermodernden Herbstlaubes vom letzten Jahr in der feuchten Luft. Es war so ruhig, als wartete die gesamte Britische Insel darauf, dass in der frühmorgendlichen Stille etwas geschehen würde.

Und dann, plötzlich, stimmte eine Lerche in der Dunkelheit ihr Lied an. Als Einzige hatte sie den Lichtstreif am Horizont bemerkt.

Immer noch argwöhnisch wandte die Hirschkuh den Kopf. Irgendetwas näherte sich.

 

 

Puckle lief durch den Wald. Geräuschlosigkeit war dabei nicht weiter wichtig, denn wenn das Laub unter seinen Füßen raschelte oder ein Zweig zerbrach, würde man ihn für einen Dachs, ein Wildschwein oder einen anderen Waldbewohner halten.

Links von ihm hallte der Ruf einer Eule unheimlich durch das finstere, geschwungene Blätterdach des Eichenwaldes.

Puckle: War es sein Vater, sein Großvater oder ein anderer Urahn vor vielen Jahren gewesen, der diesen Namen zuerst geführt hatte? Niemand wusste, woher die vielen seltsamen Namen stammten, die im alten England so häufig vorkamen. An der Südküste gab es einige Anhöhen, die Puck Hill hießen. Vielleicht war Puckle ja davon abgeleitet. Oder es war als Verniedlichung gedacht: kleiner Puck. Doch diese Frage konnte keiner genau beantworten. Und niemand aus der Familie zerbrach sich weiter den Kopf darüber. Alter Puckle, junger Puckle, der andere Puckle: Man konnte sich nie ganz sicher sein, wer jeweils gemeint war. Nachdem Puckle und seine Familie von den Vasallen des neuen normannischen Königs aus ihrem Dorf vertrieben worden waren, waren sie eine Weile umhergewandert und hatten schließlich im westlichen Teil des New Forest am Ufer eines der Bäche, die in den Avon mündeten, ein vorübergehendes Lager aufgeschlagen. Vor kurzem waren sie ein paar Meilen nach Süden an einen anderen Bach umgezogen.

Puckle. Der Name passte zu ihm: vierschrötig, knorrig wie eine Eiche, die breiten Schultern vornübergebeugt, als trüge er ständig eine schwere Last. Er war Köhler und ständig auf der Wanderschaft. Selbst die anderen Bewohner des New Forest wussten nicht, wo er sich gerade aufhielt. Manchmal, wenn das Feuer sein derbes Gesicht in ein rötliches Licht tauchte, sah er aus wie ein Gnom. Dennoch scharten sich die Kinder um ihn, sobald er in die Weiler kam, um Tore und Zäune aus Flechtwerk herzustellen, ein Beruf, auf den er sich besser verstand als jeder andere. Sie mochten seine ruhige Art. Auch die Frauen fühlten sich auf merkwürdige Weise von dem inneren Leuchten angezogen, das der Mann aus dem Wald auszustrahlen schien. In seinem Lager am Wasser hingen immer Tauben in der Vorratskammer. Das Fell eines Hasen oder eines anderen kleinen Tieres war fein säuberlich über Pflöcke gespannt; die Überreste einer Forelle, die er aus dem kleinen, braunen Bach gezogen hatte, waren ordentlich verstaut. Doch die Waldtiere hatten kaum Scheu vor ihm, so als spürten sie, dass er einer von ihnen war.

Als er nun, angetan mit einem ledernen Wams und derben Lederstiefeln an den nackten Beinen, durch den finsteren Wald stapfte, hätte er genauso gut ein Wesen aus längst vergangenen Zeiten sein können.

 

 

Die Hirschkuh verharrte auf der Stelle. Sie hatte sich ein Stück vom Rest des Rudels abgesondert, das friedlich die frischen Frühlingsgräser am Waldesrand äste.

Trotz ihrer scharfen Augen und ihres hoch entwickelten Geruchssinns verlassen sich Hirsche hauptsächlich auf ihr Gehör, wenn es darum geht, eine Gefahrenquelle auszumachen. Ihre im Verhältnis zum Kopf großen Ohren ermöglichen es ihnen, Geräusche aufzufangen, die der Wind ihnen herüberträgt. Selbst das Knacken eines weit entfernten Zweiges können sie noch wahrnehmen, und deshalb wusste die Hirschkuh, dass Puckles Schritte nicht näher kamen.

Sie war ein Damhirsch. Im New Forest gab es drei Sorten von Hirschen. Die großen Rothirsche mit ihrem rötlich-braunen Fell waren schon von alters her die Herrscher des Waldes. In manchen Gegenden kamen auch die seltenen Rehe vor, zierliche, kleine Geschöpfe, kaum größer als ein Hund. Vor kurzem jedoch hatten die normannischen Eroberer eine neue, wunderschöne Art eingeführt: die eleganten Damhirsche.

Die Hirschkuh war fast zwei Jahre alt. Da sie gerade vom maulbeerfarbenen Winterfell zum sommerlichen Tarnkleid – hellbraun mit weißen Tupfen – wechselte, sah sie ein wenig fleckig aus. Wie fast alle Damhirsche hatte sie eine weiße Bauchseite und einen weißen Spiegel mit schwarzer Einfassung. Doch aus einer Laune der Natur heraus war ihr Fell ein wenig heller als gewöhnlich.

Aber auch ohne diese Besonderheit wäre sie für einen Artgenossen unverwechselbar gewesen, da sich die Zeichnung des Spiegels bei jedem Tier leicht unterscheidet, ein einzigartiges Merkmal, so wie der Fingerabdruck beim Menschen – nur um einiges auffälliger. Und als ob dieses Kennzeichen nicht schon genug gewesen wäre, hatte die Natur ihr – vielleicht als Augenweide für den Menschen – ein weißliches Haarkleid geschenkt. Sie war ein hübsches Tier. In diesem Jahr, in der Brunftzeit im Herbst, würde sie einen Partner finden – falls sie nicht vorher von Jägern getötet wurde.

Ihre Instinkte warnten sie noch immer, auf der Hut zu sein. Sie wandte den Kopf hin und her und lauschte. Dann richtete sich ihr Blick auf eine bestimmte Stelle. In der Ferne, zwischen den dunklen Bäumen, bewegte sich ein Schatten. Dicht daneben schimmerte ein abgeknickter Ast, der seine Rinde verloren hatte, wie ein Geweih. Der kleine Haselnussbusch dahinter hätte genauso gut ein Tier sein können.

Im Wald waren die Dinge nicht immer das, was sie zu sein schienen. Erst nach einiger Zeit war die Hirschkuh sicher, dass keine Gefahr drohte, und sie senkte langsam den Kopf.

Der morgendliche Chor stimmte sein Lied an. Draußen im Heidekraut setzte ein Schwarzkehlchen, das auf einem in der Dunkelheit gelblich schimmernden Stechginsterbusch saß, mit seinem abgehackten Trillern ein. Im Osten erhellte sich der Himmel. Ein Teichrohrsänger erhob die Stimme. Sein schrilles Zwitschern hallte durch die Luft. Dann begann eine Amsel in luftigen Baumkronen zu singen. Gleich darauf ertönte das lautstarke Hämmern eines Spechts, der zwei Wirbel auf die Rinde eines Baumes klopfte. Eine Turteltaube gurrte sanft. Und im nächsten Augenblick – es war noch immer dunkel – rief der Kuckuck, und ein Artgenosse antwortete aus dem Wald. So beanspruchte ein jeder sein kleines Königreich für sich, denn es war Frühling, und bald würde die Paarungszeit beginnen.

Über der Heide stieg die Lerche höher und höher, sang immer weiter und übertönte alle anderen Vögel; sie hatte die aufgehende Sonne gesehen.

 

 

Pferde schnaubten. Männer traten von einem Fuß auf den anderen. Die Hunde hechelten ungeduldig. Der Hof roch nach Pferdemist und dem Rauch von Holzfeuern.

Gleich sollte die Jagd beginnen.

Adela de la Rôche beobachtete die Männer. Ein Dutzend hatte sich bereits versammelt. Die Jäger in grünen Wämsern und mit Federn am Hut, einige Ritter und Gutsbesitzer aus der Umgebung. Adela hatte gebettelt und gedrängt, sie begleiten zu dürfen. Widerstrebend hatte Walter, ihr Vetter, zugestimmt, allerdings erst, nachdem sie ihn an seinen Auftrag erinnert hatte: »Ich muss mich schließlich sehen lassen. Oder hast du vergessen, dass du mich unter die Haube bringen sollst?«

Das war bei einer jungen Frau in ihrer Lage kein leichtes Unterfangen. Erst ein Jahr war seit jenem kalten, düsteren Tag vergangen, an dem ihr Vater gestorben war. Ihre Mutter – bleich und plötzlich der Askese zugetan – war in ein Kloster eingetreten. »So bewahre ich meine Würde«, hatte sie Adela verkündet und ihre Tochter Verwandten anvertraut. Nun bestand ihre Mitgift nur noch aus ihrem guten Namen und ein paar kläglichen Hektar Land in der Normandie. Doch ihre Verwandten hatten ihr Möglichstes getan. Nach einer Weile hatten sie beschlossen, Adela nach England zu bringen, wo sich seit der Eroberung durch Herzog Wilhelm viele Söhne normannischer Adelsfamilien niedergelassen hatten. Und diesen würde eine hochgeborene Landsmännin als Ehefrau vielleicht nicht ungelegen kommen. »Von all unseren Verwandten«, so sagte man Adela, »wird dir dein Vetter Walter Tyrrell am besten weiterhelfen können.

Schließlich hat er selbst eine ausgezeichnete Partie gemacht.« Walter hatte in die mächtige Familie Clare eingeheiratet, die in England riesige Ländereien besaß. »Walter wird einen Gatten für dich finden.« Doch bis jetzt war ihm das noch nicht geglückt. Außerdem traute Adela ihm nicht ganz über den Weg.

Der Hof sah aus wie der aller anderen angelsächsischen Herrschaftshäuser in dieser Gegend. Derbe, mit Stroh gedeckte Blockhütten, die Scheunen ähnelten, umgaben ihn von drei Seiten. Die Wände bestanden aus dicken, dunklen Holzbohlen. In der Mitte befand sich die große Halle, die über eine kunstvoll geschnitzte Tür und eine Außentreppe verfügte, über die man das obere Stockwerk erreichte. Das Anwesen stand unweit der klaren und stillen Wasser des Avon, der an den Kreidefelsen bei dem Schloss Sarum, etwa fünfundzwanzig Kilometer im Norden, entsprang. Ein paar Kilometer flussaufwärts lag das Städtchen Ringwood, und fünfzehn Kilometer weiter mündete der Avon in einen flachen, geschützten Hafen und floss von dort aus ins offene Meer.

»Sie kommen!«, riefen die Männer, als eine Bewegung an der Tür der Halle auf das Eintreffen der Anführer dieser Jagdpartie hinwies. Zuerst erschien Walter mit fröhlicher Miene, gefolgt von einem Gutsbesitzer und dem Mann, auf den alle gewartet hatten: Cola.

Cola, der Jäger, Grundherr und Verwalter des New Forest. Obwohl sein Haupthaar und sein langer, herabhängender Schnurrbart inzwischen ergraut waren, bot er einen beeindruckenden Anblick. Hoch gewachsen, breitschultrig und kräftig. Auch wenn ihm mittlerweile die Geschmeidigkeit der Jugend fehlte, schritt er mit der Anmut eines alten Löwen aus. Ein angelsächsischer Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle. Obwohl seine Kräfte allmählich zu erlahmen schienen, war Adela sicher, dass er sich mit einem finsteren Blick aus seinen Augen noch immer Respekt verschaffen konnte.

Allerdings galt ihre Aufmerksamkeit weniger Cola als seinen beiden Söhnen, die hinter ihm aus dem Haus traten. Sie waren ein wenig über zwanzig, Adela schätzte den Altersunterschied zwischen den beiden auf drei oder vier Jahre. Groß und stattlich, mit langem, blonden Haar, gestutzten Bärten und leuchtend blauen Augen – gewiss hatte ihr Vater in seiner Jugend ebenso ausgesehen. Sie schritten leichtfüßig und kräftig aus, und Adela war beim Anblick ihrer edlen Haltung insgeheim froh, dass wenigstens diese Angelsachsen ihr Gut hatten behalten können. Allzu viele englische Adelige hatten ihren Besitz an Adelas Landsleute verloren. Als sie sich beim Hinstarren ertappte, wandte sie den Blick sogleich ab und schmunzelte in sich hinein, denn soeben war ihr ein ungebührlicher Gedanke gekommen: Im Adamskostüm sahen diese beiden jungen Männer sicherlich hinreißend aus.

Kurz darauf ging die Sonne über den Wipfeln der Eichen am Horizont auf, und die Jagdgesellschaft, insgesamt etwa zwanzig Personen, machte sich auf den Weg.

Das Tal des Avon, das sie nun verlassen wollten, war ein malerisches Gebiet. Über die Jahrhunderte hatte sich der Fluss zwischen den niedrigen Kiesbänken, auf denen mittlerweile Bäume wuchsen, einen breiten, flachen Weg nach Süden gegraben. Fast unmerklich hatte sich dazwischen fruchtbares Schwemmland angesammelt. Zwischen Fordingbridge und Ringwood war das Tal etwa drei Kilometer breit. Auch wenn der Fluss, der sich träge durch die üppigen Felder schlängelte, verglichen mit früheren Zeiten eher einem Rinnsal ähnelte, trat er nach dem Frühlingsregen gelegentlich über die Ufer und bedeckte die umliegenden Wiesen mit einer funkelnden Wasserfläche, so als wolle er die Welt daran erinnern, dass er von alters her Anspruch auf dieses Land hatte.

Adela war noch nie Mitglied einer solchen Jagdgesellschaft gewesen, und deshalb war sie sehr aufgeregt und neugierig. Sie wusste, dass ihr Ziel gleich jenseits des östlichen Randes des Avontals lag. Und da sie unbedingt dieses wilde Gebiet erkunden wollte, von dem sie schon so viel gehört hatte, hatte sie heute darum gebettelt, mitkommen zu dürfen. Bald erreichten sie den Fuß des Berges und passierten einen Bach und eine einsam dastehende alte Eiche. Sie führten ihre Pferde einen gewundenen, von Bäumen und Gebüsch gesäumten Pfad hinauf. Adela bemerkte immer mehr nackte Kiesel auf dem Weg, je höher sie kamen.

Dennoch schnappte sie vor Erstaunen nach Luft, als sie die Bergkuppe erklommen hatten. Plötzlich hörte der Wald auf, rings um sie herum waren der Horizont und der offene Himmel zu sehen, und sie fühlte sich, als wäre sie in eine andere Welt geraten.

Adela de la Rôche hatte es sich ganz anders vorgestellt. Vor ihr, so weit das Auge blickte, erstreckte sich die riesige, braune Heide. Die Sonne, die immer noch niedrig am Himmel stand, vertrieb mit ihren gelblichen Strahlen allmählich den Morgennebel, der sich in Fetzen wie Spinnweben über das Land zog. Der felsige, mit Farnen und Heidekraut bewachsene Abhang, an dem sie standen, fiel zu beiden Seiten steil nach unten ab. Zu ihrer Linken endete er an einem Sumpf, rechts an einem kiesigen Bach, an dessen Ufern Gras wucherte. Stechginster leuchtete gelb aus dem Heidekraut hervor, und auf einem anderen Abhang, etwa anderthalb Kilometer entfernt, ragten einige Stechpalmen in den Himmel.

Und noch etwas war merkwürdig an dieser Landschaft. Als Adela die torfige Erde betrachtete, auf der der Huf ihres Pferdes stand, sah sie, dass die Steine dort strahlend weiß leuchteten. Wieder hob sie den Kopf und schnupperte, und sie hatte das seltsame Gefühl, dass sich ganz in der Nähe das Meer befinden musste, obwohl sie es nicht sehen konnte.

Gab es in dieser riesigen, kargen Wildnis menschliche Siedlungen, Weiler, Höfe oder Katen? Ganz sicher verhielt es sich so, doch sie konnte nichts dergleichen entdecken. Menschenleer, still und urwüchsig lag die Landschaft da.

Das war also der New Forest, den König Wilhelm der Eroberer eingerichtet hatte.

 

 

Forest ist ein Begriff, der aus dem Normannischen stammt und damals mehr als nur Wald bedeutete, obwohl sich innerhalb seiner Grenzen riesige Wälder befanden. Bei einem königlichen Forst handelte es sich um ein abgetrenntes Gebiet – ein Reservat sozusagen –, in dem der König auf die Jagd ging. Vor allem die Hirsche wurden durch strenge Gesetze geschützt. Wer einen Hirsch des Königs erlegte, verlor die Hand oder sogar das Leben. Und da der normannische Eroberer das Land erst kürzlich in Besitz genommen hatte, wurde es New Forest – Nova Foresta im Latein der offiziellen Urkunden – genannt.

Das Gebiet, das er als New Forest beanspruchte, war ziemlich groß. Es erstreckte sich vom Avontal aus fast dreißig Kilometer bis zu einem großen Meeresarm. Von Nord nach Süd fiel das Gelände mehr als dreißig Kilometer lang sanft und terrassenförmig ab und reichte von den Kreidefelsen nördlich von Sarum bis zu einer wilden Marsch an der Küste des Ärmelkanals. Die Landschaft war abwechslungsreich, ein Flickenteppich aus Heide, Wäldern, Wiesen und Sümpfen. Schon seit vielen Jahrtausenden wurde sie von Menschen durchstreift, die Lichtungen gerodet hatten und dann wieder weitergezogen waren. Der Boden war zum Großteil torfig und sauer und deswegen nicht sehr fruchtbar. Doch hie und da gab es auch ertragreichere Erde, die sich für den Ackerbau eignete. Die größten Eichenwälder lagen am südlichen Rand, meist auf Moorboden, und waren wahrscheinlich schon seit über fünftausend Jahren nicht mehr betreten worden.

Und dann verfügte der New Forest noch über ein weiteres Merkmal, das Adela ganz richtig bemerkt hatte: Das Meer war ganz in der Nähe. Oft trugen die warmen Südwestwinde einen leichten Salzgeruch selbst in den nördlichen Teil des New Forest. Das Wasser selbst war jedoch erst zu sehen, wenn man den Eichenwald verließ und auf die Küstenmarschen hinaustrat. Allerdings gab es auch einen sichtbaren Hinweis. Denn vor der Ostküste des New Forest, abgetrennt durch einen viereinhalb Kilometer breiten Meeresarm namens Solent, erhob sich die hübsche Insel Wight mit ihren Kreidefelsen. Und vom richtigen Aussichtspunkt, selbst von den Felsen unterhalb Sarums aus konnte man über den gesamten New Forest bis zur Insel blicken, die im rosigen Dunst auf der anderen Seite des Wassers lag.

»Hör auf zu träumen! Sonst verlieren wir dich noch.«

Walter war es, wie seine Miene verriet, peinlich, dass sie unwillkürlich innegehalten und die anderen vorbeigelassen hatte, um die Aussicht zu genießen.

»Tut mir Leid«, sagte sie. Sie setzten ihren Weg fort, Walter trabte mit wichtigtuerischer Miene neben ihr her.

Adela betrachtete ihn eingehend. Wie war es Walter mit seinem gelockten Schnurrbärtchen und den etwas dümmlich dreinblickenden, blassblauen Augen bloß gelungen, sich überall beliebt zu machen? Wahrscheinlich lag es daran, dass es sein einziger Lebenszweck war, sich bei den Mächtigen einzuschmeicheln. Sicher waren selbst seine einflussreichen Schwiegereltern froh, ihn in der Familie zu haben. Denn da er sich niemals auf die Seite der Verlierer geschlagen hätte, musste das heißen, dass er sich für sie Siegeschancen ausrechnete. Und in diesen unruhigen Zeiten war ein solcher Schwiegersohn nicht zu verachten.

Im Reich der Normannen waren politische Intrigen an der Tagesordnung. Nach König Wilhelms Tod vor etwa zwölf Jahren war sein Erbe unter seinen Söhnen aufgeteilt worden. Wilhelm, auch Rufus genannt, hatte England bekommen; Robert hatte die Normandie erhalten; der dritte Sohn Heinrich bezog nur eine Apanage. Doch wie selbst Adela wusste, war die Lage gespannt. Die großen Familien besaßen oft Güter sowohl in England als auch in der Normandie. Aber während Rufus ein fähiger Herrscher war, konnte man das von Robert nicht behaupten. Viele glaubten, dass Rufus eines Tages auch die Normandie übernehmen würde. Dennoch hatte auch Robert seine Fürsprecher. Eine große normannische Familie, der einige Ländereien an der Küste des New Forest gehörten, unterstützte ihn angeblich. Und was war mit dem jungen Heinrich? Hatte er sich wirklich mit seinem Schicksal abgefunden? Weiterhin kompliziert wurde die Lage dadurch, dass weder Rufus noch Robert geheiratet und einen Erben gezeugt hatten. Doch als Adela arglos ihren Vetter fragte, wann der König von England sich wohl endlich vermählen würde, zuckte Walter nur die Achseln. »Wer weiß?«, antwortete er. »Er bevorzugt junge Männer.«

Adela seufzte leise. Ganz gleich, wie sich die Dinge auch entwickeln mochten, Walter würde sich schon rechtzeitig auf die Gewinnerseite schlagen.

Auf der Heide kam die Jagdgesellschaft rasch voran. Gelegentlich bemerkte Adela Grüppchen gedrungener Ponys, die sich an Gras oder Ginsterbüschen gütlich taten. »Die gibt es überall im New Forest«, erklärte Walter. »Sie scheinen zwar wild zu sein, doch viele von ihnen gehören den Bauern in den Weilern.« Die Ponys waren hübsche Tiere, und Adela entdeckte so viele von ihnen, dass sie ihre Anzahl im gesamten New Forest auf mehrere Tausend schätzte.

Cola und seine Söhne führten den Zug an. Der König hatte nicht nur zu seinem Vergnügen den New Forest den Hirschen vorbehalten. Natürlich war die Pirsch mit Pfeil und Bogen ein angenehmer Zeitvertreib, und man konnte außer Hirschen auch Wildschweine und sogar Wölfe jagen. In Wahrheit aber erfüllte der New Forest einen sehr praktischen Zweck. Der König, sein Hofstaat, seine Soldaten und zuweilen auch seine Seeleute wollten ernährt werden. Sie brauchten Fleisch. Hirsche haben eine hohe Fortpflanzungsrate und wachsen rasch heran. Ihr Fleisch ist wohlschmeckend und mager. Man konnte es pökeln – an der Küste gab es reiche Salzvorkommen – und dann im ganzen Königreich verteilen. Der New Forest diente also hauptsächlich der Aufzucht von Hirschen.

Und er wurde straff geführt. Verantwortlich für die etwa siebentausend Hirsche war eine Reihe von Förstern, manche von ihnen Angelsachsen wie Cola, die ihren Posten behalten hatten, weil sie jeden Flecken dieses Waldes kannten. Wenn einer der königlichen Jäger – so wie Cola heute – im Auftrag des Königs auf Hirschjagd ging, verließ er sich im Gegensatz zu seinem Herrscher nicht auf Pfeil und Bogen. Die Treibjagd war eine vielversprechendere Methode. Dabei verteilte sich die Jagdgesellschaft über ein großes Gebiet und hetzte das Wild vor sich her in eine große Falle. Diese Falle, die gerade im königlichen Gut von Lyndhurst in der Mitte des New Forest aufgebaut wurde, bestand aus einem langen, gebogenen Zaun, mit dem man die Hirsche auf eine Koppel leitete. Dort wurden sie mit Pfeil und Bogen erschossen oder in großer Zahl in Netzen eingefangen. »Das ist wie eine spiralförmige Muschelschale mitten im Wald«, erklärte Walter seiner Base. »Es gibt kein Entrinnen.«

Obwohl diese Jagdmethode gnadenlos und grausam war, stand Adela ein seltsam magisches und geheimnisvolles Bild vor Augen.

Sie stiegen einen Abhang hinunter in einen Wald. Zu ihrer Rechten hörte Adela eine Lerche singen. Sie blickte gerade in den blassblauen Himmel hinauf, um Ausschau nach dem Vogel zu halten, als Walter das Wort an sie richtete. »Das Problem mit dir ist…«, hörte sie ihn noch sagen, bevor sie den Klang seiner Stimme ausblendete.

Wenn man Walter Glauben schenken konnte, gab es an ihr sehr viel auszusetzen. »Du musst dir einen eleganteren Gang angewöhnen«, pflegte er zu sagen. »Du musst mehr lächeln. Du musst ein anderes Kleid anziehen.«

»Eigentlich bist du ja recht hübsch«, hatte er ihr gnädigerweise vor einer Woche mitgeteilt. »Obwohl einige vielleicht finden, dass du abnehmen solltest.«

»Haben die Leute das wirklich gesagt?«, erkundigte sie sich freundlich.

»Nein«, erwiderte er, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte. »Aber ich befürchte, dass sie es tun könnten.«

Doch so sehr er sie auch tadeln oder in ihrer Gegenwart peinlich berührt das Gesicht verziehen mochte – einen großen Makel hatte sie wirklich, gegen den sie allerdings ganz und gar machtlos war: das Fehlen einer ansehnlichen Mitgift.

Nun konnte sie die Lerche sehen; ein winziger Punkt oben auf dem Berg. Ihr Gesang hallte zu Adela hinunter, aus voller Kehle und so klar wie Glockengeläut. Lächelnd wandte sie sich ab, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Der Mann, der über die Heide auf sie zugeritten kam, war allein, trug eine Jagdmütze und war dunkelgrün gekleidet. Obwohl Adela noch keine weiteren Einzelheiten ausmachen konnte, erkannte sie an dem prächtigen Pferd, das er ritt, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Gutsbesitzer handelte. In lockerem, kraftvollem Galopp stürmte das Ross auf sie zu. Es war eine wahre Augenweide. In seiner würdevollen Haltung wirkte der Reiter nicht minder beeindruckend. Als der Mann näher kam, stellte sie fest, dass er hoch gewachsen und dunkelhaarig war und markante, strenge Züge hatte, die auf normannisches Erbe hinwiesen. Sie schätzte ihn auf etwa dreißig. Offenbar war er von hohem Stand. Im Vorbeireiten tippte er sich höflich an die Kappe, doch da er sich nicht umwandte, war sie nicht sicher, ob er sie wirklich gesehen hatte. Sie beobachtete, wie er auf die Spitze des Zuges zuritt und Cola begrüßte, der den Gruß mit gebührender Achtung erwiderte. Adela, die sich fragte, wer dieser Nachzügler wohl sein mochte, drehte sich unwirsch zu Walter um, der sie nachdenklich betrachtete.

»Das ist Hugh de Martell«, sagte er. »Ihm gehört ein großes Gut westlich von hier.« Und dann, als sie gerade anmerken wollte, wie kühl und unfreundlich er auf sie gewirkt habe, lachte Walter gereizt auf. »Den kannst du nicht haben, kleine Base.« Er grinste. »Der ist nicht mehr frei. Martell ist verheiratet.«

 

 

Die Morgensonne stand schon hoch am Himmel, und obwohl alles ruhig war, fand Godwin Prides Frau, dass ihr Mann das Schicksal herausforderte. Denn für gewöhnlich war er bereits kurz nach Morgengrauen mit seiner Arbeit fertig. »Du kennst das Gesetz«, ermahnte sie ihn.

Aber Pride arbeitete wortlos weiter. »Diesen Weg werden sie schon nicht nehmen«, meinte er schließlich. »Nicht heute.«

Der süße Duft nach Gras lag in der Luft. Nach ein paar Minuten kam Prides Sohn, der noch ein kleiner Junge war, um seinem Vater bei der Arbeit zuzusehen.

»Ich höre etwas«, sagte die Frau.

Pride hielt lauschend inne und sah sie ernst an. »Nein, das ist nicht wahr«, erwiderte er.

Der Weiler Oakley bestand aus einer Ansammlung strohgedeckter Katen und Häuser neben einer kurz geschorenen Moorwiese, auf der drei Kühe und ein paar Ponys weideten. Jenseits der Wiese lag ein flacher Tümpel, dessen Oberfläche zurzeit von einem Gewirr winziger, weißer Blüten bedeckt wurde. Zwei kleine Eichen, eine Esche, ein paar Brombeerbüsche und Stechginster ragten über das Wasser. Gleich hinter dem Weiler begann ein steil abfallender Hohlweg, der an einen kleinen Fluss führte. Am östlichen Ende des Weilers stand, ein wenig abseits, das Haus von Godwin Pride.

Er war nun wieder über seine Arbeit gebeugt, doch als er sich aufgerichtet hatte, um seiner Frau zu antworten, war sein stattlicher Körperbau unverkennbar gewesen. Pride war hoch gewachsen und hatte dichte, kastanienbraune Locken, die ihm bis auf die Schultern fielen. Er trug einen Vollbart und hatte eine Adlernase und funkelnde braune Augen. All dies waren Hinweise darauf, dass er, wie so viele Bewohner des Waldes, wenigstens zum Teil ein Kelte war, auch wenn sein Name kaum angelsächsischer hätte sein können.

In der Zeit, da König Rufus herrschte, war es ungewöhnlich, dass ein Mann, insbesondere ein Bauer, einen Familiennamen trug. Doch im New Forest gab es einige Vettern, die sich Pride nannten – Pryde, was auf Altenglisch weniger Stolz bedeutete, als vielmehr Wissen um den Wert der eigenen Person und einen unabhängigen Geist. Wie Cola, der angelsächsische Adelige, durchreisenden Normannen zu raten pflegte: »Es ist leichter, diese Leute um etwas zu bitten, als ihnen etwas zu befehlen. Sie lassen sich einfach nichts sagen.«

Vielleicht lag es daran, dass der mächtige Eroberer den Bewohnern bei der Einrichtung des New Forest einige Zugeständnisse gemacht hatte. Da es sich bei vielen Gütern im Wald bereits um königliche Besitzungen handelte, bestand nicht die Notwendigkeit, jemanden zu vertreiben. Einige davon übernahm Wilhelm, doch viele Adelige verloren nur ihre Wälder und Heiden an den New Forest des Königs. Manche angelsächsische Adelige, so wie Cola, behielten sogar ihre Posten, solange sie sich nützlich machten. Und Cola hatte sich, auch wenn es ihn Überwindung gekostet hatte, für den Weg des geringsten Widerstandes entschieden. Andere Grundherren hingegen mussten, wie die sächsischen Adeligen überall in England, ihre Ländereien abtreten. Ähnlich erging es einigen Bauern, die entweder in andere Weiler zogen oder wie Puckle im Wald lebten. Doch jeder, der in der Gegend blieb, erhielt eine Entschädigung.

Allerdings waren die normannischen Forst- und Jagdgesetze sehr streng. Es gab zwei Kategorien von Straftaten, die vert und venison hießen. Vert untersagte den Waldfrevel und das Fällen von Bäumen, es verbot das Errichten von Einfriedungen und auch sonst alles, was die Lebensbedingungen der königlichen Hirsche beeinträchtigen konnte. Venison stellte die Wilderei, besonders das Erlegen von Hirschen, unter Strafe. Unter Wilhelm dem Eroberer wurden Wilderer geblendet. Rufus ging sogar noch einen Schritt weiter: Ein Bauer, der einen Hirschbock schoss, wurde hingerichtet. Verständlicherweise waren diese Gesetze bei der Bevölkerung verhasst.

Jedoch verfügten die Waldbewohner auch weiterhin über ihre alten Gewohnheitsrechte, die der Eroberer zum Großteil nicht angetastet und in manchen Bereichen sogar erweitert hatte. In Prides Weiler war zum Beispiel ein Stück Land neben seinem Haus als Teil des New Forest ausgewiesen worden und fiel deshalb unter das Jagd- und Forstgesetz, was Pride natürlich als Einschränkung empfand. Aber er hatte – abgesehen von gewissen Sperrzeiten im Jahr – die Erlaubnis, so viele Ponys und Rinder, wie ihm beliebte, im New Forest des Königs grasen zu lassen. Im Herbst konnten sich seine Schweine an einer reichen Ernte frischer Eicheln gütlich tun. Außerdem hatte er das Recht, Torf für sein Feuer zu stechen, das stets reichlich vorhandene Bruchholz zu sammeln und Farne als Lagerstatt für sein Vieh abzumähen.

Dem Recht nach war Godwin Pride ein freier Pächter. Sein Feudalherr war der Adelige, der nun über das Dorf Oakley herrschte. Doch das bedeutete keineswegs, dass er drei Tage in der Woche das Land seines Lords umpflügen oder vor diesem die Kappe ziehen musste. Schließlich gab es hier im New Forest keine großen Güter und Äcker. Zugegeben, es war seine Pflicht, das kleine Feld seines Herrn zu mergeln, er bezahlte sogar eine bescheidene Pacht und ein paar Pence für die Schweine, die er hielt; außerdem musste er beim Holztransport helfen. Aber diese Pflichten betrachtete er eher als Mietzins für seine kleine Landwirtschaft. Eigentlich unterschied sich sein Leben nicht von dem seiner Vorfahren. Er kümmerte sich um seinen kleinen Bauernhof und verdiente sich hin und wieder bei der Jagd des Königs oder mit Waldarbeiten ein Zubrot. Praktisch war er ein freier Mann.

Die Kleinbauern im Wald führten also kein schlechtes Leben. Waren sie dankbar dafür? Natürlich nicht. Godwin Pride hatte sich, als man ihm die fremden Herrscher vor die Nase setzte, so verhalten, wie es Menschen unter solchen Umständen immer schon getan haben. Zuerst hatte er getobt, dann gemurrt und sich schließlich widerwillig in sein Schicksal gefügt, obwohl er die Eindringlinge auch weiterhin verabscheute. Und zu guter Letzt hatte er in aller Stille begonnen, die Gesetze zu umgehen. Und genau das tat er, ängstlich beobachtet von seiner Frau, auch an diesem Morgen.

Er war noch ein Kind gewesen, als das Land, das zum Haus seiner Familie gehörte, vom normannischen König geschluckt worden war. Doch gleich neben der kleinen Scheune hatte man ihnen einen schmalen, etwa hundert Quadratmeter großen Streifen übrig gelassen. Das Landstück wurde als Pferch genützt, wo das Vieh der Familie in den Monaten blieb, in denen es nicht im New Forest umherstreifen durfte. Darum herum verlief ein Zaun. Doch eigentlich war die Einhegung viel zu klein.

Deshalb machte sich Godwin Pride jedes Jahr im Frühling, wenn das Vieh in den Wald zurückgekehrt war, daran, den Pferch zu vergrößern.

Lediglich ein kleines Stück. Immer nur ein paar Meter auf einmal. Zuerst verschob er in der Nacht den Zaun. Sobald es hell wurde, bearbeitete er sorgfältig das Grundstück, füllte die von den Zaunpfählen hinterlassenen Löcher auf und tarnte die Stellen mit heimlich gestochenen Grassoden. Wenn nötig bedeckte er auch das hinzugewonnene Stück mit Gras. Am Vormittag war dann von seinem Werk kaum noch eine Spur zu entdecken. Zur Sicherheit trieb er anschließend seine Schweine in den Pferch. Nachdem sie sich ein paar Wochen darin gewälzt hatten, war der Boden so schlammig, dass man keinen Unterschied mehr erkennen konnte. Im nächsten Jahr wiederholte Pride diese Prozedur, und so vergrößerte sich das eingezäunte Gelände stetig, aber unmerklich.

Natürlich war das streng verboten. Das Fällen von Bäumen oder der Diebstahl von königlichem Land fiel unter das Gesetz des vert. Es war ein kleineres Vergehen, purpresture genannt, stand jedoch auch unter Strafe. Für Pride war diese Heimlichkeit eine Art Befreiungsschlag.

Für gewöhnlich wäre er schon längst fertig gewesen, und die Schweine hätten gewiss schon das erste Schlammbad genommen. Heute jedoch hatte Pride wegen der großen Treibjagd keinen Grund zur Eile. Die Diener des Königs würden jetzt alle in Lyndhurst die Hirsche zusammentreiben.

Im mittleren Abschnitt des New Forest gab es einige Siedlungen im Wald. Die erste war Lyndhurst, wo die Hirschfalle stand. Hurst bedeutete im Angelsächsischen »Wald«, vermutlich hatten hier früher Linden gestanden. Von Lyndhurst aus führte ein Pfad durch alte Wälder nach Süden. Nach sechs Kilometern erreichte man eine Lichtung namens Brockenhurst, wo der König gern in einer Jagdhütte übernachtete. Der Pfad verlief weiter nach Süden, einen kleinen Bach entlang, und hinunter in ein enges, steiles Tal, vorbei an dem Dorf Boldre, das über eine kleine Kirche verfügte, bis zur Küste. Der Weiler, in dem Pride lebte, befand sich fast zwei Kilometer östlich dieses Flusses und etwa sechs Kilometer südlich von Brockenhurst, wo der Wald an eine große Heide angrenzte. Selbst in Luftlinie waren es bis nach Lyndhurst ungefähr zehn Kilometer.

Pride wusste, dass die Jäger die Hirsche vom Norden her in die Falle treiben würden. Alle Förster und Unterförster des Königs hielten sich jetzt dort auf. In der Nähe seines Hauses würde sich deshalb heute Morgen niemand blicken lassen.

Also ging Pride in aller Seelenruhe zu Werk und ließ sich Zeit. Die Besorgnis und Verärgerung seiner Frau entlockte ihm nur ein Schmunzeln.

Umso größer war seine Überraschung, als seine Frau plötzlich einen Schreckensschrei ausstieß. Er blickte auf und sah, dass sich zwei Reiter näherten.

 

 

Für die weißliche Hirschkuh war es ein gemächlicher Morgen gewesen. Noch einige Stunden nach Sonnenaufgang graste sie mit ihrem Rudel auf einer ungeschützten Lichtung.

Es waren alles Ricken mit ihren Kitzen, denn die männlichen Tiere hatten sich um diese Jahreszeit bereits vom Rudel abgesondert. Bei einigen Weibchen wiesen die leicht angeschwollenen Flanken darauf hin, dass sie bereits trächtig waren und in etwa zwei Monaten werfen würden. Die Kitze, die ihren Müttern nicht von der Seite wichen, waren inzwischen entwöhnt. Bei den männlichen Jungtieren waren schon die Höcker zu sehen, aus denen sich später im Jahr das erste Geweih entwickeln würde, die kleinen Spitzen, die den Spießer auszeichnen. Bald würden die jungen Männchen ihre Mütter verlassen und sich ihr eigenes Revier suchen.

Einige Stunden vergingen. Die Vögel stimmten ein melodisches Gezwitscher an, in das sich, als es immer wärmer wurde, das leise Surren, Brummen und Summen der zahlreichen Insekten des Waldes mischte. Der Vormittag war bereits zur Hälfte verstrichen, da schritt die älteste Hirschkuh, die Anführerin des Rudels, auf die Bäume zu und teilte ihren Artgenossinnen damit mit, dass es Zeit war, sich zur Mittagsruhe zurückzuziehen.

Hirsche haben feste Gewohnheiten. Im Frühjahr sondern sie sich zuweilen auf der Suche nach den besten Leckerbissen vom Rudel ab und ziehen zu den Getreidefeldern am Waldesrand. Hin und wieder springen sie auch nachts wie lautlose Schatten über die Zäune, um die Gärten von Bauern wie Pride zu plündern. Doch die alte Hirschkuh war eine vorsichtige Anführerin. In diesem Frühjahr hatte sie erst zweimal das anderthalb Quadratkilometer große Gebiet verlassen, das dem Rudel als Revier diente. Die jüngeren Weibchen, so wie unsere weißliche Hirschkuh, mochten noch so unruhig sein, sie würde ihnen keine Gelegenheit geben, ihre Abenteuerlust zu befriedigen. Deshalb nahmen sie den gleichen Weg wie immer zu ihrem Ruheplatz, einer hübschen, geschützten Lichtung im Eichenwald, wo sich die Hirschkühe gehorsam in ihrer üblichen Haltung niederließen, mit untergeschlagenen Beinen, aufrechtem Kopf, den Rücken der leichten Brise zugewandt. Nur ein paar rastlose junge Männchen sprangen übermütig umher, stets gefolgt vom wachsamen Auge der Leitkuh.

Die weißliche Hirschkuh hatte es sich gerade gemütlich gemacht, als sie wieder an den Bock denken musste.

Er war ein hübscher junger Bursche, auf den sie schon bei der letzten Brunftzeit im Herbst aufmerksam geworden war. Damals war sie noch zu jung gewesen, um sich an dem Treiben zu beteiligen, doch sie hatte bereits miterlebt, wie die geschlechtsreifen Weibchen sich vergnügten. Auch er hatte mit einigen anderen jungen Männchen ein wenig abseits zugesehen. Nach der Größe seines Geweihs zu urteilen war er in diesem Jahr sicher bereit, sich selbst ins Getümmel zu stürzen.

Sicher war er noch jung. Die Hirschkuh wusste nicht, woher er stammte, denn die Böcke machten sich für gewöhnlich von ihren Revieren in anderen Teilen des Waldes aus auf den Weg zum Brunftplatz. Würde er sich im kommenden Herbst wieder am selben Platz einfinden? Würde er groß und stark genug sein, um seine Rivalen aus dem Feld zu schlagen? Sie wusste gar nicht, warum er ihr so besonders aufgefallen war. Sie hatte die riesigen Böcke mit ihren mächtigen Geweihen, den kraftvollen Schultern und den angeschwollenen Hälsen gesehen. Die Hirschkühe scharten sich eifrig um ihre Brunftkuhlen, wo ihr scharfer Geruch in der Luft lag, so stark, dass es die weißliche Hirschkuh fast schwindelig machte. Doch beim Anblick des jungen Bocks, der geduldig gewartet hatte, hatte sie etwas anderes empfunden. In diesem Jahr würde sein Geweih größer, sein Körper kräftiger sein, aber sein Geruch hatte sich gewiss nicht verändert. Sein unwiderstehlicher, für sie so köstlicher Duft. Und wenn die Brunftzeit begann, würde sie sich auf die Suche nach ihm machen. Sie betrachtete die in der Morgensonne schimmernden Baumwipfel und dachte an ihn.

Und plötzlich war der Schrecken da.

Das Geschrei der Jäger, schneller als der Wind, der vielleicht ihren Geruch zu den Hirschen hinübergetragen hätte, kam vom Westen. Die Männer gaben sich keine Mühe, Geräusche zu vermeiden. Unter lautem Gejohle stapften sie durch den Wald, geradewegs auf die Lichtung zu.

Als die Leitkuh aufstand, folgten die anderen ihrem Beispiel. Die jungen Böcke tollten immer noch auf der anderen Seite der Lichtung umher. Erst hörten sie nicht auf die Rufe ihrer Mütter, dann aber wurde auch ihnen klar, dass etwas im Argen lag, und sie sprangen wild auf und ab.

Ein springender Damhirsch ist ein beeindruckender Anblick. Das Tier hebt mit allen vier Hufen gleichzeitig und mit durchgestreckten Läufen vom Boden ab. Es sieht aus, als würde es wie durch Zauberhand emporgeschleudert, verharre reglos einen Moment in der Luft und schösse dann blitzschnell davon. Für gewöhnlich vollführt ein Damhirsch mehrere dieser schwerelosen Sprünge, bevor er – unterbrochen von weiteren hohen Sätzen – die Flucht ergreift. Rasch suchte das Rudel anmutiger und geschmeidiger Tiere Deckung. Schon nach wenigen Sekunden lag die Lichtung verlassen da. Die Hirsche stellten sich in einer Reihe hinter der Leitkuh auf, die sie nach Norden, tiefer in den Wald hinein, führte.

Sie hatten etwa einen halben Kilometer zurückgelegt, als die Leitkuh plötzlich stehen blieb. Die anderen folgten ihrem Beispiel. Die Leitkuh lauschte mit ängstlich zuckenden Ohren. Das Geräusch war unverkennbar: Reiter näherten sich. Die Leitkuh machte kehrt und wandte sich nach Süden, um der Gefahr, die von beiden Seiten drohte, zu entrinnen.

Die weißliche Hirschkuh fürchtete sich. Offenbar wollten die Menschen das Rudel einkreisen und heimtückisch in einen Hinterhalt locken. Die Leitkuh hatte anscheinend dieselbe instinktive Angst erfasst. Inzwischen galoppierten die Hirsche in rasender Geschwindigkeit dahin und sprangen über umgestürzte Bäume und andere Hindernisse hinweg, die ihnen den Weg versperrten. Das Licht, das durch das Blätterdach fiel, schien zu flackern und bedrohlich aufzublitzen. Nach einem knappen Kilometer erreichten sie eine größere Lichtung und wollten sich gerade im hohen Gras verstecken, als sie vor Entsetzen erstarrten.

Nur ein paar Meter entfernt wurden sie von etwa zwanzig Reitern erwartet. Die weißliche Hirschkuh hatte diese kaum entdeckt, da wirbelte die Leitkuh schon herum und stürmte wieder auf die Bäume zu.

Bereits nach zwei Sätzen wurde ihr klar, dass dort weitere Jäger lauerten. Wieder machte sie kehrt, rannte auf die Lichtung zu und schlug auf der Suche nach einem Fluchtweg aufgeschreckt Haken. Das Rudel, das ahnte, dass die Anführerin keine Lösung wusste, folgte ihr in heller Angst. Inzwischen hatten sich die Jäger unter lautstarkem Geschrei an die Verfolgung gemacht. Die Hirschkuh floh nach rechts in eine Baumgruppe.

Die weißliche Hirschkuh hatte ungefähr hundert Meter zurückgelegt, als sie weitere Jäger entdeckte – diesmal rechts vom Rudel, ein Stückchen voraus. Sie stieß einen Warnruf aus, den die anderen in ihrer Todesangst jedoch nicht hörten. Die weißliche Hirschkuh blieb stehen, und in diesem Augenblick sah sie etwas Merkwürdiges.

Vor ihnen stürmte ein kleines Rudel Böcke, etwa ein halbes Dutzend stark, aus dem Dickicht. Offenbar wurde es auch verfolgt. Aber als die Böcke die verängstigten Hirschkühe und die Jäger, die sie hetzten, bemerkten, schlossen sie sich ihren Artgenossinnen nicht etwa an, sondern sprangen nach kurzem Zögern in gewaltigen Sätzen auf die Reiter zu. Mühelos durchbrachen sie ihre Reihen und waren jenseits der Bäume verschwunden, bevor die verblüfften Jäger Gelegenheit hatten, die Bogen zu spannen. Das alles passierte so schnell, dass es wie ein Wunder wirkte.

Am meisten erstaunt war die Hirschkuh darüber, dass auch ihr Bock dabei gewesen war. Es war unmöglich, ihn zu verwechseln. Als er wie ein Schatten blitzartig im Grün des Waldes untertauchte, erkannte sie auf Anhieb sein Geweih und seine Zeichnung. Vor dem kühnen Ausbruch wandte er ihr kurz sein Gesicht zu, und sie sah, dass er sie aus großen, braunen Augen anstarrte.

Die Leitkuh hatte die Böcke und ihre kühne Flucht vor den Jägern zwar bemerkt, nicht aber versucht, ihrem Beispiel zu folgen. Stattdessen stürmte sie an der Spitze ihres Rudels kopflos voran. Und so wurde die weißliche Hirschkuh nach Osten gedrängt – auf den einzigen Weg, der ihnen noch offen stand, in die Richtung, in die die Jäger sie trieben.

 

 

Aufgeregt beobachtete Adela, wie sich die Menschen in Lyndhurst versammelten. Aus allen Richtungen waren Jagdgesellschaften eingetroffen, um sich Colas Führung zu unterstellen. Das königliche Gut bestand aus einer kleinen Ansammlung von Holzhäusern. Auf einem flachen Hügel im Eichenwald befand sich eine eingefriedete Koppel. Ein Stück weiter entfernt, im Südosten, wurde der Wald von einigen Lichtungen unterbrochen. Jenseits davon erstreckte sich eine große Wiese und eine Moorlandschaft. Cola führte alle Anwesenden zu der großen Wiese, um die Falle in Augenschein zu nehmen.

Noch nie hatte Adela so etwas gesehen. Die Falle war gewaltig. An ihrem Eingang erhob sich ein niedriger, mit Gras bewachsener Hügel, zweihundert Meter südöstlich davon trennte eine gerade, einen knappen Kilometer lange, schmale natürliche Anhöhe die grüne Wiese von einer braunen Heide. Dort wo die Anhöhe im Südosten flacher wurde, hatte der Mensch sie künstlich erhöht. Auf der der Wiese zugewandten Seite verlief ein tiefer Graben, dahinter kam ein Erdwall mit einem soliden Zaun, der nach einem Stück geraden Verlaufs eine fast unmerkliche Innenkurve beschrieb, die Wiese überquerte und durch den Wald und die Lichtungen nach Westen führte, bis er schließlich die Gebäude erreichte. Das war die Palisade von Lyndhurst.

»Das ist ja wie eine Festung im Wald!«, rief Adela aus. Für die Hirsche war es unmöglich, diese Einfriedung zu überspringen, sodass die Jäger sie unweigerlich in ihre Netze treiben würden.

»Heute werden wir etwa hundert Hirsche fangen.« Edgar, Colas jüngerer Sohn, hatte sich zu Adela gesellt. Er erklärte ihr, dass die Jagd in der Palisade stets sorgfältig vorbereitet wurde. Nachdem die gewaltigen Rudel in die Falle getrieben worden waren, wurden die trächtigen Kühe ausgesondert und nur die übrigen und auch die Böcke getötet. Wenn Cola hundert Stück beisammen hatte, würde man den Rest wieder freilassen.

Adela genoss die Gesellschaft des hübschen jungen Angelsachsen. Wie immer hatte Walter sie einfach stehen gelassen. Sie sah, wie er, ins Gespräch vertieft, neben Hugh de Martell herschlenderte und sein Pferd am Zügel führte, und sie fragte sich, ob er sie wohl mit dem Normannen bekannt machen würde. Vermutlich nicht, dachte sie. »Kennt Ihr den Mann, mit dem mein Vetter gerade spricht?«, erkundigte sie sich bei Edgar.

»Ja, allerdings nicht sehr gut.« Kurz zögerte er. »Mein Vater hält große Stücke auf ihn.«

»Und Ihr?« Ihr Blick war noch immer auf Martell gerichtet.

»Oh.« Er klang verlegen. »Er ist ein mächtiger normannischer Grundherr.«

Adela blickte ihn an. Was hatte das zu bedeuten? Dass Edgar als Sachse keine hohe Meinung von den Normannen hatte? Dass er Martell herablassend fand? Dass er womöglich gar ein wenig neidisch auf den Ritter war?

Inzwischen hatte sich auf der Wiese neben dem Hügel eine ziemlich große Menschenmenge versammelt: Reiter, Männer mit Ersatzpferden, solche mit Wagen, um die Beute wegzuschaffen, und verschiedene Schaulustige. Ein Mann fiel Adela besonders auf. Er steuerte gerade auf einen Wagen zu, auf dem sich Zäune aus Flechtwerk türmten. Der Mann war gedrungen, hatte buschige Augenbrauen und ging vornübergebeugt; er erinnerte Adela eher an einen zu klein geratenen, aber kräftigen Baum als an ein menschliches Wesen. Dann bemerkte sie, dass Edgar ihn im Vorbeigehen grüßte und dass der Bauer diesen Gruß mit einem leichten Nicken erwiderte. Sie fragte sich, wer er wohl sein mochte.

Allerdings hatte sie keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn Cola stieß ins Jagdhorn. Die große Treibjagd begann.

Eigentlich handelte es sich dabei eher um eine ganze Reihe von Treibjagden. Das Gebiet rings um Lyndhurst war in verschiedene Bereiche aufgeteilt worden. Die Jäger bildeten Trüppchen, die sich sorgfältig in dem Gelände verteilten, für das sie zuständig waren, um so viele Hirsche wie möglich zur Mitte zu treiben. Dazu bedurfte es einiger Erfahrung, damit es den Hirschen nicht gelang, sich zu verstecken oder am äußeren Rand zu entkommen. Wenn alle Hirsche in einem Bereich zusammengetrieben waren, schickte man die Jäger weiter zum nächsten, und so ging es einige Male, bis Cola befand, dass sie genug Tiere eingefangen hatten.

Im Wald konnten einige Hirsche sich noch unbemerkt aus dem Staub machen, doch je näher sie der großen Falle kamen, desto aussichtsloser wurde jeder Fluchtversuch. Als Adela sich umsah, bemerkte sie weitere, kleinere Erdwälle und Zäune, die strahlenförmig vom Eingang abzweigten, sodass die heranstürmenden Hirsche wie durch einen schmalen Trichter in die Falle geleitet wurden. Der raffinierte Plan nötigte Adela Bewunderung ab.

Nachdem Cola ins Horn gestoßen hatte, stieg er auf den Hügel. Von diesem Beobachtungsposten aus konnte er wie ein Feldherr das ganze Getümmel im Auge behalten. Alle Reiter hatten ihre Anweisungen erhalten. Zu Adelas Enttäuschung verabschiedete sich jetzt Edgar von ihr, sodass sie mit Walter und vier weiteren Männern losreiten musste.

Sie waren keinem besonders ereignisreichen Posten zugeteilt worden, denn das erste Rudel sollte aus dem südöstlichen Bereich herangetrieben werden. Hier erstreckte sich die Heide jenseits der Palisade wie ein breites Band etwa drei Kilometer nach Südosten. Auf der anderen Seite ragten dunkle Waldstücke wie Finger in die Ebene hinein. Während die Reiter die Hirsche aus den Wäldern trieben, hatten Adela und ihre Begleiter die Aufgabe, sich in einer Reihe vor dem Zaun zu verteilen, damit keines der Tiere im letzten Augenblick einen Ausbruchsversuch unternahm. Adela vermutete, dass sie hier wahrscheinlich nur untätig herumstehen würden. Als die Reiter in den Wäldern verschwanden, machte sie sich auf eine lange Wartezeit gefasst.

Aus reiner Langeweile fragte sie Walter, worüber er denn mit Martell gesprochen habe. Ihr Vetter verzog das Gesicht. »Über nichts Besonderes.« Nach einer längeren Pause fügte er hinzu: »Wenn du es unbedingt wissen musst: Er hat sich erkundigt, warum ich eine Frau auf die Jagd mitbringe.«

»Missbilligt er es?«

»Mehr oder weniger.«

Adela überlegte, ob Walter das nur erfunden hatte, um sie zu ärgern. Nachdem sie ihn prüfend gemustert hatte, gelangte sie jedoch zu dem Schluss, dass er offenbar die Wahrheit sagte. Sie war wütend auf den hochmütigen Normannen. Also war sie ihm doch aufgefallen. Zum Teufel mit ihm!

Die Zeit verging, ohne dass sie und Walter noch ein Wort miteinander wechselten. Hin und wieder hörte Adela aus dem Wald gedämpftes Johlen und Rufen. Schließlich herrschte Schweigen. Dann, endlich, sah sie, dass sich zu ihrer Rechten etwas auf der Heide bewegte.

Ein Rudel Hirsche stürmte aus seiner Deckung. Es waren acht an der Zahl. Sie näherten sich der Heide und liefen aufgescheucht hin und her. Kurz darauf erschienen drei Reiter, dann noch zwei, im vollen Galopp, die sich rechts hielten, um die Tiere einzukreisen. Wenig später preschten zwei weitere Reiter auf die andere Seite hinüber. Die Hirsche, die spürten, dass sie in die Zange genommen werden sollten, liefen über die Heide auf Adela und ihre Begleiter zu.

Obwohl sie Haken schlugen, war ihre Geschwindigkeit atemberaubend, und sie hatten die Strecke binnen weniger Minuten hinter sich gebracht. Die Reiter hetzten ihnen nach, galoppierten über die Heide und wichen dem Erdhügel so geschickt aus, dass Adela sich zurückhalten musste, nicht Beifall zu klatschen. Dann tauchte eine weitere Gruppe auf; die Herde, die sie vor sich hertrieb, bestand aus zwei Dutzend Tieren. Darauf folgte eine und noch eine. Erst jetzt mussten Adela und die fünf Männer laut schreien und mit den Armen rudern, um einige Hirsche am Ausbruch zu hindern. Die Jagd hätte nicht besser geplant sein können. Als alle zusammengerufen wurden, befanden sich mehr als siebzig Hirsche im Pferch.

Kurz danach verkündete Cola, man würde nun die Wälder oberhalb von Lyndhurst durchkämmen. Zu Adelas Freude gesellte sich gleich darauf Edgar zu ihr und meinte mit einem Grinsen: »Diesmal reitet Ihr mit mir.«

Sie wusste nicht, wie lange sie ihre Pferde durch den Wald geführt hatten, als sie die Lichtung erreichten, wo sie auf Edgars Anweisung warten mussten. Sie hörte die anderen Gruppen von Jägern zwischen den Bäumen umherlaufen und bemerkte, dass Edgar im Sattel zusammenzuckte. Und dann, plötzlich, war, kaum dreißig Meter vor ihnen, ein Krachen zu vernehmen. Ein kleines Rudel Hirschkühe galoppierte aus dem Wald hervor auf die Heide. Im ersten Moment war Adela fast so erschrocken wie die Tiere. Als die Hirsche davonstürmten, bemerkte sie, dass eine der jungen Kühe heller gefärbt war als die anderen. Dann setzten die Jäger johlend und schreiend dem Rudel nach und trieben es durch den Wald vor sich her.

Da Adela ein wenig hinter der Gruppe zurückgeblieben war, konnte sie gut beobachten, was nun geschah. Rechts von ihnen war wie aus heiterem Himmel ein Rudel Böcke aufgetaucht. An der Spitze der Verfolger erkannte sie Hugh de Martell. Die Böcke waren noch jung und zögerten.

Doch niemand hätte vorausahnen können, was die Hirsche als Nächstes taten. Erstaunen malte sich in den Gesichtern der Jäger, als die Böcke herumwirbelten und einfach durch ihre Reihen brachen. Selbst Martell blickte ihnen entgeistert und mit offenem Mund nach. Der stolze Normanne hatte sich von ein paar jungen Hirschen demütigen lassen. Adela zügelte ihr Pferd und fing lauthals an zu lachen.

»Komm schon«, erinnerte Walter sie gereizt an ihre Pflichten. Adela holte die anderen rasch ein. Die beiden Gruppen hatten sich inzwischen vereint, Edgar, Walter und Hugh de Martell ritten nun gemeinsam. Obwohl die Hirsche immer wieder Haken schlugen, gab es keine Hoffnung auf Entrinnen. Mittlerweile hatten die anderen Jäger ihnen weitere Tiere zugetrieben. Während sie auf Lyndhurst zugaloppierten, trafen sie noch zweimal mit anderen Gruppen zusammen. Nach einer Weile konnte Adela ihre kleine Herde nur noch an der weißlichen Hirschkuh erkennen, die zwischen den anderen wild umherspringenden Tieren dahinstürmte. Die kleine Hirschkuh ist wirklich hübsch, dachte Adela. Vielleicht war es ja nur Einbildung, aber ihr erschien es, als ob sie sich von den anderen unterschied, und sie bedauerte es sehr, dass so ein schönes Tier getötet werden sollte.

Sie stellte fest, dass Edgar einige Male in ihre Richtung blickte. Und sie war ziemlich sicher, dass auch Hugh de Martell sie einmal ansah, wobei sie sich allerdings fragte, ob sie Tadel in seinen Augen gelesen hatte. Aber obwohl sie ihn weiter beobachtete, schien er sie nicht mehr wahrzunehmen. Sie ritten immer schneller und schneller und preschten in rasendem Tempo dahin. »Ihr haltet Euch wacker!«, rief Edgar ihr aufmunternd zu.

Die nächsten Minuten waren die aufregendsten in ihrem Leben. Die Landschaft sauste an ihr vorbei. Die Jäger riefen laut durcheinander. Adela war nicht sicher, ob sie selbst auch einen Schrei ausgestoßen hatte, und sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war oder wo sie sich befand, als sie den leichtfüßigen Hirschen nachsetzte. Ein- oder zweimal bemerkte sie Edgars und Hugh de Martells aufmerksam angespannte Mienen. Gewiss waren sie zufrieden mit sich, auch wenn die Böcke ihnen entkommen waren, denn sie hatten an diesem Tag eindeutig das größte Rudel von allen zusammengetrieben. Wie wild und bedrohlich die beiden Männer mit einem Mal wirkten.

Und sie, Adela de la Rôche, teilte ihren Ruhm. Hirsche zu töten mochte zwar grausam sein, war aber unvermeidbar. Es gehörte eben zur Natur. Menschen mussten essen. Und Gott hatte ihnen zu diesem Zweck die Tiere geschenkt. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Zu ihrer Rechten erkannte Adela jenseits der Bäume die königliche Jagdhütte. Sie konnte es kaum fassen, dass sie Lyndhurst bereits erreicht hatten. Den Reitern vor ihr war es nicht gelungen, die Herde daran zu hindern, sich aufzuteilen, und eine Gruppe Hirschkühe, auch die weißliche, hatte es geschafft, in ein Waldstück zu fliehen. Martell und einige andere galoppierten ihnen nach, um ihnen den Weg abzuschneiden.

Adela blickte nach links und entdeckte Walter dicht hinter sich.

Offenbar hatte sie ihn überholt, ohne es zu bemerken, und er gab sich die größte Mühe, seinen Rückstand wieder wettzumachen, während vor ihnen bereits die Falle zu sehen war. Als er näher kam, konnte sie sein Profil sehen, und trotz ihrer Freude und Aufregung erschauderte sie plötzlich.

Sein Gesicht war gerötet und angespannt, und seine derben Züge wirkten – auf unerklärliche Weise – immer noch dümmlich und selbstzufrieden. Doch es war etwas anderes, das ihr in diesem Moment auffiel: seine Grausamkeit. Anders als Edgar, in dessen Miene sich Entschlossenheit gemalt hatte, sah Walter aus, als hätte er Lust am Töten. Ein widerwärtiger Anblick. Kurz hatte sie den merkwürdigen Eindruck, als hinge sein Gesicht mit dem diensteifrigen Ausdruck und dem kleinen Schnurrbart in der Luft und schwebe schadenfroh über die Hirsche hinweg.

Und es war grausam, ganz gleich, wie notwendig es auch sein mochte. Man durfte die Augen nicht vor der Wahrheit verschließen und vor dem, was nun kommen würde: Colas gekonnt geplante Treibjagd, die riesige Falle vor ihnen, die trostlosen, nur zu diesem Zweck errichteten Holzzäune im Wald, die Netze, das Aussondern; sie würden nicht nur einen Hirsch oder vielleicht zehn töten, sondern einen nach dem anderen, bis sie hundert beisammen hatten. Es war schrecklich, dass so viele von ihnen sterben mussten.

Doch es war zu spät, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Der Wald lichtete sich, und Adela sah den großen Hügel vor sich, wo Cola die Jagdgesellschaft erwartete. Kurz vor ihm hatte sich eine Reihe von Männern aufgebaut, die schrien und mit den Armen ruderten, damit die Hirsche in die richtige Richtung zum Eingang der Falle liefen. Die ersten Tiere hatten ihn bereits erreicht, nur wenige Meter dahinter folgten die Reiter in vollem Galopp. Zu Adelas Linken trieb Martell die Hirschkühe heran, die einen Ausbruchsversuch unternommen hatten. Wie eine Woge brandeten sie an ihr vorbei, und die weißliche Hirschkuh war die Letzte im Rudel. Die Tiere stürmten an Colas Hügel vorüber. Adela bemerkte, dass dahinter, zwischen der Wiese und dem Beginn der Anhöhe, nur wenige Leute standen. Doch die Hirsche, welche, die Reiter zu ihrer Linken, an ihnen vorbeiströmten, nutzten diese Gelegenheit nicht. Die weißliche Hirschkuh war ein wenig zurückgeblieben. Nachdem sie mit den anderen in die Falle eingebogen war, schien sie kurz zu zögern, bevor sie sich in den Tod treiben ließ.

Und dann tat Adela etwas Seltsames.

Sie wusste nicht, warum, und sie handelte ganz unwillkürlich, als sie ihrem Pferd die Sporen gab, an Walter vorbeigaloppierte, ihn rasch überholte und geradewegs auf die weißliche Hirschkuh zuhielt. Ohne auf Walters Flüche zu achten, ritt sie weiter und stand wenige Sekunden später zwischen der Hirschkuh und der restlichen Herde. Hinter ihr riefen die Männer. Sie wandte sich nicht um. Die Hirschkuh erschrak und wollte fliehen. Doch Adela spornte ihr Pferd an und drängte die Hirschkuh weg von der großen Falle. Die Palisade war nur hundert Meter entfernt.

Sie musste dafür sorgen, dass die Hirschkuh sich links davon hielt.

Endlich vollführte die Hirschkuh einen raschen, ängstlichen Sprung und verhielt sich damit so, wie Adela es gehofft hatte. Kurz darauf rasten die beiden zum Erstaunen der Zuschauer gemeinsam über die Wiese davon und auf die Heide hinaus.

»Lauf los«, murmelte Adela. »Beeil dich.« Die weißliche Hirschkuh ergriff die Flucht. »Lauf!«, rief Adela, die befürchtete, dass die Jäger ihnen bereits mit gespannten Bogen nachsetzten. Vor Angst und Scham wagte sie es nicht, sich umzusehen, während sie die kleine Hirschkuh weiter vor sich hertrieb. Endlich sprang das Tier über die Heide davon und hielt auf den nächsten Wald zu. Adela galoppierte noch ein Stück und blickte ihr nach, bis sie sich vergewissert hatte, dass sie im Wald verschwunden war.

Doch was sollte sie jetzt tun? Sie stand allein mitten auf der Heide. Als sie sich umdrehte, wurde ihr klar, dass niemand ihr gefolgt war. Die Anhöhe und die Palisade schienen verlassen. Da sich die Jäger auf der anderen Seite befanden, konnte sie nicht einmal mehr ihr Rufen hören. Nur das leise Heulen des Windes drang ihr ans Ohr. Adela wendete ihr Pferd. Ohne zu wissen, wohin sie wollte, ritt sie die Heide entlang und folgte dann dem Verlauf der Palisade. Etwa einen halben Kilometer unterhalb des Walls führte sie ihr Pferd am Zügel durch den Wald.

Adela erreichte eine große Lichtung. Der weiche Boden war mit Moos und Gras bewachsen, sodass sie nun traben konnte. Sie war immer noch allein.

Oder wenigstens beinahe. Auf dem Stumpf eines umgestürzten Baumes stand, die vornübergebeugte Haltung, die buschigen Augenbrauen waren unverwechselbar, jener gnomenhafte, merkwürdige Bauer, den sie bereits am Vormittag gesehen hatte. Aber wie war er hierher gekommen? Wortlos blickte er ihr nach, als sie die Lichtung durchquerte.

Da sie sich an Edgars Verhalten erinnerte, hob sie die Hand zum Gruß. Diesmal jedoch erwiderte er ihn nicht mit einem Nicken, und sie erinnerte sich, gehört zu haben, dass die Waldbewohner Fremden nicht immer wohlgesonnen waren.

Danach ritt sie fast eine Stunde lang weiter. Sie brachte es einfach nicht über sich, nach Lyndhurst zurückzukehren, wo sie mit Sicherheit nur die zornige Miene Walters und das verächtliche Grinsen der Jäger erwarten würden. Was würde Hugh de Martell nun von ihr halten? Der Gedanke, diesen Leuten unter die Augen zu treten, war ihr unerträglich.

Im Schutz des Waldes setzte sie ihren Weg fort. Sie wusste nicht genau, wo sie sich befand, schätzte anhand des Sonnenstandes, dass sie nach Süden ritt, und wähnte sich bald in der Nähe des Weilers Brockenhurst.

Als sie grübelnd an einer Weggabelung stand und plötzlich einen Freudenruf hinter sich hörte, schwankte sie zwischen Freude und ängstlicher Erwartung. Sie drehte sich um und erkannte Edgars schlanke Gestalt und sein freundliches Gesicht. Er galoppierte auf sie zu.

»Hat man Euch nicht gewarnt«, meinte er lachend, als er sie erreicht hatte, »dass Ihr nicht allein auf die Hirschjagd gehen sollt?« Adela war nun doch erleichtert, dass er gekommen war.

Sein Französisch war einigermaßen passabel, und Adela hatte, dank ihres angelsächsischen Kindermädchens früher, ein Ohr für fremde Sprachen. Es war ihr noch nie schwer gefallen, sich mit den Engländern zu verständigen, und die beiden konnten sich gut unterhalten. Es dauerte nicht lange, bis er ihre Bedenken zerstreut hatte. »Puckle«, erklärte er, als sie ihn fragte, wie er sie gefunden habe. »Er sagte mir, Ihr wärt nach Süden geritten. Und da Euch in Brockenhurst niemand gesehen hat, vermutete ich, Ihr hättet diesen Weg genommen.«

Also hieß der seltsame Mann Puckle.

»Er macht einen recht geheimnisvollen Eindruck auf mich«, meinte sie.

»Ja«, erwiderte Edgar lächelnd, »das ist er auch.«

Als sie ihm ihre Angst gestand, den anderen Jägern gegenüberzutreten, beruhigte er sie. »Wir suchen die Hirsche aus, die wir töten. Ihr hättet meinen Vater nur darum zu bitten brauchen, die hübsche Hirschkuh zu verschonen. Es wäre sogar Eure Pflicht gewesen, ihn zu fragen.« Sie lächelte verlegen bei der Vorstellung, wie sie in Gegenwart aller Jäger um das Leben eines Hirsches flehte. Doch er hatte ihre Gedanken gelesen und fügte sanft hinzu: »Natürlich müssen die Hirsche getötet werden, aber ich finde es dennoch schrecklich.« Er schwieg eine Weile. »Es liegt daran, wie sie zu Boden fallen, so voller Anmut. Ihre Seele verlässt den Körper. Jeder, der schon einmal einen Hirsch erlegt hat, weiß das.« Diese Worte sprach er so schlicht und offen aus, dass es sie rührte. »Es ist heilig«, sagte er, so abschließend, als ob dem nichts hinzuzufügen wäre.

»Ich frage mich«, meinte sie nach einer Pause, »ob Hugh de Martell das ebenso empfindet.«

»Wer weiß?« Edgar zuckte die Achseln. »Ich jedenfalls traue ihm solche Bedenken nicht zu.«

Nein, ganz sicher nicht. Adela hielt Martell nicht unbedingt für einen feinfühligen Menschen. Ein stolzer normannischer Grundherr hatte keine Zeit für derartige Empfindsamkeiten.

»Er war nicht damit einverstanden, dass ich mit auf der Jagd war. Vermutlich gilt das auch für Euren Vater.«

»Meine Mutter und mein Vater sind stets zusammen auf die Jagd geritten«, antwortete Edgar leise. »Als sie noch lebte.« Sofort sah Adela vor ihrem geistigen Auge ein schönes Paar, das elegant durch den Wald trabte.

»Eines Tages«, fügte Edgar nachdenklich hinzu, »werde ich es hoffentlich genauso halten.« Er lachte auf. »Kommt, wir reiten entlang der Heide zurück.«

 

 

Und so geschah es, dass die beiden Reiter, die am Rand der Heide entlanggaloppierten, den Weiler Oakley erreichten und mit Godwin Pride zusammentrafen, der verbotenerweise am helllichten Tag seinen Zaun verschob.

»Verdammt«, murmelte Edgar. Aber es war zu spät, um so zu tun, als hätte er den Mann nicht bemerkt. Er hatte ihn auf frischer Tat ertappt.

Godwin Pride richtete sich zu voller Größe auf. Mit seinen breiten Schultern und dem prächtigen Bart erinnerte er an einen keltischen Häuptling, der dem Steuereintreiber gegenübertritt. Und wie ein weiser keltischer Häuptling wusste er auch, dass das Spiel vorbei war und dass ihn in dieser Lage nur eines retten konnte: Unverfrorenheit. Auf Edgars Frage – »Was tust du da, Godwin?« – erwiderte er deshalb in aller Seelenruhe: »Ich flicke diesen Zaun, wie Ihr seht.«

Diese Antwort war so frech, dass Edgar fast in lautes Gelächter ausgebrochen wäre. Leider war diese Angelegenheit überhaupt nicht zum Lachen. »Du hast den Zaun verschoben.«

Pride überlegte. »Früher stand er weiter vorne«, entgegnete er ungerührt. »Aber wir haben ihn vor Jahren zurückversetzt. Wir brauchten nicht so viel Platz.«

Der Mut dieses Mannes war beachtlich.

»Unsinn«, sagte Edgar barsch. »Du kennst das Gesetz. Das ist purpresture. Dafür kannst du vor Gericht kommen.«

Pride betrachtete ihn wie eine lästige Fliege. »Das sind normannische Wörter. Ich weiß nicht, was sie bedeuten. Ganz im Gegensatz zu Euch natürlich«, fügte er hinzu.

Dieser Hieb hatte gesessen. Edgar errötete. »Es ist das Gesetz«, wiederholte er bedrückt.

Godwin Pride fixierte Edgar, gegen den persönlich er eigentlich nichts hatte, aber der angelsächsische Adelige stand offenbar auf Seiten der Normannen, und das war Grund genug, ihn abzulehnen.

Colas Familie war nicht fremd in diesem Gebiet. Wann war sie in den New Forest gekommen? Vor zweihundert oder dreihundert Jahren vielleicht? Die Waldbewohner erinnerten sich nicht genau. Aber ganz gleich, wie viele Generationen sie nun schon hier lebten, es war nicht lange genug. Und Pride hielt sich gerade diesen Tatbestand vor Augen, als zu seinem Erstaunen das normannische Mädchen das Wort ergriff.

»Aber das Gesetz stammt nicht von den Normannen. Es gilt schon seit den Tagen von König Canute.«

Adelas Angelsächsisch war gut genug, um das Gespräch grob verfolgen zu können. Ihr gefiel das mürrische Verhalten dieses Mannes gegenüber ihrem Begleiter nicht, und deshalb hatte sie als normannische Adelige beschlossen, ihn in seine Schranken zu weisen. Auch wenn Wilhelm der Eroberer recht grausam sein konnte, er war schlau genug gewesen, sich in seinem störrischen neuen Königreich abzusichern, indem er vorgab, sich stets an die alten Sitten zu halten. Deshalb konnte sich dieser Bauer seine Beschwerden sparen. Sie sah ihn trotzig an.

Zu ihrer Überraschung nickte er nur mit finsterer Miene. »Und das glaubt Ihr wirklich?«

»Es gibt eine Urkunde, Bursche«, entgegnete sie mit Nachdruck.

»Ach, es ist aufgeschrieben?«

Wie konnte dieser Mann es wagen, sie in einem derart spöttischen Ton anzusprechen? »Ja, das ist es.« Adela war stolz darauf, dass sie recht gut lesen konnte und über ein wenig Bildung verfügte. Wenn ein Schreiber mit ihr eine Urkunde durchgegangen wäre, hätte sie seine Ausführungen durchaus verstanden.

»Ich kann nicht lesen«, meinte Pride mit einem unverschämten Grinsen. »Es würde mir hier auch nichts nützen.« Damit hatte er natürlich Recht. Ein Mann konnte Waffen tragen, eine Mühle betreiben, ein großes Gut leiten und, ja, sogar König werden, ohne dass er dazu des Lesens und Schreibens mächtig sein musste. Schließlich gab es jede Menge arme Schreiber, die ihm die Bücher führten. Der kluge Bauer sah demzufolge keine Notwendigkeit, diese Kunst zu erlernen. Doch Pride war noch nicht fertig. »Aber ich glaube, es gibt eine Menge Diebe, die es können«, fügte er gelassen hinzu.

Meiner Treu, dieser Mann beleidigte sie! Sie sah Edgar Hilfe suchend an, doch ihm war das Ganze offenbar nur peinlich.

Nun richtete Pride das Wort an ihn. »Ich kann mich nicht erinnern, von einer Urkunde gehört zu haben, Ihr etwa, Edgar?«

»Das war vor meiner Zeit«, erwiderte der Angelsachse ruhig.

»Ja. Ihr solltet besser Euren Vater fragen. Er müsste es wissen, denke ich.«

Eine Weile sprach niemand ein Wort.

Langsam ging Adela ein Licht auf. »Willst du damit sagen«, meinte sie gedehnt, »dass König Wilhelm, was König Canutes Waldgesetz angeht, gelogen hat? Dass die Urkunde eine Fälschung ist?«

Pride spiegelte Erstaunen vor. »Wirklich? Das wäre doch durchaus möglich, oder?«

Adela schwieg. Dann nickte sie langsam. »Es tut mir Leid«, sagte sie schlicht. »Ich wusste es nicht.« Sie wandte den Blick von ihm ab und betrachtete den kleinen Streifen Land, den er sich gerade angeeignet hatte. Nun verstand sie ihn. Kein Wunder, dass er verärgert war, weil man ihn ertappt hatte, wie er sich – rechtmäßigerweise oder nicht – ein Stück des Erbes zurücknahm, das ihm seiner Ansicht nach zustand.

Sie sah Edgar an und lächelte. »Ich sage kein Wort, wenn Ihr es auch nicht tut«, meinte sie auf Französisch. Aber sie vermutete, dass Pride, der sie aufmerksam beobachtete, den Sinn ihrer Worte erraten hatte.

Edgar wirkte verlegen. Pride musterte ihn. Dann schüttelte der junge Angelsachse den Kopf. »Ich kann nicht«, murmelte er auf Französisch. Er wandte sich an Pride und sagte in seiner Muttersprache: »Schieb den Zaun zurück, Godwin! Heute noch. Ich werde ein Auge auf dich haben.« Er gab Adela ein Zeichen, loszureiten.

Sie hätte sich gern noch von Pride verabschiedet, wusste aber, dass das nicht angebracht war. Ein paar Minuten später, als der Bauer und seine Familie außer Sichtweite waren, meinte sie: »Ich will nicht zurück nach Lyndhurst, Edgar. Ich ertrage es nicht, all den Jägern gegenüberzutreten. Können wir nicht zum Hause Eures Vaters reiten?«

»Es gibt einen kaum benutzten Pfad«, entgegnete er mit einem Nicken. Ein paar Kilometer weiter ritt er durch den Wald voran zu einer kleinen Furt. Kurz darauf erreichten sie die Heide und führten ihre Pferde am Zügel. Später am Nachmittag verließen sie den Wald und ritten in das üppige, stille Avontal hinab.

Noch bevor sie im Wald verschwunden waren, kam Puckle, der etwas zu erledigen hatte, zufällig an Prides Weiler vorbei und hörte die Geschichte.

»Wer ist dieses normannische Mädchen?«, fragte der Bauer. Puckle erklärte es ihm und erzählte ihm von dem Vorfall mit der weißlichen Hirschkuh.

»Sie hat einen Hirsch gerettet?« Pride grinste wehmütig.

»Sie hätte ihn mir bringen sollen.« Er stieß einen Seufzer aus. »Wir werden sie wieder sehen, glaubst du nicht?«, meinte er zu Puckle.

»Vielleicht.«

Pride zuckte die Achseln. »Sie scheint in Ordnung zu sein«, erwiderte er gleichmütig. »Für eine Normannin.«

Doch über Adelas Schicksal sollten strengere Richter urteilen als Pride und Puckle, und das bekam sie noch am selben Tag, bei Einbruch der Abenddämmerung, zu spüren.

»Eine Schande. Ein anderes Wort gibt es nicht für dich!«, tobte Walter. In der Abendsonne sah es aus, als lägen violette Schatten unter seinen leicht hervortretenden Augen. »Du hast dich vor der ganzen Jagdgesellschaft bis auf die Knochen blamiert. Du hast deinen Ruf ruiniert. Du hast mich in eine peinliche Lage gebracht! Wenn du glaubst, dass ich einen Mann für dich finde, solange du dich so benimmst…«

Für einen Augenblick fehlten ihm offenbar die Worte.

Adela spürte, wie sie vor Entsetzen und Wut erbleichte. »Vielleicht«, meinte sie kühl, »bist du ja sowieso außer Stande, mich unter die Haube zu bringen.«

»Sagen wir lieber, dass deine Gegenwart dem Vorhaben nicht eben förderlich ist.« Sein kleiner Schnurrbart und die dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen. In seiner eiskalten Wut wirkte er bedrohlich. »Ich denke, du lässt dich in nächster Zeit besser nicht mehr blicken«, fuhr er fort, »bis wir es anderswo wieder versuchen können. In der Zwischenzeit, schlage ich vor, solltest du dir eingehende Gedanken über dein Benehmen machen.«

»Nicht mehr blicken lassen?«, fragte sie erschrocken. »Was soll das heißen?«

»Du wirst schon sehen«, entgegnete er. »Das erfährst du morgen.«

 

 

Es war ein prachtvoller, sonnendurchfluteter, ruhiger Nachmittag im Hochsommer, der Jahreszeit, die als Monat der Zäune bezeichnet wurde. Damit die Hirsche ungestört ihre Jungen zur Welt bringen konnten, mussten die Bauern ihr Vieh aus dem New Forest entfernen. Dann schien es noch mehr als sonst, als hätte sich der Wald seit uralter Zeit nicht verändert. Nur hin und wieder streiften Jäger in der Einsamkeit umher, alles war still, die Sonne beschien die offenen Lichtungen, und unter den Eichen lagen Schatten, so tiefgrün wie die Algen im Fluss.

Der Bock pirschte sich vorsichtig voran. Er hielt sich im Schatten und reckte argwöhnisch den Kopf. Das sommerliche Haarkleid, hellbraun mit weißen Tupfen, bot ihm eine vollkommene Tarnung. Er war hübsch anzusehen, obwohl er sich im Augenblick ganz und gar nicht so fühlte. Stattdessen kam er sich ziemlich unbeholfen vor, und er schämte sich.

Schon seit Jahrhunderten beobachtet man, wie sich das Seelenleben des Hirsches im Sommer verändert. Im Frühjahr wirft zuerst der Rothirsch, dann der Damhirsch sein Geweih ab. Die Stangen brechen nacheinander und hinterlassen einen wunden, für gewöhnlich blutenden Stumpf oder Stiel. In den darauf folgenden Tagen ist der Damhirsch ein kläglicher Kumpan und wird manchmal sogar von den anderen Hirschen gepiesackt, wie es nun einmal in der Natur der Tiere liegt. Das nächste Geweih wächst bereits wie das zweite Gebiss, doch es dauert drei Monate, bis es vollständig ausgebildet ist. Und so ist der männliche Hirsch trotz seines neuen Sommerfells seines Schmucks beraubt, den das Geweih für ihn darstellt. Er ist nackt und schutzlos, und er fühlt sich gar nicht wohl in seiner Haut.

Kein Wunder, dass er allein durch den Wald streift.

Das bedeutet allerdings nicht, dass er dabei untätig bleibt. Denn die Natur verlangt von ihm, dass er die Stoffe aufnimmt, die er braucht, um ein neues Geweih zu bilden, also Kalzium. Und die beste Quelle dafür ist das alte Geweih, das er abgeworfen hat. Mit seinen scharfen Eckzähnen kaut der Bock daran herum. Er ernährt sich von den im Sommer reichhaltig vorkommenden Pflanzen und lebt in Abgeschiedenheit, während er geduldig darauf wartet, dass sich das Knochengewebe durch die Blutgefäße in den Stielen die Nährstoffe holt, langsam wächst, sich verzweigt und sich ausbreitet. Allerdings ist das wachsende Geweih sehr empfindlich. Um die Versorgung mit Blut sicherzustellen, ist es mit einer weichen, von Adern durchzogenen Basthaut bedeckt, die sich samtig anfühlt. Während dieser Monate sagt man deshalb, ein Bock sei im Bast. Da der Hirsch befürchtet, sich das kostbare Geweih zu verletzen, zieht er mit hoch erhobenem, in den Nacken gelegtem Kopf durch den Wald, sodass die samtigen Stangen auf seinen Schultern ruhen, damit sie sich nicht in Zweigen verfangen. Ein prachtvoller Anblick, der im Laufe der Jahrhunderte in Höhlengemälden und mittelalterlichen Wandteppichen festgehalten worden ist.

Der Bock hielt inne. Obwohl er sich immer noch nicht blicken lassen wollte, wusste er, dass er das Schlimmste überstanden hatte. Sein Geweih war bereits zur Hälfte gewachsen, und er spürte die ersten chemischen und hormonellen Veränderungen, die ihn in weiteren zwei Monaten in einen majestätischen, brunftigen Hirsch mit geschwollenem Hals verwandeln würden.

Er war stehen geblieben, weil er etwas gesehen hatte. Am Rand des Waldes, durch den er gerade zog, verlief ein Stück Heide, die nach einem knappen Kilometer leicht abfiel. Am Abhang wuchsen Silberbirken, und das violette Heidekraut wurde von einer Wiese abgelöst, die wiederum an ein Waldstück grenzte. Auf dieser Wiese bemerkte er einige Hirschkühe, die sich in der Sonne ausruhten. Und eine davon war heller gefärbt als die anderen.

Die weißliche Hirschkuh war ihm schon in der letzten Brunftzeit aufgefallen. Auf der Flucht vor den Jägern im Frühjahr hatte er sie wieder gesehen. Er hatte vermutet, dass sie getötet worden war, doch kurz darauf hatte er sie aus der Ferne erkannt. Dass sie noch lebte, hatte ihn mit einer seltsamen Freude erfüllt. Deshalb blieb er stehen und blickte zu ihr hinüber.

In der Brunftzeit würde sie zu ihm kommen. Das war so sicher wie die Sonne, die vom endlosen, klaren Himmel auf ihn herunterbrannte. Er wusste es dank desselben Instinkts, der ihm auch sagte, dass sein Geweih rechtzeitig wachsen und sein Körper sich verändern würde. Es war unvermeidlich. Eine Weile noch betrachtete er die kleine, helle Gestalt auf der entfernten Wiese. Dann ging er weiter.

Er ahnte nicht, dass er nicht der Einzige war, der die Hirschkühe beobachtete.

Als Godwin Pride an jenem Morgen losgezogen war, hatte seine Frau beim Anblick seiner Miene versucht, ihn zurückzuhalten. Doch all ihre Einwände – das Dach des Kuhstalls sei undicht, und sie habe ganz sicher einen Fuchs in der Nähe des Hühnerhauses gesehen – waren vergebens gewesen. Am späten Vormittag hatte er sich auf den Weg gemacht und nicht einmal den Hund mitgenommen. Allerdings hatte er ihr verschwiegen, was er vorhatte. Denn hätte sie es gewusst, so hätte sie wahrscheinlich die Nachbarn zusammengerufen, damit diese ihn zurückhielten. Außerdem ahnte sie nicht, dass er gleich nach seinem Aufbruch den Bogen aus seinem Versteck in einem Baum geholt hatte.

Schon seit Monaten hatte er auf diese Gelegenheit gewartet. Seit seiner Begegnung mit Edgar hatte er sich um mustergültiges Betragen bemüht und auch den Zaun wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückgeschoben. Schon zwei Tage vor Beginn des Monats der Zäune hatte er seine Kühe aus dem Wald zusammengetrieben. Und als Cola nur einen argwöhnischen Blick auf seinen Hund geworfen hatte, hatte er ihn gleich am nächsten Tag zur königlichen Jagdhütte in Lyndhurst gebracht. Dort befand sich die Eisenschlaufe, auch Geschirr genannt – jedem Hund, der nicht hindurchpasste, wurden von Gesetzes wegen die Vorderkrallen gestutzt, damit er keine Gefahr für die Hirsche des Königs darstellte. Pride hatte darauf bestanden, seinen Hund durch das Geschirr kriechen zu lassen. »Nur, um sicherzugehen, dass er nicht gegen das Gesetz verstößt«, hatte er mit einem freundlichen Lächeln verkündet, während der Hund mühelos durch die Schlaufe geschlüpft war. Pride war auf der Hut gewesen. Auch hatte er auf das richtige Wetter warten müssen. Und heute war es so weit, denn die leichte Brise wehte aus einer anderen Richtung als sonst.

Auch wenn es ihm nicht gelungen war, sein Stück Land zu vergrößern, er würde sich an diesen normannischen Dieben schadlos halten und sich selbst beweisen, dass er nicht ihr Laufbursche war – seine Frau hätte es vermutlich als reine Sturheit bezeichnet. Jetzt schlenderte der hoch gewachsene Pride durch den Wald und war so mit sich zufrieden wie ein Junge, der einen Streich ausheckt. Doch wenn er ertappt wurde, musste er mit schrecklichen Folgen rechnen: dem Verlust eines Körpergliedes oder sogar seines Lebens. Aber er war sicher, dass ihn niemand erwischen würde, und kicherte in sich hinein. Schließlich hatte er sich alles reiflich überlegt.

Gegen die Mittagszeit hatte er seinen Beobachtungsposten bezogen. Diesen hatte er sich sorgfältig ausgesucht, eine kleine Bodensenke am Rande eines Waldstücks, wo er sich gut verstecken und nach möglichen Widersachern Ausschau halten konnte. Außerdem hatte er die Gewohnheiten seiner Beute gründlich studiert.

Wie erwartet, tauchten die Tiere kurz nach der Mittagszeit auf, und dank der geänderten Windrichtung konnten sie ihn nicht wittern.

Reglos lag Godwin Pride da. Über eine Stunde lang verharrte er geduldig. Wie er erwartet hatte, erschien in einiger Entfernung einer von Colas Männern, der sein Pferd am Zügel führte und über eine Lichtung schlich. Pride wartete noch eine Stunde. Es ließ sich niemand mehr blicken.

Sein Ziel hatte er sich bereits ausgesucht. Er brauchte eine kleine Hirschkuh – eine, die er sich rasch über die breiten Schultern werfen und in ein Versteck schaffen konnte. Nachts wollte er mit einem Handkarren wiederkommen, um sie zu holen. Der Mond würde hell genug sein, sodass er sich nicht im dunklen Wald verirrte. Zu dem Rudel gehörten einige kleine Hirschkühe. Eine davon war ein Weißling. Er legte an.

 

 

In den ersten Tagen konnte Adela es kaum fassen, dass Walter ihr das wirklich angetan hatte.

Die Dörfer Fordingbridge und Ringwood am westlichen Ufer des Avons waren kaum mehr als Weiler. Doch bei der Siedlung am Südrand des Flusses handelte es sich um eine größere Ortschaft. Hier mündete ein anderer Fluss aus dem Westen in den Avon und bildete mit ihm zusammen einen großen, geschützten Hafen. Seit mehr als tausend Jahren fischten die Menschen dort und trieben Handel. Die Angelsachsen hatten das Dorf einst Twyneham genannt. Von hier aus erstreckten sich gewaltige Wiesen, Moore, Wälder und Heiden kilometerweit am südwestlichen Rand des New Forest entlang. Früher hatten sie zu einem königlichen Gut gehört. Dank einer Reihe bescheidener religiöser Stiftungen der Sachsenkönige hieß die Gegend jetzt Christchurch: eine kleine Stadt, umgeben von einer Stadtmauer. Vor fünf Jahren hatte Christchurch einen weiteren Aufschwung genommen, denn der Kanzler des Königs hatte beschlossen, dort eine neue, noch größere Klosterkirche bauen zu lassen. Die Arbeiten am Flussufer hatten bereits begonnen.

Doch mehr hatte das Städtchen eigentlich nicht zu bieten. Es war nichts weiter als eine ruhige, kleine Ortschaft am Meer mit einer Kirchenbaustelle.

Ausgerechnet hier hatte Walter sie zurückgelassen. Und das nicht etwa bei einem Ritter, denn in Christchurch gab es kein Schloss, nein, nicht einmal einen Herrensitz und überhaupt keine Menschen von Rang und Namen. Walter hatte sie bei einem gewöhnlichen Kaufmann einquartiert, dessen Sohn die Klostermühle betrieb.

»Ich musste ihn dafür bezahlen«, hatte Walter gereizt erklärt.

»Und wie lange soll ich dort bleiben?«, hatte Adela entgeistert ausgerufen.

»Bis ich dich abhole. Wahrscheinlich ein oder zwei Monate.«

Und mit diesen Worten war er einfach fortgeritten.

Ihre Unterbringung hätte schlechter sein können. Der Haushalt des Kaufmanns bestand aus einigen Holzgebäuden, die rings um einen kleinen Hof angeordnet waren. Man teilte ihr ein eigenes Zimmer über einem Lagerraum zu, neben dem sich der Stall befand. Das Zimmer war sauber, und Adela musste zugeben, dass sie es in einem Herrensitz auch nicht bequemer gehabt hätte.

Ihr Gastgeber, ein recht umgänglicher Mensch, hieß Nicholas von Totton und stammte aus einem Dorf gleichen Namens, etwa fünfundzwanzig Kilometer entfernt am östlichen Rand des New Forest. Er war ein freier Bürger der Stadt und besaß drei Häuser, einige Felder, einen Obstgarten und eine Lachsfischerei. Er war älter als fünfzig Jahre, wirkte jedoch mit seiner schlanken Gestalt fast jugendlich. Sein milder Blick aus grauen Augen verfinsterte sich nur, wenn jemand in seiner Gegenwart Böswilligkeiten äußerte oder prahlte. Er sprach wenig, doch Adela stellte fest, dass er gern mit seinen jüngeren Kindern – sieben oder acht an der Zahl – spielte und scherzte. Es musste entsetzlich langweilig sein, mit einem solchen Mann verheiratet zu sein. Doch seine tüchtige Ehefrau schien ganz und gar zufrieden.

Sie wusste nicht, mit wem sie reden oder was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte. An dem malerischen Flussufer, wo die neue Kirche entstehen sollte, herrschte noch heilloses Durcheinander. Die alte Kirche hatte man abgerissen, und es hieß, dass sich hier bald Dutzende von Maurern an die Arbeit machen würden. Im Augenblick jedoch lag alles verlassen da.

Eines Tages ritt Adela auf die Landzunge hinaus, die den Hafen schützte. Schwäne glitten über das Wasser, und auf den Wiesen grasten Pferde. Jenseits der Landzunge erstreckte sich eine riesige Bucht gen Westen. Im Osten endete die kilometerlange, felsige Küste des New Forest am Solent, aus dem die Insel Wight hervorragte. Aber auch dieser wunderschöne Anblick und die friedliche Stimmung konnten Adela nicht aufheitern. An anderen Tagen ging sie spazieren oder saß am Flussufer. Es gab nichts zu tun. Überhaupt nichts. So verstrich eine Woche.

Und dann erschien Edgar. Adela war überrascht, dass er von ihrer Verbannung wusste.

»Walter hat meinem Vater erzählt, dass Ihr hier seid«, meinte er. Er verschwieg ihr, dass die Menschen im Avontal bis hinunter nach Fordingbridge sie bereits »die verlassene Lady« nannten.

Bald besserte sich Adelas Lage ein wenig. Edgar pflegte sie mindestens einmal wöchentlich zu besuchen, und dann ritten sie zusammen aus. Ihr erster Ausflug führte sie ein paar Kilometer das Avontal hinauf, wo man von einer kleinen Anhöhe namens St. Catharine’s Hill eine prachtvolle Aussicht über das Tal und den südlichen Teil des New Forest genießen konnte.

»Fast hätte man die neue Abtei hier gebaut«, berichtete er ihr. »Bei meinem nächsten Besuch reiten wir zusammen hin.« Er wies auf den New Forest. »Und beim übernächsten dahin. Und dann dort hinüber.«

Edgar hielt Wort. Manchmal ritten sie in den New Forest oder schlenderten an der südlichen Küste mit ihren unzähligen Buchten entlang bis zum Dorf Hordle, wo es Salzvorkommen gab. Bei seinem dritten Besuch hatten sie sich unweit von Ringwood verabredet. Er zeigte ihr einen kleinen Weiler in einem Wäldchen jenseits der Heide, der Burley hieß.

»Dieser Ort hat etwas Seltsames an sich«, sagte sie.

»Es heißt, in dieser Gegend gäbe es Hexen«, erwiderte er. »Doch das behaupten die Leute immer von Wäldern.«

»Kennt Ihr etwa Hexen?«, fragte sie lachend.

»Man sagt, Puckles Frau sei eine Art Hexe«, entgegnete er. Sie warf ihm einen Blick zu, um festzustellen, ob er scherzte, aber offenbar meinte er es ernst. Dann grinste er.

»Im New Forest gilt eine Grundregel. Wenn man Zweifel hat, soll man besser nicht nachfragen.« Mit diesen Worten ließ er sein Pferd traben.

Oft erkundigte er sich bei diesen Ausritten nach ihrem Leben und wollte wissen, ob sie vorhabe, in England zu bleiben, und was für einen Ehemann sie sich von Walters Bemühungen erhoffte. Adela antwortete sehr vorsichtig und zurückhaltend auf diese Fragen, ließ sich jedoch einmal vom Hochmut hinreißen, als sie gestand: »Hauptsächlich wünsche ich mir deshalb einen normannischen Ritter, weil ich selbst Normannin bin.« Beim Anblick seiner bedrückten Miene stieg Mitleid in ihr auf, aber sie konnte weder ihren Rang noch ihre Herkunft leugnen.

 

 

Zwei Monate waren vergangen, und immer noch keine Nachricht von Walter.

Die vielen Ausflüge mit Edgar hatten ihr Selbstbewusstsein so weit gestärkt, dass sie sich eines Hochsommertags allein weit in den Wald vorwagte. Tagträumend ritt sie mitten durch den Tann, während ihr Pferd langsam ausschritt und sich selbst seinen Weg auf den Pfaden suchte. Schließlich stieg Adela ab und ruhte sich in einer kleinen Lichtung aus, während das Pferd sich am Gras gütlich tat. Das Geräusch eines Hirschrudels, das irgendwo vor ihr durch das Unterholz stürmte, riss sie aus ihren Träumereien. Neugierig geworden, stieg sie rasch aufs Pferd und ritt los, um festzustellen, was die Tiere aufgescheucht hatte. Als sie plötzlich eine unbewaldete Stelle erreichte, bemerkte sie eine Gestalt, die sie zu erkennen glaubte. Ohne nachzudenken, galoppierte sie auf den Mann zu. Er wandte sich um, und Adela sah sofort, was er im Schilde führte. Es war zu spät, einfach kehrtzumachen.

»Guten Tag, Godwin Pride«, sagte sie.

Pride starrte sie entgeistert an, den Mund in ungläubigem Staunen weit geöffnet. Ihm fehlten die Worte, was bei ihm selten geschah. Er konnte es nicht fassen. Warum hatte er sie nicht kommen hören? Es hatte doch nur wenige Sekunden gedauert, über die Wiese zu eilen und sich die tote Hirschkuh auf die Schultern zu laden. Doch offenbar hatte er zu viel Zeit gebraucht. Wie konnte er nur solches Pech haben?

Nun war er ausgerechnet diesem Mädchen in die Arme gelaufen. Einer Normannin. Und um das Maß voll zu machen, wusste der ganze Wald, dass sie mit Edgar befreundet war.

Jetzt war er ertappt worden, »mit roten Händen«, wie es im Jagd- und Forstgesetz hieß. Er trug den Hirsch auf dem Rücken, und seine Hände waren mit Blut besudelt. Es gab kein Entrinnen. Sein Leben war verwirkt. Verstümmelung. Man würde ihm Arm oder Bein abhacken oder ihn sogar hängen.

Er sah sich unruhig um: Sie waren allein. Kurz überlegte er, ob er sie töten sollte, doch sofort verwarf er diesen Gedanken. Als er sich aufrichtete und sich stolz wie ein Löwe vor ihr aufbaute, glitt ihm die Hirschkuh von den Schultern. Auch wenn er sich noch so sehr vor dem Tod fürchtete, er würde es sich nicht anmerken lassen.

Und dann dachte er an seine Familie. An seine Frau und seine Kinder. Was sollte aus ihnen werden, wenn er am Galgen baumelte? Plötzlich standen sie ihm deutlich vor Augen: die vier Kinder, seine kleinste Tochter, die erst drei Jahre alt war. Das verbitterte Gesicht seiner Frau, die mit jeder ihrer Warnungen Recht behalten hatte. Wie sollte er seinen Kindern bloß erklären, was er angestellt hatte? Er konnte sich schon hilflos sagen hören: »Ich habe eine Riesendummheit gemacht.« Unwillkürlich schnappte er nach Luft.

Und was sollte er jetzt tun? Das normannische Mädchen um Gnade anflehen? Warum sollte sie Erbarmen mit ihm haben? Es war ihre Pflicht, Edgar zu melden, was sie gesehen hatte.

»Ein schöner Tag heute, findest du nicht?«

Er blinzelte. Was hatte sie da gesagt?

»Ich bin am Morgen früh losgeritten«, fuhr sie ruhig fort. »Eigentlich wollte ich gar nicht so weit, aber das Wetter war sehr gut. Wenn ich diesen Weg nehme« – sie zeigte in die entsprechende Richtung –, »komme ich doch sicher nach Brockenhurst.«

Er nickte ein wenig verdattert. Sie redete weiter, als ob überhaupt nichts geschehen wäre. Was zum Teufel hatte sie vor?

Und dann verstand er. Sie hatte den Hirsch nicht angesehen.

Stattdessen blickte sie ihm unverwandt ins Gesicht. Mein Gott, jetzt erkundigte sie sich nach seinen Kindern. Er stammelte eine Antwort. Der Hirsch existierte nicht. Nun dämmerte es ihm. Sie plauderte über Alltäglichkeiten, damit er auch wirklich begriff. Sie hatte den Hirsch nicht bemerkt. Sie wollte weder seine Verbündete werden noch die Schuld mit ihm teilen. Keine Peinlichkeiten, keine Verpflichtungen, dafür war sie zu klug. Darüber war sie erhaben.

Sie fragte ihn noch nach dem kürzesten Rückweg, ohne den Hirsch, der vor ihr auf dem Boden lag, auch nur eines Blickes zu würdigen. »Nun, Godwin Pride«, verkündete sie schließlich. »Ich muss weiter.« Mit diesen Worten wendete sie ihr Pferd, winkte ihm zu und war verschwunden.

Pride atmete erleichtert auf.

Dieses Mädchen besaß wirklich innere Größe.

Kurz darauf war der Hirsch sicher in seinem Versteck verstaut, und Pride machte sich auf den Heimweg. Beim Gehen fiel ihm noch etwas ein, und ein finsteres Lächeln spielte um seine Lippen.

Ein Glück, überlegte er, dass er nicht die weißliche Hirschkuh erschossen hatte.

 

 

Als Adela am Abend nach Christchurch zurückkehrte, wurde sie zu ihrer Überraschung von einem mürrischen Walter Tyrrell erwartet.

»Wenn du nicht so spät gekommen wärst, hätten wir heute noch aufbrechen können«, tadelte er sie. »Gleich morgen früh reiten wir los. Sieh zu, dass du rechtzeitig fertig bist«, befahl er.

»Wohin geht es?«, erkundigte sie sich.

»Nach Winchester«, erwiderte er, als läge die Antwort auf der Hand.

Winchester, endlich eine Stadt, in der etwas geboten war. Es würden Angehörige des Hofes anwesend sein, Ritter, wichtige Leute.

»Doch zuvor«, fügte er hinzu, »werden wir einige Tage auf einem Gut in dieser Gegend verbringen.«

»Wem gehört es?«

»Hugh de Martell.«

 

 

Am nächsten Morgen war das Wetter umgeschlagen. Als sie sich ihrem Ziel näherten, stieg eine riesige, graue Wolke am Horizont auf und verdunkelte die Sonne. Die Strahlen, die an ihren Rändern hervorschimmerten, tauchten die Landschaft in ein mattes Licht.

Unterwegs hatte Walter wie meist verdrießlich geschwiegen. Doch als sie die letzte lange Bergkette erreichten, meinte er mürrisch: »Eigentlich wollte ich dich nicht mitnehmen, aber ich dachte, es könnte dir vor der Reise nach Winchester nicht schaden. So hast du ein paar Tage Zeit, wieder Manieren zu lernen. Besonders«, meinte er, »solltest du dir Martells Frau, Lady Maud, zum Beispiel nehmen. Sie weiß, wie man sich beträgt. Betrachte sie als Vorbild.«

Das Dorf lag in einem lang gezogenen Tal. Auf den Hügeln zu beiden Seiten erstreckten sich bis zu den Gipfeln Weizen- und Hopfenfelder, fein säuberlich in Streifen eingeteilt. Es war ein ziemlich großes Dorf, an dessen Eingang, zwischen Teich und Dorfanger, eine kleine angelsächsische Kirche stand. Die Katen waren gewissenhaft eingezäunt, alles wirkte viel gepflegter als sonst in solchen Ortschaften. Selbst die Dorfstraße war blitzsauber, wie von einer unsichtbaren, ordnenden Hand gefegt. Die breite Straße mündete am Pförtnerhaus des Anwesens. Sie ritten durch das Tor und blickten auf eine große, viereckige Anordnung landwirtschaftlicher Gebäude aus Holzbohlen und Stein. Zu ihrer Rechten befand sich jenseits eines makellosen Hofes die stattliche Halle mit ihren Nebengebäuden, alle aus behauenem Flint erbaut und mit spitzen Strohdächern, aus denen auch nicht ein Halm hervorragte. Das war kein gewöhnlicher Herrensitz, sondern das Machtzentrum eines großen Gutes, dessen abweisende, dunkle Fassade wie die eines Schlosses verkündete: »Dieses Land gehört dem Feudalherrn. Verneigt euch.«

Ein Knappe und ein Stallbursche liefen auf die beiden Neuankömmlinge zu, um ihnen die Pferde abzunehmen. Dann öffnete sich die Tür der Halle, und Hugh de Martell kam ihnen raschen Schrittes entgegen.

Er wirkte freundlicher, als Adela ihn in Erinnerung hatte. Lächelnd streckte er seinen langen Arm aus, um ihr vom Pferd zu helfen. Als Adela seine Hand ergriff, bemerkte sie kurz die dunklen Härchen an seinen Handgelenken.

Nachdem sie abgestiegen war, trat er einen Schritt zurück, und bevor Walter etwas sagen konnte, meinte er: »Ein Glück, dass Ihr heute erst kommt, Walter. Ich wurde gestern nach Tarrant gerufen und musste den ganzen Tag dort verbringen.« Er ging ihnen voran und hielt Adela die Tür auf.

Die Halle war geräumig, hoch wie eine Scheune und wurde von gewaltigen Eichenbalken gestützt. Der Boden war mit Binsenmatten bedeckt. Zwei blitzblank polierte Eichentische standen zu beiden Seiten des riesigen offenen Kamins in der Mitte. Die hölzernen Fensterläden waren geöffnet, und ein angenehmes, helles Licht strömte durch die Fenster herein. Adela sah sich nach ihrer Gastgeberin um, und schon im nächsten Augenblick kam die Lady durch eine kleine Tür am anderen Ende des Raumes und eilte sofort auf Tyrrell zu.

»Seid mir willkommen, Walter«, sagte sie leise, als er ihre Hand ergriff. »Wir freuen uns über Euren Besuch.« Nach kurzem Zögern wandte sie sich an Adela. »Über den Euren ebenfalls.« Trotz ihres Lächelns merkte man ihr an, dass sie, was den gesellschaftlichen Rang ihres jungen Gastes betraf, ihre Zweifel hatte.

»Meine Verwandte Adela de la Rôche«, stellte Walter sie mit wenig Begeisterung vor.

Doch es war nicht die kühle Begrüßung, die Adela aufmerken ließ, sondern das Aussehen der Frau.

Sie hatte sich Hugh de Martells Gattin ganz anders vorgestellt. Sie hatte angenommen, dass sie ihm im Äußeren entsprach – hoch gewachsen, schön, etwa in seinem Alter. Doch diese Frau war nur wenig älter als sie selbst. Sie war von kleinem Wuchs und keinesfalls schön. Ihre Gesichtszüge, obwohl nicht unansehnlich, erschienen Adela unregelmäßig, vor allem die schmalen Lippen wirkten, als hätte sie jemand auf einer Seite nach oben gezogen. Ihr Gewand war zwar aus gutem Tuch, hatte aber einen zu hellen Grünton, der ihr Gesicht noch teigiger wirken ließ. Sie sah aus wie ein graues Mäuschen, fand Adela.

Allerdings blieb ihr keine Zeit, ihre Gastgeberin weiter zu beobachten. Das Haus verfügte über zwei Gästezimmer, eines für Männer, eines für Frauen. Und nachdem die Hausherrin ihr das Frauengemach gezeigt hatte, ließ sie Adela dort allein. Als Adela kurz darauf in die Halle zurückkehrte und Walter dort antraf, fragte sie leise: »Wann hat Martell denn geheiratet?«

»Erst vor drei Jahren.« Walter blickte sich um und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Er hat seine erste Frau verloren. Sie und ihr einziges Kind. Das hat ihm das Herz gebrochen. Danach ist er lange Junggeselle geblieben, doch dann hat er beschlossen, es noch ein zweites Mal zu versuchen. Vermutlich braucht er einen Erben.«

»Aber warum Lady Maud?«

»Sie ist eine reiche Erbin.« Er warf ihr einen forschenden Blick zu. »Er besaß zwei Güter, dieses hier und Tarrant. Sie hat drei weitere mit in die Ehe gebracht, und zwar ebenfalls in dieser Grafschaft. Eines davon grenzt direkt an Tarrant. Auf diese Weise hat er nun zusammenhängende Ländereien. Martell weiß, was er tut.«

Adela hatte den Wink verstanden – sie selbst hatte keine Güter zu bieten. »Und hat er inzwischen einen Erben?«

»Bis jetzt haben sie noch keine Kinder.«

Kurz darauf erschien Lady Maud und brachte die Gäste in den Söller, einen gemütlichen Raum, den man über eine Treppe am anderen Ende der Halle erreichte. Dort wurde sie von einer alten Amme sittsam begrüßt. Adela setzte sich und plauderte höflich, während sich die beiden Frauen mit ihren Stickereien beschäftigten.

Das Gespräch plätscherte angenehm dahin. Adela befolgte gehorsam Walters Rat und hing an den Lippen ihrer Gastgeberin. Die Herrin des Hauses schien hier in ihrem Element zu sein. Offenbar hatte sie ihren Haushalt gut im Griff: die Küche, wo das Rindfleisch bereits am Spieß brutzelte, die Speisekammer, wo die eingeweckte Marmelade stand, den Kräutergarten und ihre Stickereien, auf die sie und die alte Amme sehr stolz waren. Über all diese Dinge sprach sie glücklich und zufrieden. Doch sobald Adela ihr eine Frage über Ereignisse außerhalb des Hauses stellte – das Gut oder die politische Lage in der Grafschaft –, lächelte die Lady nur schief und erwiderte: »Ach, diese Dinge überlasse ich meinem Gatten. Das ist Männersache, findet Ihr nicht?«

Gleichwohl kannte sie alle Gutsherren in der Gegend, und Adela konnte nicht glauben, dass sie wirklich nichts über deren Angelegenheiten wusste. Allerdings hielt es Lady Maud offenbar nicht für schicklich, derartige Kenntnisse einzugestehen. Sie hat einen Entschluss gefasst, wer sie sein und was sie denken will, überlegte Adela. Das tut sie, weil sie sich Vorteile davon verspricht. Zweifellos hält sie mich für eine Närrin, weil ich dieses Spiel nicht mitspiele. Außerdem fiel ihr, während sie ruhig vor sich hin stickte, auf, dass Lady Maud überhaupt keine Fragen an sie richtete. Ob das an mangelndem Interesse lag oder daran, dass sie Walters anscheinend arme Verwandte nicht in Verlegenheit bringen wollte, war schwer zu sagen.

Am Nachmittag unternahmen sie alle einen Ausritt über das Gut, das mit seinen riesigen Feldern, den säuberlich gepflegten Obstgärten und den reich bestückten Fischteichen wie das Sinnbild eines ordentlich geführten Anwesens wirkte. Zweifellos verstand Hugh de Martell etwas von seinem Geschäft. Als sie einen ansteigenden Pfad erreichten, der bis hinauf zum Gipfel führte, galoppierten die beiden Männer los. Am liebsten wäre Adela ihnen im gleichen Tempo gefolgt.

Doch Lady Maud wollte nichts davon hören. »Wir führen die Pferde am Zügel. Galoppieren ist was für Männer.« Da Adela sich verpflichtet fühlte, ihr Gesellschaft zu leisten, legten sie nur die Hälfte der Strecke zurück, bis die Männer wieder erschienen und sie umkehren mussten.

»Eine prächtige Aussicht«, schwärmte Walter.

Als sie von ihrem Ausritt zurückkamen, stellten sie fest, dass die Diener Tische in der Halle aufgebaut und sie mit Tischtüchern bedeckt hatten. Man setzte sich zum Essen. Da sie den ganzen Tag nichts zu sich genommen hatten, wurde nun eine reichhaltige und köstlich angerichtete Mahlzeit aufgetragen. Eine kleine Prozession von Dienstboten servierte Brot, Brühe, Lachs, Forellen und drei verschiedene Fleischsorten. Hugh de Martell schnitt selbst den Braten an, während Lady Maud Walter von ihrem eigenen Teller bediente. Der Wein – eine seltene Köstlichkeit – war klar, gut und leicht gewürzt. Frisches Obst, Käse und Nüsse rundeten das Mahl ab. Tyrrell lobte Lady Maud höflich für jeden Gang, und Martell versuchte, Adela mit einer Anekdote über einen normannischen Kaufmann zu unterhalten, der kein Englisch sprach. Vielleicht trank Adela ein bisschen zu viel Wein.

Allerdings hatte sie wirklich nicht ahnen können, dass es ein Fehler war, den New Forest zu erwähnen. In Walters Augen hatte sie sich dort lächerlich gemacht, er war davon ausgegangen, dass sie von sich aus nicht auf die Treibjagd zu sprechen käme, und hatte sie deshalb nicht vorgewarnt. Also fragte Adela ihre Gastgeberin in aller Unschuld, ob sie schon einmal dort gewesen sei.

»Im New Forest?«, sagte Lady Maud erstaunt. »Ich glaube nicht, dass es mich dorthin zieht.« Sie lächelte Walter verkniffen zu. »Dort leben seltsame Menschen. Wart Ihr schon einmal da, Walter?«

»Nur ein- oder zweimal. Mit der Jagdgesellschaft des Königs.«

»Ach, das ist natürlich etwas anderes.«

Adela bemerkte Walters missbilligenden Blick. Offenbar wollte er, dass sie das Thema wechselte. Doch das ärgerte sie. Warum behandelte er sie die ganze Zeit wie eine Närrin? Ständig hatte er etwas an ihr auszusetzen. »Ich reite häufig allein in den Forest«, sagte sie kühl. »Ich war sogar schon einmal mit auf der Jagd.« Sie hielt inne, damit diese Nachricht verdaut werden konnte. »Mit Eurem Gatten.« Sie grinste Walter trotzig zu.

»Hugh?« Lady Maud runzelte die Stirn und erbleichte ein wenig. »Er war im Forest jagen?« Sie sah ihren Mann fragend an. »Stimmt das, mein Liebling?«, erkundigte sie sich mit seltsam gepresster Stimme.

»Ja, ja«, erwiderte er ausweichend und verzog finster das Gesicht. »Mit Walter. Und mit Cola. Im letzten Frühjahr.«

»Davon habe ich nichts gewusst.«

»Ganz sicher hast du das«, widersprach er streng.

»Ach, ja«, meinte sie leise. »Jetzt fällt es mir wieder ein.« Erneut bedachte sie Adela mit einem schiefen Lächeln, bevor sie gekünstelt fröhlich hinzufügte: »Männer gehen nun mal gerne im New Forest auf die Jagd.«

Walter starrte auf seinen Teller. Martell wirkte ein wenig gereizt. Seine Schultern waren gespannt. Warum hatte er seiner Frau die Jagd verschwiegen? Hatte sein Besuch im New Forest einen anderen Grund gehabt? War er vielleicht öfter unter einem Vorwand von zu Hause abwesend? Adela überlegte. Falls er hin und wieder das Bedürfnis hatte, seiner Frau zu entfliehen, war das durchaus verständlich, ganz gleich, was er in dieser Zeit trieb.

Walter sprang für sie in die Bresche. »Apropos König«, sagte er ruhig, als hätte der peinliche Wortwechsel nie stattgefunden.

»Habt Ihr schon gehört…« Und dann berichtete er von einem der jüngsten Skandale am Königshof. Wie so oft ging es darum, dass sich der König gegenüber einigen Mönchen im Ton vergriffen hatte. Da Rufus mit der Kirche auf Kriegsfuß stand, konnte er der Versuchung nur selten widerstehen, Geistliche zu hänseln. Und natürlich war es dem normannischen König wieder einmal gelungen, gleichzeitig unhöflich und komisch zu sein. Obwohl Lady Maud wohl zunächst eine schockierte Miene für angebracht hielt, lachte sie bald so laut wie ihr Gatte.

»Von wem habt Ihr das erfahren«, fragte Martell.

»Ach, vom Erzbischof von Canterbury persönlich«, gestand Walter, was die Heiterkeit noch mehr steigerte. Adela fand es höchst amüsant, dass es Tyrrell irgendwie gelungen war, sich beim frommen Erzbischof Anselm lieb Kind zu machen.

Nachdem Walter sich für sein Thema erwärmt hatte, erzählte er eine lustige Geschichte nach der anderen. Sie waren wirklich sehr witzig und handelten zum Großteil von einflussreichen Zeitgenossen, wobei Walter seine Zuhörer des Öfteren ermahnte, die Anekdote ja für sich zu behalten. Nur wenige hätten sich dem Charme eines so unterhaltsamen Höflings entziehen können. Für Adela war das eine völlig neue Erkenntnis. Noch nie hatte sie miterlebt, wie Walter diesen Charme versprühte. Mir gegenüber unterlässt er es tunlichst, dachte sie. Aber man musste zugeben, dass er über gewisse Talente verfügte. Adela war wider Willen beeindruckt.

Und ihr kam noch ein weiterer Einfall. Konnte man es ihm zum Vorwurf machen, dass er allmählich die Geduld mit ihr verlor? Ihm, dem gewandten Walter Tyrrell, der in die mächtige Familie Clare eingeheiratet hatte und mit wichtigen Persönlichkeiten verkehrte? Sollte sie ihm grollen, weil es ihm peinlich war, dass sie ein ums andere Mal ins Fettnäpfchen trat?

Als sich die gemütliche Runde schließlich auflöste, um sich auf eine frühe Nachtruhe vorzubereiten, flüsterte Adela Walter zu: »Es tut mir Leid, dass ich mich ständig danebenbenehme.«

Zu ihrem Erstaunen lächelte er sie freundlich an. »Das ist auch mein Fehler, Adela. Ich war nicht sehr nett zu dir.«

»Stimmt. Aber es ist dir sicher lästig, dich ständig um mich zu kümmern.«

»Nun, wir werden sehen, was ich in Winchester für dich erreichen kann. Gute Nacht.«

 

 

Als Adela am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich wundervoll erfrischt. Sie öffnete die Fensterläden. Der Tag brach an, der klare, blaue Himmel schimmerte bereits rosig. Die frische Luft prickelte ihr im Gesicht. Nur das leise Zwitschern der Vögel war zu hören. Ein leichter Geruch nach Hopfen stieg ihr in die Nase. Im Haus rührte sich noch nichts. Doch jenseits des Berges sah sie einen Bauern den Weg entlang gehen. Sie holte tief Luft.

Adela zog ihr Hemd und ein Übergewand aus Leinen an, schnürte den Gürtel zu, fuhr sich mit den Fingern durchs offene Haar, schlüpfte in ihre Pantoffeln und verließ rasch das Haus. Es war ihr gleichgültig, dass sie ein wenig zerzaust aussah, denn um diese Zeit würde sie ohnehin niemandem begegnen.

Durch ein Tor betrat sie den Garten hinter dem Haus, wo Kräuter und Geißblatt wuchsen. Wilde Erdbeeren ragten zwischen den Grashalmen empor und überzogen das Grün mit winzigen roten Tupfen. In den Mauerecken hingen Spinnenweben. Alles war mit Tau bedeckt, und Adela fühlte sich wie im Garten eines Schlosses oder eines Klosters in ihrer normannischen Heimat.

Sie blieb eine Zeit lang dort und genoss die friedliche Stille.

Als sie aus dem Garten kam, war noch immer niemand zu sehen, und sie beschloss, zu den Ställen zu gehen, die in den großen, zu einem Viereck angeordneten Nebengebäuden untergebracht waren. Sie wurde auf eine kleine Tür aufmerksam, die tief unten in der Seitenmauer eingelassen war. Drei steinerne Stufen führten hinab. Adela nahm an, dass die Tür zu einem Keller führte und verschlossen war. Aber wie immer siegte ihre Neugier, und als sie an der Tür rüttelte, öffnete sich diese zu ihrer Überraschung.

Das niedrige Kellergewölbe erstreckte sich über die gesamte Länge des Gebäudes. Die Decke wurde von drei dicken Steinsäulen in der Mitte gestützt, die den Raum in Nischen teilten. Durch die offen stehende Tür und ein kleines vergittertes Fenster hoch oben in der Wand fiel Licht herein.

Es dauerte eine Weile, bis sich Adelas Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten. Aber bald stellte sie fest, dass hier unten die üblichen Gegenstände aufbewahrt wurden – allerdings nicht in dem Durcheinander, das man sonst so häufig in Lagerräumen antraf. Alles war ordentlich gestapelt. Sie entdeckte Kisten und Säcke. Eine Nische beherbergte Fässer mit Wein und Bier, eine andere Zielscheiben zum Bogenschießen, Bogen ohne Sehnen, Pfeile, ein halbes Dutzend Fischnetze, Hundehalsbänder, Falknerhandschuhe und Hauben. Erst in der letzten Nische, wo Holzspäne auf dem Boden lagen, sah sie etwas Seltsames, eine große, leicht schimmernde Gestalt im Schatten, die so sehr einem Menschen ähnelte, dass sie zusammenfuhr.

Es war eine Holzpuppe. Das Schimmern rührte daher, dass sie mit einem langen Kettenhemd und einem Eisenhelm bekleidet war. Dahinter bemerkte sie eine zweite Puppe, die das lederne Untergewand trug. Auf einem Ständer daneben lag ein Sattel mit hohem Knauf, an dem ein langer, beschlagener Schild lehnte. Daneben entdeckte sie auf einem weiteren Gestell ein riesiges Schwert, zwei Lanzen und einen Morgenstern. Adela schnappte nach Luft. Offenbar handelte es sich hier um Hugh de Martells Rüstung.

Sie war zu klug, um etwas zu berühren. Schließlich waren Kettenhemd und Waffen ordentlich eingefettet, damit sie nicht verrosteten. Im Dämmerlicht konnte sie sehen, dass nicht ein Kettenglied verrutscht war. In der Luft lag ein Geruch nach Öl, Leder, Eisen und harzdurchtränkten Holzspänen, der sie seltsam erregte. Ohne nachzudenken, beugte sie sich dicht zu der Holzpuppe im Kettenhemd vor und schnupperte.

»Mein Großvater hat eine Streitaxt benutzt.«

Die Stimme erklang so plötzlich dicht neben ihrem Ohr, dass sie fast aufgeschrien hätte. Sie sprang hoch und wirbelte herum, wobei sie fast mit ihm zusammengestoßen wäre.

Hugh de Martell stand reglos da, aber er kicherte. »Habe ich Euch erschreckt?«

»Ich…« Sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen, und spürte, wie sie heftig errötete. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse. »Oh, mon Dieu. Ja.«

»Das tut mir Leid. Ich kann mich ziemlich lautlos bewegen. In dieser Dunkelheit habe ich Euch zuerst für einen Dieb gehalten.« Er hatte sich immer noch nicht von der Stelle gerührt. Sie standen so dicht beieinander, dass kaum noch ein Schatten zwischen sie gepasst hätte.

Auf einmal dachte Adela daran, dass sie nur halb bekleidet war. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Eine Streitaxt?« Etwas anderes fiel ihr im Augenblick nicht ein.

»Ja. Wir Normannen sind schließlich alle Wikinger. Er war ein großer, rothaariger Mann.« Martell lächelte. »Das dunkle Haar habe ich von meiner Mutter. Sie stammte aus der Bretagne.«

»Ach, ich verstehe.« Sie nahm nichts anderes mehr wahr als sein Lederwams und den Ärmel, der seinen langen Arm bedeckte. Und sie bemerkte, dass er eine Pause machte, bevor er mit einem Lächeln weitersprach.

»Ihr geht gerne auf Entdeckungsreise, oder irre ich mich? Erst in dem New Forest, dann hier. Ihr seid sehr abenteuerlustig, eine normannische Eigenschaft.«

»Seid Ihr denn nicht abenteuerlustig?«, fragte sie und blickte zu ihm empor. »Oder habt Ihr das nicht mehr nötig?«

Sein Lächeln verschwand, doch er wirkte nicht verärgert, eher nachdenklich. Natürlich hatte er genau verstanden, was sie meinte: die wohl geordneten Güter, die reiche Frau. Wie um ihn herauszufordern, hatte sie, wenn auch in höflichen Worten, angedeutet, er könne den Wikingergeist seiner Vorfahren verloren haben. »Wie Ihr seht, bin ich ein viel beschäftigter Mann«, erwiderte er leise. Bei diesen Worten strahlte er Ruhe, Selbstbewusstsein und Macht aus.

»Ihr weist mich in meine Schranken«, entgegnete sie.

»Ich frage mich, wo Ihr hingehört.« Seine Miene war wieder belustigt. »In die Normandie? Nach England?«

»Ich glaube, hierher.«

»Ihr werdet nach Winchester reisen. Eine gute Stadt, um einen Ehemann zu finden. Dort gibt es viele Leute. Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder.«

»Vielleicht. Seid Ihr oft in Winchester?«

»Ab und an.«

Er trat einen Schritt zurück, musterte sie von Kopf bis Fuß. Als er sich zum Gehen anschickte, hätte sie ihm so gerne noch etwas gesagt. Aber was? Dass er eine reiche Frau geheiratet hatte, die seiner nicht würdig war? Dass er mit ihr, Adela, glücklicher geworden wäre? Doch für sie beide gab es ganz sicher keine Zukunft.

»Kommt.« Er bedeutete ihr, ihm zu folgen. Natürlich, ja, sie musste sich anständig anziehen. Also gehorchte sie und schritt ihm voran zur erleuchteten Tür. Kurz vor der Schwelle spürte sie, wie er ihre Hand nahm, sie kurz an den Mund hob und leicht mit den Lippen darüber streifte.

Eine höfische Geste in der Dunkelheit, die völlig unerwartet kam. Sie drehte sich zu ihm um. Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die Brust, und einen Augenblick stockte ihr der Atem. Er senkte den Kopf. Wie eine Schlafwandlerin trat sie durch die Tür, hinaus ins helle Sonnenlicht, das ihr in den Augen blendete. Er hatte sich umgewandt, um die Tür abzuschließen. Sie ging ins Haus, ohne noch einmal zurückzublicken.

Der Rest des Tages verlief ereignislos. Den Großteil davon verbrachte Adela in Gesellschaft von Lady Maud. Als sie Hugh de Martell begegnete, behandelte er sie höflich, aber ein wenig kühl und herablassend.

Auch am nächsten Morgen, als sie und Walter sich vor ihrer Abreise nach Winchester von ihm verabschiedeten, verhielt er sich förmlich und abweisend. Doch als sie sich oben auf dem Berg umdrehte, bemerkte sie eine hoch gewachsene dunkle Gestalt. Er blickte ihnen nach, bis sie außer Sichtweite waren.

 

 

In New Forest ist der Übergang zum Herbst sanft. Die langen Sommertage werden im September unmerklich kürzer. Der torfige Heideboden speichert eine milde Wärme, die Luft duftet süß und frisch, und nur der feuchte Nebel, der über den kahlen Feldern hängt, erinnert die Menschen daran, so viele Vorräte wie möglich anzulegen, denn die immer schwächer werdende Sonne zeigt an, dass das Jahr sich seinem Ende zuneigt.

In dieser Jahreszeit werfen die Eichen ihre grünen Früchte ab, bis der ganze Waldboden von ihnen bedeckt ist. Und Männer wie Pride bringen ihre Schweine in den Wald, damit sie sich an Eicheln und Bucheckern mästen. Dieses Recht haben sie von alters her, und selbst der normannische Eroberer wollte es ihnen nicht nehmen. »Falls die Hirsche zu viele grüne Eicheln fressen«, sagten ihm seine Förster, »werden sie krank. Aber die Schweine vertragen sie gut.« Wenn die Tage vergehen, färbt sich das Laub der Buchen gelb. Und während dieser schleichende Verfall vonstatten geht, vollzieht sich gleichzeitig eine andere, fast gegensätzliche Verwandlung. Die Stechpalme ist zweigeschlechtlich, und nun, als wolle er den herannahenden Winter begrüßen, bringt der weibliche Baum Beeren hervor, die sich in dicken, scharlachroten Büscheln vom kristallklaren Septemberhimmel abheben.

Der Winter steht vor der Tür; es ist die Zeit des silbernen Mondes.

Und die Zeit der Hirschbrunft.

Der Hirsch stolzierte mitten durch seine Brunftkuhle. Der Morgen graute. Auf dem Boden lag leichter Reif. Rings um die Brunftkuhle drängte sich das Kahlwild, der Boden war zernarbt von Trittsiegeln, wie man die Abdrücke der Schalen nennt. Etwa acht oder neun Hirschkühe warteten darauf, beschlagen zu werden. Einige liefen rufend hin und her. Spannung lag in der Luft. Auch die weißliche Hirschkuh war dabei. Sie verharrte geduldig.

Der Hirsch war stolz auf sein prächtiges Geweih. Die schweren, schimmernden Schaufeln hatten eine Auslage von fast einem halben Meter und boten einen Furcht erregenden Anblick. Seit August war der Bast abgefegt, das Geweih voll ausgewachsen. Viele Tage lang hatte der Hirsch das neue Geweih an kleinen Bäumen und Schösslingen gerieben, sodass Schrammen auf der Rinde zurückblieben. Es war ein angenehmes Gefühl gewesen, als sich die kräftigen Zweige unter seinem Gewicht bogen, und der Hirsch hatte gespürt, dass seine Kräfte wuchsen. Dieses Reiben erfüllte einen doppelten Zweck. Denn es wurde dadurch nicht nur der Bast abgestreift, sondern das cremeweiße Geweih zusätzlich mit einer Schicht überzogen und zu einem schimmernden Braun gehärtet.

Im September wurde der Hirsch unruhig. Sein Hals schwoll an. Sein Adamsapfel vergrößerte sich. Und ein prickelndes Gefühl der Macht schien seinen ganzen Körper, vom Spiegel bis hin zu dem breiter gewordenen Widerrist, zu durchpulsen. Er begann, herumzustolzieren und mit den Hufen zu stampfen, und er hatte den Drang, sich zu bewegen, um seine Kraft zu erproben. Nachts streifte er allein durch die Wälder und wanderte umher wie ein Ritter auf der Suche nach einem Abenteuer. Nach einer Weile näherte er sich immer mehr dem Teil des New Forest, wo er im vergangenen Jahr die weißliche Hirschkuh gesehen hatte. Vor der Paarung verlassen Hirsche instinktiv ihr eigenes Revier, um Inzucht zu vermeiden. Ende September war der Hirsch bereit, seine Brunftkuhle zu markieren. Doch davor musste noch eine alte Zeremonie stattfinden.

Für gewöhnlich übernimmt der Rothirschbulle einige Tage nach der Tag-und-Nacht-Gleiche die Führung über ein Rudel von Kühen, die dann seinen Harem bilden. Dann erhebt er sein mächtiges Haupt und stößt einen durchdringenden Ruf, ein paar Töne höher als das Brüllen von Vieh, aus, der bei Dämmerung über die Heide dröhnt.

Es vergehen viele Tage, bis sich in den Wäldern der ganz anders klingende Ruf des Damhirschbocks mit den herbstlichen Geräuschen mischt.

Die Brunftkuhle des Bocks war nicht die wichtigste, denn die waren von älteren und mächtigeren Böcken besetzt. Es war seine erste Brunft. Die Brunftkuhle hatte eine Länge von etwa sechzig und eine Breite von vierzig Metern. Tagelang hatte er sie sorgfältig vorbereitet. Zuerst hatte er mit Hilfe seines Geweihs sämtliche Schösslinge und das Gebüsch rings um die Brunftkuhle beseitigt. Dabei hatte sich seine Vorderaugendrüse entleert und mit ihrem starken Geruch sein Territorium markiert. Auch die Bäume ringsherum wurden gekennzeichnet. Als der Zeitpunkt näher rückte, hatte er mit seinen Vorderläufen, wo sich ebenfalls Drüsen befanden, den Boden bearbeitet und ihn sogar hie und da mit dem Geweih aufgewühlt. Dann nässte er in die Furchen und wälzte sich in der feuchten Erde. So erzeugte er den durchdringenden Geruch des brunftigen Bockes, der die Kühe anzieht. Denn anders als beim Rothirsch suchen beim Damhirsch die Weibchen die Männchen auf.

Nun war der hübsche junge Bock bereit, seine Brunftkuhle gegen alle Herausforderer zu verteidigen, so als sollte hier, mitten im Wald, ein Ritterturnier ausgetragen werden. Viele Tage lang würde er Wache halten, ohne zu fressen. Mit der Zeit würde seine Aufmerksamkeit nachlassen, und irgendwann würde er entkräftet sein. Deshalb bewachten ihn die zusehenden Weibchen, die um die Brunftkuhle herum patrouillierten, Ausschau hielten und lauschten. Und die ganze Natur beteiligte sich an dem Treiben. Vögel warnten mit ihrem Gezwitscher vor drohender Gefahr, und selbst die wilden Ponys, die für gewöhnlich keinen Laut von sich gaben, wieherten laut, wenn sich menschliche Eindringlinge den getupften Tieren näherten, die sich ihrer geheimen Zeremonie hingaben.

Schon seit Stunden lief der Bock in seiner Brunftkuhle auf und ab, deren Boden inzwischen von niedergetrampeltem Gras und zerdrückten Farnen und trockenen, nussbraunen Eicheln bedeckt war. Außer den Kühen sahen auch noch zwei Spießer und ein Gabler zu, der so tat, als wolle er sich am liebsten auch gleich ins Getümmel stürzen. Ein schwaches Licht fiel durch die Bäume. Hin und wieder hielt der Bock inne und stieß einen Brunftschrei aus.

Den Brunftschrei des Damhirsches bezeichnet man als Knören. Dazu beugt er den Kopf leicht nach unten und reckt dann zum Rufen seinen geschwollenen Hals. Das Geräusch ist nur schwer zu beschreiben – sein seltsames Grunzen, Rülpsen und Trompeten. Wer es einmal gehört hat, vergisst es nie wieder.

Dreimal gab der Bock, der in der Mitte der Brunftkuhle stand, ein mächtiges, beeindruckendes Knören von sich.

Nun erschien ein Neuankömmling zwischen den Bäumen. Mit einem Rascheln stoben die Weibchen in alle Richtungen auseinander. Der Bock trat aus dem Gebüsch hervor und stolzierte in aller Seelenruhe zur Brunftkuhle hinüber, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

Es war ein Nebenbuhler, und nach seinem Geweih zu urteilen, konnte er es durchaus mit unserem Bock aufnehmen.

Die weißliche Hirschkuh erschauderte. Ihr Bock würde kämpfen.

Der Herausforderer näherte sich langsam der Brunftkuhle. Er war dunkler als der Platzhirsch, und sein Geruch stieg der Hirschkuh in die Nase, scharf und säuerlich wie Schlamm aus einem brackigen Wasser. Er sah stark aus. Er ging an ihrem Hirsch vorbei, der ihm – so war der Ritus des Kampfes – auf den Fersen folgte. Die beiden Männchen schlenderten fast lässig dahin. Sie bemerkte, wie die Muskeln an ihren kräftigen Schultern zuckten und wie ihr Geweih langsam im Takt der Schritte auf und nieder wippte. Außerdem sah die Hirschkuh, dass bei dem fremden Bock eine der kleinen gebogenen Augsprossen am Ansatz der Schaufelhaken abgebrochen war, sodass eine schartige Spitze hervorragte. Eine plötzliche Kopfbewegung, und er würde ihrem Bock ein Auge ausstechen. Die anderen Weibchen beobachteten reglos die Szene. Selbst die Vögel in den Bäumen schwiegen. Die Hirschkuh hörte nur das leise Rascheln des Laubes unter den Hufen der beiden Männchen.

Die ganze Natur wusste, dass sich nun das Schicksal des jungen Bockes entscheiden würde. Ein Bock kann einen Platzhirschen herausfordern und eine ehrenvolle Niederlage verbuchen. Vielleicht hatte sich der fremde Bock ja auf diese Weise die Augsprosse verletzt. Doch wenn zwei gleich starke Böcke aufeinander treffen, muss sich einer von ihnen geschlagen geben. Vielleicht wird er verwundet, manchmal sogar getötet. Doch am wichtigsten ist, dass er seinen Stolz verliert. Die Weibchen wissen es, der ganze Wald hat es gesehen. Er verschwindet, und seine Brunftkuhle und die Weibchen gehören dem Sieger.

Die weißliche Hirschkuh sah, dass die Rivalen das Ende der Brunftkuhle erreicht hatten, sich umdrehten und sich wieder auf den Rückweg machten. Was war, wenn nach all dem Warten nun der dunkle, säuerlich riechende Bock mit der gefährlichen Augsprosse ihren Bock verletzte und sie nahm? Von Rechts wegen gehörte sie dem Sieger. So war es nun einmal. Dann gab der Bock das Zeichen.

Ein Rempler war das Signal. Ihr Bock war ein wenig vorgetreten, sodass seine Schulter an das Hinterteil des Herausforderers stieß.

Der dunkle Bock wirbelte herum. Kurz entstand eine Pause, als die beiden Männchen sich auf die Hinterbeine stemmten. Dann hallte ein Krachen durch den Wald. Die riesigen Geweihe waren zusammengestoßen.

Zwei ausgewachsene kämpfende Böcke sind ein Furcht erregender Anblick. Als die beiden kraftvollen Körper sich mit vorgereckten, geschwollenen Hälsen grunzend aufeinander warfen, wich die Hirschkuh unwillkürlich zurück. Die beiden wirkten auf einmal so riesig und gefährlich. Was war, wenn einer von ihnen es sich anders überlegte und sich auf sie stürzte? Sie waren gleich stark. Eine Weile schoben sie sich hin und her, die gesenkten Geweihe ineinander verkeilt, die Hinterläufe in den Boden gestemmt, die Muskeln bis zum Zerreißen gespannt. Ihr Bock schien die Oberhand zu gewinnen.

Doch dann bemerkte sie, dass seine Hinterläufe ins Rutschen gerieten. Der Herausforderer drängte ihn immer weiter – Zentimeter um Zentimeter, Meter um Meter – zurück. Ihr Bock krallte die Klauen in den Boden, fand jedoch auf dem glitschigen Laub keinen Halt. Sie sah, wie er die Beine durchstreckte. Mit angespanntem Körper und starren Läufen rutschte er immer weiter zurück. Da versetzte ihm sein Nebenbuhler einen letzten Stoß. Jeden Moment würde er sich auf ihren Bock werfen und ihm den Rest geben.

Dann aber geschah etwas Überraschendes. Ihr Bock hatte wieder festen Boden unter den Füßen und stand sicher im Gras. Sein Spiegel zitterte, als er sich seinem Widersacher entgegenstemmte. Seine Schultern hoben sich, er reckte den Hals nach unten. Und nun geriet der Nebenbuhler auf dem feuchten Laub ins Rutschen. Langsam und vorsichtig, die Geweihe immer noch ineinander verkeilt, drehten sich die Böcke, bis sie beide im Gras standen. Plötzlich wich der Herausforderer zurück. Sein Kopf machte einen Ruck. Mit der abgebrochenen Augsprosse zielte er auf das Auge ihres Bockes und stürmte voran. Sie sah, wie ihr Bock zurücksprang und sich dann auf seinen Gegner stürzte. Mit seinem ganzen Gewicht warf er sich gegen das Geweih seines Widersachers. Ein Knirschen ertönte. Wegen seines heimtückischen Vorstoßes stand der Herausforderer nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, sodass es ihm den Hals zur Seite drehte. Er konnte dem Angriff nicht standhalten.

Und dann, wie aus heiterem Himmel, war alles vorbei. Ihr Bock drängte seinen Nebenbuhler Stück für Stück zurück. Der Gegner verlor das Gleichgewicht, taumelte, drehte sich und wurde an der Flanke getroffen. Nun war ihr Bock voll in Fahrt, stieß, schleuderte den Kopf herum und trieb den Konkurrenten vor sich her. Blut tropfte dem Herausforderer aus der Seite. Da versetzte ihm ihr Bock noch einen mächtigen Hieb mit dem Geweih. Mit einem Aufschrei machte der Eindringling kehrt, stolperte und verließ hinkend die Brunftkuhle. Es war ausgestanden.

Nachdem der Bock majestätisch die Brunftkuhle abgeschritten hatte, über die er nun uneingeschränkt herrschte, wandte sich sein Blick der Hirschkuh zu. Warum sah er auf einmal so fremd aus? Sein riesiges Geweih, sein dreieckiges Gesicht, die beiden Augen, wie schwarze Löcher, die sie ausdruckslos anstarrten. Es war, als gäbe es ihren Bock nicht mehr, so, als hätte er einem unbekannten Wesen namens »Hirsch« Platz gemacht. Ein Traumbild, ein Geist, blitzschnell und Furcht erregend. Er kam auf sie zu.

Sie drehte sich um. Das wurde von ihr erwartet, es war instinktiv, doch sie hatte auch Angst davor. Das ganze Jahr lang hatte sie sich darauf gefreut. Und nun war sie an der Reihe. Sie setzte sich in Bewegung und lief, fort von der Brunftkuhle, durch den Wald, sodass die Büsche sie streiften. Ein Jahr lang hatte sie gehofft, doch nun, da sie ihn so groß, so kraftvoll und so fremd kennen gelernt hatte, zitterte sie vor Furcht. Würde er ihr wehtun? Ja. Gewiss. Und dennoch musste es sein. Sie hatte ein seltsames Gefühl, als ob all die Wärme und das Blut in ihrem Körper nach hinten strömten, die Wirbelsäule entlang zu ihrem Spiegel, der beim Laufen erbebte. Er kam näher. Er war dicht hinter ihr. Sie konnte ihn hören und spüren. Und plötzlich roch sie ihn auch. Unwillkürlich blieb sie stehen.

Er war da. Er hatte sie eingeholt. Sie bemerkte, dass er sie bestieg. Fast gaben ihre Knie unter seinem Gewicht nach, und es kostete sie Mühe, sich aufrecht zu halten. Sein Geruch hüllte sie ganz ein wie eine Wolke. Ihr Kopf kippte zurück. Sein Geweih ragte über ihr auf, schrecklich und Ehrfurcht gebietend. Und dann spürte sie, wie er in sie eindrang. Ein stechender, entsetzlicher Schmerz, gefolgt von einer drängenden, gewaltigen Erfüllung, die wie eine Flutwelle über sie hinwegbrandete.

 

 

Adela gefiel es in Winchester. Die Ortschaft befand sich inmitten der kahlen Kreidefelsen nördlich des großen Meeresarms Solent und hatte den Römern früher als Provinzstadt gedient. Danach war sie viele Jahrhunderte lang Residenz der westsächsischen Könige gewesen, die schließlich über ganz England regierten. Und obwohl seit einigen Jahrzehnten London die Hauptstadt des Königreiches war, bewahrte man den Staatsschatz weiter in Winchester auf. Hin und wieder hielt der König dort in seinem Palast Hof.

Von Winchester bis zum New Forest war es nicht weit. Die Straße, die nach Nordwesten führte, brachte einen nach etwa fünfzehn Kilometern zum Städtchen Romsey, wo es ein Nonnenkloster gab.

Nach weiteren sieben Kilometern erreichte man den New Forest. Doch wie Adela rasch herausfand, hätte er genauso gut am anderen Ende der Welt liegen können.

Winchester, das, umgeben von mit Eichen und Buchen bewaldeten Hügeln, auf einer Anhöhe oberhalb eines Flusses stand, verfügte über eine Stadtmauer mit vier alten Toren. Die Stadt hatte eine Fläche von etwa sechsundfünfzig Hektar. An ihrem südlichen Ende erhoben sich eine prächtige neue normannische Kathedrale, der Palast des Bischofs, die Abtei St. Swithun’s, die Schatzkammer und die Residenz von Wilhelm zwischen einigen anderen prachtvollen Steingebäuden. Die restliche Stadt setzte sich aus einem Marktplatz, einigen Kaufmannshäusern, Gebäuden mit Gärten und Taubenschlägen und geschäftigen Straßen zusammen, in denen Handwerker und Händler ihrem Tagwerk nachgingen. Neben einem der Stadttore gab es ein Hospiz für die Armen. Von der Stadt aus hatte man eine malerische Aussicht. Die Luft war frisch.

Winchester hatte sich den Großteil seines altertümlichen Charakters bewahrt. Die Straßen trugen noch angelsächsische Namen: Gold Street, Tanners Street, bis hin zur germanisch klingenden Fleshmongers Street. Doch am Hof von Wessex hatte man immer Wert auf Bildung gelegt. Schon vor der normannischen Eroberung hatte es auf den Straßen von Priestern, Mönchen, königlichen Beamten, reichen Kaufleuten und vornehmen Herren gewimmelt, und in den Herrenhäusern von Winchester wurde nicht nur Angelsächsisch, sondern auch Latein oder sogar Französisch gesprochen.

Das Quartier, das Walter für Adela beschafft hatte, stellte verglichen mit dem Kaufmannshaus in Christchurch eindeutig eine Verbesserung dar. Adelas Gastgeberin war eine über fünfzigjährige Witwe, Tochter eines sächsischen Erbadeligen, die mit einem der normannischen Hüter der Schatzkammer von Winchester verheiratet gewesen war. Nun bewohnte sie ein hübsches Steinhaus unweit des westlichen Stadttores. Nach ihrer Ankunft hatte sich Walter stundenlang mit der Lady zurückgezogen. Und als er fort war, hatte sie Adela aufmunternd zugelächelt und gesagt: »Ich bin sicher, dass wir etwas für Euch tun können.«

Ganz sicher mangelte es ihr nicht an Gesellschaft. Als sie am ersten Tag durch die Straßen nach St. Swithun’s und über den Markt zurück spazierten, wurde ihre Gastgeberin ständig von Priestern, Höflingen und Kaufleuten gegrüßt. »Mein Gatte hatte viele Freunde, und sie erinnern sich seinetwegen an mich«, erklärte sie. Doch nachdem Adela zwei Tage lang ihre Freundlichkeit und ihren gesunden Menschenverstand hatte erleben dürfen, kam sie zu dem Schluss, dass die Witwe um ihrer selbst willen so beliebt war.

Auch Adelas gesellschaftliche Stellung war rasch geklärt.

»Das ist Walter Tyrrells Base aus der Normandie«, pflegte ihre Gastgeberin sie vorzustellen. Und Adela erkannte an den respektvollen Reaktionen, dass man sie für eine junge Adelige mit guten Verbindungen hielt. Schon einen Tag später traf eine Einladung des Abtes von St. Swithun’s ein, der die beiden Damen zu sich zum Essen bat.

Wenn sie unter vier Augen waren, versuchte die Witwe zwar, Adela aufzumuntern, doch sie schmierte ihrem Schützling keinen Honig um den Mund. »Ihr seid ein hübsches Mädchen. Jeder Adelige wäre stolz, Euch an seiner Seite zu haben. Doch was Eure mangelnde Mitgift angeht…«

»Ich bin nicht völlig mittellos.«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte ihre neue Freundin, allerdings mehr aus Freundlichkeit als aus Überzeugung. »Man soll nie etwas sagen, das nicht der Wahrheit entspricht«, fuhr sie fort. »Doch es gibt keinen Grund, die Menschen vor den Kopf zu stoßen. Also halte ich es für das Beste, wenn wir darüber schweigen.« Ihre Stimme erstarb, und sie blickte in die Ferne. »Wie dem auch sei«, fügte sie fröhlich hinzu. »Wenn Ihr Euch bei Eurem Vetter Walter beliebt macht, bekommt Ihr vielleicht etwas von ihm.«

Adela sah sie erstaunt an. »Meint Ihr… Geld?«

»Nun, er ist kein armer Mann. Und wenn er glaubt, dass Ihr ihm nützlich sein könntet…«

»Daran hatte ich noch gar nicht gedacht«, gestand Adela.

»Ach, mein liebes Kind.« Die Witwe brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen. »Von nun an müssen wir dafür sorgen, dass Euer Vetter sehr, sehr stolz auf Euch ist.«

Während ihre Gastgeberin versuchte, ihr Diplomatie beizubringen, erfuhr Adela von anderen Menschen in Winchester, was in der Welt vor sich ging. Sie hatte zwar gewusst, dass der König seine Differenzen mit der Kirche hatte, war aber dennoch entsetzt, als ihn ein hoher Kirchenmann bei einer Plauderei auf dem Kirchplatz beiläufig »diesen roten Teufel« nannte.

»Vergesst nicht, was Rufus getan hat«, erklärte die Witwe ihr später. »Zuerst hatte er einen fürchterlichen Streit mit dem Erzbischof von Canterbury. Der Erzbischof suchte daraufhin den Papst auf, und danach hat ihm Rufus die Einreise nach England verweigert. Dann starb hier in Winchester der Bischof, und Rufus weigerte sich, einen neuen einzusetzen. Ihr wisst ja sicher, was das bedeutet. Sämtliche Steuern der Diözese Winchester, die sehr wohlhabend ist, werden nun nicht mehr an die Kirche, sondern unmittelbar an den König entrichtet. Und um das Maß der Beleidigungen voll zu machen, hat er seinen besten Freund, einen abgrundtiefen Schurken, zum Bischof von Durham ernannt. Daher hassen die Geistlichen den König. Die meisten würden ihn wohl am liebsten tot sehen.«

Ein weiteres Thema, über das sie bald mehr erfuhr, hing mit ihrer Heimat zusammen. Wenn die Menschen hörten, dass sie aus der Normandie stammte, merkten sie häufig an, man werde wohl bald wieder unter einem gemeinsamen König leben. Adela wusste, dass Robert, Herzog der Normandie, vor drei Jahren zu einem Kreuzzug aufgebrochen war. Das dazu nötige Geld, eine gewaltige Summe, hatte er sich von seinem Bruder Rufus geliehen und ihm als Sicherheit die Normandie verpfändet. Allerdings war Adela im Gegensatz zum restlichen Winchester nicht darüber im Bilde gewesen, dass Rufus nicht die geringste Absicht hatte, seinen Bruder wohlbehalten in sein Herzogtum zurückkehren zu lassen. »Wenn er nicht auf dem Kreuzzug fällt«, hatte er vergnügt zu seinen Freunden gesagt, »wird er arm sein wie eine Kirchenmaus. Er wird seine Schulden nie zurückzahlen können. Und dann bekomme ich die Normandie und bin ein mächtiger Mann wie mein Vater, der Eroberer.«

»Wahrscheinlich behält er Recht«, meinte die Witwe zu Adela. »Doch es gibt da noch eine Schwierigkeit. Einige von Roberts Freunden haben vor ein paar Jahren einen Mordanschlag auf Rufus unternommen. Vielleicht versuchen sie es wieder. Man darf zwar nicht vergessen, dass sie alle eine Heidenangst vor Rufus haben, aber man kann nie wissen…«

»Was ist mit dem dritten Bruder, dem jungen Henry?«, erkundigte sich Adela. »Er hat schließlich überhaupt kein Königreich.«

»Das ist wahr. Übrigens werdet Ihr ihn vielleicht kennen lernen. Von Zeit zu Zeit kommt er hierher.« Sie überlegte eine Weile, bevor sie fortfuhr: »Ich halte ihn für ziemlich gerissen. Wahrscheinlich will er für keinen seiner Brüder Partei ergreifen, weil er befürchtet, sonst zwischen den Stühlen zu sitzen. Also benimmt er sich unauffällig und macht keine Schwierigkeiten. Vermutlich ist das eine weise Entscheidung. Glaubt Ihr nicht?«

Wenn in Winchester eine Festivität stattfand – zu Ehren durchreisender Ritter oder Höflinge mit Gefolge, für die der Schatzmeister ein Bankett veranstaltete –, waren die Witwe und ihr Gast stets eingeladen. Innerhalb weniger Wochen war Adela so einer Reihe unverheirateter junger Männer begegnet, die sie – wenn sie auch selbst nicht auf Brautschau waren – vielleicht anderen gegenüber erwähnen würden.

Und auf einem dieser Feste machte sie die Bekanntschaft von Sir Fulk.

Sir Fulk war mittleren Alters, aber noch recht ansehnlich. Es bedrückte Adela zu hören, dass er – unter Umständen, über die er sich nicht näher ausließ – vor kurzem seine vierte Frau verloren hatte. Der Adelige besaß Güter in der Normandie und in Hampshire, unweit von Winchester. Außerdem glaubte er, vor vielen Jahren einmal Adelas Vater begegnet zu sein. Adela war machtlos dagegen, dass sie sein Schnurrbärtchen und das runde Gesicht leider ein wenig an Walter erinnerten. Doch sie versuchte, sich davon nicht anfechten zu lassen. Schließlich sprach er so liebevoll von seinen verblichenen Gattinnen.

»All meine Frauen«, meinte er wohlwollend, »waren sehr reizend und ausgesprochen fügsam. Ich hatte großes Glück. Die zweite«, fügte er aufmunternd hinzu, »sah Euch sehr ähnlich.«

»Plant Ihr, Euch wieder zu verheiraten, Sir Fulk?«

»In der Tat.«

»Und Ihr sucht nicht nach einer reichen Erbin?«

»Nein, ganz und gar nicht«, versicherte er ihr. »Ich bin bereits wohlhabend genug und nicht sehr ehrgeizig. Und wisst Ihr« – diese Worte sprach er mit einer Aufrichtigkeit aus, die offenbar dazu gedacht war, ihr ans Herz zu gehen – »der Nachteil bei Erbinnen ist, dass sie zumeist viel zu sehr auf ihre eigene Meinung pochen.«

»Sie brauchen eine starke Hand.«

»Ganz recht.«

Beim Verlassen des Festes wurde ihre Gastgeberin kurz aufgehalten. Doch sobald sie Adela eingeholt hatte, verkündete sie: »Ihr habt eine Eroberung gemacht.«

»Sir Fulk?«

»Er sagt, Ihr hättet ihn ermutigt.«

»Er ist der schlimmste Langweiler, der mir je untergekommen ist.«

»Mag sein, doch er ist grundsolide. Er wird Wachs in Euren Händen sein.«

»Aber ich nicht in seinen«, entgegnete Adela hitzig.

»Nehmt Euch zusammen und hütet Eure lose Zunge. Oder wartet wenigstens, bis Ihr verheiratet seid.«

»Außerdem«, wandte Adela entsetzt ein, »sieht er aus wie Walter!«

Ihre Begleiterin seufzte auf und warf Adela einen tadelnden Blick zu, den diese jedoch nicht bemerkte. »Euer Vetter ist kein hässlicher Mann.«

»Für mich schon.«

»Wollt Ihr Sir Fulk etwa abweisen, wenn er um Eure Hand anhält? Eure Familie, das heißt Walter, könnte darauf bestehen, dass Ihr sein Angebot annehmt!«

»Ach, sobald Sir Fulk sieht, wie ich wirklich bin, wird er sofort einen Rückzieher machen.«

»Ich fürchte, Ihr verhaltet Euch unvernünftig.«

»Habt Ihr denn gar kein Verständnis für mich?«

»Darum geht es doch nicht.«

»Meint Ihr etwa, ich sollte mich opfern?« Anklagend sah Adela die ältere Frau an. »Habt Ihr bei Eurer Hochzeit die Zähne zusammenbeißen müssen?«

Ihre Begleiterin schwieg eine Weile. »Nun, ich sage Euch eines«, erwiderte sie schließlich. »Falls es so war, hat mein lieber verstorbener Mann nie etwas davon bemerkt.«

Adela dachte eine Weile über diese Antwort nach und nickte dann reumütig. »Bin ich vielleicht zu dumm, um einen Mann zu finden?«

»Mag sein«, entgegnete die Witwe. »Doch das ist bei den meisten Mädchen so.«

Der Heiratsantrag kam am nächsten Tag. Adela lehnte ihn ab. Eine Woche später traf Walter Tyrrell ein.

»Sie hat Sir Fulk einen Korb gegeben?«

»Vielleicht war er ja nicht der Richtige«, meinte die Witwe nachsichtig.

»Ohne meine Erlaubnis. Was stimmt denn nicht mit ihm? Er besitzt zwei ertragreiche Güter.«

»Möglicherweise lag es an etwas anderem.«

»Er ist ein sehr stattlicher Mann«, stellte Tyrrell fest.

»Ohne Zweifel.«

»Ein Skandal! Ich nehme diese Zurückweisung persönlich.«

»Sie ist noch jung, Walter. Ich mag sie.«

»Dann sprecht Ihr mit ihr, denn ich weigere mich. Aber sagt ihr eines«, fügte der erboste Ritter hinzu. »Wenn sie noch einen ehrbaren Freier ausschlägt, werde ich sie ins Kloster von Romsey bringen. Dann kann sie den Rest ihres Lebens als Nonne fristen. Teilt ihr das mit.« Er bedachte seine alte Freundin mit einem angedeuteten Handkuss und stürmte davon.

»Seht Ihr«, meinte die Witwe eine Stunde später zu Adela. »Er droht Euch mit dem Kloster von Romsey.«

Adela konnte ihre Erschütterung nicht verbergen. »Was ist denn das für ein Kloster? Kennt Ihr jemanden dort?«, fragte sie entsetzt.

»Es geht dort ziemlich vornehm zu. Hauptsächlich adelige Damen. Und ja, ich kenne eine Nonne dort, eine angelsächsische Prinzessin namens Edith – eine der letzten Nachkommen unseres Königshauses. Ihre Mutter ist mir ebenfalls gut bekannt. Edith ist ungefähr in Eurem Alter.«

»Gefällt es ihr im Kloster?«

»Wenn die Äbtissin nicht hinsieht, reißt sie sich die Tracht vom Leibe und trampelt darauf herum.«

»Oh.«

»Ich an Eurer Stelle würde nicht dort eintreten, wenn Ihr nicht wirklich Nonne werden wollt.«

»Das will ich auf keinen Fall.«

»Dann solltet Ihr besser dafür sorgen, dass Ihr einen Ehemann findet. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Passt nur auf, dass Ihr nicht noch mehr Herren wie Sir Fulk ermutigt.« Die Witwe, die Mitleid mit Adela hatte, fügte hinzu: »Ich glaube nicht, dass Walter diese Drohung wirklich in die Tat umsetzen wird.«

»Warum?«

»Weil es ihn wahrscheinlich ein ordentliches Sümmchen kosten würde, Euch im Kloster von Romsey unterzubringen.«

Der Herbst führte nur wenige Besucher nach Winchester. Dann kam der November. Die Blätter waren von den Bäumen gefallen, der Himmel wurde grau, und über die Hügel wehte häufig ein bitterkalter Wind. Nirgendwo war ein heiratswilliger Junggeselle in Sicht. Manchmal erinnerte sich Adela an den New Forest und wünschte sich beinahe zurück nach Christchurch, in die Zeit ihrer gemeinsamen Ausritte mit Edgar. Oft dachte sie an Hugh de Martell. Doch das erwähnte sie nie, nicht einmal gegenüber ihrer freundlichen Gastgeberin. Der Dezember kam. Es hieß, es werde bald Schnee geben.

Adela war wie vom Donner gerührt, als sie aus der Kathedrale trat, in Richtung Westtor ging und plötzlich ihren Vetter Walter erblickte. Er trug eine kecke Jagdkappe mit einer Feder und stand neben einer eleganten, geschlossenen Kutsche. Gerade machte sich eine in einen Umhang gehüllte Dame, auf seinen ausgestreckten Arms gestützt, daran, das Gefährt vorsichtig zu verlassen.

Es war Lady Maud.

 

 

Adela eilte zu den beiden hinüber und rief ihnen einen Gruß zu. Sie wandten sich um.

Walter wirkte ein wenig verdrießlich. Vermutlich lag es daran, dass sie Lady Maud beim Aussteigen störte. Er hatte seine Ankunft in Winchester nicht angekündigt, doch sicher hätte er ihr einen Besuch abgestattet. Sie deutete sein Kopfnicken als Aufforderung, sich zu ihnen zu gesellen, und so folgte sie ihnen in die Residenz, wo ihr Vetter offenbar beim Pförtner und den Dienstboten bekannt war.

Adela fand, dass Lady Maud ruhig freundlicher sein oder wenigstens ein Zeichen des Erkennens hätte zeigen können. Aber gewiss war sie müde von der Reise. Während Lady Maud sich kurz zurückzog, erklärte Walter ihr den Grund seiner Anwesenheit. Sie seien nur auf der Durchreise. Lady Maud wolle einen Vetter besuchen, der jenseits von Winchester wohne. Und Hugh de Martell habe ihn, Walter, gebeten, seine Gattin zu begleiten. »Danach kehre ich in die Normandie zurück«, sagte Walter. Er lief gereizt auf und ab, was das Gespräch nicht eben erleichterte.

Kurz darauf erschien Lady Maud wieder, offenbar in besserer Stimmung. Wie immer war sie ein wenig blässlich, doch sie benahm sich höflich, wenn auch ein wenig reserviert. Als Adela sich nach ihrem Befinden erkundigte, erwiderte sie, es gehe ihr gut.

»Ich hoffe, Euer Gatte ist ebenfalls wohlauf«, zwang sich Adela zu sagen. Sie hoffte, dass es höflich und dennoch beiläufig geklungen hatte.

»Ja.«

»Walter erzählte, Ihr wolltet einen Verwandten besuchen.«

»Ja.« Sie schien zu überlegen. »Richard Fitzwilliam. Vielleicht kennt Ihr ihn.«

»Nein, obwohl ich natürlich von ihm gehört habe.« Der Name war ihr schon öfter zu Ohren gekommen. Fitzwilliam war dreißig Jahre alt, Besitzer eines der wohlhabendsten Güter der Grafschaft und lebte nur etwa acht Kilometer von Winchester entfernt. Und er war Junggeselle. »Es heißt, er sei ein gut aussehender Mann«, fügte sie höflich hinzu.

»Ja.«

»Ich wusste gar nicht, dass Ihr mit ihm verwandt seid.«

»Er ist mein Vetter. Wir stehen uns sehr nah.«

Adela wurde klar, dass während ihres Aufenthalts im Hause von Lady Maud auf dem Weg nach Winchester kein Wort über diese Verwandtschaft gefallen war. Sie fragte sich, ob Lady Maud sie nun einladen würde, sie zu begleiten, um ihn kennen zu lernen.

Doch sie tat es nicht. Und auch Walter sagte kein Wort.

Schweigen entstand.

»Vielleicht wollt Ihr Euch ein wenig ausruhen, bevor wir weiterfahren«, schlug Walter vor.

»Ja.«

Er bedachte Adela mit einem leichten Kopfnicken, das Zeichen eines Höflings, dass es Zeit für sie war, sich zu entfernen.

Adela hatte den Wink wohl verstanden, doch sie hätte sich gefreut, wenn Walter sie zur Tür begleitet hätte. »Werde ich dich bald wieder sehen, Walter?«, fragte sie im Gehen.

Er nickte, aber auf eine Weise, die ihr klarmachte, dass er sie so rasch wie möglich loswerden wollte. Ehe sie es sich versah, stand sie draußen auf den kalten Straßen von Winchester.

Da sie keine Lust hatte, sich nach Hause zu begeben, spazierte sie umher. Nach einer Weile trat sie vor das Stadttor hinaus und blickte über das weite Land. Der Himmel war grau. Die kahlen, braunen Wälder auf dem gegenüberliegenden Hügel schienen sie zu verspotten. Ich werde gedemütigt, dachte sie. Auch wenn sie arm war, hatte ihr eigener Vetter nicht das Recht, sie so zu behandeln und sie wie einen Lakai fortzuschicken. Heiße Wut stieg in ihr auf. Zum Teufel mit ihm! Zum Teufel mit ihnen beiden.

Adela lief vor dem Stadttor auf und ab. Würden sie die Stadt auf diesem Wege verlassen? Vielleicht sollte sie die beiden dann hier ansprechen? Nein. Sie würde sich nur lächerlich machen, wenn sie ihnen in ohnmächtiger Wut auf der Straße auflauerte. Aber der Verlauf der Begegnung mit Walter und Lady Maud hatte sie sehr gekränkt. Etwas sträubte sich in ihr, sich damit abzufinden. So kann man mit mir nicht umspringen, dachte sie. Ich darf mir das nicht bieten lassen. Also beschloss sie, die beiden zur Rede zu stellen und sie dazu zu zwingen, sie mit der gebührenden Höflichkeit zu behandeln. Aber wie? Welchen Vorwand gab es, noch einmal in der Residenz vorzusprechen?

Da kam ihr plötzlich der zündende Einfall. Natürlich: Ihre Gastgeberin und Walter waren befreundet. Was hätte unverfänglicher sein können, als in Begleitung der alten Dame wiederzukommen, die ihren Freund, der auf der Durchreise war, begrüßen wollte? Selbst eine Lady Maud wäre gezwungen, der Witwe Respekt zu erweisen. Und vielleicht würde sie ja auch beiläufig erwähnen, wie beliebt Adela hier in Winchester war und was für eine Ehre sie ihrem Vetter machte… Kaum war ihr dieser wunderbare Gedanke gekommen, als sie auch schon kehrtmachte und so schnell wie möglich zum Haus ihrer Gastgeberin lief.

Die Witwe war zu Hause. Ohne sich länger bei den demütigenden Einzelheiten des Zusammentreffens aufzuhalten, schilderte Adela ihr in wenigen Minuten die Lage. Die Witwe war sofort bereit, sie zu begleiten, bat sich jedoch ein wenig Zeit aus, um sich präsentabel herzurichten.

Während sich die alte Dame das Haar kämmte, fiel Adela allerdings noch etwas ein. Was war, wenn Walter und die Lady nicht so lang in der Residenz blieben und bereits aufbrachen? Das musste sie unbedingt verhindern. Ganz sicher würde Walter nicht einfach abfahren, wenn sie ihm sagte, dass die Witwe ihn besuchen wollte.

»Wir treffen uns am Eingang zur Residenz!«, rief sie und eilte durch die Straßen zurück. Sie betete, dass es noch nicht zu spät war.

Ihre Sorge erwies sich als unbegründet: Der Pförtner versicherte ihr, dass die beiden sich noch im Gebäude befanden. Adela wartete an der Tür, doch als sie immer mehr zu frieren begann und sich außerdem ein wenig albern vorkam, bat sie den Pförtner, sie hineinzulassen. Da er sie bereits in Begleitung von Tyrrell gesehen hatte, erhob er keine Einwände und versprach, die Witwe sofort zu ihr zu schicken.

»Sie ist eine alte Freundin meines Vetters Tyrrell«, erklärte Adela, deren Missmut inzwischen verflogen war.

Zwischen der Außentür und der Vorhalle befand sich ein kleines Foyer, in dem die Normannin wartete. Sie hatte sich alles sorgfältig zurechtgelegt. Falls die beiden plötzlich aus der Vorhalle auf sie zukommen sollten, wollte sie freundlich lächeln und sagen, sie sei nur zurückgekehrt, weil die Witwe auf dem Weg hierher sei. Adela war sicher, dass man ihr diese Lüge abnehmen würde, denn sie hatte sie gründlich eingeübt. Doch die beiden erschienen nicht, und allmählich wurde sie unruhig. War es möglich, dass sie das Gebäude auf einem anderen Weg verlassen hatten? Adela lauschte an der schweren Tür, die zur Vorhalle führte, aber sie hörte nichts. Nachdem sie ein paarmal auf und ab gelaufen war, lauschte sie wieder und zögerte. Dann schob sie vorsichtig die Tür einen Spaltbreit auf.

Die beiden standen zusammen da. Sie trugen bereits ihre Umhänge, und Walter hatte seine Kappe mit der Feder auf dem Kopf. Offenbar wollten sie gerade aufbrechen. Doch sie waren vor einem Wandbild stehen geblieben, das eine Jagdszene darstellte.

Walter stand hinter Lady Maud, beugte sich über ihre Schulter und zeigte auf ein Detail des Bildes. Seine Wange war dicht an ihrer, dann wich er ein kleines Stück zurück, und sie lehnte sich an ihn. Die Bewegung hatte etwas Kokettes, Vertrauliches. Seine Hand senkte sich, und einen Augenblick später umfasste sie, ganz kurz nur, Lady Mauds Brust. Lady Maud lächelte. Im nächsten Moment bemerkte sie Adela.

Die beiden fuhren auseinander. Die Lady wandte sich ab, zog den Umhang fester um sich zusammen und trat ein paar Schritte auf das Wandbild zu. Walter starrte Adela finster an, als hoffte er, der Boden würde sich auftun und sie verschlingen.

Was hatte das zu bedeuten? Liebten sich die beiden, oder war es nur eine der Tändeleien, die, wie Adela wusste, bei Hofe an der Tagesordnung waren? Was verriet das über die Gefühle der Lady zu ihrem Ehemann? Und dieser Gedanke, der ihr plötzlich in den Sinn kam, sorgte dafür, dass sie wie angewurzelt stehen blieb und die beiden entsetzt anblickte.

»Was zum Teufel hast du in der Halle des Königs zu suchen?« Walter war zu schlau, um sich etwas anderes als Entrüstung anmerken zu lassen. Selbst in ihrer Verwirrung bemerkte sie, wie rasch es ihm gelungen war, ihr den schwarzen Peter zuzuschieben – sie hatte unbefugt königlichen Besitz betreten.

Adela stammelte, die Witwe wolle ihn sprechen, sie seien gemeinsam hier. Das hörte sich ziemlich albern an, vor allem, als Walter fragte: »Nun, wo ist sie?« Denn die würdige Dame war nirgendwo zu sehen. »Lady Maud verlässt uns jetzt«, sagte er barsch. Adela wusste nicht, ob er ihr die Geschichte mit der Witwe überhaupt geglaubt hatte.

Lady Maud hatte sich inzwischen wieder gefasst und marschierte zur Tür, als ob Adela Luft wäre. Doch auf einmal blieb sie stehen, als ob ihr noch etwas eingefallen wäre, und sie musterte Adela. »Die ganze Grafschaft weiß, dass Ihr einen Ehemann sucht«, meinte sie zuckersüß. »Aber ich glaube nicht, dass Ihr dabei viel Glück haben werdet. Woran das nur liegen mag?«

Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Zuerst hatte sie sich von dieser Frau demütigen lassen müssen, dann hatte sie sie beim Ehebruch ertappt, und nun wurde sie auch noch beleidigt. »Wenn ich einmal heirate«, erwiderte Adela mit einer Ruhe, auf die sie sehr stolz war, »werde ich meinen Mann ehren. Und ich werde ihm ein Kind schenken.« Es war ihr gleichgültig, wie sehr sie Lady Maud mit dieser vernichtenden Bemerkung gekränkt haben mochte. Abwartend sah sie ihre Widersacherin an.

Aber zu ihrem Erstaunen verzog Lady Maud ihre roten Lippen nur zu einem gekünstelten Lächeln und warf Walter einen triumphierenden Blick zu. »Ich fürchte, von Euch wird es bald heißen, dass Ihr Haare auf den Zähnen habt«, entgegnete sie. »Und dass Ihr außerdem ein Klatschweib seid«, fügte sie gedehnt hinzu. Dann stolzierte sie weiter zur Tür, die Walter ihr höflich aufhielt. Adela hatte erwartet, dass er einfach hinter ihr hinausgehen würde, doch stattdessen hielt er die Tür weiter für sie offen. Wie benommen verließ Adela zwischen Lady Maud und Walter das Haus und trat hinaus in die Kälte. Nachdem Walter der Lady in die Kutsche geholfen hatte, schickte er sich an, in den Sattel zu steigen.

Zuvor jedoch winkte er Adela zu sich. »Ich möchte dir noch etwas sagen«, flüsterte er. »Als ich vorgestern bei Hugh de Martell eintraf, hatte er eine erfreuliche Neuigkeit für mich. Lady Maud hat vor kurzem festgestellt, dass sie guter Hoffnung ist.« Er sah sie bedrückt an. »Jetzt hast du dir noch zwei Feinde geschaffen – sie und ihren Gatten, denn ich bin sicher, dass sie ihm gegenüber schlecht von dir reden wird. An deiner Stelle würde ich mich in Acht nehmen.« Er schwang sich aufs Pferd, und sie machten sich auf den Weg.

Gerade war die Kutsche durchs Tor gefahren, als die Witwe – zu spät – auf Adela zueilte.

In jener Nacht gab es Frost. Adela schlief schlecht. Wieder hatte sie sich bis auf die Knochen blamiert. Und sie hatte sich Lady Mauds unversöhnlichen Hass zugezogen und sich vermutlich auch Hugh de Martell zum Feind gemacht. Sicher hatte Walter sie allmählich satt. Sie war allein auf der Welt und hatte keine Freunde. Doch selbst diese quälenden Gedanken hätte sie vergessen können, wäre da nicht etwas gewesen, das sich ihr immer wieder ins Bewusstsein drängte und ihr den Schlaf raubte: Seine Frau würde Martell ein Kind schenken.

Am Morgen kam von Norden her aus den Bergen ein Wind auf und brachte Schnee, der bald die Stadt bedeckte. Adela hatte das Gefühl, dass die Welt auf einmal sehr kalt geworden war.

 

 

Für gewöhnlich liebte Edgar den Winter, obwohl er eine harte Jahreszeit war. Das Gras schrumpfte zu kleinen, bleichen Stoppeln. Es gab Frost und Schnee. Die Hirsche ernährten sich hauptsächlich von Stechpalmenzweigen, Efeu und Heidekraut. Wenn das Wetter noch unwirtlicher wurde, knabberten sie sogar die Rinde von den Bäumen. Die kräftigen wilden Ponys, die fast alles fraßen, weideten den stacheligen Ginster ab. Wenn der Januar sich seinem Ende zuneigte, waren viele Tiere abgemagert. Die Ponys streiften nicht mehr so viel umher, um ihre Kräfte zu schonen. Es war die Probezeit der Natur, die manche Tiere des Waldes nicht überleben würden.

Auf einem Ritt durch den Wald hatte Edgar die weißliche Hirschkuh beim Äsen beobachtet, und das hatte ihn wieder einmal an Adela erinnert.

Wie gerne hätte er sie in Winchester besucht, doch sein Vater hatte ihm stets davon abgeraten. »Lass sie in Ruhe. Sie will einen Normannen«, hatte er gesagt. Dann hatte Cola ihm eröffnet, dass Adela bereits einen Heiratsantrag erhalten hatte. Im November hatte er seinem Sohn mitgeteilt, sie verfüge nur über eine geringe Mitgift. Und im Dezember hatte er ihm schonungslos an den Kopf geworfen: »Es hat keinen Sinn, eine Frau zu heiraten, die immer auf dich herabblicken wird, weil du nur ein angelsächsischer Förster bist.« Aber selbst diese Einwände hätten Edgar nicht daran hindern können, nach Winchester zu reiten. Etwas anderes hielt ihn zurück.

Bis jetzt war er noch nicht dahinter gekommen, woher sein Vater wusste, dass etwas im Argen lag. Wurde er von den Männern, deren Bekanntschaft er bei den Jagden des Königs machte, auf dem Laufenden gehalten? Denn hin und wieder tauchten Fremde auf, die Botschaften überbrachten. Oder lag es an Colas monatlichen Besuchen bei einem alten Freund im Schloss von Sarum? Hatte er neue Quellen aufgetan, während er wie so oft ohne Angabe von Gründen von zu Hause abwesend war? »Vielleicht ist es der Wald, der zu ihm spricht«, hatte Edgars Bruder einmal gemeint. Doch ganz gleich, was auch die Ursache sein mochte, während der kalten Jahreszeit kamen dem alten Mann einige Gerüchte zu Ohren, und Edgar merkte seinem Vater die zunehmende Besorgnis an. Im November hatte Cola seinen älteren Sohn in einer geschäftlichen Angelegenheit nach London geschickt, die den ganzen Winter in Anspruch nehmen würde. »Du bleibst hier, ich brauche dich«, hatte er nur gebrummt, als Edgar neugierig wurde.

Wenn Edgar sich hin und wieder erkundigte, was seinen Vater bedrückte, fielen dessen Antworten stets einsilbig aus. Aber als er Cola geradeheraus fragte, ob er ein neues Komplott gegen den König befürchte, stritt dieser das nicht ab. »Es sind gefährliche Zeiten, Edgar«, murmelte er und schnürte damit alle weiteren Nachfragen ab.

Ränkeschmieden boten sich so mannigfaltige Möglichkeiten, dass Edgar nicht einmal vermuten konnte, aus welcher Richtung die Bedrohung kam. Zuerst einmal durfte man die Anhänger von Robert nicht vergessen; der Besitzer der Ländereien am Südrand des New Forest gehörte auch dazu. Doch vielleicht steckte der König von Frankreich dahinter, der einen Angriff auf sein eigenes Gebiet befürchtete, falls der kriegerische Rufus Herrscher seines Nachbarlandes Normandie werden sollte. Womöglich waren die Hintergründe auch komplizierter. Vor vier Jahren erst war ein Mordkomplott gegen Rufus aufgedeckt worden. An seiner Stelle sollte der Ehemann seiner Schwester, der französische Graf von Blois, den Thron besteigen. Tyrrells Verwandte, die mächtige Familie Clare, waren in die Verschwörung verwickelt gewesen, hatten dann aber aus heiterem Himmel die Seiten gewechselt und Rufus vor dem Anschlag gewarnt. Edgar war überzeugt, dass man den Clares und ihren Erfüllungsgehilfen wie Tyrrell nicht über den Weg trauen konnte. Und die Kirche, die ohnehin keine großen Sympathien für Rufus hegte, würde dem König keine Träne nachweinen.

Aber weshalb bereiteten diese Staatsaffären seinem Vater solche Sorgen? Ganz gleich, wie der neue König auch heißen mochte, er würde froh über die Dienste eines erfahrenen Forstmannes sein. Cola hatte sich stets aus sämtlichen politischen Machtspielen herausgehalten. Warum also seine Angst? War er doch in die Angelegenheit verstrickt?

Da Edgar ein gehorsamer Sohn war, ritt er nicht nach Winchester, sondern blieb bei seinem Vater, patrouillierte im Wald und kümmerte sich darum, dass der Großteil der Hirsche wohlbehalten durch den Winter kam.

Gegen Ende der kalten Jahreszeit ging ein neues Gerücht in England um. Es lautete, Robert, Herzog der Normandie, werde bald von seinem Kreuzzug zurückkehren, in dem er sich recht wacker geschlagen habe. Inzwischen habe er in Italien Station gemacht. Dort sei er nicht nur wie ein Held aus dem heiligen Krieg empfangen worden, nein, er habe auch eine Braut gefunden, die eine beträchtliche Mitgift in die Ehe bringe. »Genug, um den Kredit zu tilgen und die Normandie auszulösen«, stellte Cola fest. Aus irgendeinem Grund nannten die Italiener Robert auch »König von England«.

»Der Himmel weiß, was das zu bedeuten hat«, fuhr Cola fort. »Doch selbst wenn er das Darlehen zurückgezahlt hat, wird Rufus ihm den Zutritt zur Normandie verwehren, und zwar mit Gewalt. Und dann werden Roberts Freunde Rufus ans Leder wollen.«

»Ich verstehe immer noch nicht, was das mit uns hier im New Forest zu tun hat«, sagte Edgar. Aber sein Vater schüttelte nur den Kopf und schwieg.

Wieder verging ein Monat ohne Neuigkeiten – bis auf die Besorgnis erregenden Nachrichten aus dem Hause von Hugh de Martell.

 

 

Als sie Hugh de Martell auf der Türschwelle der Witwe stehen sah, traute Adela zunächst ihren Augen nicht.

Nach einem kurzen Regenschauer hatte es aufgeklart, sodass die nassen Straßen in der Sonne glitzerten. Eine frische Brise, Vorbotin des Frühlings, hatte Adelas Wangen während des kurzen Spaziergangs gerötet. Ihr Gesicht fühlte sich ein wenig taub an.

Unwillkürlich schnappte sie nach Luft. Seine hoch gewachsene, stattliche Gestalt glich dem Bild, das sie sich in ihren Träumen von ihm machte. Doch irgendetwas in seinem Gesicht hatte sich verändert.

Was hatte das zu bedeuten? Warum war er hier? Schließlich hatte Walter ihr doch prophezeit, dass Lady Maud ihren Mann gegen sie aufhetzen würde. Offenbar war ihr das nicht gelungen.

Trotz eines Lächelns wirkten seine Züge angespannt. »Gehen wir ein Stück?«

»Gern.« Sie wies in Richtung St. Swithun’s. Er schritt neben ihr her. »Bleibt Ihr lange in Winchester?«

»Wahrscheinlich nur ein oder zwei Stunden.« Er blickte sie an. »Wisst Ihr es nicht? Aber wie solltet Ihr auch? Meine Frau ist krank.« Er schüttelte den Kopf. »Sehr krank.«

»Oh, das tut mir Leid.«

»Vielleicht liegt es daran, dass sie in anderen Umständen ist. Ich weiß es nicht. Keiner kann es sagen.« Hilflos zuckte er die Achseln.

»Und deshalb seid Ihr hier…?«

»Es gibt in Winchester einen Arzt, einen heilkundigen Juden, der auch schon den König behandelt hat. Man sagte mir, dass ich ihn hier finde.«

Sie hatte von diesem Mann gehört und war ihm sogar schon einmal begegnet: ein majestätisch wirkender Herr mit schwarzem Bart, der schon seit einer Woche als Gast des Schatzmeisters in dessen Haus weilte.

»Er ist mit einigen Männern des Königs ausgeritten«, fuhr Martell fort. »Doch er wird in ein oder zwei Stunden zurück erwartet. Hoffentlich stört Euch mein unangemeldeter Besuch nicht. Ich kenne sonst niemanden in Winchester.«

»Nein.« Ihr fehlten die Worte. Er war innerlich aufgewühlt und marschierte mit langen Schritten neben ihr her und musste sich zwingen, langsamer zu gehen, damit sie nicht zu rennen brauchte. »Ich freue mich, Euch zu sehen.«

Was wollte er von ihr? Adela betrachtete sein Gesicht, in dem sich Schmerz und Sorge malten, und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Martell mochte ein unbeugsamer Mann sein, hatte aber Gefühle wie jeder gewöhnliche Mensch. Nun litt er und war einsam. Und er war zu ihr gekommen, weil er Trost brauchte. Sie wurde von Mitgefühl ergriffen. »Es heißt, jüdische Ärzte seien sehr fähig«, meinte sie. Die Normannen hatten Hochachtung vor dem Wissen der Juden, das bis auf das Altertum zurückging. Der Eroberer hatte jüdische Gemeinden in England eingerichtet, und sein Sohn Rufus sah Juden gern an seinem Hof. »Sicher wird er sie heilen.«

»Ja.« Geistesabwesend blickte er ins Leere. »Hoffentlich.« Schweigend gingen sie ein Stück weiter. Vor ihnen ragte die Kathedrale in den Himmel. »Winchester ist eine schöne Stadt«, sagte er, in einem tapferen Versuch, Konversation zu betreiben. »Gefällt es Euch hier?«

Sie bejahte das und erzählte ihm dann – um ihn für eine Weile von seinen Sorgen abzulenken – von den jüngsten Ereignissen in der Gemeinde und von den Besuchern, die auf der Durchreise hier vorbeigekommen waren. Obwohl sie ihm anmerkte, wie dankbar er ihr dafür war, schien er nach einer Weile doch lieber wieder seinen Gedanken nachhängen zu wollen. Sie hörte auf zu plaudern, und schweigsam schlenderten sie um St. Swithun’s herum.

»Das Kind soll im Frühsommer kommen«, meinte er unvermittelt. »Wir haben so lange darauf gewartet.«

»Ja.«

»Meine Frau ist ein prachtvoller Mensch«, fügte er hinzu. »Mutig, sanft und freundlich.« Adela nickte nur. Was sollte sie schon darauf erwidern? Dass sie wusste, wie engherzig, kleingeistig und böswillig Lady Maud in Wirklichkeit war? »Sie liebt mich, und sie ist mir treu.«

Der Anblick der Dame, wie sie sich an Tyrrell gelehnt hatte, während dieser ihre Brust liebkoste, stand Adela noch lebhaft vor den Augen. »Natürlich.« Was für ein guter Mensch er doch war. Tausendmal zu gut für Lady Maud, dachte sie. Und dennoch war es ihre Pflicht, ihn weiter in seiner Selbsttäuschung zu bestätigen.

Auf dem Rückweg zum Haus der Witwe sprachen sie kaum noch ein Wort. Als sie sich dem Stadttor näherten, kam ein Trupp Reiter hereingeprescht. Unter ihnen erkannte Adela deutlich die beeindruckende Gestalt des Juden.

Martell wollte schon auf ihn zueilen, wandte sich aber erst zu seiner Begleiterin um. »Meine liebe Lady Adela.« Er umfasste ihre beiden Hände. »Danke, dass Ihr mir Gesellschaft geleistet habt.« Mit aufrichtiger Zuneigung sah er ihr in die Augen. »Eure Freundschaft bedeutet mir so viel.«

»Keine Ursache.«

»Nun…« Er zögerte. »Ich kenne Euch kaum, aber ich habe das Gefühl, dass man mit Euch reden kann.«

Mit ihr reden! Als Adela sein männliches, besorgtes Gesicht betrachtete, wünschte sie so sehr, ihm eine ehrliche Antwort geben zu können. Wie gerne hätte sie gesagt: »Ihr trauert um eine Frau, die Eurer nicht würdig ist.« Oh, mein Gott, dachte sie, wenn ich an Lady Mauds Stelle wäre, ich würde Euch lieben. Ich würde Euch ehren. Am liebsten hätte sie es herausgeschrien. »Wenn Sie Hilfe brauchen, können Sie sich jederzeit an mich wenden«, erwiderte sie stattdessen.

»Habt Dank.« Er lächelte, neigte respektvoll den Kopf, wandte sich ab und schritt zielstrebig auf die Reiter zu.

In den folgenden Tagen sah sie ihn nicht mehr. Der jüdische Arzt brach mit ihm auf und kehrte eine Woche später zurück. Adela erfuhr, dass er bis Ostern in Winchester bleiben musste, weil der König erwartet wurde. Sie zog Erkundigungen ein und hörte, dass Lady Maud noch lebte. Wie durch ein Wunder hatte sie bis jetzt auch ihr Kind nicht verloren. Allerdings konnte der Jude für nichts garantieren.

Weitere Tage verstrichen. Es wurde ein wenig wärmer. Adela überlegte.

Dann, eines frühen Morgens, hinterlegte sie für ihre Gastgeberin eine Nachricht und verließ Winchester allein zu Pferde. In ihrem Brief, den sie absichtlich vage gehalten hatte, bat sie ihre Freundin um Stillschweigen und versprach, am nächsten Tag bei Sonnenuntergang zurück zu sein. Ihr Ziel nannte sie nicht.

 

 

Es war Godwin Pride deutlich anzusehen, wie zufrieden er mit sich war. Er stand, ein Seil in der Hand, vor seiner Kate. Am anderen Ende des Seils war eine braune Kuh festgebunden. Seine Frau und drei seiner Kinder betrachteten das Tier.

Godwin Pride hatte den Winter gut überstanden. Als der Herbst sich dem Ende zuneigte, hatte er den Großteil seiner mit Eicheln gemästeten Schweine geschlachtet und das Fleisch eingepökelt. Seine Hühner legten Eier, seine wenigen Kühe gaben Milch, und die Vorräte an eingeweckten Äpfeln und getrocknetem Gemüse waren reichlich. Und da er über Turbary, das Recht zum Torfstechen, verfügte, hatte er auch genügend Brennmaterial.

Also hatte er es sich in seiner warmen Hütte gemütlich gemacht, seine kleine Herde gefüttert, und war bei Frühlingsanfang wieder frohgemut vor die Tür getreten.

Außerdem hatte er eine neue Kuh gekauft. »Sie war sehr preiswert«, verkündete er. Er hatte sie zu Fuß von Brockenhurst hierher geführt.

»Oh? Wie viel hat sie denn gekostet?«, fragte seine Frau.

»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Sie war billig.«

»Wir brauchen keine neue Kuh.«

»Sie ist eine gute Milchkuh.«

»Und ich bin diejenige, die sich um sie kümmern muss. Woher hast du überhaupt das Geld?«

»Das ist nicht deine Sache.«

Sie blickte ihn argwöhnisch an, während die Kinder sie schweigend beobachteten.

»Und wo sollen wir sie im Winter unterbringen?« Wollte ihr Mann etwa noch einen Kuhstall bauen? Denn in dem alten war beim besten Willen kein Platz mehr für ein weiteres Tier. Und den Pferch zu vergrößern, nachdem er erst im letzten Jahr dabei ertappt worden war, kam eindeutig nicht in Frage. »Der Pferch bleibt, wie er ist«, sagte sie gebieterisch.

»Keine Sorge. Ich habe schon einen Plan und mir alles gut überlegt.« Und obwohl er sich danach nichts mehr entlocken ließ, sah er so zufrieden aus wie schon lange nicht mehr.

Dass er die Kuh einer plötzlichen Eingebung folgend gekauft hatte, dass es gar keinen Plan gab und dass er beim besten Willen nicht wusste, wo er die Kuh im nächsten Winter unterstellen sollte, bedrückte ihn nicht weiter. Vor ihm lagen ja noch ein langer Frühling und Sommer, in denen die Kühe im Wald umherliefen und er sich darüber Gedanken machen konnte. Manchmal konnte Godwin Pride wie ein kleiner Junge sein, worüber sich seine Frau durchaus im Klaren war. Aber sie hatte keine Gelegenheit zum Widerspruch mehr.

Denn ausgerechnet in diesem Augenblick erschien Adela und kam, ihr Pferd am Zügel, näher.

»Was zum Teufel will sie nur von uns!«, rief Godwin Pride aus.

Am späten Nachmittag stiegen zwei Menschen von der Hochebene von Wilverley Plain hinab – einer großen, ebenen Heide mit einem Durchmesser von fast vier Kilometern, wo die Wildponys unter einem blauen Himmel grasten. Adela führte ihr Pferd am Zügel. Godwin Pride ritt auf einem kräftigen Pony voran. Er ärgerte sich, weil er sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte.

Der Himmel hatte aufgeklart, und der Mond ging auf. Ein Hauch von Frühlingswärme lag in der Luft. Adela war froh, wieder im New Forest zu sein, auch wenn sie sich ein wenig vor dem fürchtete, was ihr bevorstand.

Sie gingen nach Westen und entfernten sich über die Heide von Wilverley immer weiter von der Mitte des New Forest. Inzwischen befanden sie sich etwa zwölf Kilometer westlich von Brockenhurst. Vor ihnen erstreckte sich ein Eichenwald. Geradeaus führte der Weg in eine große Bodensenke, wo das düstere kleine Dorf Burley lag. Doch sie wandten sich nach rechts und marschierten durch einen Wald und dann einen Abhang hinunter, der Burley Rocks hieß. Nachdem sie eine einsame Sumpfwiese überquert hatten, stießen sie auf einen schmalen Pfad, der am Rande eines Moores entlangführte. »Das da rechts ist Burley Moor«, erklärte Pride. »Vor uns seht Ihr White Moor. Und da drüben« – er wies auf einen Hügel, auf dem ein einzelner Baum stand, dessen Äste wirkten, als rudere er wild mit den Armen – »ist Black Hill.« Plötzlich führte der Weg links hinunter zu einem rasch dahinfließenden Bach, der eine scharfe Kurve beschrieb, welche an den angewinkelten Ellenbogen eines Menschen erinnerte. »Narrow Water«, verkündete Pride. Zu ihrer Rechten befand sich ein Sumpfland, bewachsen mit verkrüppelten Eichen, Stechpalmen, Birken und einem Gewirr aus Baumschösslingen und Gestrüpp. Und gleich dahinter standen eine planlose Ansammlung von Hütten und ein Lehmhaus mit einem Dach aus Ästen, Zweigen und Moos. Rauchschwaden quollen daraus hervor.

Sie waren bei Puckles Behausung angekommen.

Zuerst hatte Pride sich geweigert, Adela dorthin zu begleiten, doch sie hatte sich nicht davon abbringen lassen. »Ich weiß nicht, wo er wohnt, und ich möchte keinen Fremden fragen. Niemand soll erfahren, dass ich dort war. Außerdem glaube ich«, fügte sie hinzu und blickte ihn eindringlich an, »dass du mir noch einen Gefallen schuldest.« Der Hirsch. Daran gab es nichts zu rütteln. »Und«, fügte sie leise hinzu, »sie wird vielleicht nicht mit mir sprechen wollen, wenn du sie nicht darum bittest.«

Genau das war der Grund, warum Pride nur wenig Lust auf diesen Ausflug hatte. Denn Adela wollte nicht zu Puckle, sondern zu seiner Frau – der Hexe.

Adela wartete am Bach, während Pride zur Hütte ritt und eintrat. Nach einer Weile kamen Puckle und einige Kinder und Enkel heraus und machten sich irgendwo draußen zu schaffen.

Schließlich erschien Pride wieder. »Sie erwartet Euch«, meinte er knapp. »Am besten geht Ihr gleich zu ihr.« Adela folgte der Aufforderung. Die Tür des Hexenhauses war so niedrig, dass sie sich bücken musste.

Drinnen war es ziemlich dunkel. Die Hütte hatte nur ein Zimmer und wurde von dem Licht erhellt, das durch die angelehnten Fensterläden hereinfiel. Ein Kreis aus Steinen in der Mitte des Raums, in dem ein kleines Torffeuer brannte, diente als Herd. Vor diesem Feuer saß eine Frau auf einem niedrigen Holzstuhl. Eine graue Katze wärmte sich zu ihren Füßen. Gleich daneben stand ein dreibeiniger Schemel, auf den die Frau wies.

»Setzt Euch, mein Kind.«

Obwohl Adela sich eigentlich kein festes Bild von Puckles Frau gemacht hatte, hätte sie sich diese ganz anders vorgestellt. Nachdem sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah sie eine gemütlich wirkende Frau mittleren Alters vor sich, die ein breites Gesicht, eine Stupsnase und weit auseinander stehende graue Augen hatte.

Sie betrachtete Adela mit verhaltener Neugierde. »Ihr seid eine hübsche junge Dame«, meinte sie dann. »Und Ihr seid den ganzen Weg aus Winchester gekommen?«

»Ja.«

»Kaum zu fassen. Und was kann ich für Euch tun?«

»Ich habe gehört«, platzte Adela heraus, »dass du eine Hexe bist.«

»Oh?«

»Das sagen zumindest die Leute.«

»Ach, tun sie das?« Diese Mitteilung schien die Frau zu belustigen. Allerdings hatte sie keinen Grund zu befürchten, dass diese Beschuldigung für sie Folgen haben könnte. Obwohl die Hexerei von der Kirche nicht eben gebilligt wurde, fand eine Hexenverfolgung im normannischen England kaum statt – insbesondere nicht auf dem flachen Land, wo sich der alte Volksglaube lange hielt. »Und wenn das so wäre?«, fuhr die Frau fort. »Was könnte eine hübsche junge Dame wie Ihr von mir wollen? Ein Heilmittel gegen eine Krankheit? Liebeskummer vielleicht?«

»Nein.«

»Möchtet Ihr etwas über Eure Zukunft erfahren? Viele junge Mädchen sind neugierig auf ihre Zukunft.«

»Nicht ganz.«

»Was ist es dann, mein Kind?«

»Ich muss jemanden töten«, erwiderte Adela.

Eine Weile herrschte Schweigen, bevor die Frau wieder das Wort ergriff. »Ich fürchte, da kann ich Euch nicht helfen«, sagte sie.

»Hast du so etwas schon einmal getan?«

»Nein.«

»Könntest du es?«

»Ich würde es nicht einmal versuchen.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Solche Dinge geschehen nur, wenn die Zeit reif dafür ist.« Sie musterte Adela ernst. »Ihr solltet auf der Hut sein. Wenn Ihr jemandem Gutes oder Böses wünscht, wird der Wunsch dreifach auf Euch zurückfallen.«

»Ist das eine Hexenweisheit?«

»Ja.« Die Frau wartete ab und sprach dann ein wenig freundlicher weiter. »Doch ich sehe, dass Ihr Kummer habt. Möchtet Ihr mir nicht davon erzählen?«

Also schilderte Adela ihr die ganze Situation. Sie erklärte, wie es um Martell und seine Gemahlin stand, berichtete von der Szene, die sie beobachtet hatte, und schilderte Lady Mauds verabscheuungswürdige Charakterfehler, ihre Verlogenheit und dass sie ihren Gatten betrog.

»Und Ihr glaubt, Ihr wäret eine bessere Frau für ihn?«

»Oh, ja. Und deshalb wäre es das Beste für alle, wenn seine Frau stürbe.«

»Das ist Eure Ansicht, mein Kind. Ich sehe, Ihr habt Euch darüber Gedanken gemacht.«

»Und inzwischen weiß ich, dass ich Recht habe«, erwiderte Adela.

Puckles Frau seufzte auf, sagte aber nichts. Stattdessen schaukelte sie auf ihrem Stuhl hin und her, während die Katze den Kopf hob, Adela forschend musterte und dann wieder einschlief. »Vielleicht kann ich Euch helfen«, meinte Puckles Frau schließlich.

»Kannst du etwas tun? Oder die Zukunft voraussagen?«

»Mag sein.« Die Frau hielt inne. »Aber sie könnte anders aussehen, als Euch lieb ist.«

»Ich habe nichts zu verlieren«, entgegnete Adela schlicht.

Puckles Frau nickte nachdenklich, stand auf und ging nach draußen. Nach einer Weile kehrte sie zurück, nahm aber nicht wieder Platz. »Bei der Hexerei, wie Ihr sie nennt«, sprach sie leise, »geht es nicht darum, jemanden mit einem Zauberspruch zu belegen. Es ist viel mehr als das. Also« – sie wies auf ihren Stuhl – »setzt Euch dorthin und beruhigt Euch.« Mit diesen Worten begann sie, leise vor sich hinsummend, in einer Truhe am anderen Ende des Raumes herumzukramen. Währenddessen hatte sich die Katze erhoben und sich neben der Truhe niedergelassen, wo sie, nach einem weiteren bedeutungsvollen Blick auf Adela, erneut einschlief.

Wenig später fing Puckles Frau an, einige Gegenstände auf dem Boden vor dem Stuhl auszulegen. Adela sah einen kleinen Kelch, eine winzige Schale mit Salz, eine andere mit Wasser, einen Teller, der offenbar Haferplätzchen enthielt, einen Stab, einen zierlichen Dolch und ein oder zwei weitere Dinge, die sie nicht erkannte. Während die Frau noch damit beschäftigt war, erschien Puckle in der Tür und reichte ihr den Zweig einer Eiche. Sie nahm ihn mit einem Nicken entgegen und legte ihn neben die übrigen Sachen. Als sie fertig war, setzte sie sich auf den Schemel und schwieg eine Weile. Offenbar dachte sie nach. Es wurde ganz still im Raum.

Dann griff die Frau nach dem Teller mit den Haferplätzchen und hielt ihn Adela hin. »Nehmt eines.«

»Ist etwas Besonderes an diesen Plätzchen? Enthalten sie ein Zaubermittel?«, fragte Adela lächelnd.

»Mutterkorn«, erwiderte die Hexe. »Das gewinnt man aus Getreide. Manche brauen auch einen Trank aus getrockneten Pilzen oder Kröten, aber Mutterkorn wirkt am besten.«

Adela aß das Plätzchen, das nicht außergewöhnlich schmeckte. Dennoch war sie ängstlich und aufgeregt.

»Nun, mein Kind«, sagte Puckles Frau schließlich. »Ich möchte, dass Ihr still sitzen bleibt und beide Füße auf den Boden stellt. Legt die Hände in den Schoß und haltet Euch ganz gerade.« Adela gehorchte. »Nun«, fuhr die Hexe freundlich fort, »atmet Ihr dreimal ganz langsam ein und lasst Euch beim Ausatmen viel Zeit. Ich will, dass Ihr Euch so gut wie möglich entspannt. Könnt Ihr das für mich tun?«

Adela folgte der Aufforderung. Obwohl sie weiterhin nervös war, fühlte sie die Anspannung aus ihrem Körper weichen und begann unwillkürlich zu kichern. »Entführst du mich jetzt in das Königreich der Zauberei – in eine andere Welt?«, fragte sie.

Die Hexe betrachtete nur ruhig den Boden. »Wie oben, so unten«, murmelte sie. »Das Königreich der Zauberei ist die Welt zwischen den Welten.« Dann blickte sie wieder auf und sagte: »Ich möchte, dass Ihr Euch vorstellt, Ihr wäret ein Baum. Von Euren Füßen aus wachsen Wurzeln in die Erde. Könnt Ihr Euch das vorstellen?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Gut.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Und nun wächst eine Wurzel von Eurer Wirbelsäule direkt durch den Stuhl bis in den Boden. Ganz tief hinunter in die Erde.«

»Ja, ich spüre es.«

Die Hexe nickte langsam. Adela fühlte sich, als wäre sie wirklich wie ein Baum mit dem Boden verwachsen. Zuerst erschien es ihr merkwürdig, dann jedoch unbeschreiblich entspannend. Schließlich erhob sich die Hexe und ging langsam im Zimmer auf und ab.

Mit dem Dolch beschrieb sie rings um sich, Adela und die Gegenstände auf dem Boden einen Kreis in der Luft. Die Katze wurde nicht in den Kreis eingeschlossen.

Anschließend tauchte sie die Spitze des Dolches in die Wasserschale und tat dasselbe mit dem Salz. Nachdem sie mit Hilfe des Dolches drei Prisen Salz in das Wasser gegeben und umgerührt hatte, murmelte sie leise vor sich hin.

Danach nahm sie das Wasser und verspritzte es jeweils dreimal an vier Stellen des Kreises, den sie zuvor gezogen hatte. Adela vermutete, dass es sich um die vier Himmelsrichtungen handelte. Schließlich holte sie ein kleines Stück Glut aus dem Feuer, flüsterte etwas, blies es aus und sah zu, wie der Rauchfaden zur Decke hinaufstieg. Dann machte sie – wieder in alle vier Himmelsrichtungen – einige Zeichen.

»Bewegst du dich dabei immer von Norden nach Osten und nach Süden?«, wagte Adela zu fragen.

»Ja«, lautete die Antwort. »Anders herum wäre Widersinn. Sprecht nicht.«

Nun ging sie ein drittes Mal im Kreis die vier Himmelsrichtungen ab und zeichnete wieder mit dem Dolch seltsame Zeichen in die Luft. Zuerst hatte Adela diese für rein zufällig gehalten, jetzt aber bemerkte sie, dass sie miteinander identisch waren. Ihr wurde klar, dass die Hexe ein Pentagramm zeichnete, den fünfzackigen Stern, dessen Linien weder Anfang noch Ende haben. Und obwohl das vierte Zeichen hinter ihrem Kopf beschrieben wurde, war sie sicher, dass es sich um dasselbe handelte. Zu guter Letzt zog die Hexe ein Pentagramm in die Mitte des Kreises. »Luft, Feuer, Wasser, Erde«, sagte sie leise. »Der Kreis ist geschlossen.«

Dann fuhr sie die Pentagramme noch einmal mit dem Stab nach. Schließlich war sie zufrieden. Sie stand in der Mitte des Kreises, sah jedoch nicht Adela an, sondern die Punkte am Rande des Kreises und sprach, an sie gerichtet, ein paar Worte. Nachdem das erledigt war, ließ sie sich auf dem Stuhl nieder, wortlos und erwartungsvoll, wie eine Hausherrin, die mit Gästen rechnet.

Auch Adela saß mucksmäuschenstill da – sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Aber lange konnte es wohl nicht gedauert haben.

Als Puckles Frau sie aufgefordert hatte, sich vorzustellen, sie wäre ein Baum, hatte sie den Eindruck gehabt, dass ihr Körper nach unten gezogen wurde. Nach einer Weile bemerkte sie zu ihrer Überraschung, dass sie sich nicht nur wie ein Baum fühlte, sondern ganz deutlich spürte, wie Wurzeln aus ihren Fußsohlen und ihrer Wirbelsäule wuchsen und sich hinab in die dunkle Erde tasteten. Sie konnte in die Erde greifen, als habe sie plötzlich viele zusätzliche Hände und Finger bekommen. Der Boden war kühl, feucht, muffig, aber voller Nährstoffe. Immer noch zog es sie abwärts. Und sie wusste, dass die Wurzeln sie daran hindern würden, sich zu bewegen. Sie war eine Gefangene. Ich bin kein freies Wesen mehr, dachte sie. Ich bin ein Baum, ich sitze fest, die Erde lässt mich nicht mehr los.

Doch allmählich gewöhnte sie sich daran. Auch wenn ihr Körper mit der Erde verwurzelt war, ihr Geist schien eine neue Freiheit gewonnen zu haben. Es war ein friedliches, angenehmes Gefühl, als ob sie schwebte.

Einige Zeit verging. Adela nahm das dämmrige Zimmer wahr, den sanften Feuerschein, die stumm dasitzende Hexe. Dann aber geschahen zwei seltsame Dinge. Die graue Katze begann zu schreien. Sie wuchs und wuchs und verwandelte sich schließlich in ein Schwein. Adela fand das ziemlich komisch und begann zu lachen. Im nächsten Moment flog das Schwein zum Fenster hinaus, was in Adelas Augen eigentlich recht vernünftig war, da Schweine ja nicht ins Haus gehörten.

Draußen war es dunkel geworden, doch durch das Dach der Hütte konnte sie den Himmel und die Sterne sehen. Ein merkwürdiger Anblick, denn obwohl sich Zweige und Moos noch an Ort und Stelle befanden, blickte Adela einfach durch sie hindurch. Und dann hatte sie das Gefühl, zu wachsen wie ein Baum; sie durchbrach das Dach und breitete ihre Krone aus, dem Nachthimmel entgegen.

Und nun schwebte sie. Es war kinderleicht. Adela flog, beschienen vom Halbmond, im nächtlichen Himmel dahin. Sie trug keine Kleider mehr und vermisste sie auch nicht, denn sie spürte die kühle, ein wenig feuchte Luft auf ihrer Haut. Hoch flog sie über dem New Forest. Um sie herum scharten sich die Sterne und legten sich auf ihren Körper wie Diamanten. Eine kurze, wundervolle Zeit lang schwebte sie über den Wäldern, die unter ihr sanfte Wellen schlugen. Als sie schließlich eine Eiche bemerkte, die größer als die anderen war, steuerte sie darauf zu und erreichte ihre Zweige, wobei ihr undeutlich klar wurde, dass sie selbst dieser Baum war.

Wohlbehalten landete sie auf dem moosigen Boden. Dort entdeckte sie eine Reihe von Pfaden, die in alle Richtungen durch die ausladenden Eichen führten. Einer dieser Wege fiel ihr besonders auf, denn er ähnelte einem langen, schier endlosen Tunnel, der von einem grünlichen Licht erleuchtet wurde. In der Ferne bemerkte sie eine Gestalt, die rasch auf sie zukam. Obwohl sie sehr weit weg zu sein schien, hatte Adela sie im Nu erreicht, ja, es sah aus, als wolle sie sich auf sie stürzen.

Es war ein Hirschbulle, ein prächtiger Rothirsch mit weit verzweigtem Geweih. Er kam näher und näher. Er wollte zu ihr. Adela fürchtete sich. Aber sie war auch froh.

 

 

Schweigen. Dunkelheit. Vielleicht war sie ja kurz eingedöst. Nun saß sie wieder in dem kleinen Zimmer. Die graue Katze kauerte in der Ecke. Puckles Frau zeichnete erneut Diagramme, allerdings in umgekehrter Richtung wie zuvor. Nachdem die Hexe fertig war, blickte sie Adela an und meinte leise: »Es ist vollbracht.«

Eine Weile blieb Adela reglos sitzen und bewegte dann vorsichtig Hände und Füße. Sie fühlte sich schwerelos. »Ist etwas geschehen?«

»Oh, ja.«

»Was?«

Puckles Frau antwortete nicht. Das kleine Torffeuer tauchte den Raum in einen sanften Dämmerschein.

Als Adela aus dem Fenster sah, stellte sie fest, dass draußen schon der Abend angebrochen war. Sie fragte sich, wie lange sie sich wohl schon in diesem Haus befand. Gewiss mehr als eine Stunde, da es bereits dämmerte. Es war verabredet worden, dass sie bei den Prides übernachtete. Doch sicher würde Godwin den Rückweg auch bei Dunkelheit finden. »Ich muss gehen. Bald ist es Nacht«, meinte sie.

»Nacht?« Puckles Frau schmunzelte. »Ihr wart die ganze Nacht hier. Das da draußen ist das Morgengrauen.«

»Oh.« Adela war verdattert und versuchte, sich wieder zu fassen. »Du sagtest, es sei etwas geschehen. Kannst du es mir erklären? Wird Lady Maud…?«

»Ich habe ein Stück Eurer Zukunft gesehen.«

»Und?«

»Es wird einen Todesfall geben, der Euch Frieden bringt. Und auch Glück.«

»Also wird mein Wunsch in Erfüllung gehen?«

»Seid Euch nicht zu sicher. Es könnte auch etwas anderes sein, als Ihr Euch wünscht.«

»Aber ein Todesfall…« Adela sah die Frau an, doch diese schwieg, öffnete die Tür und rief Pride herbei. Adela stand auf. Offenbar wurde von ihr erwartet, dass sie sich jetzt verabschiedete. Auf dem Weg zur Tür überlegte sie, ob sie der Frau Geld geben oder sich einfach nur für ihre Hilfe bedanken sollte. Schließlich kramte sie zwei Pennys aus dem Beutel an ihrem Gürtel. Puckles Frau nahm die Münzen mit einem stummen Nicken entgegen. Offenbar war sie mit dieser Bezahlung einverstanden. Im fahlen Licht tauchte Pride auf, der ihr Pferd am Zügel führte.

»Danke«, sagte Adela zu Puckles Frau. »Vielleicht sehen wir uns wieder.«

»Vielleicht.« Puckles Frau betrachtete sie nachdenklich, doch ihre Miene war freundlich. »Vergesst nicht«, mahnte sie, »dass die Dinge im New Forest nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen.« Mit diesen Worten verschwand sie im Haus.

Als sie hinauf zur Heide ritten, zeigte sich schon die erste Morgenröte. Der Mond war bereits untergegangen. Am klaren Himmel verblassten langsam die Sterne, und am östlichen Horizont schimmerte ein goldenes Licht.

Hoch über ihnen stimmte eine Lerche ihr Lied an – ein Freudenkonzert, das die Nacht vertrieb.

 

 

Adela war sehr zufrieden mit sich, als sie an diesem Nachmittag nach Winchester zurückkehrte. Sie war mit Pride gemächlich durch den New Forest, nördlich vorbei an Lyndhurst, geritten. Pride hatte sie erst verlassen, als sie kurz vor Romsey einem vertrauenswürdig wirkenden Kaufmann begegnet waren, der denselben Weg hatte.

Adela hatte überlegt, ob sie ihrer Freundin, der Witwe, verraten sollte, wo sie gewesen war. Doch sie war zu dem Schluss gekommen, dass es besser war, ihr dieses Abenteuer zu verschweigen. Stattdessen hatte sie sich eine Geschichte von einem Freund im Wald zurechtgelegt, der in Schwierigkeiten steckte und sie um Hilfe gebeten habe. Sie hatte sogar den widerstrebenden Pride dazu überredet, das Märchen wenn nötig zu bestätigen. Adela bildete sich ein, den wahren Grund ihres Abstechers ausgezeichnet getarnt zu haben.

Sie fiel aus allen Wolken, als die Witwe ihren Bericht mit einer Handbewegung unterbrach. »Es tut mir Leid, Adela, doch ich möchte es gar nicht hören.« Ihre Miene war ruhig, aber kühl. »Ich bin nur erleichtert, dass Euch nichts zugestoßen ist. Am liebsten hätte ich jemanden losgeschickt, um Euch zu suchen; allerdings habt Ihr mir nicht hinterlassen, wohin Ihr aufgebrochen wart.«

»Das war überflüssig. Schließlich habe ich geschrieben, dass ich bald zurück bin.«

»Ich trage die Verantwortung für Euch, Adela. Es war unverzeihlich, dass Ihr Euch so einfach aus dem Staub gemacht habt. Wie dem auch sei«, fuhr sie fort. »Ihr müsst gehen. Ich kann Euch nicht mehr im Haus behalten. Ich bedaure es, weil es so kurz vor Ostern ist.« An Ostern würde der König mit seinem Gefolge in der Stadt weilen, eine wunderbare Gelegenheit, einen Ehemann zu finden. »Aber ich kann nicht länger die Verantwortung für Euch übernehmen. Ihr werdet zu Eurem Vetter Walter zurückkehren müssen.«

»Er ist doch in der Normandie.«

»Der Schatzmeister will in einigen Tagen einen Boten in die Normandie schicken. Er wird Euch begleiten. Es ist schon alles vorbereitet.«

»Aber ich kann nicht in die Normandie!«, rief Adela aus. »Nicht jetzt.«

»Oh?« Die Witwe musterte sie forschend und zuckte dann die Achseln. »Wer wird Euch bei sich aufnehmen? Habt Ihr jemand Bestimmten im Sinn?«

Adela schwieg und überlegte fieberhaft. »Vielleicht«, erwiderte sie zögernd. »Es könnte sein.«

 

 

Oft ritt Edgar in die Gegend von Burley, denn der Förster dort war ein Freund von ihm. Auch an diesem Frühlingsmorgen hatte er sich zu dem düsteren Tal begeben, wo das Dorf lag, hatte den Mann aber nicht zu Hause angetroffen. Deshalb wandte er sich nach Osten und machte sich im Wald auf die Suche, bis er auf seinen Freund stieß, der gerade auf einer Lichtung mit Puckle sprach. Bei Edgars Anblick winkte der Freund ihm zu und bedeutete ihm abzusteigen.

Edgar folgte der Aufforderung.

»Was gibt es?«

Der Förster wirkte aufgeregt. Offenbar hatte Puckle ihm etwas Wichtiges mitgeteilt, und die beiden Männer hatten anscheinend gerade gemeinsam aufbrechen wollen. An Stelle einer Antwort legte der Förster nur den Finger an die Lippen und forderte Edgar mit einer Handbewegung auf, sie zu begleiten. »Ihr werdet schon sehen.«

Die drei Männer gingen schweigend durch den Wald und achteten darauf, nicht auf Zweige zu treten, deren Knacken sie hätte verraten können. Einmal leckte der Förster sich über den Finger und hielt ihn hoch, um festzustellen, aus welcher Richtung der Wind kam. Fast einen Kilometer weit setzten sie so ihren Weg fort. Der Förster und Puckle pirschten sich immer vorsichtiger heran, gingen in die Hocke und suchten Deckung hinter Büschen. Edgar folgte ihrem Beispiel. Etwa hundert Meter schlichen sie weiter. Dann nickte Puckle und wies auf eine Stelle zwischen zwei Bäumen.

Es war eine kleine Lichtung, nur etwa zwanzig Schritte entfernt, in deren Mitte ein alter Baumstumpf und ein Stechpalmenbusch standen. Ohne den dunklen Ring aus Spuren im abgefallenen Laub hätte nicht einmal Puckle diesen Ort eines Blickes gewürdigt. Doch heute wimmelte es dort von Leben.

Sie waren zu fünft, alles Böcke, die in der nächsten Saison zum ersten oder zweiten Mal brunftig werden würden. Sie trugen noch ihr Geweih und boten einen prächtigen Anblick. Und sie tanzten im Kreis herum.

Anders konnte man das, was sie taten, nicht ausdrücken, denn sie umrundeten hüpfend und springend in Reih und Glied die Lichtung. Immer wieder stellten sich zwei von ihnen auf die Hinterläufe, wandten sich einander zu und fuchtelten wie Boxer. Allerdings geschah das nicht im Ernst, sondern nur im Spiel. Es handelte sich hier um eine der seltensten und hübschesten der vielen Zeremonien im Wald. Edgar lächelte zufrieden. Seit zehn Jahren hatte er keine Gelegenheit mehr gehabt, im Kreis umhertanzende und spielende Hirsche zu beobachten.

Und warum tanzten die Hirsche im Kreis herum? Aber dieselbe Frage konnte man sich auch beim Menschen stellen. Mit der Freude und Ehrfurcht, wie sie den Bewohnern des New Forest eigen ist, sahen die Männer dem Schauspiel lange Zeit zu. Nach einer Weile schlichen sie lautlos davon.

In Hochstimmung machte sich Edgar auf den Rückweg durchs Avontal. Er brannte darauf, seinem Vater von diesem Erlebnis zu erzählen.

Bei seiner Ankunft jedoch musste er feststellen, dass sein Vater andere Sorgen hatte. »Ein Bote ist hier«, berichtete Cola seinem Sohn, während er, ihm voran, in die Halle trat. Die Miene des alten Mannes war finster. Edgar bemerkte einen jungen Burschen, der neben seinem Pferd vor der Scheune wartete. »Aus Winchester.«

»Oh?« Edgar wusste nicht, was er mit dieser Nachricht anfangen sollte. Aber er bemerkte, dass sein Vater ihn prüfend musterte.

»Dieses Mädchen. Tyrrells Base. Sie will hierher kommen. Offenbar gibt es Schwierigkeiten in Winchester. Sie schreibt nicht, worum genau es sich handelt.«

»Aha.«

»Nein, Vater.« Das war die Wahrheit. Doch Edgar überlegte fieberhaft.

»Das gefällt mir gar nicht.« Wieder sah Cola seinen Sohn an.

»Sie hat einflussreiche Verwandte.«

»Hmmm… Ich glaube nicht, dass denen viel an ihr liegt. Aber du hast Recht. Ich möchte mir Tyrrell nicht zum Feind machen. Und die Clares…« Er schwieg nachdenklich. Wie so häufig hatte Edgar den Eindruck, dass sein Vater ihm etwas verheimlichte. »Ich glaube, dieses Mädchen wird uns Ärger einbringen«, meinte Cola schließlich. »Bestimmt will sie Winchester verlassen, weil sie in Schwierigkeiten geraten ist. Und das hat mir hier gerade noch gefehlt. Außerdem…« Er betrachtete Edgar mit düsterer Miene.

»Außerdem?«

»Glaube ich mich daran zu erinnern, dass du eine Schwäche für sie hattest.«

»Ich weiß.«

»Könnte das wieder geschehen?«

»Vielleicht.«

»Genau das bereitet mir Kummer.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Sicher ist dir klar, dass sie dir nur Nachteile einhandeln wird«, knurrte er. »Und mir auch«, fügte er leise hinzu.

»Hältst du sie denn für ein solches Ungeheuer?«

»Nein, eigentlich nicht, aber…« Cola zuckte die Achseln. »Sie wird uns eben nicht nützlich sein.«

Edgar nickte. Nun hatte er verstanden. Sie brauchten eine Frau mit Vermögen. Eine, die nicht überall Anstoß erregte. Doch möglicherweise lag es am Anblick der tanzenden Hirsche, an der Frühlingsluft und an der Erinnerung an die gemeinsamen Ausritte mit ihr, dass er einfach widersprechen musste. »Wir sollten sie dennoch bei uns aufnehmen.«

Cola nickte. »Ich habe befürchtet, dass du das sagen wirst.« Er seufzte. »Nun, sie kann hier bleiben, bis es mir gelingt, Tyrrell eine Nachricht zukommen zu lassen. Ich werde ihn fragen, was ich mit ihr anfangen soll. Ich hoffe nur bei Gott, dass er sie sofort abholt, sobald er weiß, dass sie hier ist.«

Nun war Adela näher bei Martell. Mehr kümmerte sie nicht. Zugegebenermaßen hatte sie sich in eine verzwickte Lage gebracht, doch die Witwe in Winchester war wenigstens so gütig gewesen, sich einen passenden Vorwand für ihre Abreise auszudenken. Man erzählte Cola, Adela werde von einem unerwünschten Freier bedrängt und müsse Winchester deshalb für einige Zeit verlassen. Adela wusste nicht, ob der alte Mann diese Geschichte glaubte, aber eine bessere war ihr nun einmal nicht eingefallen. Sie bedankte sich für seine Gastfreundschaft, murmelte, Tyrrell und ihre normannischen Verwandten würden ihm sehr dankbar sein, und hielt den Kopf hoch erhoben.

Nach einigen Tagen schon wurde ihr klar, dass Edgar, obwohl er sie mit höflicher Zurückhaltung behandelte, immer noch verliebt in sie war. Und da sie den hübschen jungen Angelsachsen mochte, bedeutete dieser Umstand eine willkommene Ablenkung.

Außerdem war es hier leichter, das Neueste über Lady Maud zu erfahren. Sie erzählte Cola von ihrer Begegnung mit Martell in Winchester. Und so schien es nur natürlich, dass sie sich Sorgen um das Befinden der Lady machte, die schließlich ihre Gastgeberin gewesen war. Da der Förster hin und wieder von Martell hörte, wusste Adela inzwischen, dass Lady Maud auch weiterhin schwer krank war. Es ging das Gerücht um, dass sie die Geburt vermutlich nicht überleben würde. Also wartete Adela geduldig ab.

Tyrrells Antwort traf erst nach einem knappen Monat ein und war ein meisterlicher Schachzug.

Dieser bestand aus einem Brief, verfasst in normannischem Französisch, den Cola einem der alten Mönche in Christchurch vorlegte, um sicherzugehen, dass er ihn auch richtig verstanden hatte. Das Schreiben lautete folgendermaßen:

 

Walter Tyrrell, Lord von Poix,

entbietet Cola, dem Förster, seinen Gruß.

Ich danke Euch, mein Freund, auch im Hamen ihrer Familie für die Freundlichkeit, die Ihr Lady Adela zuteil werden lasst. Ich werde Euch nie vergessen, dass Ihr einer, wenn auch noch so entfernten, Verwandten von mir geholfen habt. Wenn ich im Spätsommer in England eintreffe, werde ich sie bei Euch abholen und Euch sämtliche angefallenen Kosten zurückerstatten.

 

»Dieser hinterlistige Teufel«, knurrte Cola. »Er zwingt mich, sie drei Monate hier zu behalten. Und falls sie mich in Schwierigkeiten bringt, ist sie nur eine ›entfernte Verwandtes für deren Betragen man ihn nicht zur Rechenschaft ziehen kann.«

Inzwischen erfüllte ihn das Verhältnis zwischen Adela und seinem Sohn mit großer Sorge. Und dabei gab es doch viel wichtigere Dinge, über die er sich den Kopf zerbrechen musste.

 

 

Während des Osterfestes in Winchester war König Wilhelm II. genannt Rufus, ausgezeichneter Stimmung gewesen. Und in den folgenden Wochen hatte sich seine Laune noch weiter gebessert.

Das Verhalten seines Bruders Robert kam ihm durchaus gelegen. Nach seiner Hochzeit mit der italienischen Erbin hätte der Herzog der Normandie eigentlich sofort mit seiner Braut und deren Geld zurück in die Heimat eilen müssen, um sein Pfand auszulösen. Doch weit gefehlt. Nachdem er sich im Kreuzzug als Held bewiesen hatte, verfiel er wieder in seinen gewohnten Trott. Der Herzog und seine Gemahlin setzten ihre Reise nur langsam fort, machten immer wieder Station und gaben das Geld mit vollen Händen aus. Es war unwahrscheinlich, dass sie die Normandie vor dem Ende des Sommers erreichen würden.

»Gebt ihm nur Zeit«, meinte Rufus lachend zu seinen Höflingen. »Bald wird er die ganze Mitgift verschleudert haben. Ihr werdet schon sehen.« Inzwischen herrschte Rufus nicht nur über die Normandie, sondern schmiedete auch Pläne, möglichst umfangreiche Teile des angrenzenden Frankreichs seinem Gebiet einzuverleiben.

Als der Sommer begann, sah die Lage für ihn sogar noch rosiger aus. Beflügelt vom Beispiel so vieler christlicher Herrscher, die sich durch einen Kreuzzug Ruhm und Ehre erworben hatten, beschloss der Herzog von Aquitanien – einem großen, wohlhabenden, sonnendurchfluteten Weinbaugebiet südwestlich der Normandie –, sich ebenfalls ins Heilige Land zu begeben. Um das nötige Geld dafür aufzutreiben, blieb ihm, wie schon zuvor Robert, nichts anderes übrig, als Rufus um ein hohes Darlehen zu bitten.

»Er will ganz Aquitanien verpfänden«, verkündeten seine Gesandten. Rufus, den die Religion nicht kümmerte, lachte auf. »Das könnte einen fast dazu bringen, wieder an Gott zu glauben«, stellte er fest.

Für Edgar war es ein Vergnügen, Adela durch den New Forest zu führen. Er zeigte ihr, wie man die Fährte des Damhirsches las. »Seht Ihr, der Rothirsch hat ein gespaltenes Trittsiegel. Beim Gehen schieben sich die beiden Schalen zusammen, sodass die Spur einem kleinen Hufabdruck ähnelt. Wenn er flüchtet, spreizen sie sich auseinander, und man erkennt ein ›V‹ auf dem Boden.« Er lächelte zufrieden. »Und da ist noch etwas. Seht Ihr diese Fährte mit den nach außen gewandten Tritten. Das war ein Männchen. Bei Weibchen zeigen sie geradeaus.«

Als sie einmal von Burley nach Lyndhurst durch den tiefen Wald ritten, fragte er sie: »Wisst Ihr, wie man im Wald feststellen kann, welche Richtung man eingeschlagen hat?«

»Am Sonnenstand?«

»Und wenn es bewölkt ist?«

»Keine Ahnung.«

»Sucht Euch einen einzeln stehenden, gerade gewachsenen Baum«, erklärte er. »Flechten wuchern immer auf der feuchten Seite des Baumes, also dort, wohin der Wind an den meisten Tagen den Nebel vom Meer hinübertreibt. Und in diesem Teil Englands ist das der Südwesten. Wenn Ihr also Flechten findet, wisst Ihr, dass dort der Südwesten ist.« Er grinste. »Falls Ihr Euch verirren solltet, sagen Euch die Bäume, wo ich wohne.«

Ihr war klar, dass er sich immer mehr in sie verliebte, und im Juni begann das schlechte Gewissen sie zu plagen. Auch wenn es besser gewesen wäre, ein wenig Abstand zu ihm zu wahren, fiel ihr das schwer, denn sie mochte ihn. Also ritten sie weiter zusammen aus, lachten viel und unternahmen lange Spaziergänge. An manchen Tagen jedoch ließ sich Adela zu keinem Ausflug überreden. Sie hatte eine große kunstvolle Stickerei begonnen, die sie seinem Vater als kleinen Dank für seine Güte schenken wollte. Das Bild ähnelte der Jagdszene, die sie in Winchester in der Residenz des Königs gesehen hatte. Doch sie hoffte, dass diese hier noch schöner werden würde. Sie stellte die Bäume des New Forest, die Hirsche, Hunde, Vögel und Jäger dar. Einer der Jäger war eindeutig Cola selbst. Am liebsten hätte sie auch den stattlichen, blonden Edgar abgebildet, aber dieses Vergnügen versagte sie sich. Die langwierige Arbeit war ein guter Vorwand, Edgar an manchen Tagen aus dem Weg zu gehen, ohne ihn zu kränken. Häufig kam Cola herein und sah ihr beim Sticken zu. Offenbar billigte er diesen Zeitvertreib. Die Wochen vergingen, und es schien ihr, als schlösse auch der alte Mann sie allmählich ins Herz, auch wenn er sie weiterhin mit Zurückhaltung behandelte.

Als Adela eines Tages in der zweiten Juniwoche am offenen Fenster der Halle im Sonnenlicht über ihrer Stickerei saß, kam Cola lächelnd herein. »Ich habe gute Nachrichten für Euch.«

»Oh.«

»Hugh de Martell ist Vater eines Sohnes geworden. Der Junge ist gesund. Er wurde gestern geboren.«

Adela klopfte das Herz bis zum Halse. »Und Lady Maud?« Sie sah zu, wie sich das Licht der untergehenden Sonne in ihrer Sticknadel spiegelte.

»Sie hat die Geburt überstanden. Es geht ihr erstaunlicherweise recht gut.«

 

 

An diesem Tag fand im New Forest noch eine weitere Geburt statt.

Seit einiger Zeit schon ging die weißliche Hirschkuh mit ihrem Kitz schwanger und streifte im Wald umher. Damhirsche bringen, stets allein, meistens nur ein einziges Kitz zur Welt. Sorgfältig hatte sie sich umgesehen und sich schließlich für eine Stelle im Gebüsch entschieden, die wegen der dichten Stechpalmenbüsche nicht einsehbar war. Hier machte sie sich ihr Lager zurecht.

Sie musste auf der Hut sein, denn in den ersten Lebenstagen war das Kitz völlig wehrlos. Wenn es von einem Hund oder einem Fuchs gefunden wurde, war es aus und vorbei mit ihm. Diese Bürde hatte die Natur in ihrer unergründlichen Weisheit den Damhirschen auferlegt. Allerdings hielten sich die Füchse meist am Rande des Waldes in der Nähe der Bauernhöfe auf. Die Hirschkuh schnupperte argwöhnisch, doch kein Geruch wies darauf hin, dass sich hier in letzter Zeit ein Fuchs aufgehalten hatte.

An einem stillen, warmen Junitag brachte sie hier im tiefgrünen Schatten ihr Kitz zur Welt, das wie ein kleines, klebriges Knochenbündel ins Gras rutschte. Sie leckte es sauber und ließ sich daneben nieder. Es war ein Männchen, das die Färbung seines Vaters haben würde. Wie sie so zusammen dalagen, hoffte die weißliche Hirschkuh, dass der riesige Wald gütig zu ihnen sein würde.

 

 

Gegen Ende Juni kam es zu zwei Ereignissen, die für kluge Köpfe allerdings keine große Überraschung darstellten.

Das erste wurde von Cola gemeldet: »Rufus wird in die Normandie einmarschieren.« Man erwartete, dass sein Bruder Robert im Dezember in seinem Herzogtum eintreffen würde. Und Rufus wollte ihm dort einen kriegerischen Empfang bereiten.

»Wird es ein großer Feldzug werden?«, fragte Edgar. »Ja, ein gewaltiger.« Edgars Bruder hatte aus London die Botschaft geschickt, die Vorbereitungen seien bereits im Gange. Gewaltige Summen wurden aufgebracht, um Soldaten anzuwerben. Aus der Schatzkammer in Winchester wurden Wagenladungen von Goldmünzen abtransportiert. Ritter wurden aus dem ganzen Land zusammengerufen. »Und er fordert von den meisten Häfen an der Südküste, ihm Schiffe zur Verfügung zu stellen«, erklärte Cola. »Wenn Robert eintrifft, um seine Schulden zu bezahlen, wird er feststellen, dass er aus seinem eigenen Haus ausgesperrt ist. Rufus verfügt über grenzenlose Mittel. Falls Robert sich dem Kampf stellt, wird er unterliegen. Eine schlimme Sache.«

»Aber war das nicht vorauszusehen?«, wandte Adela ein. »Ja, ich glaube schon. Doch Vermutungen und tatsächliche Ereignisse sind zwei verschiedene Dinge.« Er seufzte. »Natürlich hat Rufus in gewisser Weise Recht. Robert eignet sich nicht zum Herrscher. Ein solches Verhalten allerdings…«

»Wahrscheinlich werden einige Normannen damit gar nicht einverstanden sein«, sagte Adela.

»Allerdings, meine gute Lady, ganz sicher nicht. Insbesondere Roberts Freunde sind…« Er hielt inne und suchte nach dem richtigen Ausdruck »… bestürzt.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Und wenn er seinem eigenen Bruder in der Normandie so etwas antut, ist es nicht auszudenken, wie er mit Aquitanien verfahren wird. Vermutlich nach demselben Muster: Der Herzog von Aquitanien zieht ins Heilige Land. Rufus leiht ihm das Geld dafür und wünscht ihm eine gute Reise. Und während er fort ist, stiehlt er ihm sein Herzogtum. Was, glaubt Ihr, werden die Leute davon halten? Und wie wird sich die Kirche dazu stellen? Die Spannung innerhalb der Christenheit wächst.«

»Zum Glück betreffen uns diese Dinge hier im New Forest nicht«, meinte Edgar.

Sein Vater betrachtete ihn nur finster. »Es ist ein königlicher Forst«, murmelte er. »Das alles betrifft daher auch uns.« Mit diesen Worten ließ er die beiden allein.

Eine Woche später traf ein schwarz gewandeter Mann ein, den Adela noch nie zuvor gesehen hatte. Er sprach eine Weile allein mit Cola, und als er fort war, wirkte Edgars Vater bedrückt.

Noch nie hatte Adela ihn so ernst und niedergeschlagen erlebt. Auch in den darauf folgenden Tagen schien sich seine Besorgnis nicht zu legen. Sie bemerkte, dass Edgar sich ebenfalls Gedanken über Colas Zustand machte, doch als sie sich bei ihm nach dem Grund erkundigte, schüttelte er nur den Kopf.

»Er will es mir nicht sagen.«

Zu dem zweiten Ereignis kam es einige Tage später bei einem gemeinsamen Ausritt.

Am Westrand des dunklen Tals von Burley erhob sich eine steile, bewaldete Anhöhe, die etwa anderthalb Kilometer vom Dorf entfernt ihren höchsten Punkt erreichte. Diese Stelle nannte man Castle Hill – Schlossberg –, obwohl dort nie ein normannisches Schloss gestanden hat. Inmitten einzelner Eschen, Stechpalmen und Gestrüpp waren nur die Umrisse einer bescheidenen Einfriedung aus niedrigen Erdwällen und Gräben zu erkennen. Niemand wusste, ob es sich um die Überreste eines Viehpferchs, einen Beobachtungsposten oder um eine kleine Festung handelte und ob die Erbauer entfernte Vorfahren der Waldbewohner oder unbekannte Siedler aus grauer Vorzeit gewesen waren. Doch ganz gleich, wessen Geister hier auch umgehen mochten, es war ein friedlicher, idyllischer Ort, wo sich dem Betrachter, wenn er nach Westen blickte, eine beeindruckende Aussicht bot. Man konnte über die braune Heide am Waldesrand bis hinab ins Avontal sehen. Dahinter erhoben sich in mehr als dreißig Kilometern Entfernung die blaugrünen Berge von Dorset.

Es war ein angenehmes Plätzchen für einen Ausflug an einem strahlenden Sommermorgen. Die Sonne brachte Edgars goldenes Haar zum Funkeln. Und als er ihr in ruhigem, ja, fast fröhlichem Ton die Frage stellte, mit der sie schon seit geraumer Zeit rechnete, sah er dabei so edel aus. Welche Frau hätte da widerstehen können? Wie gerne wäre Adela in diesem Moment eine andere gewesen.

Und welchen Grund gab es eigentlich, ihn zurückzuweisen? Benahm sie sich nicht albern? Schließlich geschah es öfter, dass normannische Sieger und besiegte angelsächsische Adelige miteinander eine Ehe eingingen. Adela würde ihren Stolz ein wenig herunterschlucken müssen, doch ein Weltuntergang war es beileibe nicht. Außerdem war Edgar so reizend, und sie hatte ihn gern.

Doch vor ihr in der blauen Ferne im Westen lag das Gut von Hugh de Martell. Und dorthin, in eines der Täler zwischen den Hügeln, richtete sich nun ihr Blick. Hinter ihr, nur etwa anderthalb Kilometer entfernt, plätscherte der kleine Bach, wo Puckles Frau ihr die Zukunft vorausgesagt hatte.

Sie würde Martells Frau werden. Daran glaubte Adela ganz fest. Nach der Schreckensnachricht, Lady Maud habe die Geburt wohlbehalten überstanden, hatte sie lange darüber nachgedacht, welche Folgen das für sie haben würde. Dann hatte sie sich an die Warnung der Hexe erinnert: »Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen.« Ihr war Glück versprochen worden, und sie vertraute darauf. Sie wusste ganz genau, dass etwas geschehen würde. Bestimmt würde Lady Maud ihr irgendwann nicht mehr im Weg stehen.

Dann würde sie Martells Sohn eine gute Mutter sein und dadurch die Schuld abbüßen, die sie auf sich geladen hatte, indem sie Lady Maud den Tod wünschte.

Was sollte sie Edgar also antworten? Sie wollte ihn auf keinen Fall kränken. »Ich danke Euch«, erwiderte sie zögernd. »Gewiss würde ich an Eurer Seite glücklich werden. Aber ich bin mir meiner Gefühle noch nicht sicher. Im Augenblick kann ich nicht zusagen.«

»Dann werde ich Euch am Ende des Sommers wieder fragen«, entgegnete er lächelnd. »Lasst uns weiter reiten.«

 

 

Hugh de Martell betrachtete seine Frau und sein Kind. Sie saßen im lichtdurchfluteten Wintergarten. Sein Sohn schlief friedlich in einer niedrigen Wiege aus Weidengeflecht. Wegen seines dunklen Haarflaums fanden alle, dass er seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten sei. Zufrieden sah Martell sein Kind an. Dann richtete er den Blick auf Lady Maud.

Sie lag, auf einige Kissen gestützt, in dem kleinen Bett, das man für sie aufgestellt hatte, denn sie war gern bei ihrem Kind und verbrachte täglich viele Stunden mit ihm. Trotz ihrer Schwäche zwang sie sich ihrem Gatten zuliebe zu einem Lächeln. »Wie geht es dem stolzen Vater heute?«

»Gut, denke ich«, erwiderte er.

Schweigen entstand in dem sonnigen Raum.

»Sicher werde ich bald gesund.«

»Ganz bestimmt.«

»Es tut mir Leid. Gewiss ist es nicht leicht für dich, dass ich schon so lange krank bin. Als Ehefrau tauge ich nicht viel.«

»Unsinn. Das Wichtigste ist, dass du bald wieder auf dem Damm bist.«

»Ich will dir eine gute Gattin sein.«

Er lächelte, ohne es wirklich zu meinen, und blickte dann gedankenverloren zum offenen Fenster hinaus.

Er liebte sie nicht mehr. Aber er hatte keinen Grund, sich Vorwürfe zu machen, denn sein Verhalten während ihrer monatelangen Krankheit gab keinerlei Anlass zu Tadel. Er hatte sie versorgt und gepflegt, ihr Gesellschaft geleistet, ihre Hand gehalten und sie an den beiden Tagen, als sie sich dem Tode nah wähnte, so getröstet, wie nur ein Ehemann es vermag. Sein Gewissen war also rein.

Doch seine Liebe zu ihr war erkaltet. Er sehnte sich nicht mehr nach ihrer Nähe. Es ist nicht einmal ihre Schuld, dachte er. Er kannte sie einfach zu gut. Der Mund, den er geküsst und der sogar Worte der Leidenschaft ausgesprochen hatte, war nun reglos, schmal und verkniffen. Ihre Gefühle bewegten sich in so engen Grenzen, dass es ihm die Luft abschnürte, und die ordentlich gefegten Kammern ihres Verstandes langweilten ihn. Sie war so engherzig und phantasielos, obwohl man sie keineswegs als schwach bezeichnen konnte. Denn in diesem Fall hätte ihn die lästige Pflicht, sie zu beschützen, an sie gebunden. Aber sie war erstaunlich stark. So krank sie auch sein mochte, wenn sie überlebte, würde sich ihr Denken nicht verändern und weiter in seinen geordneten Bahnen verharren. Zuweilen erschien es ihm, als verliefe ein schnurgerader roter Faden durch das Innerste ihrer Seele – so dünn, dass er mühelos in ein Nadelöhr gepasst hätte, und dennoch gefeit gegen jegliche Veränderung.

Weshalb liebte sie ihn überhaupt? Schlicht und ergreifend aus gesellschaftlicher Notwendigkeit, was man ihr allerdings nicht verdenken konnte. Sie hatte sich ihr Leben genau zurechtgelegt und verfügte über die Mittel und Wege, ihre Pläne auch in die Tat umzusetzen. All ihr Streben war dahin gerichtet, dazustehen wie ein uneinnehmbares Bollwerk der Sittsamkeit. Und zu diesem Zweck brauchte sie einen Ehemann. Gab es überhaupt einen anderen Grund zu heiraten?

Deshalb war es nicht weiter erstaunlich, dass Hugh de Martell in solchen Augenblicken an Adela dachte.

Das war im vergangenen Jahr öfter geschehen. Das einsame, unbekümmerte Mädchen hatte ihn auf Anhieb neugierig gemacht. Und offen gestanden steckte noch mehr dahinter. Warum hatte er sie sonst in Winchester aufgesucht? Er konnte sich nicht dagegen wehren, dass sie sich immer wieder in seine Gedanken drängte und dass es ihm häufig schien, sie befände sich ganz in seiner Nähe. Vor einigen Tagen war er Cola, dem Förster, begegnet. Von ihm wusste er, wo sie sich aufhielt und dass sie sich nach ihm und seiner Familie erkundigt hatte. Beim letzten Vollmond hatte er sich plötzlich nach ihr gesehnt. Und vor drei Nächten hatte er sogar von ihr geträumt.

»Ich reite aus«, verkündete er unvermittelt, nachdem er eine Weile aus dem Fenster geblickt hatte.

 

 

Am frühen Nachmittag erreichte er Colas Haus. Der alte Mann war nicht da, dafür aber sein Sohn Edgar. Und Adela.

Er übergab Edgar sein Pferd und schlenderte mit Adela den Pfad entlang zum Avon, wo die Schwäne über das Wasser glitten. Die langen, grünen Flussalgen schwankten sanft in der Strömung. Sie plauderten – er wusste später kaum noch, worüber –, und dann schlug er ihr vor, sich doch unter vier Augen wieder zu sehen, wenn er ihr eine Nachricht zukommen ließ.

Sie stimmte zu.

Nachdem sie sich wieder zu Edgar gesellt hatten, bedankte sich Martell übertrieben förmlich bei Adela für die Anteilnahme, die sie seiner Familie in dieser schweren Zeit entgegengebracht hatte. Den jungen Mann bedachte er mit einem höflichen Nicken und ritt davon.

Auf dem Rückweg spürte er eine prickelnde Erregung, wie er sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. Er zweifelte nicht daran, dass ihm bei diesem romantischen Abenteuer Erfolg beschieden sein würde. Es war schließlich nicht das erste Mal.

 

 

Eine Woche später traf ein knapp gehaltener Brief von Walter ein, der ohne Umschweife auf den Punkt kam. Er sei unterwegs nach England, müsse zuerst einen Verwandten seiner Frau treffen und habe dann eine Audienz beim König. Vermutlich werde er erst Anfang August die Zeit finden, Adela abzuholen. Der Brief endete mit dieser Mitteilung: »Übrigens habe ich einen Mann für dich.«

Drei Wochen vergingen ohne eine Nachricht von Martell. Obwohl Adela sich Mühe gab, ihre Aufregung zu verbergen, war sie bleich und angespannt, und sie fragte sich, warum Martell nichts von sich hören ließ.

Weshalb war er nicht gekommen? Hatte sich Lady Mauds Befinden wieder verschlechtert? Sie zog Erkundigungen ein. Doch sie erfuhr nur, der Lady gehe es täglich besser.

Sie wusste nicht, was sich aus ihrem Stelldichein mit Martell entwickeln würde. Würde sie sich ihm hingeben? Diese Frage erschien ihr nebensächlich. Sie hatte nur den Wunsch, ihn wieder zu sehen. Am liebsten hätte sie ihn aufgesucht, aber das kam überhaupt nicht in Frage. Ihm zu schreiben, wagte sie ebenfalls nicht.

Nach Walters Brief wusste sie, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Denn er würde sie mitnehmen und sie verheiraten. Hatte sie eine Möglichkeit, sich zu weigern? Konnte sie einen weiteren Bewerber ablehnen? Adela war völlig ratlos.

Inzwischen war der König in Winchester eingetroffen. Bald würden Heer und Flotte bereit sein. Es hieß, in der Schatzkammer von Winchester sei noch mehr Geld eingelagert worden. Der König war so beschäftigt, dass er nicht einmal Zeit für die Jagd hatte.

Adela hatte keine Ahnung, ob Walter sich bereits in Winchester aufhielt. Doch er war ohnehin der letzte Mensch, den sie im Augenblick sehen wollte.

In der letzten Juliwoche hatte sie erneut Puckles Frau aufgesucht. Wie beim ersten Mal traf sie die Hexe in ihrer kleinen Hütte an, doch als sie die Frau um Hilfe bat, weigerte sie sich.

»Können wir es nicht wieder mit einem Zauber versuchen?«, fragte sie.

Aber Puckles Frau schüttelte nur ruhig den Kopf. »Wartet. Habt Geduld. Was geschehen wird, wird geschehen«, erwiderte sie.

Also kehrte Adela unverrichteter Dinge zurück.

Edgars Launenhaftigkeit trug nicht dazu bei, die Stimmung in Colas Haus zu verbessern. Er hatte seinen Heiratsantrag mit keinem Wort mehr erwähnt. Adela glaubte zwar nicht, dass er etwas von ihren geheimen Gefühlen für Martell ahnte, aber die Nachricht, Walter wolle sie abholen, hatte ihn sicherlich nicht erfreut. Oberflächlich betrachtet hatte sich an ihrer Freundschaft nichts geändert, doch sie erkannte Trauer in seinen Augen.

Währenddessen hüllte sich Cola weiterhin in bedrücktes Schweigen. Adela wusste nicht, ob Edgar seinem Vater von dem Heiratsantrag erzählt hatte. Würde er dieser Ehe seinen Segen geben? Allerdings hatte sie keine große Lust, ihn darauf anzusprechen, obwohl sie sich fragte, ob seine üble Laune damit zusammenhing oder ob sie ihren Grund in den bedrohlichen politischen Entwicklungen hatte.

Als der Juli sich dem Ende zuneigte, wuchs die Stimmung im Haus. Walter wurde jeden Tag erwartet. Cola brütete vor sich hin, und Edgar wirkte sichtlich aufgebracht. Einige Male schien er kurz davor, das Thema Ehe anzuschneiden, hielt sich aber zurück. Adela fand diese Atmosphäre zunehmend unerträglich.

Und dann, endlich, geschah etwas, und zwar am letzten Julitag, als Cola Edgar und Adela zu sich rief. »Ich habe die Botschaft erhalten, dass der König morgen mit einigen Begleitern in Brockenhurst eintrifft«, verkündete er. »Am nächsten Tag will er im New Forst jagen. Ich soll dabei sein.« Er warf Adela einen Blick zu. »Euer Vetter Walter gehört auch zum Gefolge. Also werden wir ihn sicher bald hier begrüßen können.« Mit diesen Worten ging er hinaus, um etwas zu erledigen, und ließ Adela mit Edgar allein.

Das Schweigen dauerte nicht lange.

»Werdet Ihr mit Tyrrell abreisen?«, fragte Edgar leise.

»Ich weiß nicht.«

»Oh? Heißt das, ich darf hoffen?«

»Ich weiß nicht.« Das war eine alberne Antwort, aber Adela konnte vor Aufregung keinen klaren Gedanken fassen. »Was bedeutet es dann?«, brach es schließlich aus ihm heraus. »Hat Walter einen Gatten für Euch gefunden? Habt Ihr den Antrag angenommen?«

»Nein. Nein, das habe ich nicht.«

»Was ist es also? Gehört Euer Herz einem anderen?«

»Einem anderen? Wer sollte das sein?«

»Keine Ahnung.« Er zögerte. Dann seufzte er ungeduldig auf. »Meinetwegen dem Mann im Mond.« Er machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte erbost davon. Adela wusste, dass sie ihn schändlich behandelte. Ihr einziger Trost war, dass sie selbst mindestens ebenso – wenn nicht sogar mehr – litt wie er. Den restlichen Tag über ging sie ihm aus dem Weg.

Am nächsten Morgen war sie allein im Haus. Cola war mit den Vorbereitungen zur Jagd beschäftigt. Zuerst suchte er Puckle auf und musste dann dafür sorgen, dass in Brockenhurst, wo der Förster die nötigen Arrangements zum Empfang des Königs traf, ausreichend Ersatzpferde zur Verfügung standen. Auch Edgar wurde losgeschickt, um Verschiedenes zu erledigen. Adela war froh, ihm nicht begegnen zu müssen.

Da sie nichts Besseres zu tun hatte, ging sie am späten Nachmittag am Flussufer spazieren. Gerade wollte sie zum Haus zurückkehren, als plötzlich ein fremder Mann auf sie zutrat, der ihr etwas hinhielt. »Seid Ihr Lady Adela? Ich soll Euch das hier geben.« Der Gegenstand wurde ihr in die Hand gedrückt, und bevor sie etwas erwidern konnte, war der Mann schon verschwunden.

Es war ein kleines Stück Pergament, zusammengefaltet und versiegelt. Nachdem sie das Siegel erbrochen hatte, las sie die säuberlich in Französisch verfasste kurze Nachricht.

 

Ich werde am Morgen in Burley Castle sein. Hugh

 

Ihr Herz machte einen Satz. Kurz schien ihr, als sei die ganze Welt, ja, selbst der dahinströmende Fluss, stehen geblieben. Dann eilte sie, das Pergament fest in der Hand, zum Haus zurück.

So sehr Adela auch mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt war, wurde sie doch neugierig, als sie feststellte, dass Cola an diesem Tag einen Besucher gehabt hatte. Eigentlich wäre das nicht weiter von Bedeutung gewesen, hätte es sich nicht um denselben Fremden gehandelt, den sie schon einmal hier gesehen und der den alten Mann in so niedergeschlagene Stimmung versetzt hatte. Bei ihrer Ankunft war der Fremde mit Cola ins Gespräch vertieft. Doch wenig später brach er auf. Cola erschien erst wieder zum Abendessen.

Adela erschrak bei seinem Anblick, denn in ihm war eine Furcht erregende Veränderung vorgegangen. Seine Bedrücktheit hatte sich in finstere Wut verwandelt. Rasch aber wurde ihr klar, dass sich dahinter etwas anderes verbarg. Zum ersten Mal hatte sie den Eindruck, dass der alte Mann Angst hatte.

Als sie ihm das Wildragout servierte, nickte er ihr nur geistesabwesend zu. Und als er ihren Becher mit Wein füllte, stellte sie fest, dass seine Hand zitterte. Was um alles in der Welt konnte der Bote ihm gesagt haben, um ihn so aus der Fassung zu bringen? Auch Edgar, obwohl in Gedanken eigentlich anderswo, betrachtete seinen Vater besorgt.

Nach der kurzen Mahlzeit ergriff Cola das Wort: »Ihr beide bleibt morgen hier im Haus und rührt euch nicht von der Stelle.«

»Aber Vater…«, wandte Edgar verdattert ein. »Ich soll dich doch sicher auf die königliche Jagd begleiten.«

»Nein. Du bleibst hier. Du lässt Adela nicht aus den Augen.«

Die jungen Leute starrten einander verblüfft an. Auch wenn Edgar gewiss nichts dagegen hatte, ihr Gesellschaft zu leisten, war es für einen jungen Adeligen wie ihn eine große Ehre, mit dem König auf die Jagd zu reiten. »Darf er denn wirklich nicht mit?«, fragte sie deshalb schüchtern. »Es ist eine einmalige Gelegenheit, den König zu sehen.«

Doch anstatt Edgar zu helfen, löste sie mit ihrer Bemerkung nur einen Wutanfall aus. »Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, polterte der alte Mann. »Er wird seinem Vater gehorchen. Und auch Ihr werdet tun, was man Euch sagt!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang auf. »So lauten meine Befehle, und du, junger Mann« – er funkelte Edgar finster an –, »wirst sie befolgen.«

Bebend vor Zorn stand er da, ein Ehrfurcht gebietender alter Herr, dessen Macht man sich nicht entziehen konnte. Die beiden jungen Leute hielten es für klüger, ihm nicht zu widersprechen.

Als Adela später zu Bett ging, überlegte sie, wie sie sich bloß am nächsten Morgen davonschleichen sollte. Denn sie hatte keine andere Wahl, als Colas Anweisungen zu missachten.

 

 

Am folgenden Tag wurde sie kurz vor Morgengrauen von einem Geräusch geweckt. Die Stimmen waren zwar nicht laut, aber sie glaubte, in ihren Träumen einen Streit gehört zu haben.

Leise stand sie auf, schlich sich zur Tür der Halle und spähte hinein.

Cola und Edgar saßen an einem Tisch, auf dem eine Fackel gerade so viel Licht verbreitete, dass man sie erkennen konnte. Der alte Mann war bereits für die Jagd gekleidet. Edgar trug nur ein langes Untergewand. Offenbar unterhielten sich die beiden schon seit einer Weile, und nun sah Edgar seinen Vater fragend an. Dieser stierte müde auf die Tischplatte.

Endlich sprach der alte Mann weiter, jedoch ohne den Kopf zu heben. »Glaubst du, ich verbiete dir grundlos, in den New Forest zu reiten?«

»Nein, aber ich würde diesen Grund gerne kennen.«

»Begreifst du denn nicht, dass es sicherer für dich ist, wenn du nichts weißt?«

»Ich finde, du solltest mir vertrauen.«

Der alte Mann dachte nach. »Wenn mir etwas zustoßen sollte«, sagte er schließlich, »ist es vielleicht wirklich besser, wenn du wenigstens zum Teil im Bilde bist. Die Welt ist gefährlich, und möglicherweise sollte ich dich nicht gegen alles abschirmen. Du bist ein erwachsener Mann.«

»Das glaube ich auch.«

»Hast du dir schon einmal überlegt, wie vielen Leuten es recht wäre, wenn Rufus verschwände?«

»Einer ganzen Menge.«

»Richtig. Und zwar in einigen Ständen. Noch nie waren es so viele wie zurzeit.« Er hielt inne. »Wenn Rufus jetzt im New Forest einen Unfall erlitte, würde es besagten Leuten, wer immer sie auch sein mögen, sehr gelegen kommen.«

»Der König wird einen Unfall haben?«

»Vergiss nicht, dass Mitgliedern der königlichen Familie schon des Öfteren im New Forest etwas zugestoßen ist.«

Das war wahr. Vor vielen Jahren war Richard, der vierte Sohn des Eroberers, im New Forest gegen einen Baum geritten und hatte dabei den Tod gefunden. Und einer von Rufus’ Neffen, ein unehelicher Sohn seines Bruders Robert, war vor kurzem im New Forest von einem verirrten Pfeil getötet worden.

Aber dennoch: Ein König! Edgar war wie vom Donner gerührt. »Heißt das, man plant einen Anschlag auf Rufus?«

»Mag sein.«

»Wann?«

»Heute Nachmittag. Möglicherweise.«

»Und da du davon weißt, bist du offenbar in die Sache verwickelt.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Du konntest nicht einfach die Ohren vor diesem Wissen verschließen?«

»Es sind mächtige Leute, Edgar. Sehr mächtige Leute. Unsere Stellung – meine und eines Tages auch deine – ist gefährdet.«

»Du kennst also die Männer, die dahinter stecken?«

»Nein. Da bin ich nicht sicher. Einflussreiche Personen haben sich an mich gewandt. Doch die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen.«

»Und es soll heute geschehen?«

»Möglicherweise. Vielleicht auch nicht. Erinnere dich an das letzte Mal, als Rufus in einem Wald getötet werden sollte. Damals ist einer der Verschwörer in letzter Minute übergelaufen. Es gibt keine Gewissheit. Es kann passieren oder auch nicht.«

»Aber Vater…« Edgar betrachtete den alten Mann besorgt. »Ich werde dich nicht fragen, in welcher Weise du an der Sache beteiligt bist. Woher nimmst du die Sicherheit, dass man dir nicht die Schuld in die Schuhe schieben wird, wenn es zu einem Zwischenfall kommt? Schließlich bist du nur ein angelsächsischer Förster.«

»Richtig. Allerdings glaube ich das nicht. Dazu weiß ich zu wenig und außerdem« – er lächelte – »habe ich mit Hilfe deines Bruders in London einige Vorkehrungen getroffen. Ich denke, mir droht keine Gefahr.«

»Werden sie denn nicht einen Sündenbock brauchen?«

»Sehr gut, ich sehe, du hast einen scharfen Verstand. Natürlich werden sie das. Er wurde sogar schon ausgesucht, so viel weiß ich. Und sie haben eine gute Wahl getroffen. Der Mann ist ein naiver Gernegroß, der sich Teil dieses erlauchten Kreises wähnt. Doch in Wirklichkeit tappt er völlig im Dunkeln.«

»Und wer ist das?«

»Walter Tyrrell.«

»Tyrrell?« Edgar stieß einen leisen Pfiff aus. »Soll das heißen, die Clares opfern ein Mitglied ihrer eigenen Familie?«

»Habe ich behauptet, dass die Clares daran beteiligt sind?«

»Nein, Vater.« Edgar lächelte. »Das hast du nicht.«

Tyrrell. Adela erstarrte. Ihr Vetter Walter sollte in eine Falle gelockt werden und als Sündenbock herhalten. Und er ahnte nicht, in welcher Gefahr er schwebte. Beim bloßen Gedanken, dass sie nun von diesem schrecklichen Geheimnis wusste, schnürte es ihr die Kehle zu. Zitternd schlich sie sich in ihr Zimmer, voller Angst, das laute Klopfen ihres Herzens könnte sie verraten.

Was sollte sie jetzt tun? Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Doch dann standen ihr in der kühlen, grauen Morgendämmerung ihre Pflichten plötzlich wie fahle Gespenster vor Augen. Man plante, den König zu töten. Das war eine Todsünde. Etwas Schrecklicheres gab es nicht. War dieser Mann wirklich ihr König? Nein. Bis sie einen Vasallen des englischen Königs heiratete, galt ihre Treue selbstverständlich Robert. Allerdings war Walter ihr Verwandter. Auch wenn sie ihn nicht leiden konnte und er sich ihr gegenüber schäbig verhalten hatte, er war und blieb ihr Vetter, und sie musste ihn retten.

Leise zog sie sich an. Nach einer Weile sah sie durch das offene Fenster: Cola ritt allein in der Dämmerung davon. Bogen und Köcher auf dem Rücken.

Sie wartete, bis er außer Sichtweite war. Im Haus war es still. Vorsichtig stieg sie aus dem Fenster und kletterte hinunter.

In ihrer Aufregung hatte sie nicht bemerkt, dass ihr auf dem Weg zum Fenster Martells Brief aus der Tasche geglitten war.

 

 

Der Morgen graute, als Puckle sich mit seinem Wagen auf den Weg machte. Cola hatte ihm befohlen, sich an der Jagdhütte in Brockenhurst einzufinden und auf weitere Anweisungen zu warten. Außerdem hatte er die Aufgabe, die erlegten Hirsche fortzuschaffen.

Seine Frau begleitete ihn zur Tür. »Du kommst heute Abend nicht nach Hause«, sagte sie zum Abschied.

»Nein?«

»Nein.«

Nach einem fragenden Blick auf sie fuhr er los.

 

 

Adela war auf der Hut gewesen. Sie hatte ihr Pferd in der Dunkelheit gesattelt, hatte es am Zügel neben dem Pfad durchs Gras geführt, um sich nicht durch Hufgetrappel zu verraten. Erst ein Stück weit von Colas Haus entfernt stieg sie auf und ritt langsam durch das Tal und in den New Forest.

Der Gedanke, das Stelldichein mit Martell zu verpassen, ihm nicht einmal eine Nachricht zukommen zu lassen, war unerträglich. Aber sie durfte nicht tatenlos zusehen, wie Walter in sein Unglück lief. Am Castle Hill in Burley angekommen, wartete sie, so lange sie es wagte. Die Sonne stand schon hoch am Horizont, als sie es schließlich aufgab. Er war noch nicht erschienen. Da fiel Adela ein, sie könnte ja Puckle oder ein Mitglied seiner Familie bitten, Martell abzufangen und ihm etwas von ihr auszurichten. Also ritt sie den kleinen Bach entlang zu Puckles Haus. Doch unerklärlicherweise war niemand da. Und sie befürchtete, man würde über sie klatschen, wenn sie einen Fremden in Burley bat, ihre Botschaft zu überbringen Sie konnte nur noch hoffen, dass sie Walter rechtzeitig fand und Martell bei ihrer Rückkehr zum Castle Hill noch antraf. Deshalb ritt sie rasch weiter, um sich nur nicht zu verspäten.

Wie sich herausstellte, hätte sie sich nicht zu beeilen brauchen.

 

 

Was König Wilhelm I. genannt Rufus, Anfang August im Jahre des Herrn 1100 tat, ist mehr oder weniger bekannt. Am Monatsersten erließ er in seiner Jagdhütte in Brockenhurst ein Gesetz, speiste anschließend mit Freunden und ging zu Bett.

Doch er schlief schlecht. Und deswegen brach er nicht schon bei Morgengrauen auf. Erst als die Sonne hoch am Horizont stand und die Baumwipfel rings um Brockenhurst funkelten, erhob er sich endlich und gesellte sich zu seinen wartenden Höflingen.

Es war ein kleiner, erlauchter Kreis: Robert Fitz Hamon, ein alter Freund; William, der Schatzmeister aus Winchester; zwei weitere normannische Barone; drei Mitglieder der einflussreichen Familie Clare, die ihn schon einmal fast verraten hätte; schließlich sein jüngerer Bruder Heinrich, ein dunkelhaariger, temperamentvoller und dennoch zurückhaltender und nachdenklicher Mann – manche hielten ihn für genauso grausam wie seinen Bruder und seinen Vater; und zu guter Letzt Walter Tyrrell.

Als sich der rothaarige König auf einer Bank niederließ, um sich die Stiefel anzuziehen, erschien ein Waffenschmied mit einem halben Dutzend frisch angefertigter Pfeile, um sie dem König als Geschenk zu überreichen.

Rufus nahm sie entgegen und prüfte sie schmunzelnd. »Ausgezeichnete Arbeit. Das Gewicht stimmt. Der Schaft ist biegsam. Sehr gut gemacht«, beglückwünschte er den Waffenschmied. Dann warf er einen Blick auf Tyrrell und meinte: »Nehmt zwei davon, Walter. Ihr seid der bessere Schütze.« Als Tyrrell strahlend danach griff, fügte der König mit einem rauen Lachen hinzu: »Und wehe, wenn Ihr danebenschießt.«

Es folgte das übliche Hofgeplänkel, das dazu diente, den König bei Laune zu halten. Plötzlich tauchte ein Mönch auf, was Rufus, dem Kirchenmänner bestenfalls lästig waren, nicht sonderlich erfreute. Doch da dieser redegewandte Bursche darauf bestand, einen wichtigen Brief von seinem Abt zu überbringen, nahm der König das Schreiben achselzuckend entgegen.

Nachdem er es gelesen hatte, lachte er auf. »Also, Walter, vergesst nicht, was ich Euch gesagt habe: Wehe, wenn Ihr mit meinen Pfeilen danebenschießt«, meinte er zu Tyrrell. Er wandte sich an die übrigen Anwesenden: »Ist es zu fassen, was dieser Abt aus Gloucester mir schreibt! Einer seiner Mönche hatte einen Traum, oder besser eine Erscheinung, in der ausgerechnet ich vorkam – vermutlich, wie ich in der Hölle schmore.« Er grinste und wedelte mit dem Pergament herum. »Also setzt der Mann sich hin, schreibt mir einen Brief, schickt ihn mir den weiten Weg quer durch England und warnt mich, auf der Hut zu sein. Und so ein Kerl, der Himmel steh uns bei, ist Abt! Von jemandem in dieser Position möchte man doch mehr Vernunft erwarten.«

»Gehen wir auf die Jagd, Sire«, schlug einer der Männer vor.

 

 

Es war schon später Vormittag, als Hugh de Martell sein Haus verließ. Aus irgendeinem Grund hatte sich seine Frau ausgerechnet diesen Morgen ausgesucht, um ihn mit allerhand Kleinigkeiten zu belästigen, bis er schließlich gezwungen gewesen war, ihr ziemlich unfreundlich Einhalt zu gebieten. Deshalb hatte er ein schlechtes Gewissen und üble Laune. Er trieb sein Pferd zum Trab an und preschte die lange Strecke entlang, die über die Kreidefelsen führte.

Allerdings machte er sich keine übergroßen Sorgen. Sie würde auf ihn warten.

 

 

Edgar war völlig erstaunt, als einer der Stallburschen meldete, dass Adelas Pferd fehle. Es war schon mitten am Vormittag, und da er sehr beschäftigt gewesen war, hatte er gar nicht auf Adela geachtet, sondern angenommen, dass sie sich irgendwo im Haus aufhielt. Edgar wunderte sich, dass er sie gar nicht hatte wegreiten sehen. Also ging er schnurstracks in ihr Zimmer, wo er den Brief von Martell fand.

Er brauchte das normannische Französisch nicht genau zu lesen, um die Bedeutung dieses Schreibens zu verstehen. Es reichte, dass er die Wörter »Burley Castle« und »Hugh« erkannte. Wenig später ritt er los. Sie hatte den Befehl seines Vaters missachtet. Das allein war schon schlimm genug. Hinzu kam, dass ihr Verschwinden eindeutig mit Martell zusammenhing. Sie wollte sich heimlich mit ihm treffen.

Schon bei Martells Besuch hatte sich sein Argwohn geregt, aber es wäre unhöflich gewesen, sie darauf anzusprechen. Cola hatte ihm schon vor langer Zeit anvertraut, dass Martell ein Frauenheld war und sich hin und wieder am Rande des New Forest auf ein Liebesabenteuer einließ. Edgar hatte das nicht weiter verwundert. Schließlich waren es die Feudalherren, wie die Mächtigen aller Epochen, gewöhnt, sich gewisse Rechte herauszunehmen. Allerdings hatte Edgar vermutet, dass sich Martell wegen des angegriffenen Gesundheitszustandes seiner Frau eine Weile zurückhalten würde. Wahrscheinlich hatte der reiche Grundherr der Versuchung nicht widerstehen können, einer ungebundenen Frau wie Adela nachzustellen. Dass er, Edgar, Adela heiraten wollte, war für Martell sicher kein Hinderungsgrund, sondern eher ein Ansporn, seine Überlegenheit zu beweisen.

Was sollte er jetzt tun? Er war völlig ratlos. Sollte er sie zunächst beobachten? Herausfinden, was sich zwischen ihnen abspielte? Sie zur Rede stellen? Sich mit Martell schlagen? Er wusste es beim besten Willen nicht.

Bald hatte Edgar das Tal hinter sich gelassen. Es kostete ihn nur einen kleinen Umweg von etwa anderthalb Kilometern, ihren Treffpunkt unbemerkt von Norden her zu umrunden und sich lautlos von hinten durch die Bäume anzupirschen. Er fühlte sich wie ein Spion, als er sein Pferd an einen Baum band und zu Fuß weiterschlich.

Doch keine Spur von ihnen. Ihre Pferde waren nirgendwo zu sehen. Auch auf der tiefer liegenden Heide konnte er von hier oben nichts entdecken. Waren sie irgendwo in der Nähe, versteckt hinter Farnwedeln oder im hohen Gras?

Gewiss waren sie hier gewesen und gemeinsam wieder fortgeritten. Und dann? Er wusste, dass es zwecklos war, darüber nachzugrübeln, doch er konnte nicht anders. Ihm wurde flau im Magen, als ihm die Erkenntnis kam: Sie wollten allein sein.

Edgars Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Mit klopfendem Herzen ritt er weiter, erkundigte sich in Burley, ob man Adela gesehen habe, und hielt von verschiedenen Anhöhen Ausschau. Schließlich machte er sich widerstrebend auf den Rückweg zum Tal, um noch einmal im Haus nachzusehen. Vielleicht, so sagte er sich, hatte er sich ja geirrt. Er nahm sich vor, andernfalls wieder in den New Forest zu reiten und weiterzusuchen.

 

 

Vorsichtig näherte Adela sich Brockenhurst. Sie musste Walter unbedingt finden, ohne dabei Cola in die Arme zu laufen. Denn wie sollte sie dem alten Mann erklären, warum sie seinen Befehl missachtet hatte? Bestimmt würde er sie nach Hause schicken, ohne dass sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen konnte.

Als die königliche Jagdhütte in Sicht kam, schien das Glück auf ihrer Seite zu sein. Denn sie entdeckte Puckle, der allein neben seinem Wagen stand. Als sie sich erkundigte, wohin die Jagdgesellschaft des Königs geritten sei, erwiderte er, nach Norden, irgendwo oberhalb von Lyndhurst.

Das war wirklich eine gute Nachricht, denn Adela kannte sich in diesem Gebiet aus. Vielleicht konnte sie Walter nun unbemerkt abfangen. Nachdem sie Puckle gebeten hatte, diese Begegnung für sich zu behalten, ritt sie, ein wenig erleichtert, nach Norden.

 

 

Ihr Mann war schon eine Weile fort, als Lady Maud sich von ihrem Bett im Wintergarten erhob. Aber als sie nicht nur Kleidung zum Ausgehen verlangte, sondern auch befahl, ihr Pferd zu satteln, versetzte sie die ganze Dienerschaft in Erstaunen.

»Ihr wollt doch nicht etwa reiten, Mylady?«, fragte ihre Zofe besorgt.

»Genau das will ich.«

»Aber, Mylady, Ihr seid noch so schwach.«

Es traf zwar zu, dass Lady Maud nach monatelanger Bettlägrigkeit nicht sehr sicher auf den Beinen war, doch trotz aller Einwände ihrer Zofe bestand sie auf ihren Willen. Die Dienstboten waren machtlos dagegen. Als ein mutiger Diener anmerkte, der Herr wäre damit gewiss nicht einverstanden, erntete er einen derart zornigen Blick, dass er entsetzt zurückfuhr.