»Das geht nur ihn und mich etwas an. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten«, erwiderte sie kühl und gab Anweisung, das Pferd vor die Tür zu führen.

Wenig später hielt der Stallbursche ihr die Zügel und half ihr in den Sattel.

»Bitte, Mylady, Ihr könntet stürzen«, flehte der Stallbursche. »Darf ich Euch wenigstens begleiten?«

»Nein.« Ruckartig wandte sie sich um und machte sich im Schritttempo auf den Weg. So ritt sie weiter, obwohl sie einige Male das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Mit bleicher Miene starrte sie geradeaus, während die Dorfbewohner auf die Straße hinaustraten, um ihr nachzublicken. Lady Maud schlug den Weg ein, den ihr Mann genommen hatte. Auch wenn sie sich kaum im Sattel halten konnte, war sie nicht bereit aufzugeben.

Ohne lange darüber nachzudenken, hatte sie beschlossen, ihm zu folgen. Wusste sie, dass sie seine Liebe verloren hatte? Sie ahnte es. War ihr klar, dass er sich mit einer anderen Frau traf? Sie hatte einen Verdacht. Und eine innere Stimme sagte ihr, dass sie gesund werden, ihm nachreiten und ihn zurückholen musste. Deshalb war sie an diesem Augusttag unterwegs und klammerte sich mit eisernem Willen an den Sattel. Oben auf der Anhöhe spornte sie ihr Pferd zum Trab an. Und die, die sie von unten beobachteten, schnappten nach Luft und murmelten: »Mein Gott, sie wird sich umbringen.«

 

 

In fröhlicher Stimmung war die königliche Jagdgesellschaft, begleitet von Cola, aus Brockenhurst aufgebrochen.

»Mein treuer Jäger, ich kann mich stets auf Eure vollkommene Planung verlassen.« Rufus war aufgeräumter Stimmung. Aus scharfen Augen musterte er den alten Angelsachsen und lachte dann auf. »Heute will ich die Hirsche nicht in Eure große Falle treiben, mein Freund. Ich will im Wald jagen.«

Man hatte Hunde herbeigeschafft. Spürhunde, die die Witterung der Hirsche aufnahmen und sie aus dem dichten Gebüsch scheuchten, und Jagdhunde, welche heute nur die Aufgabe hatten, die Hirsche zu töten, die verwundet waren und zu fliehen versuchten.

Das erste Ziel war der Wald unterhalb von Brockenhurst. Doch nachdem sie eine Weile dort gejagt hatten, bestand der König darauf, über eine große Heide nach Osten zu reiten. »Dort werdet Ihr nur ein paar Rothirsche finden, Sire. Kaum Damhirsche«, warnte ihn Cola.

Zur Mittagszeit befahl der König eine Rast und verlangte Erfrischungen. Als der Nachmittag anbrach, erklärte er sich einverstanden, sich von Cola ein besseres Jagdgebiet zeigen zu lassen.

Allerdings schien er noch immer keine Eile zu haben. »Vorwärts, Tyrrell!«, rief er. »Wir alle werden Euch im Auge behalten.«

 

 

Die weißliche Hirschkuh erstarrte. Zitternd spitzte sie die Lauscher.

An diesem warmen, sonnigen Augustnachmittag schien die Stille wie ein gewaltiger Schleier über der Landschaft zu liegen. Das kleine Kitz neben ihr konnte inzwischen ein paar Schritte gehen. Das magere, zarte Tierchen, das sich von ihrer Muttermilch ernährte, hatte die gefährlichsten ersten Lebenstage überstanden. Doch war es auch kräftig genug, um vor den Hunden zu fliehen?

Sie wandte den Kopf und war sicher, sie nun deutlich zu hören. Voller Angst betrachtete sie ihr Kitz. Kamen die Jäger in ihre Richtung?

 

 

Hugh de Martell hatte genug Geduld bewiesen. Er war es nicht gewöhnt, dass man ihn warten ließ. Der Bote hatte ihm berichtet, dass Adela den Brief erhalten hatte. Vielleicht hatte sie etwas daran gehindert, das Haus zu verlassen, doch er bezweifelte es. Oder war sie bereits hier gewesen und wieder gegangen, weil er sich verspätet hatte? Aber in seiner Nachricht hatte gestanden, dass er sich am Vormittag am Treffpunkt einfinden würde, und es war noch nicht Mittagszeit. Gewiss hätte sie auf ihn gewartet. Und nun stand er untätig hier herum. Seiner Schätzung nach waren bereits zwei Stunden verstrichen.

Nein. Sie hatte es sich anders überlegt und einen Rückzieher gemacht. Er bedauerte es, denn er hatte sie gern gehabt. Und er musste sich eingestehen, dass er sie begehrt hatte.

Er fragte sich, was er nun tun sollte. Sollte er zu Colas Haus reiten? Lieber nicht. Zu gefährlich. Nach Hause zurückkehren? Das schmeckte ihm gar nicht, da es ihm wie das Eingeständnis einer Niederlage erschien. Außerdem war es ein wunderschöner Tag, und er konnte genauso gut das Beste daraus machen. Vom Castle Hill aus ritt er in Richtung Burley, umrundete das Dorf und führte sein Pferd gemächlich am Zügel die Hochebene hinauf, wo sich einige Kilometer weiter ein malerischer Ausblick nach Osten und auf das Meer bot. Vor einigen Jahren hatte er dort an der Küste die Tochter eines Fischers verführt. Obwohl er ihrer bald überdrüssig geworden war, erinnerte er sich immer noch gern daran.

Als er die Hochebene erreichte, hatte sich seine Laune schon beträchtlich gebessert. Vielleicht war Adela ja doch verhindert gewesen. Er würde sich erkundigen. Möglicherweise war sie ja noch zu haben.

 

 

Kurz nach Morgengrauen hatte Godwin Pride den neuen Zaun fertig gestellt. Er war sehr stolz darauf. Das eingefriedete Stück Land war zwar nicht viel größer als zuvor, nur etwa einen Meter. Doch er hatte – und das war der Trick an seinem Plan – den Zaun nicht nur auf einer Seite, sondern auf zweien verschoben. Und nun sah der Pferch wieder genauso aus wie früher. Solange niemand Messungen anstellte, würde kein Mensch die Veränderung bemerken.

»Aber was hilft es?«, fragte seine Frau. »Der Platz reicht noch immer nicht für die neue Kuh.«

»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber«, erwiderte er. Denn hier ging es um etwas Grundsätzliches. Als er sein Werk zum etwa fünften Mal an diesem Nachmittag in Augenschein nahm und aufblickte, sah er Adela. Nur dass er sie noch nie so erlebt hatte. Sie wirkte erschöpft und völlig außer sich. Ihr Pferd konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, dem Tier stand der Schaum vor dem Maul, und auf seinen Flanken glänzte Schweiß.

»Hast du die Jagdgesellschaft des Königs gesehen?«, fragte sie verzweifelt. Er verneinte.

»Ich muss sie finden.« Einen Grund nannte sie nicht. Zum Glück stand er dicht genug bei ihr, als sie zu schwanken begann und vom Pferd glitt.

Stundenlang hatte Adela die Umgebung von Lyndhurst abgesucht, bis sie sich schließlich damit abfinden musste, dass der König wohl einen anderen Weg genommen hatte. Also war sie nach Brockenhurst zurückgekehrt, hatte dort von einem Diener erfahren, wohin die Männer geritten waren, und dann die Wälder im Süden durchkämmt. Sie ritt hierhin und dorthin, folgte Pfaden, überquerte Lichtungen und lauschte, in der Hoffnung, inmitten der unzähligen Bäume ein leises Geräusch zu vernehmen. Doch sie hörte nichts; nur hin und wieder durchbrach das Flattern von Vogelschwingen unter dem Blätterdach die Stille.

Kopflos war sie weiter umhergeirrt, hatte den Mut verloren und war fast verzweifelt. Aber sie durfte nicht aufgeben. Als sie in den kleinen Weilern nachfragte, konnte ihr niemand eine Antwort geben. Inzwischen wusste sie, dass ihr Pferd nicht mehr lange durchhalten würde, und das steigerte ihre Hoffnungslosigkeit noch. Und dann war ihr schließlich Pride eingefallen.

Es dauerte eine Weile, bis sie wieder zu sich kam. Kaum hatte sie die Augen aufgeschlagen, als sie auch schon losreiten wollte. »Auf diesem Pferd ist es unmöglich«, widersprach Pride.

»Wenn es sein muss, gehe ich eben zu Fuß«, erwiderte sie. Lächelnd brachte er sie nach draußen. »Glaubt Ihr, Ihr könnt auf einem von diesen hier reiten?«

Adela spürte die warme Spätnachmittagssonne auf ihrem Rücken, deren goldene Strahlen den einsamen Wald beschienen. Das kräftige kleine New-Forest-Pony war erstaunlich flink. Adela hatte gar nicht gewusst, wie sicher diese Tiere verglichen mit Vollblütern waren. Da die Ponys es gewöhnt waren, durchs Heidekraut zu laufen, trabten sie mühelos dahin.

Pride ritt an ihrer Seite. Zuerst hatten sie es noch einmal in den Wäldern rings um Brockenhurst versucht, doch ein Bauer hatte ihnen gesagt, er habe auf der Heide im Osten Reiter gesehen. Und so geriet Adela an diesem späten Nachmittag in einen Teil des gewaltigen New Forest, den sie bisher noch nicht erkundet hatte.

Es war eine baumlose, breite, leicht hügelige Küstenlandschaft. Im Süden, kaum fünfzehn Kilometer entfernt, sagten ihr die lang gezogenen, blaugrünen Umrisse der Insel Wight, dass sie sich unweit des Solent, der Zufahrt zum offenen Meer, befand. Vor ihr lag die im August violett schimmernde Heide, wo weniger Stechginster wuchs als auf der Westseite des New Forest. Die Heide erstreckte sich von Prides Weiler bis zum bewaldeten Sumpfland und den Wiesen, die die Küste bildeten. Ytene hatte man dieses Gebiet früher genannt, das Land, wohin die Juten von der Insel Wight übergesiedelt waren, um Landwirtschaft zu betreiben.

Adela war froh, dass Pride sie begleitete. Auch wenn sie ihm den Grund ihrer Suche nicht verraten durfte, verlieh ihr seine Gelassenheit frischen Mut. Schließlich befand sich der König, wie sie sich vor Augen hielt, immer noch auf der Jagd. Gewiss schwebte Walter noch nicht in Gefahr. Und vielleicht hatte man den Anschlag ja sogar abgeblasen. Doch sie musste ihn aufspüren, solange es noch hell war, um ihm die Nachricht zu überbringen. Bis die Sonne über dem New Forest unterging, blieben noch einige Stunden Zeit.

Möglicherweise lag es an ihrer Erschöpfung oder an der Hitze, dass ihr auf ihrem Weg über die Heide die Stille des Augustnachmittags mit einem Mal unwirklich erschien. Die Vögel, die hin und wieder über ihre Köpfe hinwegflogen, wirkten körperlos, als würden sie jeden Moment im endlosen blauen Himmel verschwinden oder sich im Meer aus violettem Heidekraut in Nichts auflösen.

Wo mochten die Jäger bloß stecken? Kilometer um Kilometer ritten sie weiter, überquerten ein Moor und erreichten dann wieder die trockene Heide. In der Ferne sah Adela Gruppen von Stechpalmen und Eichen, aber immer noch keine Jäger. Nur den ewig selben blauen Himmel und violettes Heidekraut.

»Es kommen eigentlich nur noch zwei Stellen in Frage«, meinte Pride schließlich. Er wies nach Osten, wo sie ein Waldstück erkannte. »Oder sie sind dort unten in den Marschen.« Sein Arm beschrieb eine ausladende Geste nach Süden. »Die Entscheidung liegt bei Euch.«

Adela überlegte. Inzwischen war es ihr herzlich gleichgültig, ob sie Cola oder sogar dem König selbst begegnete. Doch wenn sie ihre Nachricht heute noch überbringen wollte, musste sie sich sputen. »Wir sollten uns trennen«, erwiderte sie.

Da die Pfade durch die Eichenwälder an der Küste gefährlich waren, einigten sie sich rasch, dass Pride diesen Weg nehmen sollte, während Adela nach Osten ritt.

»Und was soll ich tun, wenn ich Euren Vetter finde?«, fragte er.

»Sagt ihm…« Sie hielt inne. Was sollte der Bauer ihm mitteilen? Falls sie selbst Walter zuerst aufspürte, würde es ihr – so sehr er sie auch verachten mochte – sicher gelingen, ihn beiseite zu nehmen und ihm soviel zu erzählen, dass er gewarnt war. Aber welche Botschaft konnte sie Pride mit auf den Weg geben, die sicherstellte, dass Walter ihn auch anhörte? Sie überlegte fieberhaft. Und dann kam ihr der zündende Gedanke. »Sag ihm, du kommst von Lady Maud. Sie werde ihm alles erklären, doch er müsse sich sofort unter einem Vorwand davonmachen und um sein Leben laufen.« Das sollte genügen. Kurz darauf ritten sie in verschiedene Richtungen davon. »Wie heißt der Ort, zu dem du willst?«, rief sie ihm noch nach.

»Früher stand dort ein Bauernhof«, erwiderte er. »Man nannte ihn Througham.« Mit diesen Worten trabte er los.

Fast eine Stunde lang suchte Adela die östliche Waldgrenze ab, aber sie entdeckte keine Spur von den Jägern. Immer wieder blickte sie zurück zur Heide – vergeblich. Nach einer Weile kam sie zu dem Schluss, dass die Gesellschaft sich gewiss in dem Teil des Waldes aufhielt, den Pride durchkämmte, wenn sie sich überhaupt noch im New Forest befand. Also machte sie sich auf den Rückweg über die Heide, als sie plötzlich in der Ferne etwas Merkwürdiges sah.

Ein Tier lief in blitzartiger Geschwindigkeit über die Ebene auf die Wälder bei Througham zu. Die goldenen Strahlen der im Westen stehenden Sonne blendeten Adela in den Augen, sodass sie schützend die Hand davor halten musste. Doch selbst durch den rötlichen Schleier sah sie das Tier ganz deutlich, und mit Schrecken stellte sie fest, dass sie es kannte.

Es war die weißliche Hirschkuh, die wie ein Lichtfunke über die violett schimmernde Heide sauste. Zwei Jäger zu Pferde folgten ihr auf den Fersen. Adela war fast sicher, dass auch zwei Hunde dabei waren. Ein Kitz konnte sie nirgendwo entdecken. War es etwa schon tot? Oder beobachtete es zitternd im Gebüsch, wie seine Mutter von den schrecklichen Jägern gehetzt wurde? Die Hirschkuh war schneller als die Reiter. Es war fast, als flöge sie um ihr Leben, und sie stürmte auf den schützenden Wald und die Marschen zu.

Ohne nachzudenken, trieb Adela ihr Pony an. Walter hatte sie beinahe vergessen. Sie setzte dem Hirsch nach und winkte den Reitern zu, doch diese schienen sie nicht zu bemerken. Die Hirschkuh hatte die Bäume fast erreicht. Die beiden Jäger rasten im vollen Galopp dahin. So sehr Adela es auch versuchte, es gelang ihr nicht, ihnen den Weg abzuschneiden, und sie lag noch mehrere hundert Meter zurück, als sie der Hirschkuh in den Wald folgten.

Und plötzlich waren die Jäger wie vom Erdboden verschluckt. Als Adela am Waldesrand ankam, herrschte ringsumher Stille, als wären die Hirschkuh, die Reiter und die Hunde nur Geistererscheinungen gewesen. Sie suchte einen Pfad nach dem anderen, stieß aber nur auf Eichen, Lichtungen und Sumpfwiesen.

Gerade hatte sie wieder einen neuen Pfad durch den Wald eingeschlagen, der nach Süden führte, als sie auf einmal hörte, dass sich Hufgetrappel näherte, das rasch lauter wurde. Sie hielt inne. War das Pride? Oder ein Mitglied der Jagdgesellschaft? Kurz darauf kam ein Reiter in Sicht. Adela blieb der erleichterte Aufschrei im Halse stecken.

Denn es war Walter, wie sie ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Er hatte die Augen weit aufgerissen und keuchte, und sein Gesicht schimmerte grünlich, als müsse er sich gleich übergeben. Er war so erschöpft, dass er bei ihrem Anblick kaum Überraschung zeigte. Doch als er sie fast erreicht hatte, schrie er: »Flieh! Flieh um dein Leben!«

»Dann hast du meine Nachricht also erhalten?«, rief sie. »Wegen des Königs?«

»Nachricht? Was für eine Nachricht? Der König ist tot.«

 

 

Hugh de Martell wurde es allmählich zu bunt. Nachdem er die Aussicht über den New Forest genossen hatte, war er wieder zum Castle Hill zurückgekehrt und hatte sich eine Weile in der Nachmittagssonne ausgeruht – vielleicht eine falsche Entscheidung. Möglicherweise wäre er sogar noch ein wenig länger dort geblieben, hätte er nicht einen Reiter bemerkt, der sich von Norden, von Ringwood her, näherte. Er erkannte Edgar.

Martell stieß einen leisen Fluch aus. Auch wenn der junge Mann ihm sicher beantworten konnte, wo Adela steckte, war er der Letzte, den er danach fragen wollte. Außerdem bestand durchaus die Möglichkeit, dass Cola und seine Familie von dem Stelldichein erfahren und Adela verboten hatten, sich mit ihm zu treffen. In diesem Fall war Edgar womöglich auf dem Weg nach Castle Hill, um ihn zu suchen, und er hatte nicht die geringste Lust auf eine Begegnung.

Am Fuße des Hügels führte ein Weg nach Westen über die Heide zu einer bewaldeten kleinen Anhöhe, die Crow Hill hieß. Von dort aus ging es steil bergab ins Avontal. Bis zum schützenden Crow Hill waren es nur knapp anderthalb Kilometer, auf Martells schnellem Pferd ein Katzensprung.

Er ließ das Pferd auf dem torfigen, festen Untergrund traben. Im Westen ging die Sonne über dem Avontal unter und tauchte die Landschaft in ein rosiges und goldenes Licht. Zu beiden Seiten des Weges schimmerte das Heidekraut wie ein violetter See.

Der Anblick war so zauberhaft, dass Martell wider Willen vor Freude fast laut aufgelacht hätte.

Er hatte bereits ein Drittel der Strecke zurückgelegt, als er zu seinem Ärger feststellte, dass Edgar quer über die kleine Heide ritt. Offenbar wollte ihm dieser lästige junge Bursche den Weg abschneiden. Martell schmunzelte. Da war der Angelsachse aber an den Falschen geraten. Sein prachtvoller Hengst stürmte voran. Martell schätzte die verbleibende Entfernung ab und berechnete die Zeit.

Als er die Hälfte des Weges hinter sich hatte, begann er zu galoppieren. Ein Blick nach rechts sagte ihm, dass Edgar seinem Beispiel folgte. Martell kicherte. Der junge Angelsachse hatte keine Chance. Mit trommelnden Hufen überwand der Hengst Meter um Meter, sodass die weißen Kieselsteine auf dem Pfad Funken sprühten.

Aber zu seiner Überraschung konnte Edgar mithalten. Er würde mit ihm zusammentreffen, bevor er den Wald erreichte. Zu seiner Linken ragte jedoch ein kleines Waldstück in die Heide hinaus. Davor stand, wie ein Wegweiser, eine einsame Esche.

Mit einer ruckartigen Bewegung warf Martell sein Pferd nach links herum. Der Hengst pflügte durchs Heidekraut. Im nächsten Moment bemerkte Martell einen Holzhaufen, den irgendein Schwachkopf dort aufgeschichtet haben musste. Fast war er an der Esche angekommen, die ihn vor den Blicken des vermaledeiten Angelsachsen schützen würde. Martell spornte sein Pferd an, vergaß jedoch dabei, dass der Waldboden nicht so fest war wie die Kreidefelsen rings um sein Gut. Von einem Augenblick auf den nächsten sackte sein riesiger Hengst mit den Vorderbeinen in der trügerisch weichen Erde ein und blieb in einem verborgenen Schlammloch stecken, sodass Martell kopfüber auf den Holzhaufen geschleudert wurde.

 

 

»Was ist geschehen?«, fragte Adela. Noch nie hatte sie Walter so fassungslos gesehen.

Er schien durch sie hindurchzublicken. »Es war ein Unfall.«

»Was? Wie?«

»Ein Unfall.« Er starrte geradeaus.

Sie musterte ihn forschend. Hatte das Unglück ihn so sehr mitgenommen? War er selbst Augenzeuge des Ereignisses geworden, oder hatte er nur durch andere davon gehört? Inzwischen trabten sie Seite an Seite zur Heide.

»Wo willst du hin?«, erkundigte sie sich.

»Nach Westen. Ich muss nach Westen. Weg von Winchester. Ich muss irgendwo weiter unten an der Küste ein Boot finden.«

»Ein Boot?«

»Begreifst du denn nicht? Ich muss fort und aus dem Königreich fliehen. Ich wünschte bei Gott, ich würde den Weg durch diesen verfluchten Wald kennen.«

»Ich kenne ihn«, erwiderte sie. »Ich werde dich führen.«

Die Zeit verging erstaunlich schnell. Aber vermutlich lag das daran, dass sie nun nicht mehr ziellos herumirrte, sondern auf ein Ziel zusteuerte, von dem sie wusste, wo es sich befand: die kleine, verlassene Furt unweit von Prides einzigem Weiler. Die Heide war menschenleer, sie begegneten niemandem und wechselten kein Wort miteinander. Sogar um Prides Weiler machten sie einen Bogen und stießen schließlich auf den langen Pfad, der sich zur Furt schlängelte. Unterhalb von Brockenhurst überquerte er den Fluss und endete im hügeligen Heideland des westlichen New Forest.

»Willst du versuchen, dir in der Nähe von Christchurch ein Boot zu beschaffen?«, fragte sie ihn.

»Nein, das wäre zu nah. Möglicherweise bin ich gezwungen, ein oder zwei Tage zu warten, und inzwischen« – er seufzte – »könnte ich verhaftet werden. Weiter im Westen scheint es mir sicherer zu sein.«

»Dann musst du über den Avon. Ich kenne das Avontal recht gut. Etwa auf halbem Wege zwischen Christchurch und Ringwood gibt es eine Viehfurt. Danach reitest du einfach über die Wiesen, und dann kommt nur noch eine große Heide.«

»Gut, ich nehme diesen Weg«, erwiderte Tyrrell.

Im Westen ging die Sonne unter wie ein gewaltiger roter Ball. Hie und da ragte ein einsamer Baum wie eine seltsame bläuliche Blume vor dem roten Himmel auf, als wollte er, einem ausgestreckten Zeigefinger gleich, die Reiter mahnen. Sie mussten ihre Pferde am Zügel führen. Abgesehen von ein paar Wildponys und Rindern begegneten sie niemandem.

Inzwischen hatte Tyrrell sich offenbar ein wenig gefasst.

»Du sagtest, du hättest mich gesucht, um mir eine Nachricht zu überbringen«, meinte er. »Worum ging es denn?«

Sie erzählte ihm die ganze Geschichte und berichtete von Colas Verhalten und davon, dass sie ihn mit Prides Hilfe gesucht hatte.

Aufmerksam hörte er zu und schwieg eine Weile. »Ist dir klar, dass du für mich dein Leben aufs Spiel gesetzt hast, liebe Base?«, fragte er schließlich. Noch nie hatte er sie so genannt.

»Daran habe ich gar nicht gedacht«, erwiderte sie.

»Und dieser Pride weiß nicht mehr, als dass er mir etwas von Lady Maud ausrichten soll?«

»Nichts.«

»Dann wollen wir hoffen, dass er den Mund halten kann.«

Er überlegte, blickte in die Ferne und sagte: »Du musst alles vergessen, was du gehört oder gesehen hast. Wenn dich jemand fragt, zum Beispiel Cola, bist du einfach ausgeritten. Könntest du dafür einen bestimmten Grund gehabt haben?«

»Offen gestanden«, räumte sie ein, »hatte ich eine Verabredung mit Hugh de Martell. Aber wir haben uns verpasst.«

»Aha!« Trotz seiner misslichen Lage lachte Walter auf. »Dieser Mann ist unverbesserlich. Sei vor ihm gewarnt. Allerdings kommt uns das sehr gelegen. Wenn es sein muss, erzähle diese Geschichte. Falls man dir weiter zusetzt, sag, er wäre zudringlich geworden, und du hättest dich vor Angst auf die Suche nach mir gemacht. Aber«, fügte er mit bitterem Ernst hinzu, »vergiss alles andere, wenn dir dein Leben lieb ist, Adela.«

»Was ist denn nun eigentlich passiert?«, wollte sie wissen.

Er dachte eine Weile nach und legte sich seine Worte sorgfältig zurecht, bevor er zu sprechen begann. »Ich habe keine Ahnung. Wir hatten uns in Gruppen aufgeteilt. Da kam einer meiner Verwandten aus der Familie Clare auf mich zugestürmt und rief, es habe einen Unfall gegeben. ›Da Ihr allein mit dem König wart‹, meinte er weiter, ›wird man Euch die Schuld geben.‹ Ich erinnerte ihn daran, dass ich gar nicht mit dem König zusammen gewesen war, doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Verstehst du, was ich meine? Er versprach mir, den Suchtrupp ein oder zwei Tage lang auf die falsche Fährte zu locken, damit ich Zeit hätte, zu verschwinden oder über das Meer zu fliehen. Debattieren war zwecklos.«

»War es wirklich ein Unfall?«

»Wer weiß. So etwas kommt mitunter vor.«

Sie fragte sich, ob er sie belog, und ihr wurde klar, dass sie das nie erfahren sollte. Fast schien es auch bedeutungslos. Was spielte eine größere Rolle: Verborgene und flüchtige Wahrheiten oder das, was die Menschen sagen oder glauben wollten?

»Ich fürchte, meine arme kleine Base, dass ich augenblicklich nicht mehr viel für dich tun kann. Ich hatte zwar einen möglichen Ehemann für dich, doch vermutlich wird in der nächsten Zeit niemand etwas mit einer armen Verwandten von mir zu tun haben wollen. Und es kommt nicht in Frage, dass du mich jetzt in die Normandie begleitest. Was wirst du tun?«

»Ich kehre erst einmal zu Cola zurück«, entgegnete sie. »Der Rest wird sich zeigen. Jemand hat mir gesagt« – sie lächelte ihm zu –, »dass ich einmal sehr glücklich sein werde.«

»Du bist zwar ein wenig übergeschnappt, aber ich schließe dich immer mehr ins Herz«, erwiderte er.

In diesem Augenblick erreichten sie den Gipfel eines kleinen Hügels. Vor ihnen entfaltete der Sonnenuntergang seine ganze Pracht, der Horizont über dem Avontal leuchtete purpurrot. Und als Adela sich umwandte, bemerkte sie, dass das Heidekraut auf dem Moor plötzlich in einen gewaltigen Feuerschein getaucht war. Der Boden sah aus wie flüssige Lava aus dem Krater eines Vulkans.

Adela und Tyrrell setzten ihren Weg fort. Und als der Fluss und die üppig grünen Wiesen an der Viehfurt in Sicht kamen, wandte sie sich nach Norden, während er sich auf die Flucht nach Westen machte.

 

 

Ein einziger Pfeil hatte Rufus getötet. Der rothaarige König war auf der Stelle gestorben. Seine Begleiter hatten sich versammelt und rasch beratschlagt. »Wir reiten sofort nach Winchester«, hatte sein schweigsamer, nachdenklicher jüngerer Bruder Henry schon nach wenigen Minuten verkündet. Dort befand sich die Schatzkammer.

Es war dem Glück und der Tüchtigkeit von Cola zu verdanken, dass Puckle mit seinem Wagen ganz in der Nähe wartete. Die Leiche des Königs wurde in einen Mantel gehüllt und auf den Wagen geladen, und dann brach man auf in die alte Hauptstadt. Das hieß, alle mit Ausnahme von Cola, dessen Pflicht getan war und der sich deshalb langsam auf den Heimweg machte.

Es war schon lange dunkel, als er seinen Herrensitz erreichte.

Zur gleichen Zeit, in einem anderen, größeren Anwesen weiter im Westen, wurde Lady Maud aufgeweckt, die sich nach ihrem Ausritt erschöpft und schweißgebadet schlafen gelegt hatte. Man meldete ihr, ihr Gatte sei beim Reiten im New Forest vom Pferd gefallen, auf einen Holzstoß gestürzt und habe sich das Genick gebrochen. Er sei tot.

In dieser Nacht tat sie kein Auge mehr zu.

Tief im New Forest schliefen eine Mutter und ihr Kind friedlich in der warmen Sommernacht: Die Hirschkuh und ihr Kitz waren, wie schon den Großteil des Tages, ungestört. Nachdem die Hirschkuh ganz in der Nähe berittene Jäger gehört zu haben glaubte, war es still geblieben, und sie hatte sich wieder neben ihr Kitz gelegt. Der Teil des New Forest, in dem sie lebte, war weit entfernt von der Stelle, wo König Rufus’ Jagdausflug ein tragisches Ende genommen hatte. Also war nicht auszuschließen, dass Adela auf der Heide einen anderen Weißling gesehen hatte. Vielleicht war es auch nur eine Sinnestäuschung oder ein Irrtum gewesen.

 

 

Bis heute hat noch niemand eine Erklärung für die seltsamen und geheimnisvollen Vorgänge gefunden, die sich an jenem Tag im New Forest abspielten. Wer den König auf die Jagd begleitet hatte, war bekannt. Es hieß, Tyrrell habe mit dem Pfeil auf einen Hirschbullen gezielt, danebengeschossen und den König getroffen. Kaum einer behauptete, dass es Absicht gewesen sei, und es hätte auch gar keinen triftigen Grund dafür gegeben.

Die Frage war, wer von Rufus’ Tod profitierte. Wie sich herausstellte, war sein Bruder Robert nicht der Nutznießer, und soweit wir wissen, zog auch die Familie Clare keine Vorteile daraus. Sein jüngerer Bruder, der zurückhaltende Heinrich mit den schwarzen Stirnfransen, besetzte bei Morgengrauen die Schatzkammer von Winchester und wurde zwei Tage später in London zum König gekrönt. Nach einer Weile setzte er Rufus’ Pläne in die Tat um, indem er Robert die Normandie abnahm. Doch falls er, wie einige Gerüchte besagten, bei Rufus’ Ermordung die Hand im Spiel gehabt hatte, gibt es dafür nicht die Spur eines Beweises.

Der New Forest bewahrte sein Geheimnis so gut, dass sich lange Zeit nichts sagende Legenden um das Ereignis rankten.

Selbst der Schauplatz der Tragödie geriet in Vergessenheit, bis man viele Jahrhunderte später einen Gedenkstein errichtete – und zwar an einer völlig falschen Stelle.

Allerdings gab es einen Menschen, für den der Zwischenfall auch sein Gutes hatte. Nach ein paar Tagen begegnete Cola, der Förster, zufällig Godwin Pride, der ihn höflich um ein Gespräch unter vier Augen bat. Pride teilte dem erstaunten Diener des Staates in aller Offenheit mit, er habe Grund zu der Annahme, dass er ein Recht auf einen größeren Pferch habe – und zwar auf einen viel geräumigeren als den, der durch die verbotene Verschiebung des Zauns neben seiner Kate entstanden sei.

»Welchen Beweis kannst du mir dafür liefern?«, fragte Cola.

»Ich habe auch etwas dafür zu bieten«, erwiderte Pride zögernd. »Und wenn Ihr damit zufrieden seid, bin ich es auch.«

»Was könnte das sein?«

»Vor ein paar Tagen war ich zufällig unten in Througham.«

»Und?«

»Manchmal sieht man die merkwürdigsten Dinge.«

»Merkwürdig?« Colas Argwohn war geweckt. »Willst du mir nicht erzählen, was du gesehen hast?«

»Das behalte ich lieber für mich.«

»Ist es gefährlich?«

»Könnte sein.«

»Nun, ich habe keine Ahnung, was du beobachtet haben könntest.« Cola betrachtete den Bauern nachdenklich. »Und ich glaube, ich möchte es auch lieber gar nicht wissen.«

»Nein, das kann ich mir vorstellen.«

»Mancher hat sich schon um Kopf und Kragen geredet.«

»Seht Ihr jetzt, worauf ich vorhin mit dem Pferch hinauswollte?«

»Sehen? Ich denke nicht, dass meine Augen so viel besser sind als deine, Godwin Pride.«

»Dann ist ja alles gut«, meinte Pride und ging vergnügt von dannen.

Und als im nächsten Sommer ein prächtiger neuer Pferch, fast einen halben Hektar groß, mit einem Erdwall und einem Graben darum, neben Prides Haus am Rande der Heide prangte, schien niemand ihn zu bemerken. Weder Cola noch sein älterer Sohn. Und auch nicht sein jüngerer Sohn Edgar und dessen Frau Adela, die bei ihrer Hochzeit von ihrem Vetter Tyrrell aus der Normandie eine hübsche kleine Mitgift erhalten hatte.

Denn so spielt das Leben im New Forest.