1804

 

Es war ein warmer Juliabend, und in Buckler’s Hard stand alles bereit.

In den letzten drei Tagen war es besonders hoch hergegangen. Mehr als zweihundert zusätzliche Arbeitskräfte, Takler genannt, waren aus der Marinewerft in Portsmouth eingetroffen, um beim Stapellauf zu helfen. Die Männer hatten rings um die Werft ihr Lager aufgeschlagen.

Der morgige Stapellauf würde der größte werden, den man je hier erlebt hatte. Man erwartete an die dreitausend Zuschauer. Der Adel und wichtige Persönlichkeiten aus London würden zugegen sein. Denn morgen sollte die Swiftsure zu Wasser gelassen werden.

Es war eins der größten Schiffe – es verfügte über vierundsiebzig Kanonen, selbst die Agamemnon hatte nur vierundsechzig besessen –, das je auf dieser Werft gebaut worden war. Das siebzehnhundertundvierundzwanzig Tonnen schwere Schiff ragte hoch über das Dock hinaus. Die Familie Adams würde mehr als fünfunddreißigtausend Pfund dafür bekommen.

In Buckler’s Hard wurde emsig gearbeitet. Der alte Henry Adams führte mit seinen einundneunzig Jahren zwar noch immer die Oberaufsicht, doch den Großteil der Pflichten hatte er inzwischen seinen beiden Söhnen übertragen. In den letzten drei Jahren hatten sie drei Handelsschiffe und eine Ketsch fertig gestellt. Außerdem drei Briggs mit sechzehn Kanonen und zwei Fregatten mit sechsunddreißig Kanonen, von denen die zweite, die Euryalus, gleichzeitig mit der Swiftsure entstanden war. An drei weiteren Briggs mit je zwölf Kanonen wurde gerade gearbeitet. Die Werft war so überlastet, dass die Adams häufig den Zeitplan nicht einhalten konnten, weshalb die Gewinne hinter den Erwartungen zurückblieben. Doch die Fertigstellung der gewaltigen Swiftsure war allemal ein Grund zum Feiern.

Und dieser Ansicht war auch Puckle. Er zimmerte an der Swiftsure, seit der Kiel gelegt worden war.

Davor hatte er lange Jahre im Exil zugebracht. Aber er war nicht müßig gewesen. Seagull hatte dem alten Mr. Adams einen diskreten Hinweis gegeben, und dieser wiederum hatte mit einem Freund gesprochen, der die Werft in Deptford an der Themse außerhalb von London betrieb. Und so stand Puckle, der Schmuggler, etwa einen Monat nach seiner Flucht über das Meer schon wieder im Dienste des Vaterlandes und baute Schiffe für die Marine Seiner Majestät.

Die Marine brauchte Schiffe wie nie zuvor. Nach der Französischen Revolution war ein starker Feldherr an die Macht gekommen, Napoleon Bonaparte, ein zweiter Julius Caesar. Seine Revolutionsarmee trieb die Gegner vor sich her. Nur in England stellten sich ihm der unbeugsame Minister William Pitt und die großen Eichenschiffe der britischen Marine in den Weg.

Es waren schwere Jahre. Der Krieg, Missernten und die französische Seeblockade hatten der britischen Wirtschaft sehr geschadet. Der Brotpreis war stark gestiegen. Immer wieder kam es zu Aufständen.

Puckle war für seine harte Arbeit in Deptford gut entlohnt worden. Doch trotz seiner Ausflüge zum geschäftigen Hafen von London und seiner Streifzüge durch die hohen Berge und schattigen Wälder von Kent vermisste er den weichen Torfboden, die Kieswege, die Eichen und das Heidekraut des New Forest. Er sehnte sich danach, in seine Heimat zurückzukehren. Sechs Jahre lang hatte er gewartet.

 

 

Nicht Mr. Grockletons erfundener Cousin, sondern eine Tante seiner Frau, die aus einer reichen Kaufmannsfamilie in Bristol stammte, hinterließ den Grockletons schließlich das bescheidene Vermögen, das dem Zollinspektor die Gelegenheit gab, in den Ruhestand zu gehen. Die vielen Freunde der Grockletons, zu denen sogar – mehr oder weniger – die Burrards gehörten, erfuhren jedoch zu ihrem Erstaunen, dass Mrs. Grockleton nun doch nicht beabsichtigte, in Lymington zu bleiben. Ihre Akademie war sehr erfolgreich. Vier der Schülerinnen gehörten sogar angesehenen Familien des Landadels an. Der jährliche Ball, den sie für die jungen Damen veranstaltete, war zu einer festen Größe geworden, und nur die besten Kaufmannsfamilien wie die Tottons und die St. Barbes gaben sich dort gemeinsam mit dem Adel die Ehre. Mr. Grockleton, dem es nie gelungen war, auch nur ein einziges Fass Brandy abzufangen, genehmigte sich nun gelegentlich ein Fläschchen, das ihm auf Isaac Seagulls Anweisung hin vor die Tür gestellt wurde. Die beiden Männer hatten sich sogar mehr oder weniger angefreundet. Warum also wollte Mrs. Grockleton umziehen?

Offen gestanden – obwohl sie zu höflich war, das zu sagen – war Mrs. Grockleton von Lymington enttäuscht. Und dasselbe galt auch für den New Forest. »Es sind diese Salzgärten«, seufzte sie traurig. Denn die Salzpfannen, die kleinen Windpumpen und die Siedehäuser gab es immer noch. Gut, es waren in letzter Zeit einige annehmbare Häuser in Lymington entstanden, die sogar Meerblick hatten. Ein Kapitän und zwei Admiräle lebten inzwischen in der Stadt, und sicher würden ihnen bald weitere hohe Militärs folgen. Und ein Admiral – auch wenn er ein Furcht erregender Krieger sein mochte – war immerhin ein anständiger Mann.

Dennoch fehlte etwas in der Stadt. Vielleicht waren es die Franzosen. 1795 waren die meisten von ihnen aufgebrochen, um sich an einem Feldzug gegen die Revolutionäre in Frankreich zu beteiligen. Doch ihre Bemühungen waren vergeblich gewesen, zumal sie kaum von der britischen Regierung unterstützt wurden. Nur wenige der mutigen Franzosen kehrten zurück. In Lymington erinnerten lediglich noch ein paar adelige Witwen an ihre Mission – und auch die vielen einheimischen Mädchen, die sich in einen französischen Soldaten verliebt oder ihn gar geheiratet hatten. Unvermeidlich war es dabei zu einigen unehelich geborenen Kindern gekommen, die nun wahrscheinlich der Gemeinde zur Last fallen würden.

Nein, Mrs. Grockleton war und blieb unzufrieden. Mit seinen Salzgärten und Schmugglerbanden würde Lymington nie ein Tummelplatz der oberen Zehntausend werden.

Überdies haderte Mrs. Grockleton mit ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung. Und das, obwohl sie sich als Freundin von Fanny und Wyndham Martell bezeichnen konnte. Und auch von Louisa, die Mr. Arthur West geheiratet hatte. Zudem wurde sie regelmäßig von den Burrards, den Morants und selbst von Mr. Drummond in Cadland zum Essen eingeladen, auch wenn sie nicht zu deren engstem Freundeskreis zählte. Ganz richtig, und genau dort lag das Problem! Mrs. Grockleton hatte ihr Ziel erreicht. Der Feind war besiegt. Sie hatte die besseren Leute kennen gelernt und festgestellt, dass sie auch nur gewöhnliche Sterbliche waren. Es hätte die Betreffenden wohl überrascht, das zu hören, doch Mrs. Grockleton hatte sie – zumindest in ihrer blühenden Phantasie – überrundet: Der New Forest war ihr zu klein geworden.

Aus diesem Grunde zogen die Grockletons nach Bath.

 

 

Da Mr. Grockleton nun keine Gefahr mehr darstellte, konnte Puckle in den New Forest zurückkehren.

Isaac Seagull hatte alles unauffällig in die Wege geleitet. Puckle erhielt seine alte Hütte und seinen Arbeitsplatz zurück. Und wenn er nun durch die Werft schlenderte, war es – vermutlich durch einen Zauber, der nur im New Forest wirkte –, als wäre er nie fortgewesen.

Vier Jahre waren seit seiner Rückkehr verstrichen. In dieser Zeit hatte er an der Swiftsure gearbeitet. Darum erschien ihm der morgige Stapellauf auf seltsame Weise fast wie eine Bestätigung dessen, dass er wirklich nach Hause zurückgekehrt war.

Er ging um das Schiff herum, erfreute sich an dem Schwung des riesigen Kiels und an der kunstfertigen Arbeit. Der innere Kiel bestand aus Ulmenholz, der äußere aus Eiche. Wenn das Schiff die Rutsche hinunterglitt oder später vielleicht einmal auf Grund lief, würde der äußere Kiel den Druck abfangen und somit den inneren schützen.

Puckle hatte vor, auf der Werft zu übernachten, denn bevor das Schiff zu Wasser gelassen werden konnte, gab es noch etwas Wichtiges zu erledigen.

Für gewöhnlich fand ein Stapellauf in Buckler’s Hard eine Stunde vor Einsetzen der Flut statt. Bei Ebbe – also kurz vor Morgengrauen – würde ein Arbeitstrupp die Rutsche mit geschmolzenem Talg und Seife einreiben. Puckle hatte darum gebeten, dabei sein zu dürfen. Diesen letzten Teil der Vorbereitungen wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen.

 

 

In dieser Nacht war der Mond zu einem Viertel voll. Unzählige Sterne standen am Himmel. Die helle, klassische Fassade von Albion Park überblickte die schimmernden Rasenflächen bis hin zu dem leicht abschüssigen Gürtel aus Feldern und Wäldern, der, sanft und träumerisch, zum Wasser des Solent hinabfiel. Dahinter ragte, gut sichtbar im Mondlicht, die lang gestreckte Insel Wight wie ein wohlwollender Wächter auf.

In dem prächtigen Haus war es still. Die fünf Kinder von Fanny und Wyndham Martell schliefen selig in ihren Bettchen in dem Flügel des Hauses, wo die Kinderzimmer lagen. Mrs. Pride war zwar ein wenig gealtert, hatte jedoch noch immer das Heft in der Hand. Ohne ihre Erlaubnis hätte in Albion Park nicht einmal eine Fliege zu summen gewagt. Nun schlummerte auch sie friedlich. Am nächsten Morgen würde der ganze Haushalt sich dem Pulk von mehr als hundert Kutschen anschließen und sich den Stapellauf der Swiftsure ansehen.

Alle schliefen. Oder wenigstens fast alle.

Mr. Wyndham Martell war noch wach. Vor etwa einer Stunde war er durch ein Geräusch seiner Frau geweckt worden. Nun saß er da und betrachtete sie nachdenklich.

Vor einigen Wochen hatte sie angefangen, im Schlaf zu sprechen. Das tat sie hin und wieder, doch diese Phasen dauerten für gewöhnlich nur ein oder zwei Wochen an. So als gebe es in ihrem Inneren einen Wechsel der Gezeiten, von dem er kaum etwas wusste. Manchmal konnte er ein paar Sätze verstehen. Sie murmelte etwas über ihre Tante, Mrs. Pride oder Alice Lisle. Zuweilen schien sie sich mit Isaac Seagull zu unterhalten oder Mr. Gilpin etwas anzuvertrauen. Allerdings gab es einen Traum, der sie zu quälen schien. Dann wälzte sie sich hin und her und begann ab und zu sogar zu schreien. Und genau das war heute Nacht wieder geschehen.

Wyndham Martell liebte seine Frau sehr. Er wollte ihr helfen, wusste aber nicht, was er tun sollte. So sehr sie auch litt, er konnte ihr Rufen und Stöhnen oft nicht deuten. Wenn sie morgens aufwachte, lächelte sie ihn zärtlich an, und alles schien wieder in Ordnung.

Nun aber glaubte Martell, die Lösung des Rätsels gefunden zu haben.

Er stand auf und ging zum Fenster. Die Nacht war warm. Jenseits des Parks konnte er die Küste, die ferne Landzunge von Hurst Castle und dahinter das offene Meer erkennen. Er schmunzelte. Das war das Reich von Isaac Seagull, dem Schmuggler. Dem Cousin seiner Frau. Er erinnerte sich noch gut an den Abend, als Louisa ihm von dieser geheimen Verwandtschaft erzählt hatte. Und auch daran, wie ihre Böswilligkeit sein Mitgefühl für Fanny geweckt hatte. Vielleicht, dachte er spöttisch, hatte ihn ja gerade dieses dunkle Geheimnis zu der Frau geführt, die er liebte.

Und möglicherweise, so überlegte er weiter, hatte jeder Mensch sein dunkles Geheimnis, von dem er selbst nichts ahnte.

Da er seine Frau mit all ihren Geheimnissen liebte, schlich er sich hinaus, ging in sein Arbeitszimmer, setzte sich an den Schreibtisch und griff nach einem Stück Papier. Er wollte Fanny einen Brief schreiben.

Wyndham Martell hielt inne, überlegte gründlich und begann:

 

Meine liebste Frau,

jeder von uns hat ein Geheimnis, und auch ich muss dir etwas gestehen…

 

Es war ein langer Brief. Als Martell fertig war und ihn versiegelte, graute schon der Morgen.

 

 

In Buckler’s Hard war Puckle sehr beschäftigt. Es herrschte Ebbe. Zufrieden watete er durch den Schlamm und rieb die Schienen mit dem schweren, durchweichten Lederlappen ab. Über ihm ragte der gewaltige Rumpf der Swiftsure in den verblassenden Sternenhimmel wie ein alter Freund. Am anderen Ufer des Flusses von Beaulieu begann plötzlich ein Vogel zu singen. Und als Puckle nach Osten blickte, sah er das erste schwache Morgenlicht.

Heute würde die Swiftsure vom Stapel gehen. Als Puckle noch einmal zu dem Schiff hinaufblickte, dachte er wieder – obwohl er es nie hätte in Worte fassen können –, dass den Bäumen durch die Verarbeitung zu diesem riesigen hölzernen Rumpf ein zweites und möglicherweise ruhmreiches Leben geschenkt worden war. Puckle war überglücklich, denn auf diese Weise würde der New Forest selbst mit all seinen vielen Geheimnissen und Wundern über die Rutschen ins Wasser gleiten, um sich mit dem endlosen Meer zu vereinen.