DER ARMADABAUM
1587
»Du wirst mich ein kleines Stück auf meiner Reise begleiten.«
Er spürte, wie ihn bei diesen Worten Mutlosigkeit ergriff. »Mit Vergnügen«, log er und fühlte sich dabei wie ein Schuljunge.
Er war vierzig Jahre alt – und sie war seine Mutter.
Die Straße – eher ein breiter, mit Gras bewachsener Pfad –, die von Sarum nach Südosten führte, verlief quer über die großen Wiesen, inmitten deren die Stadt lag, und stieg dann allmählich steil an. Sie hatten die Kathedrale bereits vor einer Weile hinter sich gelassen und befanden sich nun auf dem Weg, der bergan über die steile Anhöhe führte, den südöstlichen Rand des großen Beckens, wo die fünf Flüsse zusammentrafen. Die Luft an diesem Septembermorgen war zwar ein wenig frisch, doch der Himmel war klar und blau.
Albions Mutter hatte sich aus keinem belanglosen Grund zu dieser Reise entschlossen. Erst nachdem ihr der Bräutigam dreimal nachdrücklich das beste Zimmer im Hause eines der reichsten Kaufleute von Salisbury zugesichert hatte, war sie bereit gewesen, zur Hochzeit zu erscheinen, ohne ihre eigenen Möbel mitzubringen. Dennoch folgte ihrer Kutsche – die mit einem Kutscher und einem Burschen bemannt war und von einem Reiter begleitet wurde – noch ein Wagen. Dieser ächzte unter dem Gewicht zweier Diener, zweier Zofen und unzähliger Truhen, die ihre Kleider, Mäntel, Schuhe und eine umfangreiche Sammlung von Toilettenutensilien enthielten. Der Kutscher schwor, dass in einem der Kästen gewiss ein römisch-katholischer Priester versteckt war. Gott sei Dank war das Herbstwetter noch trocken, sonst wäre die kleine Karawane sicher im Schlamm stecken geblieben. Meine Mutter hat wirklich sehr klar umrissene Vorstellungen davon, was sich gehört, dachte Albion, der neben der Kutsche herritt, und sie verzichtet nur ungern auf ihre Bequemlichkeit. Oben am Gipfel ordnete sie plötzlich eine Rast an und verlangte nach ihrer Sänfte.
Wortlos bauten der Bursche und die Diener sie zusammen, ließen die Stangen einrasten und brachten sie zur Tür der Kutsche. Als Albions Mutter das Gefährt verließ, stellte ihr Sohn fest, dass sie bereits hölzerne Überschuhe trug, um ihre Füße vor Schmutz zu schützen. Also hatte sie diese Pause geplant. Er hätte es sich eigentlich denken müssen. Nun wies sie auf den Pfad, der zum Gipfel führte. Offenbar wollte sie dort hinauf und erwartete von ihm, dass er sie begleitete. Deshalb stieg er ab und ging hinter der Sänfte her, die von vier Männern getragen wurde. Die seltsame kleine Prozession, die sich vom Himmel abhob, wanderte die Bergkette entlang, während Schäfchenwolken über ihren Köpfen dahinschwebten.
Oben angelangt, befahl sie, die Sänfte abzusetzen, und stieg aus. Die Männer wies sie an, in einiger Entfernung zu warten. Dann winkte sie ihren Sohn zu sich. »Und jetzt, Clement«, meinte sie lächelnd – den Namen hatte sie sich ausgesucht, nicht sein Vater –, »möchte ich mit dir sprechen.«
»Gerne, Mutter«, erwiderte er.
Wenigstens hatte sie für diese Unterredung einen malerischen Ort gewählt. Die Aussicht, die sich einem von den Klippen unterhalb Sarums bot, gehörte zu den schönsten in ganz England. Wenn man den Weg zurückblickte, den sie gekommen waren, bemerkte man, wie anmutig der Abhang zum üppig grünen Tal hin abfiel. Etwa sechs Kilometer entfernt ragte der Dom von Salisbury wie ein grauer Schwan aus dem Avontal auf. Sein eleganter Turm erhob sich so hoch, dass man hätte meinen können, es handle sich um die Spindel, von der aus sich die umliegenden Berge verteilt hatten – so wie Ton auf einer Drehscheibe, angetrieben von einem Geist aus grauer Vorzeit. Im Norden war der gedrungene Schlossberg von Old Sarum inmitten eines Meers aus Kreidefelsen zu sehen. Im Osten erstreckte sich, so weit das Auge blickte, die fruchtbare Hügellandschaft von Wessex.
Doch im Süden, und dorthin führte ihre Reise, hatte man die weiteste Aussicht. Denn dort lag, kilometerweit terrassenförmig abgestuft, der gewaltige New Forest, eine Wildnis aus Eichenwäldern, Kiesbänken, Ginsterbüschen und Heidekraut, die bis hinüber nach Southampton reichte. In etwa dreißig Kilometern Entfernung erblickte man die dunstigen blauen Hügel der Insel Wight auf dem Wasser.
Clement Albion stand vor seiner Mutter auf dem kahlen Felsen und fragte sich, was sie wohl von ihm wollte.
Ihre Eröffnungsworte klangen nicht sehr aufmunternd. »Wir sollten den Tod nicht fürchten, Clement.« Sie lächelte ihn freundlich an. »Ich hatte noch nie Angst vor dem Sterben.«
Lady Albion – ihr Gatte war zwar kein Ritter gewesen, aber man sprach sie dennoch so an – war eine hoch gewachsene, schlanke Frau. Ihr Gesicht war weiß gepudert, und sie hatte – Gott hatte es so gefallen – natürlich rote Lippen. Ihre Augen waren dunkel und blickten traurig drein. Nur wenn sie wütend wurde, begannen sie zu funkeln.
Einem unbeteiligten Besucher wäre es vermutlich erschienen, als kleide sie sich auch weiterhin in der Mode ihrer Jugendzeit. Denn da sie weder bei Hofe noch in London verkehrte und zweifellos stolz auf ihre prächtigen Gewänder war, fiel sie – wie so viele ältere Damen – ohne es zu bemerken ein oder zwei Jahrzehnte hinter die Mode zurück. Anstatt der großen Halskrause, die man heutzutage trug, beharrte sie auf einem schlichten Flügelkragen. Ihr schwerer Mantel, der bis zum Boden reichte, hatte geschlitzte Puffärmel, die – wie vor vielen Jahren üblich – in Richtung Handgelenk eng zuliefen. Dazu trug sie ein reich besticktes Unterkleid. Auf dem Kopf hatte sie für gewöhnlich einen dichten Schleier, der von einer Spitzenhaube gehalten wurde. Doch für die Reise hatte sie sich für eine kecke Männerkappe mit einer Feder entschieden. An einer Kette um ihre Taille hing ein pelzgefütterter Muff. Ein Fremder hätte sie gewiss für das Sinnbild altmodischen Charmes gehalten. Aber ihr Sohn wusste es besser.
Sie war ganz in Schwarz gehüllt: schwarzer Hut, schwarzer Mantel, schwarzes Unterkleid. Seit dem Tod von Königin Maria Tudor vor dreißig Jahren kleidete sie sich so, da es – in ihren Worten – seither keinen Grund gegeben hatte, mit dem Trauern aufzuhören. Doch das Erstaunliche an dieser Aufmachung war, dass die Stickerei ihres Unterkleides und auch das Innenfutter ihres steifen Kragens von einem grellen Scharlachrot waren wie das Blut der Märtyrer. Seit einem halben Jahr nun schmückte sie ihr Trauergewand mit roten Verzierungen, offenbar verband sie eine Botschaft damit.
Ihr Sohn betrachtete sie fragend. »Warum sprichst du vom Tod, Mutter? Ich hoffe, du bist bei guter Gesundheit?«
»Ja, das bin ich durch die Gnade Gottes. Ich habe deine Gesundheit gemeint.«
»Meine? Soweit ich weiß, bin ich wohlauf.«
»Vor dir, Clement, liegt vielleicht großer irdischer Ruhm. Jedenfalls bete ich dafür. Doch wenn es nicht dazu kommt, sollten wir uns ebenso über die Krone des Märtyrers freuen.«
»Ich habe nichts getan, was mich zum Märtyrer machen könnte, Mutter«, erwiderte er beklommen.
»Das ist mir klar.« Fast vergnügt lächelte sie ihn an. »Und deshalb habe ich die nötigen Schritte unternommen.«
Nach dem Ende der Rosenkriege vor einem Jahrhundert und einem letzten Gemetzel unter den Mitgliedern des Königshauses, hatte eine neue Dynastie, die Tudors, den englischen Thron bestiegen. Da sie von einem unbekannten Zweig der Plantagenets abstammten – und überdies von der mütterlichen Seite –, setzten sie alles daran, ihr Recht auf die Krone zu behaupten. Und deshalb waren sie die eifrigsten Verfechter der heiligen römisch-katholischen Kirche geworden. Doch als der zweite Herrscher aus dem Hause Tudor seine Ehe annullieren lassen wollte, um endlich einen männlichen Erben zu zeugen, hatte die Politik die Oberhand über die Religion gewonnen.
Der englische König Heinrich VIII. geriet in Streit mit dem Papst, ließ sich von seiner spanischen Gemahlin scheiden, erklärte sich zum Oberhaupt der Kirche von England und ging mit beispielloser Grausamkeit gegen Andersgläubige vor. Sir Thomas Moore, der fromme alte Bischof Fisher, die tapferen Mönche des Londoner Stiftshauses und noch viele andere starben den Märtyrertod. Die meisten von König Heinrichs Untertanen ließen sich einschüchtern oder standen der Sache gleichgültig gegenüber. Doch das galt beileibe nicht für alle. Im Norden von England brachte ein großer katholischer Aufstand – die so genannte Pilgrimage of Grace oder Pilgerschaft der Gnade – selbst den König zum Erzittern, wurde allerdings bald niedergeschlagen. Aber das englische Volk, insbesondere auf dem Lande, war keineswegs damit einverstanden, seine alten religiösen Bräuche aufzugeben.
Allerdings konnten fromme Katholiken zumindest während König Heinrichs Lebenszeit wenigstens darauf hoffen, dass die wahre Kirche wieder zu Amt und Würden gelangen würde. Andere Herrscher mochten sich von den Lehren Martin Luthers und einer neuen Generation protestantischer Kirchenführer beeindrucken lassen, die überall in Europa lauthals Veränderungen forderten – König Heinrich hingegen hielt sich eindeutig für einen frommen Katholiken. Wohl wahr, er hatte die Unfehlbarkeit des Papstes angezweifelt, sämtliche Klöster schließen lassen und ihnen ihre riesigen Ländereien abgenommen. Doch er behauptete, damit nur päpstliche Fehler wieder gutmachen zu wollen. Die englische Kirche folge auch weiterhin der katholischen Lehre. Und während seiner Regierungszeit wurden auch weiterhin lästige Protestanten hingerichtet.
Erst als sein bedauernswerter, kränklicher Sohn, der Kindkönig Eduard VI. und seine protestantischen Vormünder an die Macht kamen, wurde England die protestantische Religion aufgedrückt. Die heilige Messe wurde verboten, die Kirchen beraubte man ihres papistischen Schmucks. Den Protestanten – zumeist Kaufleute und Handwerker in den Städten – mochte das ganz recht sein, aber die aufrichtigen Katholiken auf dem Lande waren entrüstet.
Sie konnten wieder Hoffnung schöpfen, als der Kindkönig nach sechs Jahren verschied und Heinrichs Tochter Maria den Thron bestieg. Sie war das Kind der so schändlich behandelten spanischen Prinzessin, welche selbst nach Ansicht der englischen Protestanten durch die Scheidung ein schreckliches Unrecht erlitten hatte. Marias größter Wunsch war es, den wahren Glauben ihrer Mutter wieder in ihrem inzwischen heidnisch gewordenen Inselkönigreich einzusetzen. Und wenn sie dazu genügend Zeit gehabt hätte, wäre es ihr wohl auch gelungen.
Leider jedoch war sie bei den Engländern unbeliebt. Sie war eine tragische Gestalt, tief getroffen von dem Verhalten ihres Vaters gegenüber ihrer Mutter und ausschließlich von ihrem Glauben beseelt. Sie sehnte sich nur nach einem frommen katholischen Gatten und reichem Kindersegen. Allerdings fehlte es ihr an Charme, und sie duldete keinen Widerspruch. Sie wies eben keinerlei Ähnlichkeit mit ihrem Vater auf. Als sie beschloss, den streng katholischen König des mächtigen Spanien zu heiraten – wodurch England gewiss unter spanische Herrschaft gefallen wäre –, legte das englische Parlament Protest ein. Doch sie erwiderte nur, das ginge die Abgeordneten nichts an. Außerdem ließ sie einige Hundert englischer Protestanten auf dem Scheiterhaufen hinrichten.
In den Augen ihrer Zeitgenossen war es nichts Ungewöhnliches, Menschen bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Seit dem Spätmittelalter hatte das christliche Abendland eine erstaunliche Schwäche für diese Todesart entwickelt, auch wenn sie in der Heiligen Schrift nirgends angepriesen wurde. Der Brauch hielt sich einige Jahrhunderte lang. Darüber hinaus spielte es in England offenbar keine Rolle, welcher Konfession man sich zurechnete. Katholiken verbrannten Protestanten, und Protestanten verbrannten Katholiken. Der protestantische Bischof Latimer höchstpersönlich führte Aufsicht über einen Vorgang, den man nur als sadistischen Ritualmord an einem älteren katholischen Priester bezeichnen konnte. Die Hinrichtung verlief in derart abstoßender Weise, dass sogar die Zuschauer die Barrieren durchbrachen, um dem schändlichen Exzess Einhalt zu gebieten. Unter Marias Herrschaft kam dann Latimer selbst – wenn auch unter weniger grausigen Umständen – an die Reihe und verdiente sich damit den Ruf als Märtyrer.
Doch auch einfache Bürger, die sich nicht um politische Intrigen scherten und nur an ihren Gott glaubten, endeten auf dem Scheiterhaufen. Und es waren nicht wenige. Bald nannten die Engländer ihre katholische Königin »Bloody Mary«.
Der König von Spanien kam und ging. Aus seiner Verbindung mit Maria erwuchs kein Kind, und die Scheiterhaufen brannten weiter. Maria versuchte sich ein wenig in der Kriegskunst und verlor Calais, die letzte englische Besitzung in Frankreich. Als die arme Frau nach fünf erbärmlichen Jahren auf dem Thron verstarb, hatten die Engländer sie endgültig satt und freuten sich auf die gute Königin Elisabeth.
Entgeistert starrte Clement Albion seine Mutter an.
Machte sie sich selbst etwas vor, oder war sie tatsächlich so furchtlos? Vielleicht hätte sie selbst keine Antwort auf diese Frage gewusst. Nur eines war gewiss: Sie hatte ihre Rolle nun schon so lange gespielt, dass sie darin erstarrt und so steif geworden war wie der Brokat ihres Kleides.
Bei ihrer Hochzeit mit Albion hatte der alte König Heinrich noch gelebt. Sie stammte aus der Familie Pitts, die in der Grafschaft Southampton, wie Hampshire häufig genannt wurde, einigen Einfluss genoss. Da ihr eine große Erbschaft von einem Vetter bevorstand, hatte Albion geglaubt, eine äußerst gute Partie gemacht zu haben. Und zu Anfang hatte er kein großes Problem darin gesehen, dass sie, wie alle Pitts, sehr fromm war.
Die Krise unter Heinrich VIII. hatte in der Grafschaft Southampton Entsetzen ausgelöst. Bischof Gardiner von Winchester, zu dessen Diözese das Gebiet gehörte, war ein treuer Katholik, den man nur mit Mühe hatte überreden können, Heinrichs Herrschaft über die Kirche anzuerkennen. Beinahe wäre er wie Fisher und Moore hingerichtet worden. Als Heinrich die Klöster auflöste, hatten riesige Ländereien den Besitzer gewechselt. Im New Forest hatte es besonders das große Kloster Beaulieu, die Ländereien der Abtei Christchurch im Südwesten, das kleinere Kloster Breamore im Avontal und die bedeutende Abtei Romsey getroffen. Man nahm den Orden die Besitzungen ab, räumte die Gebäude leer und ließ sie verfallen. Für Familien wie die Pitts war das ein schrecklicher Skandal.
Doch die protestantischen Jahre unter dem Kindkönig, die darauf folgten, waren noch unerträglicher verlaufen. Bischof Gardiner wurde zuerst wie ein gewöhnlicher Sterblicher ins Fleet-Gefängnis in London und dann in den Tower geworfen und später unter Hausarrest gestellt. An seiner Statt setzte der protestantische Rat des Königs einen Mann als Bischof ein, der schon dreimal verheiratet gewesen war und nun über drei Bistümer herrschte. Ohne zu zögern verkaufte er einen Teil der Besitzungen von Winchester, um die Familie des Herzogs von Somerset zu bezahlen, der er den Posten verdankte. »Seht ihr«, spöttelte ein Angehöriger der Familie Pitt, »wie die Protestanten in den Kirchen aufräumen?« Und wirklich wurde die Diözese Winchester in den nun folgenden Regierungsjahren Eduards VI. gründlich von allen Reichtümern befreit. Die Kirchen in Hampshire und auf der Insel Wight waren besonders gut ausgestattet gewesen. Nun stürzten sich die protestantischen Reformer mit Jubelgeschrei auf die Beute. Silberne Teller und Kerzenleuchter, Gewänder, Wandbehänge, ja, selbst die Glocken wurden beschlagnahmt. Ein Teil des gewaltigen Diebesgutes verschwand einfach oder wurde gestohlen. Einiges wurde verkauft, und es war schwer zu sagen, in wessen Taschen der Gewinn floss. Auf diese Weise erlöste man die englische Kirche von der Herrschaft des Papstes.
Clement konnte sich nicht an das Verhalten seiner Mutter in jenen Jahren erinnern. Er war zu Anfang der Herrschaft des Kindkönigs geboren worden, doch seine Mutter hatte seinen Vater verlassen, als Clement noch keine drei Jahre alt gewesen war. Clement konnte sich nur ausmalen, welche Belastung es für die Ehe seiner Eltern bedeutet hatte, als sein Vater einige Ländereien aus dem früheren Besitz der Abtei von Beaulieu erwarb. Jedenfalls hatte seine fromme Mutter damals beschlossen, dass sie nicht mehr mit ihrem Gatten unter einem Dach leben konnte, und war zu ihrer Familie auf der anderen Seite von Winchester zurückgekehrt. Sein Vater hatte ihm erzählt, er habe sich geweigert, sie ihren kleinen Sohn mitnehmen zu lassen, und Clement vermutete, dass dies der Wahrheit entsprach.
Nach der Thronbesteigung von Königin Maria und der Wiedereinsetzung von Bischof Gardiner in seine Diözese war seine Mutter zu ihrem Ehemann zurückgekehrt, und Clement hatte sie endlich kennen lernen können. Sie war eine außergewöhnlich schöne Frau, und er war sehr stolz auf sie gewesen. Rückblickend betrachtet fand er, dass es glückliche Jahre gewesen waren. Nie würde er die prachtvolle Kleidung seiner Eltern vergessen, als er sie nach Southampton begleitet hatte, um den spanischen König, den Bräutigam von Maria Tudor, zu begrüßen. Da seine Mutter als fromme Frau galt, waren sie und ihr Mann bei Hofe gern gesehen.
In dieser Zeit wurde ein Kind geboren, Clements Schwester Catherine, ein hübsches kleines Mädchen. Er hatte sie in einem Wägelchen herumgeschoben und sie rasch in sein Herz geschlossen. Dann jedoch war Königin Maria gestorben, und Königin Elisabeth hatte den Thron bestiegen. Kurz darauf war seine Mutter wieder ausgezogen und hatte seine Schwester mitgenommen.
Sein Vater erklärte ihm nie, warum sie gegangen war. Und auch seine Mutter schwieg sich bei ihren Begegnungen darüber aus. Aber Clement konnte sich die Gründe gut vorstellen.
»Tochter einer Hure«, so nannte seine Mutter die Königin. Für einen guten Katholiken war König Heinrichs spanische Gemahlin selbstverständlich bis zu ihrem Tode seine einzige Frau gewesen. Die Farce einer Scheidung und Wiederverheiratung, die die abtrünnige Kirche von England gestattete, war nichts weiter als Betrug. Deshalb galt Königin Anne Boleyn als unverheiratet und ihre Tochter Elisabeth demzufolge als Bastard. Außerdem lehnte Clements Mutter Königin Elisabeths Kirche strikt ab. Die Kirche, die Elisabeth und ihr Berater Cecil zu schaffen versuchten, war in ihren Augen nichts weiter als ein fauler Kompromiss. Die Königin betrachtete sich nicht als deren geistliches Oberhaupt, sondern nur als Vorstand. Ihre Lehren stellten eine Art reformierten Katholizismus dar. Und was die vertrackte Frage der Heiligen Messe anging – nämlich den Streitpunkt, ob während der Eucharistie tatsächlich ein Wunder stattfand, wodurch sich Brot und Wein in Leib und Blut Jesu Christi verwandelten –, so einigte sich die Kirche von England auf eine Formel, die ausweichender nicht hätte sein können.
Doch Lady Albion verlangte klare Verhältnisse. Und das, so nahm Clement jedenfalls an, war auch der Grund ihres Auszugs gewesen. Sein Vater war ein guter Mensch und auf seine Weise durchaus gläubig. Aber die Familie Albion hatte sich schon seit den Tagen des Försters Cola vor fünfhundert Jahren mit den Mächtigen arrangiert, eine Haltung, die Clements Mutter verabscheute. Und da sie ihren Mann dafür verachtete, war sie gegangen. Vielleicht, dachte Clement, war sein Vater darüber sogar erleichtert gewesen.
Allerdings hatte Königin Elisabeths schlauer Kompromiss nicht gereicht, um den Frieden in ihrem Inselkönigreich zu bewahren. Denn die machtvollen religiösen Kräfte, welche die Reformation entfesselt hatte, teilten nun ganz Europa in zwei bewaffnete Lager. Der Krieg, den sie miteinander führten, sollte mehr als hundert Jahre dauern und unzählige Menschenleben fordern. Die Königin von England sah sich von allen Seiten der Kritik ausgesetzt. Sie verurteilte die Grausamkeiten der katholischen Inquisition. Sie trauerte mit ihren protestantischen Untertanen, als französische Katholiken im Jahre 1572 in der Bartholomäusnacht Tausende friedlicher Protestanten niedermetzelten. Und dennoch konnte sie die immer größer werdende Partei der Puritaner in England nicht unterdrücken, die mit Hilfe eines zunehmend radikalisierten Parlaments die Kompromisskirche zerschlagen und die Königin selbst unter Druck setzen wollte. Und auch wenn sie sich am liebsten der wohl geordneten Welt des traditionellen Katholizismus zugewandt hätte, half ihr das auch nicht weiter. Sie konnte ihr Land nicht Rom unterstellen, da der Papst sie nicht nur exkommuniziert, sondern auch alle Katholiken von der Treuepflicht gegenüber ihrer ketzerischen Königin entbunden hatte. Elisabeth durfte das nicht dulden, und deshalb wurde die katholische Kirche in ihrem Reich verboten.
Die Katholiken zettelten keine Revolte an, doch sie unternahmen alles, um ihren Glauben zu bewahren. In manchen Gegenden Südenglands gab es mehr treue Katholiken als in der Diözese Winchester. Gleich nach Elisabeths Krönung waren dreißig Priester von ihrem Posten zurückgetreten, weil sie sich nicht mit ihrer Kompromisskirche abfinden wollten. Viele Angehörige der Oberschicht – Adelige und reiche Kaufleute – standen offen zu ihrem katholischen Glauben. Ein weibliches Mitglied der Familie Pitt wurde vom Bischof wegen Beleidigung in das Gefängnis von Clink geworfen, und Cecil, der Sekretär der Königin, teilte Albion höchstpersönlich mit, er solle dafür sorgen, dass seine Frau sich zurückhielt.
»Ich bin machtlos, sie wohnt nicht unter meinem Dach«, hatte Albion geantwortet. »Allerdings hätte ich deiner Mutter auch nicht den Mund verbieten können, wenn wir zusammengelebt hätten«, vertraute er Clement an. Kurz darauf war sein Vater gestorben, und offenbar hatten die Mächtigen beschlossen, Lady Albion von nun an mit Nichtachtung zu strafen.
Allerdings lebte Clement weiter in Furcht. Er hatte seine Mutter in Verdacht, Irrgläubige bei sich zu verstecken. Auf der Insel Wight und an den Flussläufen unweit von Southampton an der Südküste konnten katholische Priester unbeobachtet an Land gehen. Und die katholischen Adeligen – Dissenter, wie man sie nannte – waren gerne bereit, ihnen Quartier zu geben. Doch inzwischen war es streng verboten, katholischen Priestern Unterschlupf zu gewähren. Vor kurzem hatte man vier von ihnen in der Diözese Winchester ergriffen und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Täglich rechnete Clement mit der Verhaftung seiner Mutter, weil sie diesen Priestern geholfen hatte. Sie würde sich nicht einmal die Mühe machen, ihre Vergehen zu leugnen. Und ihre scharlachroten Stickereien waren ein eindeutiges Zeichen ihres Starrsinns.
Als die schottischen Presbyterianer vor zwanzig Jahren die katholische Königin Maria Stuart aus ihrem eigenen Königreich geworfen hatten, hatten alle Katholiken auf einen Weg gesonnen, wie man mit Marias Hilfe ihre ketzerische englische Base vom Thron jagen könne. Die störrische Verbannte, die in England unter Hausarrest stand, schmiedete Pläne, was das Zeug hielt, bis Elisabeth zu Anfang des Jahres 1587 von ihrem eigenen Rat mehr oder weniger gezwungen wurde, sie hinrichten zu lassen.
»Sie ist eine katholische Märtyrerin«, hatte Lady Albion sofort verkündet. Und eine Woche später hatte sie anlässlich eines Besuches bei ihrem Sohn das Scharlachrot der Märtyrer zur Schau getragen.
»Musst du unbedingt den Rat der Königin und den Bischof auf diese Weise öffentlich beleidigen?«, beklagte Clement sich bei ihr.
»Ja«, erwiderte sie schlicht. »Wir müssen.«
Wir. Genau das war das Problem. Wenn seine Mutter mit ihm über gefährliche Dinge sprach, sagte sie stets »wir« – wie um ihm mitzuteilen, dass er ihrer Ansicht nach ebenfalls in die Sache verwickelt war.
Vor zehn Jahren hatte seine Mutter endlich das große Vermögen ihres Vetters geerbt. Nun war sie eine wohlhabende Frau, die ihren Reichtum vermachen konnte, wem sie beliebte. Sie und Clement erwähnten diesen Umstand nie. Dass er sich nur um des Geldes willen für die gerechte Sache einsetzte, war undenkbar. Und ebenso wenig kam es in Frage, ehrlich auszusprechen, dass sie ihn anderenfalls auf der Stelle enterben würde. Nur einmal war eine leichte Andeutung gefallen, als Clement erwähnte, dass sein Vater vor seinem Tode in finanziellen Schwierigkeiten gewesen sei. »Deinem Vater konnte ich nicht helfen, Clement. Er war ein Schilfrohr im Wind.« Und Clement glaubte, aus diesen Worten das unerbittliche Urteil herauszuhören, dass Armut verdiente, wer Lady Albion enttäuschte.
Also nahm er das »wir« unwidersprochen hin. Dass er von ihr noch keinen Penny erhalten hatte, dass er inzwischen verheiratet und Vater von vier Kindern war und dass er, falls er sich den Zorn des königlichen Rats zuzog, gewiss die Posten im New Forest verlieren würde, mit denen er sein bescheidenes Auskommen bestritt – diese Überlegungen mussten natürlich zurücktreten, wenn er bei ihr nicht in Ungnade fallen wollte. Denn immerhin standen sie beide vor dem Richterstuhl des allmächtigen Gottes.
»Was wünschst du von mir, Mutter?«, brachte er schließlich heraus.
»Ein paar Worte unter vier Augen mit dir zu sprechen. Bei der Hochzeit war das nicht möglich.« Die Hochzeit in Salisbury war ein rauschendes Fest gewesen. Eine Nichte seiner Mutter hatte in eine angesehene Sarumer Familie eingeheiratet. Es wäre wirklich schwierig gewesen, sich ohne Ohrenzeugen zu unterhalten.
»Ich habe einen Brief bekommen, Clement.« Sie hielt inne und betrachtete ihren Sohn ernst. Beklommen fragte er sich, worauf sie hinauswollte. »Er ist von deiner Schwester aus Spanien.«
Spanien. Warum nur hatte seine Mutter darauf bestanden, seine Schwester mit einem Spanier zu verheiraten? Eigentlich eine alberne Frage. Selbst die Franzosen waren in den Augen seiner Mutter verglichen mit den Spaniern nachlässig in religiösen Fragen. Und als sich König Philipp von Spanien zu Maria Tudors Regierungszeit mit seinen Höflingen in England aufhielt, hatte sie keine Zeit verloren und Freundschaften mit spanischen Adeligen angeknüpft. Kurz nach dem fünfzehnten Geburtstag seiner Schwester Catherine war Lady Albion dann in Southampton an Bord eines Handelsschiffes gegangen und Hals über Kopf nach Spanien abgereist. Dort war im Handumdrehen eine Ehe angebahnt worden. Ausgestattet mit einer zweifellos ansehnlichen Mitgift hatte Catherine einen Spanier aus verarmter, aber gut beleumundeter Familie geheiratet. Der Bräutigam war sogar entfernt mit dem mächtigen Herzog von Medina Sidonia verwandt.
Seitdem hatte Clement sie nicht wieder gesehen. War sie glücklich? Er hoffte es. Er versuchte, sie sich vorzustellen. Während er das helle Haar seines Vaters geerbt hatte, war sie dunkel wie ihre Mutter. Wahrscheinlich hatte sie sich inzwischen völlig in eine spanische Dame verwandelt. Und in diesem Fall gab es wohl keinen Zweifel daran, wie sie die augenblickliche Krise einschätzte, dachte er bedrückt.
Als König Philipp II. von Spanien die katholische Maria Tudor heiratete, hatte er selbstverständlich erwartet, England seinem riesigen habsburgischen Reich einverleiben zu können. Zu seiner Enttäuschung hatte ihm der englische Rat nach Marias Tod höflich, aber bestimmt mitgeteilt, dass er im Lande nicht mehr erwünscht sei. Und das, obwohl man ihm mangelnde Beharrlichkeit sicher nicht zum Vorwurf machen konnte. Wiederholt hatte er um Elisabeths Hand angehalten, doch diese hatte ihn jahrelang zappeln lassen. Und ein König von Spanien ließ sich schließlich nicht ewig zum Narren halten. Die englische Königin hatte ihn nicht nur verhöhnt, sondern sich auch mit seinen Feinden, den Franzosen, angefreundet und trug sich mit Heiratsplänen. Ihre Freibeuter der Meere – eigentlich Piraten, die mit königlicher Erlaubnis operierten – überfielen seine Schiffe. Sie unterstützte die Protestanten, die sich gegen die spanische Herrschaft in Holland erhoben. Außerdem hatte Elisabeth sich als Ketzerin erwiesen, und der Papst wollte sie absetzen lassen. Als sie 1587 die katholische Schottenkönigin Maria hinrichten ließ, hatte der spanische König endlich einen Vorwand. Mit dem Segen des Papstes rüstete er eine große Flotte aus.
Der spanische Angriff auf England hätte vermutlich schon in jenem Sommer stattgefunden, hätte der kühnste der englischen Freibeuter, Sir Francis Drake, nicht brennende Schiffe in den Hafen von Cadiz geschickt und auf diese Weise die halbe spanische Flotte zerstört. Am Ende des Sommers, als Clement und seine Mutter gerade die Hochzeit in Salisbury planten, schien die Gefahr für den Augenblick gebannt. Allerdings war schwer zu sagen, ob Philipp von Spanien aufgeben oder einen neuen Versuch unternehmen würde.
»Bald sind wir erlöst, Clement.« Seine Mutter empfand die spanische Invasion als »Erlösung«, nicht als »Eroberung«.
»Hast du etwas Neues erfahren?«
»Don Diego« – das war Catherines Mann – »hat es weit gebracht. Er ist ein bedeutender Kapitän in der großen Flotte, die kommen wird.« Sie lächelte zufrieden. »Und sie wird kommen, Clement, mit dem Banner der wahren Kirche. Dann werden sich die Gläubigen Englands erheben.«
Clement zweifelte keinen Moment daran, dass sie das ernsthaft glaubte. Bestärkt durch Menschen wie Lady Albion, hatte der spanische Botschafter seinem königlichen Herrn versichert, dass mindestens fünfundzwanzigtausend bewaffnete Engländer in Scharen zur katholischen Armee überlaufen würden, sobald diese einen Fuß auf englischen Boden setzte. Es musste einfach so kommen. Es war schließlich Gottes Wille. Außerdem traute Königin Elisabeth selbst – ganz gleich, was sie auch behaupten mochte – ihren katholischen Untertanen nicht über den Weg. Dass einige Verteidigungsanlagen an der Südküste vermutlich bereits in den Händen der Katholiken waren, bereitete ihrem treuen Berater Cecil einiges Magendrücken.
Albion hatte starke Zweifel, dass die Katholiken wirklich einen Aufstand wagen würden. Auch wenn sie Königin Elisabeth nicht sonderlich schätzten, lebten sie nun schon seit dreißig Jahren unter ihrer Herrschaft. Gewiss wollten nur wenige von ihnen spanische Untertanen sein. »Die englischen Katholiken sehnen sich nach der Rückkehr ihrer Religion, Mutter«, erwiderte er deshalb. »Doch die meisten möchten sicher nicht zu Landesverrätern werden.«
»Landesverräter? Wer dem wahren Gott dient, ist kein Verräter. Sie fürchten sich nur.«
»Bestimmt tun sie das.«
»Also muss man ihnen Mut einflößen. Sie brauchen Führung.«
Clement schwieg.
»Du befehligst doch eine Abteilung der Miliz im New Forest, Clement. Habe ich Recht?« In in jeder Gemeinde an der Südküste waren Milizen zusammengestellt worden, eine Art von Bürgerwehren, die sich den Spaniern bei der Landung entgegenstellen sollten. »Und euer Sammelpunkt im New Forest ist die Festung an der Küste?«
»Ja.« Er war sehr stolz auf die Arbeit, die er im Frühling mit seinen Männern geleistet hatte, auch wenn ihre Bewaffnung ziemlich kläglich war.
»Aber du willst die Spanier doch nicht wirklich abwehren, wenn sie landen?«
»Ich?« Er starrte sie an. Traute sie ihm wirklich einen Verrat zu? Glaubte sie allen Ernstes, er würde sich um des Glaubens willen den Spaniern anschließen?
Sie lächelte. »Clement, ich habe eine sehr gute Nachricht für dich, nämlich einen Brief.« Sie griff in ihr schwarzes Gewand und holte aus einer verborgenen Falte eine kleine Pergamentrolle heraus, die sie ihm triumphierend hinstreckte. »Es ist ein Schreiben, Clement, ein Befehl von deinem Schwager. Darin erteilt er dir seine Anweisungen. Möglicherweise erhältst du im Frühjahr noch weitere. Im nächsten Sommer kommen die Spanier bestimmt. Gottes Wille wird geschehen.«
Wie benommen griff er nach dem Brief. »Woher hast du ihn?«, fragte er mit heiserer Stimme.
»Von deiner Schwester natürlich. Ein Kaufmann überbringt mir ihre Briefe. Und andere Dinge.«
»Aber Mutter. Wenn jemand davon erfährt. Cecil und der Rat haben ihre Spione…« Sehr gute sogar, wie allgemein bekannt war. »Solch ein Brief…« Seine Stimme erstarb. Wenn ein solches Schreiben abgefangen wurde, bedeutete das den Tod.
Schweigend betrachtete sie ihn eine Weile. Doch als sie weitersprach, war ihr Tonfall erstaunlich sanft. »Auch die Gläubigsten unter uns haben Angst«, sagte sie leise. »So stellt Gott uns auf die Probe. Und dennoch«, fuhr sie fort, »gibt uns die Gottesfurcht auch Mut. Denn siehst du, Clement, wir können dem Allmächtigen nicht entrinnen. Er ist überall. Er kennt uns alle und beurteilt uns. Wir haben keine andere Wahl, als ihm zu gehorchen, wenn wir an ihn glauben. Nur der mangelnde Glaube hält uns zurück und hindert uns daran, für ihn zu den Waffen zu greifen.«
»Der Glaube ist nicht immer leicht, Mutter.«
»Und deshalb, Clement«, sprach sie ernst weiter, »schickt er uns Zeichen. Unser guter Gott tut Wunder. Die Heiligen und ihre Reliquien können noch heute Wunder vollbringen. Schenkt uns Gott nicht hier im New Forest jedes Jahr wieder ein neues Wunder?«
»Du meinst wohl die Eichen?«
»Natürlich, was sonst?«
Seit vielen Generationen standen im New Forest nun schon drei Wundereichen, und zwar in der Gegend nördlich von Lyndhurst. Sie waren uralt und unterschieden sich – soweit Clement wusste – von ihren sämtlichen Artgenossen im New Forest. Denn sie brachten auf geheimnisvolle Weise mitten im Winter, zur Zeit des Weihnachtsfestes, wenn alle anderen Bäume kahl waren, grüne Blätter hervor. Deshalb nannte man sie auch die grünen Bäume.
Niemand hatte eine Erklärung dafür. Die grünen Blätter im Winter widersprachen allen Gesetzen der Natur. Also war es nicht weiter erstaunlich, dass die fromme Lady Albion und viele ihrer Mitstreiter darin eine Erinnerung an die Kreuzigung Jesu Christi sahen, an die drei Kreuze auf dem Kalvarienberg und die Auferstehung der Toten. Für sie deutete es darauf hin, dass Gott überall war und dass auch die heilige Kirche in jedem Jahr neue Triebe bekam.
»Oh, Clement.« Plötzlich traten ihr Tränen in die Augen. »Gottes Zeichen sind überall. Du brauchst keine Furcht zu haben.« Sie sah ihn liebevoll an. So viel mütterliche Zuneigung hatte er bei ihr noch nie erlebt. »Wenn wir von der Ketzerei befreit sind und König Philipp regiert, wirst du Ruhm ernten. Aber wenn die Sache – was ich kaum zu denken wage – nach Gottes Willen ein anderes Ende nimmt, wäre es mir lieber, mein Sohn, dass du auf den Scheiterhaufen gebunden oder sogar gevierteilt wirst, anstatt deinen Gott, unseren Vater im Himmel, zu verraten.«
Er wusste, dass sie jedes dieser Worte ernst meinte. »Und wie lauten meine Instruktionen, Mutter?«
»Du sollst mit deiner Miliz die Festung einnehmen, Clement, und den Spaniern bei der Landung helfen.«
»Wo?«
»Zwischen Southampton und Lymington. Es wird nicht leicht sein, die Küste des New Forest zu verteidigen.«
»Soll ich auf diesen Brief antworten?«
»Das ist nicht nötig.« Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Ich habe es bereits getan und ein Schreiben an deine Schwester geschickt, das Don Diego an den spanischen König selbst weiterleiten wird. Ich habe geschrieben, dass man sich auf dich verlassen kann. Bis in den Tod.«
Er blickte nach Süden über den New Forest in Richtung Southampton und betrachtete den blauen Dunst über der fernen Küste. Befand sich ihr Brief womöglich schon in den Händen von Cecils Spionen? Albion fragte sich, ob er das Weihnachtsfest noch erleben würde. »Danke, Mutter«, murmelte er spöttisch.
Doch seine Mutter hatte ihn nicht gehört, denn sie winkte schon die Dienstboten mit der Sänfte heran.
Die Eiche stand ein wenig abseits vom restlichen Wald.
Es war ein warmer Nachmittag.
Im Wald bildeten die Kronen der stattlichen Buchen gemeinsam mit den knorrigen Eichen ein dichtes Blätterdach. Der Boden war mit Moos bedeckt. Bis auf das leise Rascheln der Blätter und das Geräusch, das entstand, wenn eine grüne Eichel vom Baum fiel, war es still.
Hinter dem Baum, auf einem kleinen, mit jungen Eichen bewachsenen Hügel, befand sich eine grüne Lichtung, die bei Sonnenuntergang im Schatten lag.
Allein ritt Albion auf den Baum zu.
Die Eiche, quercus, ist seit uralten Zeiten heilig. Auf der Erde gibt es fünfhundert Eichenarten, doch auf der britischen Insel kommen seit dem Ende der Eiszeit hauptsächlich zwei von ihnen vor: quercus robur, die Stiel- oder Sommereiche, deren Eicheln auf kleinen Stängeln wachsen; und quercus petraea, die Traubeneiche, deren Laub weniger Zacken aufweist; ihre Eicheln wachsen unmittelbar aus dem Blatt heraus. Beide Sorten gedeihen auf dem sandigen Boden des New Forest.
Erfreut betrachtete Albion die Eiche, denn für Bäume hatte er eine besondere Schwäche.
In den letzten vierhundert Jahren hatte sich an der Verwaltung des New Forest nicht viel verändert. Die Hirsche des Königs wurden noch immer geschützt, der Monat der Zäune mitten im Sommer galt auch weiterhin. Die Forstaufseher hielten ihre Gerichtsverhandlungen ab, die Förster herrschten über ihre Bezirke. Von Zeit zu Zeit trafen adelige Kontrolleure ein – zumeist Ritter aus der Grafschaft – und überprüften die Grenzen des New Forest. Allerdings war das durch immer neue Landvergaben an Privatpersonen schwieriger geworden als früher. In einer Hinsicht aber hatte es einschneidenden Wandel gegeben.
Niemand konnte mit Gewissheit sagen, wann es angefangen hatte. Seit Jahrhunderten unterstanden auch die Bäume im Wald einer gewissen Verwaltung. Denn das Holz wurde dringend gebraucht: Stangen, Pfähle, Zweige zum Bau von Pferchen, Reisig, Holz zum Verfeuern und für die Herstellung von Holzkohle. Meist wurden nur die kleineren Bäume und Büsche wie Haselnuss oder Stechpalme verwendet. Um aus einem Haselnussbaum eine gerade Stange zu fertigen, wurde er dicht über dem Boden abgeschnitten. Die aus dem Stumpf wachsenden Schösslinge konnten dann alle paar Jahre abgeerntet werden. Diesen Vorgang bezeichnete man als Stutzen. Etwas seltener verfuhr man mit den Eichen auf dieselbe Weise: Man fällte den Baum etwa zwei Meter oberhalb der Wurzel, sodass er weitere Sprösslinge trieb, was Kappen genannt wurde. Der Baum mit seinem mächtigen Stamm und den fächerförmigen Zweigen hieß gekappte Eiche.
Leider jedoch fraßen nach dem Abschneiden der unteren Äste Hirsche und andere Waldtiere die Schösslinge ab und machten somit alle Mühe zunichte. Deshalb hatte man sich darauf verlegt, kleinere Gebiete mit niedrigen Erdwällen und Zäunen einzufrieden, um das Wild für drei oder mehr Jahre fern zu halten, bis die Schösslinge zu hart für den Verbiss waren.
Vor einem Jahrhundert, kurz vor der Thronbesteigung der Tudors in England, hatte das Parlament das Anlegen dieser Einfriedungen endlich gesetzlich geregelt. Mit einer Genehmigung durfte man Zäune errichten, damit die Bäume drei Jahre Zeit hatten, sich zu erholen. Diese Frist war seitdem großzügig auf neun Jahre verlängert worden. Die Einfriedungen waren deshalb sehr wertvoll und wurden verpachtet.
In jenen Jahren nahm der Bedarf an Bauholz zu. Für die Erstellung von Häusern, Schiffen oder anderen königlichen Projekten genügte das Beschneiden nicht mehr – man musste ganz Bäume fällen. Im Jahr 1540 hatte der mächtige König Heinrich VIII. einen Generalinspektor ernannt, der die Gewinne, welche die königlichen Wälder einbrachten – einschließlich der Holzernte –, verwalten sollte. Für jede Grafschaft, in der sich ein königlicher Wald befand, wurde ein Waldhüter eingesetzt. Inzwischen war der New Forest nicht nur ein Hegegebiet für die Hirsche des Königs. Ganz allmählich setzte sich die Auffassung durch, dass er sich ausgezeichnet als königliche Baumschule nutzen ließ.
Vor einigen Jahren war es Albion gelungen, den Posten des Waldhüters für den New Forest zu ergattern, was für ihn ein ordentliches Zubrot bedeutete. Darüber hinaus hatte er eine Menge über Bäume gelernt und mittlerweile sogar eine Schwäche für sie entwickelt. Deshalb betrachtete er die stattliche alte Eiche mit Freude und Bewunderung.
Ihre ausladende Krone war auf natürlichem Wege, nicht durch Beschneiden entstanden. Außerdem genoss der Baum aus zwei Gründen einige Berühmtheit. Erstens gehörte die Eiche – etwa fünf Kilometer von Lyndhurst entfernt – zu den drei seltsamen Vertretern ihrer Art, die jedes Jahr zu Weihnachten auf wundersame Weise eine Woche lang Blätter trieben. Und zweitens war sie im Laufe ihres langen Lebens angeblich Zeuge eines bedeutsamen Ereignisses geworden.
»Das ist die Eiche, an der Walter Tyrrells Pfeil abprallte und König Rufus tötete«, sagten die Leute. Und aus diesem Grund wurde die Eiche, seit Albion denken konnte, Rufuseiche genannt.
Allerdings zweifelte Albion an dieser Legende. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Eichen in dem ziemlich kärglichen Boden des New Forest wirklich so alt wurden.
»Eine Eiche lebt siebenmal so lange wie ein Mensch«, hatte sein Vater ihm vor vielen Jahren erklärt. Nach Albions Schätzung waren nur wenige der großen, vermodernden, mit Efeu bewachsenen, über sechs Meter dicken Stämme über vierhundert Jahre alt. Und er war mehr oder weniger überzeugt, dass er mit seiner Schätzung richtig lag. Die Rufuseiche war seiner Ansicht nach noch keine fünfhundert Jahre alt.
Und dennoch strahlte der mächtige Baum etwas Beeindruckendes, ja, sogar Magisches aus.
Der Baum hatte schon viel erlebt.
Es war fast dreihundert Jahre her, dass Luke, der flüchtige Laienbruder, sie an einen sicheren Ort umgepflanzt hatte. Seitdem hatten sich die Grenzen des Waldes – wie so häufig – ein wenig verschoben. Hirsche und andere Pflanzenfresser hatten die frischen Schösslinge auf der mit Gras bewachsenen Lichtung verzehrt und so Platz geschaffen, sodass der Baum ungehindert wachsen konnte. Während seine Brüder im Wald inmitten ihrer Nachbarn lang und schmal in die Höhe geschossen waren, hatten die Äste der Rufuseiche sich auf der Suche nach Licht auch zu den Seiten hin ausgebreitet.
Trotz des Namens, den die Menschen ihr gaben, hatte das Leben der Rufuseiche erst zwei Jahrhunderte nach dem gewaltsamen Tod des rothaarigen Königs begonnen. Ohnehin war der normannische Herrscher in einem ganz anderen Teil des New Forest gestorben. Dennoch hatte die Eiche schon viel erlebt.
Der Baum wusste, dass der Winter nahte. Bald würden ihm seine Tausende von Blättern, die das Sonnenlicht einfingen, in der kalten Jahreszeit zur Last werden. Und deshalb richtete sich sein innerer Kreislauf bereits auf den Winterschlaf ein. Die Adern, durch die der Saft in die Blätter und wieder zurückfloss, schlossen sich allmählich.
Die restliche Feuchtigkeit im Laub verdunstete in der Septembersonne, sodass es verdorrte und sich gelb verfärbte. Und wie der männliche Hirsch, dem zur entsprechenden Jahreszeit die Blutzufuhr zum Geweih versiegt, bis es vertrocknet, sodass er es schließlich abwirft, würde auch der Baum seine goldenen Blätter fallen lassen.
Davor jedoch entledigte sich die Eiche einer anderen Bürde.
Die grünen Eicheln purzelten bereits zu Tausenden auf die Erde. Und in einigen Wochen würden sich unzählige Fledermäuse zum Winterschlaf in die Baumhöhlen zurückziehen. Andere Vögel, die Drosseln und Rohrammern, trafen gerade aus raueren Gefilden im New Forest ein. Der Efeu, der die unteren Zweige entlang kroch, würde diese Jahreszeit zur Blüte nutzen und so die Insekten anlocken, die bis jetzt zu beschäftigt gewesen waren, um seine Blüten zu bestäuben.
Die Eiche versorgte den New Forest mit Nahrung, und zwar nicht nur mit Eicheln. Ihre Rinde wies zahlreiche Risse und Nischen auf, in denen Millionen winziger Insekten und anderes Getier wimmelten. Im Herbst würden sich die Meisen in Scharen dort niederlassen und ein Festmahl abhalten. Kleiber würden den Stamm hinunterlaufen, während Kriechtiere nach oben krabbelten, sodass ihnen ja nichts entging.
Albion stieg vom Pferd. Nachdem seine Mutter ostwärts in Richtung Romsey und Winchester weitergefahren war, war er gemächlich durch den New Forest geritten, hatte hie und da in Weilern Rast gemacht und gehofft, in der Stille des Waldes wieder zur Ruhe zu kommen. Aber vergeblich. Nicht nur seine Mutter hatte ihm einen Schrecken eingejagt, ihm graute außerdem vor der Aufgabe, die ihm am nächsten Tag bevorstand. Deshalb war er froh, jetzt unter der großen, ausladenden Eiche verweilen zu können.
Er fragte sich, warum die mächtige Eiche ihm so viel Kraft gab. Worin lag ihr Zauber? War es der bloße Anblick des riesigen, knorrigen, starken Baumes? Doch da war noch ein anderes Gefühl, das ihn häufig überkam, wenn er am Stamm einer ausgewachsenen, gewaltigen Eiche stand: Fast war ihm, als schlösse ihn der Baum in seine Kraft mit ein, die man, auch wenn sie unsichtbar war, fast mit Händen greifen konnte. Albion hätte darauf schwören können, eine Erklärung dafür hatte er allerdings nicht.
Ein wenig gekräftigt trat Albion unter dem Baum hervor, um sich den Gefahren des kommenden Tages zu stellen.
Jane Furzey war froh, mit dem hoch gewachsenen, stattlichen Nick Pride verlobt zu sein, der sie heiraten wollte, sobald sie endlich ihr Jawort gab. Und das hatte sie auch vor, obwohl sie ihn natürlich erst ein wenig zappeln lassen musste, wie es sich für ein anständiges Mädchen gehörte.
»Lass ihn ein Jahr warten, Jane«, hatte ihre Mutter ihr geraten. »Falls er dich wirklich liebt, wird er dich dann nur umso mehr zu schätzen wissen.«
Natürlich würde sie sich ihm vor der Hochzeit auch nicht hingeben, schließlich wollte sie unbescholten vor den Altar treten. Und so verbrachten die beiden viel Zeit miteinander in einer Stimmung freudiger Erwartung.
Es war freundlich von Clement Albion gewesen, ihr zu gestatten, die Männer an diesem Morgen zu begleiten. Sie waren, Jane eingeschlossen, nur zu fünft und wurden in dem kleinen Wagen ordentlich durchgerüttelt, während Albion auf seinem Pferd neben ihnen herritt. Jane war stolz, dass er ihren Nick für diese schwierige Aufgabe ausgesucht hatte. Sie hatte die Sandalen ausgezogen und ließ ihre drallen Beine über den Rand des Wagens baumeln. Die Sonne brannte ihr warm auf die Haut. Und Jane sog begierig die kühle salzige Luft ein, während sie Lymington hinter sich ließen und in eine ihr bisher unbekannte Gegend vordrangen.
Jane war sechzehn, Nick achtzehn Jahre alt. Er wohnte in dem Dorf Minstead, ein paar Kilometer nördlich von Lyndhurst, sie im etwa zweieinhalb Kilometer entfernten Weiler Brook. Ihre Eltern fanden, dass die beiden jungen Leute ausgezeichnet zueinander passten.
Im Laufe der Jahrhunderte hatten sich die Prides in vielen Teilen des New Forest niedergelassen, während die Furzeys zum Großteil im Süden geblieben waren. Janes Familie stellte eine Ausnahme dar. Aus irgendeinem Grund war sie in die Gegend von Minstead übergesiedelt. »Die Furzeys in Minstead vertragen sich nicht mit ihren Verwandten«, lautete die einhellige Meinung der Bauernfamilien, die in dieser Region meist untereinander heirateten und ihre kleinen Zwistigkeiten rasch begruben. Man erinnerte sich noch immer daran, dass einer der Furzeys während der Rosenkriege Priester geworden war. Ein anderer aus ihren Reihen war nach Southampton gezogen. »Er war Kaufmann«, erklärte Nicks Vater seinem Sohn. »Und wurde sehr wohlhabend, wie es heißt.« Die übrigen Furzeys tuschelten, dass der Familienzweig in Minstead die Nase zu hoch trug, doch für die Prides, die ihr Licht auch nicht unter den Scheffel stellten, bedeutete das keine Schwierigkeit. Die Väter von Nick und Jane hatten sich stets gut verstanden. Und als Janes Vater vor zehn Jahren nach Brook gekommen war, hatte Nicks Vater gemeint: »Ich denke, deine Jane und mein Nick würden ein hübsches Paar abgeben.« Janes Vater hatte dem beigepflichtet und es seiner Frau erzählt, die es ohnehin schon wusste. Und so war es eben geschehen.
Niemand hätte Jane als Schönheit bezeichnet. Sie hatte eine breite Stirn, trug das braune Haar in der Mitte gescheitelt und hatte tiefblaue Augen. Außerdem war sie ziemlich klein und hatte wohlgerundete, breite Hüften. Dennoch fühlten sich die Männer zu ihr hingezogen. Jane verbrachte ihre Tage mit Kochen, Backen und Nähen, versorgte ihre jüngeren Geschwister und besaß einen Hund, der gerne Eichhörnchen jagte. Auf dem kleinen Bauernhof ihrer Eltern war sie mit allen Arbeiten vertraut.
Allerdings konnte sie lesen, und das war eine Seltenheit. Niemand sonst in ihrer Familie beherrschte diese Kunst, und auch keiner aus den übrigen Bauernfamilien in Minstead oder Brook. Wäre ihr Vater Kaufmann oder Handwerker in einer Stadt wie beispielsweise London gewesen, hätte er es vermutlich gelernt, doch auf dem Land bestand dafür keine Notwendigkeit. Selbst ein wohlhabender Freisasse, der einen großen Bauernhof sein Eigen nannte und großen Einfluss hatte, unterzeichnete – im Gegensatz zu einem mittellosen Schreiber – mit einem Kreuz und nicht mit seinem Namen.
Niemand hatte Jane das Lesen gelehrt. Sie hatte es sich selbst aus der Bibel beigebracht, über der sie in der Kirche von Minstead brütete, und aus anderen Schriftstücken, die sie bei ihren Besuchen auf den Wochenmärkten entdeckte. Obwohl sie sich nicht viel auf diese Fähigkeit zugute hielt, da sie im Alltag nur geringen Wert besaß, hatte es ihr Freude gemacht, etwas Neues zu lernen. Nick Pride hingegen war sehr stolz darauf. »Meine Frau kann lesen«, hörte er sich schon sagen. Denn das Ansehen, das die Bildung mit sich brachte, würde natürlich auch auf ihn abfärben, wenn sie erst einmal verheiratet waren.
Bei ihrer Hochzeit würde Jane weder Gold noch Schmuck oder Seidenkleider mit in die Ehe bringen. Im New Forest waren solche Dinge überflüssig. Doch ein kleines, schlichtes Schmuckstück wollte sie unbedingt haben, und ihre Eltern hatten versprochen, ihr diese Bitte zu erfüllen.
Es war ein seltsames Holzkreuzchen, das ihre Mutter an einer Schnur um den Hals trug. Janes Vater hatte es ihr zur Hochzeit geschenkt.
»Ich weiß nicht, woher es stammt, aber es war schon immer im Besitz der Familie«, hatte er ihr erklärt. »Angeblich bereits seit vielen hundert Jahren.« Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich ist es nur ein komisches, altes Ding, doch mein Großvater sagte mir: ›Pass gut darauf auf. Das ist dein Familienerbe‹.«
Das Kreuz aus Zedernholz war nun schon von so vielen Generationen getragen worden, dass es inzwischen fast schwarz war. Doch dieser Familientalisman hatte Jane schon als kleines Mädchen magisch angezogen. Es machte ihr Freude, das Kruzifix zu berühren und in der Hand zu halten. Und sie versuchte, die Inschrift zu entziffern, als enthielte sie eine geheime Bedeutung. Denn dessen war sie sicher, obwohl sie nicht ahnte, dass das Kreuz einst, vor fast dreihundert Jahren, einem Mönch gehört hatte.
Sie wollte es bei ihrer Hochzeit tragen.
Der Wagen rumpelte den Weg entlang, bis sie eine Kiesebene erreichten.
»Schaut!«, rief sie begeistert aus. »Wir sind am Meer.«
Verdrießlich betrachtete Albion die Festung, die sich vor ihnen erhob. Warum zum Teufel hatte sein guter Freund Gorges bloß darauf bestanden, dass er diese Burschen hierher brachte? Reine Zeitvergeudung, dachte er. Doch eigentlich ärgerte er sich nur, um die Angst zu unterdrücken, die der Anblick der Festung nach dem Gespräch mit seiner Mutter am Vortag jetzt unwillkürlich auslöste.
»Holla!«, rief er. »Albions Miliz.«
»Ihr könnt passieren, Sir«, lautete die Antwort.
Sie hatten die Sümpfe von Pennington überquert und die Flussmündung von Keyhaven hinter sich gelassen. Nun setzten sie ihren Weg auf dem Pfad fort, der zum Ende der etwa anderthalb Kilometer langen Landzunge gegenüber der Insel Wight führte. Über ihnen kreischten die Möwen, und in der Ferne, am Ende der Landzunge, lag – weißlich schimmernd im Sonnenlicht – ihr Ziel.
Hurst Castle. Ohne die Ehezwistigkeiten von Heinrich VIII. wäre es vermutlich nie gebaut worden. Schließlich wurden Englands Küsten schon seit mehr als tausend Jahren immer wieder von fremden Mächten bedroht. Doch als der Papst, verärgert über Heinrichs Lossagung, Spanien und dessen Rivalen Frankreich aufgefordert hatte, die ketzerische Insel gemeinsam zu überfallen, hatte der englische König beschlossen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Also hatte er Abgesandte losgeschickt, um die Verteidigungsmöglichkeiten der Küste zu überprüfen. Und es gab nur wenige Orte von größerer strategischer Bedeutung als Southampton und den Solent. Doch bei ihrem Besuch waren die Abgesandten zu dem Ergebnis gelangt, dass die Verteidigungsanlagen ihren Zweck keinesfalls erfüllten.
Selbstverständlich war es das Sinnvollste, die beiden Einfahrten zum Solent zu blockieren und somit feindliche Schiffe fern zu halten. Das hieß, dass man am westlichen Ende zwei Befestigungsanlagen errichten musste, eine auf der Insel Wight, unweit der so genannten Nadeln, die andere auf dem Festland. Auf der Insel stand bereits ein verfallener Turm, den man benutzen konnte.
Und was die Küste des Festlandes betraf, lautete die einhellige Meinung: »Gott hat für uns gesorgt.«
Die lange, gebogene Landzunge unterhalb von Keyhaven eignete sich in der Tat vortrefflich für wirkungsvolle Verteidigungsmaßnahmen. An ihrer Spitze befand sich eine breite Ebene, und diese überblickte die schmälste Stelle der Rinne, die in den Solent führte. Sofort hatten die königlichen Abgesandten befohlen, einen Erdwall mit Geschützstellungen zu errichten, gewissermaßen ein Bollwerk. Doch König Heinrich VIII. wollte mehr, und bald begann man mit einem ehrgeizigen Bauvorhaben.
Hurst Castle war eine kleine, gedrungene Festung aus Stein. Doch am auffälligsten war die Form des Gebäudes: weder rund noch quadratisch, sondern dreieckig. An jeder Ecke erhob sich ein dicker, halbrunder Turm. In der westlichen Mauer befand sich ein Fallgatter mit einer Zugbrücke, die über einen schmalen Graben führte. Mitten in der dreieckigen Festung ragte ein zweistöckiger Turm empor. Türme und Mauern waren gut mit Kanonen bestückt. Die Spanier, die bereits bestens im Bilde waren, betrachteten Hurst Castle als bedeutendes Hindernis einer Eroberung.
Und das war die Festung, die Albion nach Ansicht seiner Mutter den Spaniern übergeben sollte. Denn natürlich handelte es sich hier nicht nur um eine Bastion der Gottlosigkeit, nein, schon die Steine selbst waren eine Beleidigung für jeden wahren Christen.
Als der König die klösterlichen Ländereien veräußert hatte, war Beaulieu in den Besitz der adeligen Familie Wriothesley übergegangen. Doch auch viele andere Bewohner der Umgebung scheuten sich nicht, die Gelegenheiten zu nützen, die jene Zeit ihnen bot. So auch ein angesehener Kaufmann aus Southampton, der Mill hieß und bereits als Verwalter der alten Liegenschaften von Beaulieu gedient hatte. Nun wollte er sich beim König beliebt machen, um selbst Klosterland erwerben zu können. Es war üblich, dass die Krone wichtige Aufträge wie den Bau von Schiffen oder Festungen an ortsansässige Unternehmer vergab. Und so überraschte es nicht weiter, dass der Bau der neuen Befestigungsanlage am Solent den zuverlässigen Händen von Mill übertragen wurde. Er machte seine Sache ausgezeichnet, und der König war hoch erfreut. Und als man ihn fragte, woher er die vielen Steine habe, denn schließlich gab es in dieser Gegend nicht viele, erwiderte er: »Natürlich von der Abtei Beaulieu.«
»Dieser gotteslästerliche Mill!«, hatte Lady Albion sich entrüstet. Die heiligen Steine aus der Abtei dazu zu benutzen, die Küste gegen den Papst zu verteidigen!
Als sie das Ende der Landzunge erreichten, sah Albion, dass die Zugbrücke heruntergelassen war und das Tor offen stand. Kaum hatte er den Männern befohlen, vom Wagen zu steigen, als schon ein ihm bekannter Herr erschien, der etwa in seinem Alter war. Er hatte ein breites, kluges Gesicht, schöne graue Augen und schütteres Haar, das seinem guten Aussehen jedoch keinen Abbruch tat. Er kam auf Albion zu.
»Clement.«
»Thomas.«
»Willkommen.«
Thomas Gorges stammte aus alteingesessener Familie und hatte Freunde bei Hofe. Ja, er genoss sogar das Vertrauen des Rats und Cecils. Aus diesem Grunde war er auserwählt worden, die Schottenkönigin Maria in ihren letzten Kerker zu geleiten. Außerdem hatte man ihn zum Ritter geschlagen. Seit einigen Jahren befehligte er Hurst Castle, und da eine Invasion drohte, verbrachte er hier den Großteil seiner Zeit.
»Sind das deine Männer?«, fragte er. Albion nickte. »Gut. Mein oberster Kanonier wird ihnen alles zeigen.« Außer Gorges und seinem Stellvertreter beherbergte Hurst Castle eine ziemlich große Garnison unter dem Kommando des obersten Kanoniers. »Ich fand schon immer«, fuhr Gorges leise fort, »dass man die Loyalität der Männer am besten stärkt, indem man ihnen viel beibringt.«
Als Albion sich umsah, war er wider Willen beeindruckt. Zwei Reihen von Kanonen ragten aus Luken in Türmen und Mauern in Richtung Meer. Auch der Mittelturm war mit Kanonen bestückt. Kein Schiff, das in den Solent einfuhr, war vor ihnen sicher. Geschützt wurde die Festung von dicken Mauern, die leicht nach außen gewölbt waren, sodass Kanonenkugeln von ihnen abprallen würden. Hurst Castle könnte selbst schwerem Beschuss standhalten.
Gorges schmunzelte. »Ich hoffe, du findest alles in bester Ordnung, Clement.« Gorges war ohne Frage ein hervorragender Kommandant. Er hatte weitere Kanonen aufgestellt, den Mittelturm neu aufbauen und verstärken lassen und seine Soldaten gut ausgebildet. Der Rat schätzte ihn inzwischen so sehr, dass Gorges alles, was er wollte – Waffen, Baumaterialien oder Männer –, sofort bekam, obwohl eigentlich der Leiter der Grafschaftsmiliz für die Festung zuständig war. »Also sage mir, Waldhüter«, begann er schmunzelnd, »wann kriege ich meine Ulmen?«
Albion fand es seltsam, dass Eichenholz an einem dem salzigen Meerwind ausgesetzten Ort wie Hurst Castle sofort verrottete, obwohl man es andererseits zum Bau von Schiffen verwendete. Deshalb hatte er Gorges geraten, für die neuen Geschützstände das haltbarere Ulmenholz zu verwenden. »Ich habe die Bäume in der letzten Woche markiert. In zehn Tagen werden sie gefällt und angeliefert.«
»Danke. Und nun erzähl mir von den Männern, die du mitgebracht hast.«
»Ich übertrage Pride die Leitung. Er ist zwar jung, aber zuverlässig und klug. Die Verantwortung macht ihm Spaß, und er möchte sich gern beweisen. Also wird er sich ins Zeug legen. Die anderen beiden sind nette Burschen. Du wirst schon mit ihnen zurechtkommen.«
»Wie schlau von dir. Ich spreche sofort mit ihnen. Übrigens«, fügte er beiläufig hinzu. »Habe ich dir schon gesagt, dass Helena hier ist?« Sie war die Ehefrau von Thomas. Albion wurde von Freude ergriffen. Er hatte Helena sehr gern. »Sie erwartet dich. Warum gehst du nicht zu ihr, während ich mit den Männern rede?«
Albion zögerte. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er keinen Gedanken an diesen freundlich vorgebrachten Vorschlag verschwendet. Nun aber runzelte er die Stirn. Schließlich hatte er sich von Anfang an gewundert, warum es nötig war, die Männer nach Hurst Castle zu bringen. Er hätte ihnen ihre Pflichten doch genauso gut in Minstead erklären können. »Du willst doch sicher, dass ich zugegen bin, Thomas, wenn du meinen Männern deine Befehle gibst.«
Thomas errötete leicht und bemühte sich vergeblich, seine Verlegenheit zu verbergen. Was hatte das zu bedeuten? »Schau, da kommt sie schon. Geh doch ein Stück mit ihr spazieren, Clement. Sie hat sich so auf dich gefreut.« Und bevor Albion widersprechen konnte, war sein Freund schon verschwunden.
Nick Pride war sehr mit sich zufrieden. Sie standen in der Kammer des obersten Kanoniers, wo man einen guten Ausblick auf den Solent hatte, als Thomas Gorges hereinkam. Der Adelige richtete für einige Minuten höflich das Wort an die Männer und erläuterte ihnen ihre Pflichten. Nick beobachtete ihn aufmerksam.
Gorges beeindruckte ihn, und er spürte, dass er Albion überlegen war, obwohl es sich doch bei beiden um adelige Herren handelte. Er stammte aus einer anderen, Nick fremden Welt. Und als er die beiden Männer miteinander verglich, gelangte er zu dem Schluss, dass Albion sehr wohl Gorges brauchte, aber nicht umgekehrt. Daran muss es liegen, dachte er.
»Also, Nicholas Pride«, sagte Gorges nun zu ihm. »Ich höre, Ihr bewacht das Signalfeuer.«
»Jawohl, Sir!«, rief Nick mit stolzgeschwellter Brust.
Signalfeuer auf den Gipfeln der Hügel zu entzünden, um die Bevölkerung vor dem herannahenden Feind zu warnen, war schon seit dem Altertum üblich. Doch unter den Tudors war diese Vorgehensweise in England zu einem festen Bestandteil der militärischen Strategie geworden. Ein an der Südwestküste entfachtes Signalfeuer löste eine Kettenreaktion die Küste entlang aus, sodass man in London im Nu Bescheid wusste. Während sich die Nachricht an der Küste verbreitete, versetzte eine Reihe weiterer Feuer im Landesinneren die Milizen in den Dörfern in Alarmbereitschaft, damit sie sich zu den Sammelplätzen begaben und die Küste verteidigten.
Am Solent gab es zwei große Signalfeuer, eines an jedem Ende der Insel Wight. Das Hinterland des New Forest war mit drei weiteren Signalfeuern ausgestattet, eines auf dem Burley Beacon, eines auf einem Hügel unweit der Mitte des New Forest und ein drittes für die Dörfer im Norden. Letzteres befand sich in einer alten Befestigungsanlage oberhalb von Minstead.
»Kommt zu mir, Nicholas Pride«, ordnete der Befehlshaber an, worauf Nick vortrat. »Und nun«, meinte Gorges so leise, dass die anderen ihn nicht verstehen konnten, »beschreibt mir Eure Pflichten.«
Nick wusste genau, was er zu sagen hatte. Schließlich hatte Albion ihn gründlich instruiert: Das Leuchtfeuer auf der Insel Wight würde eine genau festgelegte Folge von Signalen senden, an deren Ende die Anweisung stand, dass Nick sein eigenes Feuer entzünden musste. Er sagte alle Schritte in der richtigen Reihenfolge auf und erklärte, wie man die Wachen eingeteilt hatte, wer wann Dienst leisten musste und wie man das Feuer entfachte. Gorges war offenbar zufrieden, doch zu Nicks Erstaunen beendete er das Gespräch damit nicht. Offenbar wollte er noch mehr über Nick wissen und erkundigte sich nach dessen Familie, dessen Geschwistern und nach dem Bauernhof. Er erzählte sogar von seiner eigenen Familie und brachte Nick zum Lachen. Nicks Anspannung löste sich. Als Gorges fragte, was er von den Spaniern hielt, erwiderte Nick, für ihn seien sie verdammte Ausländer. Gorges erwiderte, König Philipp gelte aber als sehr fromm, und Nick entgegnete, das könne durchaus sein. Doch er sei trotzdem ein Ausländer, und jeder gute Engländer habe die Pflicht, ihm den Kopf abzuschlagen. »Francis Drake hat ihm bei Cadiz den Bart versengt, nicht wahr, Sir? Mit den brennenden Schiffen. Ich glaube, damit hat er ihm eine Lektion erteilt.«
Der Aristokrat hatte Nick aufmerksam zugehört und ihn dabei beobachtet. Dabei hatte er sich, ohne dass Nick es bemerkte, ein genaues Bild von ihm gemacht. »Ich sehe, dass ich Euch vertrauen kann, Nicholas Pride«, meinte er schließlich. »Und wenn die Königin selbst mich fragt – und das könnte sie durchaus tun –, wer unser Signalfeuer im Inland bewacht, werde ich mich an Euren Namen erinnern und ihr sagen, dass Ihr ein zuverlässiger Mann seid.«
»Ja, Sir, das könnt Ihr!«, rief Pride, und er war so stolz auf sich wie nie zuvor.
Jane saß am sandigen Ufer und blickte auf den Solent hinaus, als sich das seltsame Paar näherte.
Es war warm. Über dem Wasser hing ein leichter Dunst, sodass die Insel Wight in einen trägen blauen Schimmer gehüllt war. Strandläufer und andere Schreitvögel wimmelten vor ihr über den Sand und um die Festung herum. Schwalben, die bald Abschied nehmen würden, schossen durch den Himmel.
Der Mann und die Frau zogen einen großen Wagen mit hohen Seitenwänden, offenbar enthielt er Holzkohle.
Jane hatte unterhalb der Festung am Ufer des Solent eine kleine Kalkbrennerei bemerkt. Kurz vor Hurst Castle bog der Wagen von der Straße ab und wurde in Richtung Brennerei gezogen. Unterstützt von drei Arbeitern der Brennerei lud der Mann die Säcke ab. Jane beobachtete ihn aufmerksam.
Er war ein wenig kleiner als die anderen, wirkte aber sehr kräftig. Sein Haar war dicht und schwarz, und er hatte einen kurzen, ordentlich gestutzten Bart. Seine weit auseinander stehenden Augen blickten aufmerksam – die Augen eines Jägers, dachte sie. Sie war sicher, dass er sie wahrgenommen hatte, während er die Kohlensäcke ablud. Warum nur erschien er ihr so sonderbar? Sie war nicht sicher. Ihr ganzes Leben hatte sie im New Forest verbracht. Dieser Mann unterschied sich von den Prides und den Furzeys, als gehöre er einer anderen, viel älteren Art an, die in den unbekannten Tiefen des Waldes wohnte. Bildete sie es sich nur ein, oder hatte der Qualm der Kohlenmeiler seine Haut dunkel verfärbt? Er erinnerte sie an eine Eiche.
Aus welcher Familie er stammte, war nicht schwer zu erraten. Jane war auf Wochenmärkten oder bei Gericht in Lyndhurst schon anderen Männern begegnet, die ihm ähnlich sahen.
»Das ist Perkin Puckle«, meinte ihr Vater dann. Oder: »Ich glaube, das ist Dan Puckle, aber es könnte auch John sein.« Und dann ging es meist weiter: »Die Puckles leben in der Nähe von Burley.« Niemand hatte Grund, schlecht über sie zu reden. »Sie sind gute Freunde, solange man es sich nicht mit ihnen verscherzt«, fuhr ihr Vater fort. Obwohl niemand es laut aussprach, wusste Jane, dass die Familie etwas Geheimnisvolles an sich hatte. »Sie sind so alt wie die Bäume«, hatte ihre Mutter einmal angemerkt. Jane betrachtete den Mann neugierig.
Zuerst nahm sie gar nicht wahr, dass sie selbst beobachtet wurde. Es war ihr nicht aufgefallen, dass die Frau den Wagen verlassen hatte, doch nun saß sie ganz in der Nähe auf einem Grasbüschel und musterte Jane nachdenklich. Da diese nicht unfreundlich sein wollte, nickte sie der Fremden zu. Daraufhin rutschte die Frau unvermittelt zu Jane hinüber und saß nun dicht neben ihr. Eine Weile sahen sie den Männern bei der Arbeit zu.
»Das ist mein Mann«, sagte die Frau schließlich zu Jane.
Sie war klein und dunkelhaarig und erinnerte Jane an eine Katze. Jane schätzte sie – wie ihren Mann – auf etwa fünfunddreißig Jahre. Ihre Augen waren dunkel und mandelförmig, ihre Haut wirkte blass.
»Gehört er zu den Puckles aus Burley?«, fragte Jane.
»Richtig.« Jane hatte den Eindruck, dass die Frau sie prüfend betrachtete. »Seid Ihr verheiratet?«
»Noch nicht.«
»Und wollt Ihr heiraten?«
»Ja.«
»Ist Euer Verlobter hier?«
»Da drin.« Jane wies auf die Festung.
Puckles dunkelhaarige Frau schwieg eine Weile und blickte über das Wasser. Als sie wieder zu sprechen begann, schaute sie zu ihrem Gatten hinüber. »John Puckle ist ein guter Mann«, meinte sie.
»Ganz sicher.«
»Und sehr fleißig.«
»Das merkt man ihm an.«
»Und kein Kind von Traurigkeit. Er kann eine Frau glücklich machen.«
»Oh.« Jane wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
»Und Euer Verlobter. Ist er gut im Bett?«, erkundigte sich die Fremde unverblümt.
Jane errötete. »Daran zweifle ich nicht. Aber noch sind wir nicht verheiratet.«
Der Blick der Frau sagte ihr, dass sie mit ihrer Antwort nicht zufrieden war. »John hat sich selbst ein Bett gebaut.« Sie wies mit dem Kopf auf ihren Mann. »Ganz aus Eiche. Und es mit Schnitzereien verziert. An allen vier Pfosten. Solche Schnitzereien habe ich noch nie gesehen.« Sie lächelte. »Er hat sich ein Bett geschnitzt, um darin zu schlafen. Und wer einmal mit John Puckle in seinem Eichenbett gelegen hat, der will kein anderes Bett und keinen anderen Mann mehr.«
Jane starrte sie entgeistert an. Sie hatte zwar die Frauen in Minstead reden hören, deren Scherze über Männer zuweilen auch recht derb ausfielen. Doch diese seltsame Frau hatte eine Offenheit an sich, die sie gleichzeitig abstieß und neugierig machte.
»Gefällt Euch mein Mann?«
»Ich…? Ich kenne ihn ja gar nicht.«
»Würdet Ihr gern mit ihm ins Bett gehen?«
Was sollte das bedeuten? Wollte die Fremde sie auf den Arm nehmen? Sie einschüchtern? Jane erhob sich. »Er ist Euer Mann, nicht meiner«, entgegnete sie hitzig und schickte sich an zu gehen. Doch als sie sich aus sicherer Entfernung umblickte, sah sie, dass die Frau noch immer ruhig dasaß und scheinbar ungerührt zur Insel hinüberschaute.
Helena hatte einen Strandspaziergang vorgeschlagen, am Ufer des Ärmelkanals entlang. Grasnelken und Jupiterblumen waren schon verblüht, doch ihre grünen Stängel bedeckten den Strand wie ein grüner Schleier.
Clement Albion hatte diese Frau sehr gern, auch wenn ihre Eigenarten ihn zuweilen zum Schmunzeln brachten. Helena Gorges war Schwedin, sehr hellhäutig und wunderschön. »Du bist so gut, wie du schön bist«, sagte er ihr häufig, und das entsprach auch der Wahrheit. Allerdings hätte er hinzufügen können: »Und auch ziemlich eitel.«
Es ist ein allgemein gültiges Gesetz, dass eine Frau einen einmal erworbenen Adelstitel nie wieder aufgeben wird. So erschien es zumindest Albion. Kurz nach ihrer Ankunft am Hof von Königin Elisabeth hatte sich die junge Schwedin keinen Geringeren als den Marquis von Northampton geangelt. Leider verstarb ihr adeliger Gatte nach nur einem Jahr und ließ seine angebetete Gemahlin als einsame Marquise zurück.
Im England der Königin Elisabeth gab es nur wenige Pairs. Viele Adelige waren in den Rosenkriegen ums Leben gekommen, und die Tudors sahen keinen Bedarf an weiteren Feudalherren. Einen Titel jedoch hatten erst sie in England eingeführt, nämlich den des Marquis, den jedoch kaum eine Hand voll Männer trug. Sie standen nur eine Stufe unter den hochmütigen Herzögen. Und dem Protokoll zufolge durfte die junge Marquise noch vor jeder Gräfin eine Tür durchschreiten.
Als sie den adeligen Thomas Gorges kennen und lieben gelernt hatte, der damals noch nicht einmal ein bescheidener Ritter gewesen war, hatte sie weiterhin auf den Titel Marquise von Northampton gepocht.
»Und sie tut es immer noch«, pflegte Albion mit einem Lachen zu seiner Ehefrau zu sagen. »Gott sei Dank, dass Thomas es komisch findet.«
Helena und Thomas führten eine sehr glückliche Ehe. Sie war eine gute Ehefrau, ausgesprochen gut aussehend, mit goldenem Haar und funkelnden Augen. Oft kam sie zu Fuß die Landzunge entlang zur Festung – sie hatte einen sehr anmutigen Gang – und wickelte dort die Soldaten um den Finger. Bei Hofe ließ sie sich keine Gelegenheit entgehen, am Aufstieg ihres Mannes mitzuwirken. Albion wusste, dass sie zurzeit wieder Pläne schmiedete. Und nachdem sie über ihre Familien gesprochen hatten, fragte er freundlich: »Und was ist mit eurem Haus?«
Eigentlich war er genau darüber im Bilde, dass sein Freund Gorges sich zum ersten Mal im Leben finanziell übernommen hatte. Vor kurzem hatte er ein prächtiges Gut, Langpfad genannt, unweit von Sarum erworben, wo er ein großes Haus bauen wollte. Doch noch war nicht einmal der Grundstein gelegt worden.
»Ach, Clement.« Helena hatte eine charmante Art, einen beim Arm zu nehmen, bevor sie etwas Vertrauliches preisgab. »Sag Thomas nicht, dass ich es dir verraten habe, aber wir stecken« – sie verzog das Gesicht – »in Schwierigkeiten.«
»Könnt ihr denn kein kleineres Haus bauen?«
»Es wäre ein sehr kleines, Clement.« Sie lächelte verschwörerisch.
»Eine Hütte?« Das war nur als Scherz gemeint, doch sie schüttelte mit ernster Miene den Kopf.
»Eine winzige Hütte, Clement. Vielleicht reicht es nicht einmal dafür.«
War ihre Lage denn wirklich so ernst? fragte er sich. Offenbar hatte sich Thomas verkalkuliert. »Bis jetzt hat sich für Thomas das Blatt immer zum Guten gewendet«, tröstete er sie. Er zweifelte nicht daran, dass sein Freund es noch weit bringen würde.
»Wollen wir es hoffen, Clement.« Sie lächelte wieder, diesmal jedoch wehmütig. »Ich fürchte, in diesem Jahr bekomme ich keine neuen Kleider.«
»Vielleicht wird die Königin…«
»Ich war bereits bei Hofe.« Sie zuckte die Schultern. »Die Königin hat keinen Penny mehr. Diese Sache mit Spanien« – sie wies auf den Horizont – »hat die Staatskassen geleert.«
Albion nickte nachdenklich.
»Apropos Spanien.« Er zögerte kurz, beschloss aber fortzufahren. »Ich habe ein paar meiner Männer hergebracht, wie du sicher weißt. Thomas wollte sie sprechen.« Er musterte Helena durchdringend. Offenbar hatte er richtig vermutet: Sie schien ihm etwas zu verheimlichen. »Thomas hat darauf bestanden, dass ich nicht dabei sein soll. Aus welchem Grund, Helena?«
Sie waren stehen geblieben.
Helena senkte den Blick zu Boden. Eine Welle schwappte über den Strand auf sie zu und zog sich wieder zurück. »Thomas befolgt nur seine Befehle, Clement«, erwiderte sie ruhig. »Du siehst Gespenster.«
»Glaubt man etwa, dass ich…?«
»In diesem Land gibt es viele Katholiken, Clement. Das weiß jeder. Sogar die Carews…« Thomas Carew war der ehemalige Kommandant von Hurst Castle. Seine Familie, samt und sonders gläubige Katholiken, lebte im Dorfe Hordle, nur wenige Kilometer entfernt an der Grenze des New Forest.
»Nicht alle Katholiken sind Verräter, Helena.«
»Natürlich nicht. Aber du befehligst immer noch eine Miliz, Clement. Vergiss das nicht.«
»Warum wollte sich dein Mann vergewissern, dass ich und meine Männer loyal sind?«
»Weil der Rat ein Auge auf jeden hat, Clement. Man muss vorsichtig sein.«
»Der Rat? Cecil? Sie misstrauen mir?«
»Deiner Mutter, Clement. Denk daran, selbst Cecil hat von deiner Mutter gehört.«
»Meine Mutter.« Plötzlich wurde er von Angst ergriffen. Er dachte an das gestrige Gespräch und spürte, wie er errötete. »Was« – er bemühte sich um einen gleichgültigen Tonfall – »hat meine närrische Mutter denn jetzt schon wieder angerichtet?«
»Wer kann das sagen, Clement? Ich bin über diese Dinge nicht im Bilde, aber ich habe der Königin erklärt…«
»Der Königin? Die Königin weiß über meine Mutter Bescheid? Oh, mein Gott!«
»Ich habe ihr erläutert – vergib mir, Clement –, dass deine Mutter ein albernes Frauenzimmer ist. Und dass du ihre Ansichten nicht teilst.«
»Gott behüte!«
»Also, lieber Clement, brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Kümmere dich stattdessen lieber um mein Haus. Finde einen Weg, wie ich in Longford etwas Größeres als einen Kuhstall bauen kann.«
Erleichtert lachte er auf, und sie schickten sich an, zur Festung zurückzukehren. Inzwischen war die Flut ein wenig angestiegen. Auf der anderen Seite des Wassers schimmerten die vier Kalknadeln der Insel Wight, die Albion jetzt so unwirklich wie Gespenster erschienen. Geisterhaft weiße Möwen stiegen auf und flogen kreischend aufs Meer hinaus.
»Clement.« Sie hielt inne und sah ihn an. »Du weißt, wie sehr wir dich lieben. Du bist doch wirklich kein Verräter?«
»Ich…?«
Sie musterte ihn forschend. »Clement? Sag mir die Wahrheit.«
»Mein Gott, nein.«
»Schwöre es.«
»Ich schwöre, bei meiner Ehre. Auf alles, was mir heilig ist.« Ihre Blicke trafen sich, Besorgnis stand in Helenas Augen. »Glaubst du mir denn nicht?«
»Natürlich glaube ich dir. Komm.« Sie lächelte und hakte sich bei ihm unter. »Gehen wir zurück.«
Aber er wusste genau, dass sie log. Sie war sich nicht sicher. Und wenn sie und Thomas Gorges ihm nicht trauten, hegten der Rat und die Königin sicher auch Argwohn gegen ihn. Auf einmal erschien ihm die Aussicht auf die kommenden Monate trüber denn je.
Und das Sonderbare war, dass er – ganz gleich, was seine Mutter auch von ihm verlangen mochte – Helena die Wahrheit gesagt hatte.
Oder etwa nicht?
Es wurde ein eiskalter Winter. Doch der Baum war daran gewöhnt. Vor einem Jahrhundert war England in eine Wetterphase eingetreten, die während der Regierungszeit der Tudors und der Stuarts andauerte und die man in der Geschichtsschreibung als kleine Eiszeit bezeichnete. Im Sommer fiel der Unterschied zu den alten Zeiten nicht so auf, doch im Winter herrschte häufig grimmige Kälte.
Anfang Dezember hatte sich die Eiche auf den Winter vorbereitet. Ihre Äste waren kahl und grau; die kleinen, prallen Knospen an den Zweigen wurden durch braune, wachsige Hüllen vor dem Frost geschützt. Tief im Boden sorgte der Zucker im Saft dafür, dass der Baum nicht einfror.
Am Tag der heiligen Lucia, dem dreizehnten Dezember, zur Wintersonnwende, fiel bei Morgengrauen Schneeregen. Gegen Mittag fror es. Und als in den kurzen Stunden vor dem grauen Ende des Tages eine bleiche Sonne vom Himmel schien, hingen Eiszapfen von der Krone der Eiche, so als sei ein weißhaariger Waldbewohner aus uralter Zeit hier vorbeigekommen und an Ort und Stelle erstarrt. Während die fahle Sonne das Eis zum Funkeln brachte, pfiff ein Wind durch die Zapfen und ließ sie noch mehr gefrieren.
Irgendwo oben in einer Astgabel saß eine große Eule reglos auf einem verlassenen Taubennest. Sie war eine Besucherin aus den eisstarrenden Wäldern Skandinaviens und hatte sich über die Wintermonate auf der milderen Insel einquartiert. Ausdruckslos starrte sie in den Schnee.
Über dem Ruheplatz der Eule hingen Fledermäuse wie geflügelte Pelzkugeln in einer geschwärzten Baumhöhle und hielten Winterschlaf. Überall auf dem Baum, auf Ästen und Zweigen, hatten sich Larven wie die der Wintermotte fest in ihre Kokons eingesponnen. Weiter unten am gewaltigen Baumstamm kauerten Spinnen hinter Fensterscheiben aus Eis in ihren Löchern. Rings um die Wurzeln herum lagen von Eis überzogene, geknickte Farnwedel und abgefallenes Laub.
Unter der Erde wurden Würmer, Schnecken und andere Erdgeschöpfe durch die Schicht gefrorener Blätter vor der bitteren Kälte geschützt. Doch die Drosseln und Amseln in den Büschen wirkten struppig und abgemagert. Nach zwei Wochen Dauerfrost würden sie so ausgezehrt und geschwächt sein, dass sie den Winter nicht überstanden. Nur das Rotkehlchen mit seinem aufgeplusterten Wintergefieder und die Rohrammern würden wahrscheinlich überleben.
Inzwischen fühlte sie sich sehr schwach. Schon im Sommer hatte sie gespürt, dass etwas im Argen lag, noch vor dem Herbsttag, an dem sie Puckle nach Hurst begleitet hatte, um die Holzkohle abzuliefern. Seitdem dachte sie an die Zukunft.
Sie hatte es mit sämtlichen ihr bekannten Heilmitteln versucht. Und sie tat alles, um sich zu schützen. Jeden Monat, wenn der Mond vom Mädchen zur Mutter heranwuchs und dann wieder zum alten Weib schrumpfte, hatte sie heimlich gebetet. Dreimal hatte sie den Mond beschworen. Doch als der Winter kam, wusste sie, dass es keine Rettung für sie gab. Sie würde diese Welt verlassen müssen.
Die Natur ist grausam, aber auch gnädig. Der Krebs, der Puckles Frau das Leben aussaugte, veränderte ihren Körper. Ihre Haut wurde blasser, ihr Blut dünner, und allmählich ergriff Schläfrigkeit Besitz von ihr. So würde sie einem frühen Ende entgegendämmern, bevor das Geschwür sich endgültig in ihr breit machte und ihren Körper mit Schmerzen peinigte.
Sie und Puckle hatten drei Kinder. Sie liebte ihren Mann, und sie wusste genau, dass das Leben nach ihrem Tod weitergehen musste. Und deshalb betete sie heimlich und tat das, was sie für das Beste hielt.
Nun war die Mitternachtsstunde des Jahres angebrochen, in der die Sonne täglich kaum acht Stunden scheint und die ganze Welt in abgrundtiefer Finsternis zu versinken droht.
Drei Wochen später, einige Tage nach Weihnachten, kam Clement Albion vorbeigeritten.
Kurz vor dem Festtag hatte der Frost ein wenig nachgelassen. Der Boden unter den Hufen seines Pferdes knisterte zwar noch, doch er sah, wie ein paar Vögel im abgefallenen Laub um einen Wurm kämpften. Ein Eichhörnchen sauste wie ein roter Blitz vorbei und verschwand hinter einigen Schlehenbüschen.
Im Wald waren die emporragenden grauen und silbrigen Zweige nackt. Nur hie und da waren dunkelgrüner Efeu oder bleiche Fichten zu sehen. Auch die Eichen in der Lichtung waren kahl.
Die abseits stehende Eiche hingegen bot einen seltsamen Anblick. Sie hatte die Eiszapfen abgeworfen. Und aus den winzigen, prallen Knospen waren kleine Blätter entsprungen. Mitten im Winter war der Baum grün. Albion betrachtete ihn schweigend. Nichts rührte sich.
Warum grünte dieser Baum im New Forest im Winter, wie es auch in den Geschichtsbüchern verzeichnet ist? Vielleicht war ihm während des Wachstums etwas zugestoßen – ein Blitzeinschlag zum Beispiel –, das seine innere Uhr durcheinander gebracht hatte, welche die Entwicklung der Blätter steuert und die wir bis heute nicht ganz verstehen. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass es sich um eine Abweichung im Erbgut handelte. Wenn es nicht zum winterlichen Versiegelungsprozess kommt, behalten manche Eichen den ganzen Winter hindurch bis zum Frühling ihr Laub. Auch das Hervorbringen von Blättern zur Weihnachtszeit hatte vermutlich genetische Gründe. Und dass die Aufzeichnungen drei derartige Bäume in ein und derselben Gegend erwähnen, weist auf eine solche Ursache hin.
Albion seufzte auf. War es wirklich ein Wunder, wie seine Mutter behauptete? Sprach der Baum zu ihm, um ihn an seine Pflichten und seinen Glauben zu erinnern? War dieser wundervolle Baum ein lebendiges Zeichen, so wie jene, die den Rittern in den Legenden auf der Suche nach dem heiligen Gral erschienen waren?
Er hoffte, dass es sich nicht so verhielt. Seit dem Herbst hatte er keinen Anlass zu der Vermutung gehabt, dass die Männer aus dem Rat ihn weiter verdächtigten. Zweimal war er Gorges begegnet, und dieser hatte sich ihm gegenüber freundlich und herzlich verhalten. Albion wollte doch nur ein friedliches Leben führen. Wünschten sich das nicht die meisten Leute? Ein Baum, der mitten im Winter Blätter trug, war die Verheißung eines Lebens im Tode. Drei grüne Bäume, drei Kreuze: die Kreuzigung auf dem Kalvarienberg. Ganz gleich, wie man die Dinge auch betrachtete, falls es sich wirklich um Zeichen Gottes handelte, deuteten sie auf Tod und Opfer hin.
Wenn sie nur von einer spanischen Invasion verschont blieben! Dann konnte seine Mutter ihm ihr Vermögen hinterlassen in dem Glauben, dass er im Fall des Falles zu den Gegnern übergelaufen wäre. Gorges, der Rat und auch die Königin selbst würden keinen Grund finden, ihm Vorwürfe zu machen. Er betete von ganzem Herzen darum, dass man ihn nicht auf die Probe stellen würde.
Von seiner Mutter hatte er schon seit einer Weile nichts gehört. Eigentlich hätte er sie zu Weihnachten besuchen sollen, aber er hatte wie immer einen Grund gefunden, sich davor zu drücken. Er fragte sich, wie lange er ihr noch aus dem Weg gehen konnte.
Und kurz darauf sah er sie.
Sie saß hoch oben in den Ästen des grünen Baumes. Wie immer trug sie Schwarz, doch das Futter ihres Mantels war flammend rot. Dann flatterte sie damit, als wären es Flügel, und schwebte wie ein hungriger, zorniger Vogel von Ast zu Ast. Schließlich wandte sie den Kopf und blickte ihn an. Mein Gott, es sah aus, als wolle sie sich auf ihn stürzen.
Albion schüttelte den Kopf und schalt sich einen Narren. Als er wieder in die Baumkrone hinaufspähte, war alles wie gewöhnlich. Doch seine Hände zitterten. Erschüttert wendete er sein Pferd und machte sich auf den Weg nach Lyndhurst.
Im Winter über sich der junge Nick Pride in Geduld. Anfang April regnete es zwar in Strömen, doch dann breitete sich eine sanfte Wärme im New Forest aus. Die Welt wurde wieder grün, die Knospen platzten auf. Er wusste, dass die Zeit nun gekommen war. Jane erwartete seinen Heiratsantrag. Jetzt war er an der Reihe.
Den ganzen April lang machte er ihr den Hof. Manchmal sahen sie sich ein oder zwei Tage nicht, doch wenn nichts dazwischenkam, trafen sie sich sonntags in der Kirche in Minstead. Sie stritten sich nie und fanden auch keinen Grund dafür. Schließlich war sie die vernünftige Jane Furzey und er der hübsche junge Nick Pride. Alles hatte seine Ordnung.
Doch als der Zeitpunkt näher rückte, beschloss Nick Pride, sie noch ein wenig zappeln zu lassen – nur für ein oder zwei Tage, damit sie ihn auch richtig zu schätzen wusste. Also legte er sich einen Plan zurecht.
Ende April rief Albion seine Miliz in Minstead zusammen. Natürlich war Nick Pride auch dabei, ebenso wie Janes Bruder und zwei weitere Männer aus Brook. Man wollte eine kleine Parade veranstalten, bei der alle, auch Jane und ihre Familie, zusehen würden. Deshalb beschloss Nick, sein Vorhaben am Abend zwei Tage vor der Parade in die Tat umzusetzen.
Das Dorf Minstead lag am Abhang eines steilen Hügels, der in westlicher Richtung quer durch die Mitte des New Forest verlief. Die meisten der Hütten standen verstreut an der unteren Hälfte des Weges, der hinauf zum Gipfel führte. Wer diesen Weg nahm, dem bot sich unterwegs ein seltsamer Anblick.
Die Stelle wurde Castle Malwood genannt, obgleich dort nie ein Schloss gestanden hatte. Es war nur einer der kleinen ringförmigen Erdwälle, wie die in Burley und Lymington, die zeigten, dass schon vor dem Einmarsch der Römer in der Eisenzeit dort Menschen gelebt hatten. Da es sich um den höchsten Punkt der Umgebung handelte und man von hier aus einen weiten Blick ins Gelände hatte, war Castle Malwood als Standort für das Signalfeuer ausgewählt worden. Albion hatte angeordnet, die Bäume auszudünnen, die in der Nähe des kleinen Erdwalls wuchsen, sodass man vom Erdwall aus die Südhälfte des New Forest bis zur Insel Wight überblicken konnte. Hier würde Nick seinen Wachdienst versehen.
Deshalb war er sehr stolz auf sich, als er mit Jane an jenem Abend zur mit Gras bewachsenen Befestigungsanlage von Malwood ging und ihr die Aussicht zeigte. »Hier wird das große Signalfeuer errichtet.« Er wies auf die Insel Wight. »Und da drüben« – er deutete auf die Stelle, wo Jane stand – »kommt nächste Woche unser Signalfeuer hin.«
Zu seiner Freude wirkte sie beeindruckt.
»Was, glaubst du, wird passieren, wenn die Spanier uns angreifen?«, fragte sie, ein wenig besorgt.
»Ich zünde mein Signalfeuer an, wir versammeln uns und dann gehen wir zum Strand, um sie zu bekämpfen.« Als er sie ansah, entdeckte er die Angst in ihren Augen. »Befürchtest du, mir könnte etwas zustoßen?«, meinte er, insgeheim zufrieden.
»Ich? Nein«, log sie achselzuckend. »Ich dachte nur an meinen Bruder.«
»Aha.« Er grinste in sich hinein. »Du brauchst keine Angst zu haben«, erwiderte er tapfer. »Wenn die Spanier uns sehen, werden sie wahrscheinlich ohnehin nicht wagen zu landen.«
Sie plauderten noch eine Weile über harmlose Dinge. Langsam ging die Sonne am Horizont unter. Der New Forest wurde in einen goldenen Schimmer getaucht, doch die Umrisse der Insel Wight in der Ferne nahmen eine blaugrüne Färbung an. Es war ganz still. Als Jane leicht erschauderte, legte er den Arm um sie. Dann blickten sie stumm gen Süden.
»Ich liebe den Blick über den New Forest«, sagte sie nach einer Weile.
»Ich auch.« Er wartete ab.
»Nun, Nick.« Sie lächelte ihn an. »Wenn die Spanier uns nicht umbringen, haben wir am Ende des Sommers sicher Grund zum Feiern.« Sie spähte wieder zur Insel hinüber.
Er wusste, dass das sein Stichwort war. Aber er griff es nicht auf. Wieder verstrichen einige Minuten.
»Ich glaube, ich gehe jetzt nach Hause«, verkündete sie schließlich.
Er merkte ihr die Enttäuschung an, schwieg aber weiter. Dann nickte er. »Ich begleite dich«, meinte er leise. Und fügte dann fröhlich hinzu: »Diesen Sommer werden wir uns über einiges Gedanken machen müssen.« Stolz auf seine Selbstbeherrschung kicherte er in sich hinein und brachte sie nach Brook zurück.
Lass sie warten. Soll sie in Ungewissheit schweben, dachte er. Nur noch bis übermorgen.
Zufrieden sah Nick Pride sich um. Der Nachmittagshimmel war hell und klar, und weiße Schäfchenwolken schwebten über die Kirche auf ihrem Hügel. Die Miliz setzte sich aus handverlesenen Männern des Kirchspiels und der umliegenden Weiler – auch Zehntschaften genannt – zusammen. Es waren insgesamt ein Dutzend Männer, von denen drei aus Brook und einer aus Lyndhurst stammte. Nick fand, dass sie einen sehr kriegerischen Anblick boten.
Von den zwölf Männern besaßen acht Bogen und waren – dank Albions strikter Anweisung – mit jeweils einem vollen Dutzend Pfeilen ausgestattet. Sechs der Männer waren mit langen, scharfen, funkelnden Spießen bewaffnet. Gott steh den Spaniern bei, die diesen Furcht erregenden Speeren zu nahe kamen, dachte Nick. Sein Vater hatte ihm einen Brustpanzer, ein Schwert und Metallschienen zum Schutz der Unterarme gegeben. Einer der Männer hatte sich beklagt, Nick brauche als Bewacher des Signalfeuers diese Bewaffnung gar nicht und müsse sie deshalb einem anderen zur Verfügung stellen. Doch Nick hatte protestiert: »Nachdem das Feuer angezündet ist, werde ich auch kämpfen.« Also hatte Albion entschieden, dass er seine Ausrüstung behalten dürfe. Niemand hatte eine Arkebuse, doch das war nicht weiter erstaunlich, denn nur wenige englische Bauern besaßen Schusswaffen.
Die Anweisungen für diesen Tag waren deutlich: Zuerst wurde bei der Kirche ein oder zwei Stunden lang exerziert, und danach würde man zum Dorfanger marschieren, um den Bewohnern Minsteads die Kampfbereitschaft dieser Einheit vorzuführen. Nach der Parade sollte es Erfrischungen geben. Und anschließend, dachte Nick erfreut, würde er seinen Plan ausführen. Er betrachtete die in der Sonne funkelnden Waffen und schmunzelte in sich hinein.
Clement Albion musterte seine Leute. Er hatte den jungen Männern Mut eingeflößt und ihnen gezeigt, wie man seine Position mit dem Speer verteidigte. Gewiss, sie würden niemals hervorragende Bogenschützen werden, doch mindestens vier von ihnen hatten Erfahrung beim Wildern und schossen vermutlich besser, als sie ihm gegenüber zugeben wollten.
Aber wie lange würden diese aufrichtigen Bauern gegen die gut ausgebildeten und bis an die Zähne bewaffneten Spanier durchhalten können? Albions Schätzung zufolge höchstens ein paar Minuten. Die Spanier würden sie mühelos niedermetzeln, erschießen oder in Stücke zerhacken. Gott sei Dank, dass diese Burschen nichts von der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen ahnten. Albion wusste, dass dieses Schicksal jeder Gemeindemiliz in dieser Grafschaft drohte.
Denn im Frühjahr 1588 war es um die Verteidigung der wichtigen Mitte von Englands Südküste ausgesprochen schlecht bestellt.
Die Trüppchen von Bauernburschen mit alten Spießen und Jagdbogen konnten überhaupt nichts ausrichten. Häufig waren die Bogenschützen nur mit drei oder vier Pfeilen ausgerüstet. Viele der Männer waren gar nicht bewaffnet. Als die Ritter und Adeligen in Winchester zusammentraten, kamen sie zu dem Schluss, dass nur einer von vieren kampftauglich war. Umso verhängnisvoller war es, dass die Planung nicht in der Hand eines, sondern zweier bedeutender Adeliger lag, die heillos miteinander zerstritten waren. Nicht einmal den Abgesandten des Rates war es gelungen, Ordnung in die Angelegenheit zu bringen. Weder Winchester noch der wichtige Hafen Southampton, geschweige denn der Hafen von Portsmouth ein Stück weiter die Küste hinauf, wo König Heinrich eine Werft hatte bauen lassen, waren ausreichend mit Verteidigungstruppen bemannt. Dreitausend Mann, die besten, die man hatte finden können, waren auf der Insel Wight stationiert. Doch das Festland lag mehr oder weniger schutzlos da. So hatte sich England auf die große Invasion der gewaltigsten Armee der Christenheit vorbereitet. Wie es in einem Bericht an Königin Elisabeths Rat hieß: »Nichts hier ist so, wie es sein sollte.«
Und Clement wusste all dies sehr wohl, obgleich er seinen Männern nichts davon verriet. Er hatte Southampton und die Werften in Portsmouth besucht und war bei Sitzungen in Winchester zugegen gewesen. Es fehlte nicht nur eine richtige Armee, die sich den Spaniern entgegenstellen konnte. Der Rat befürchtete sogar, ein Teil der Bauern, die sich nach ihrer alten Religion sehnten, könnte zum Feind überlaufen. Clement, der dies stark bezweifelte, betrachtete sein kleines, dem Untergang geweihtes Trüppchen und fragte sich, ob seine Mutter nicht vielleicht Recht hatte. War es nicht doch klüger, die Spanier zu unterstützen, wenn sie denn kamen? Das Glück würde in diesem Fall gewiss auf seiner Seite sein. Schließlich war er ein treuer Sohn der wahren Kirche und durch seine Schwester mit den spanischen Granden verwandt. Aber wann war der richtige Zeitpunkt für einen solchen Übertritt? Wenn die Schiffe sich näherten? Nachdem die Truppen gelandet waren? Konnte und sollte er tatsächlich versuchen, Hurst Castle zu besetzen?
»Gut gemacht, Nicholas Pride«, rief er aus, als der junge Mann geschickt mit dem Schwert parierte und zustieß. »Wir Engländer werden den Spaniern zeigen, was eine Harke ist.«
Am späten Nachmittag wurde es Zeit für die Parade im Dorf. Die Männer stellten sich in einer Zweierreihe auf – Albion ließ Nick ganz vorne marschieren, weil er eine Rüstung trug. Dann stießen die Männer drei Jubelrufe aus, um ihr Kommen anzukündigen, und schickten einen Jungen los, der nachsehen sollte, ob auch alle versammelt waren. Nick hätte gern eine Trommel gehabt, um den Takt zu schlagen, doch so etwas gab es hier nicht. Im Gänsemarsch ging es zwischen den Bäumen dahin zum Dorfanger, wo wirklich das ganze Dorf wartete. Auch Jane war gekommen, sie trug ein rotes Tuch um die Schultern. Als die Männer die Mitte des nur dreißig Meter langen Dorfangers erreicht hatten, nahmen sie ihre Positionen ein und begannen mit ihrer Vorführung.
Es war ein Ehrfurcht gebietender Anblick. Die Männer mit den langen Spießen standen in einer Reihe, hoben und senkten gleichzeitig die Waffen und stießen zu, sodass man sich kaum vorstellen konnte, wie ein Spanier diese bedrohliche Phalanx durchbrechen wollte. Dann wurden Zielscheiben aufgebaut. Doch die größte Sensation war, als Nick Pride und Albion selbst die Schwerter zückten und einen Schaukampf zum Besten gaben. Hin und her ging es über den Dorfanger, und es wurden kunstvolle Finten dargeboten, wie Minstead sie gewiss nie zuvor bewundert hatte. Schließlich ließ Albion, der die Rolle des Spaniers spielte, Nick gewinnen. Jubel und Gelächter der Zuschauer hallten über den Dorfanger, und Jane sah lächelnd zu, als Nick das Schwert hoch in die Luft hob. Die Sonne funkelte auf seiner Rüstung, wie er es gehofft hatte. Denn nun war der Augenblick gekommen. Er marschierte über den Dorfanger auf Jane zu, blieb vor ihr stehen, stieß sein Schwert in den Boden – sie wirkte ein wenig verdattert – und fiel auf die Knie. Während sie ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrte, fragte er: »Jane Furzey, willst du mich heiraten?« Sie errötete, und eine Stimme rief: »Das ist ein gutes Angebot, Jane.« Die anderen Umstehenden stimmten ein, und dann lauschten alle aufmerksam.
Er befürchtete schon, sie könne Nein sagen, weil sie sich überrumpelt fühlte. Also blickte er ihr geradewegs in die Augen, damit sie bemerkte, dass er sie wirklich liebte. Wahrscheinlich war seine Miene auch ein wenig ängstlich, und das verfehlte seine Wirkung nicht. Denn nach einer Weile – die sie vermutlich nur der Form halber verstreichen ließ – erwiderte sie: »Nun, das könnte durchaus sein.«
Alle jubelten.
»Dann nenn mir den Tag!«, rief er aus.
Doch nun war sie an der Reihe, ihn in die Schranken zu weisen. Sie schürzte die Lippen, sah sich um, warf Albion einen Blick zu und fing an zu lachen. »Wenn du gegen einen richtigen Spanier gekämpft hast, Nick Pride, vorher nicht«, entgegnete sie.
Albion sagte ihr, das sei eine sehr gute Antwort gewesen.
Am folgenden Morgen machte Jane Furzey sich zu Fuß auf den Weg nach Burley. Sie ging nur selten dorthin, doch ihre Mutter hatte gehört, dass es dort eine Frau gab, die Spitze klöppelte. Jane sollte sich erkundigen, ob diese Frau vielleicht Arbeit für eine ihrer jüngeren Schwestern hatte. Also zog Jane mit Jack, ihrem kleinen Hund, los.
Es war ein sonniger Morgen. An der Rufuseiche vorbei marschierte Jane eine Weile nach Westen und quer über die große Heide und nahm den Weg durch den Wald nach Burley.
Jack war in seinem Element. Er verfolgte eine Amsel, die gerade nach einem Wurm pickte, und wälzte sich in schlammigen Bächen und Laubhaufen. Drei Eichhörnchen hatten – seiner Ansicht nach – Glück, mit dem Leben davonzukommen. Als sie sich Burley näherten, war sein braunweißes Fell so sehr mit Schlamm verschmiert, dass Jane sich seinetwegen schämte. Sie wollte nicht, dass die Spitzenklöpplerin ihren Hund in diesem Zustand sah. »Du solltest besser baden«, meinte sie zu ihm.
Von Minstead aus gab es verschiedene Wege nach Burley. Doch der bequemste und trockenste führte von Osten heran. Hier floss ein klares Bächlein in einem Kiesbett. Zu beiden Ufern erstreckten sich – einige hundert Meter breit und fast drei Kilometer lang – üppig grüne Wiesen mit kurzem Gras.
Es war eine der größten Wiesen im New Forest. Der Boden war zum Großteil trocken und fest. Rinder und Ponys weideten hier. Die Wiese reichte bis zum Rand des Dorfes. Dieser Teil wurde Burley Lawn genannt. Doch ein paar hundert Meter weiter östlich stand schon seit einigen Generationen eine kleine Mühle, weshalb dieser Teil Mill Lawn hieß.
Nachdem Jane den sich sträubenden Jack im Bach gewaschen hatte, ließ sie ihn über das kurze Gras von Mill Lawn tollen. Ab und zu jagte er aus reinem Übermut einem Pony nach, doch als sie die Mühle passiert hatten und Burley Lawn erreichten, war er noch immer sauber. Da der Boden hier moorig war, befahl sie ihm, neben ihr auf dem trockenen Pfad zu bleiben. Und so setzte sie fröhlich ihren Weg fort, doch sie dachte nicht daran, dass jetzt noch etwas dazwischenkommen konnte. Hin und wieder wuchsen Gruppen kleiner Bäume und Ginsterbüsche auf der Wiese. Der Wald links und rechts mit seinen jungen Eichen und Haselsträuchern schien näher zu rücken. Sie passierten eine kleine, verkrüppelte Esche mit dunkler Rinde.
Und da sah Jack die Katze, ihr Fell war schwarzweiß gezeichnet.
Auch Jane hatte sie bemerkt, allerdings einen Moment zu spät. »Jack!«, rief sie, doch vergeblich. Wie der Blitz war er verschwunden, ohne dass sie ihn hätte aufhalten können. Kläffend und fauchend rasten die beiden Tiere an ihr vorbei. Jane beobachtete, wie die Katze hochsprang. Jack platschte mitten durch eine Schlammpfütze, und Jane musste hilflos mitansehen, wie der schmutzige, tropfnasse Hund sich durch das Gebüsch davonmachte. Zu ihrem Erstaunen flüchtete die Katze nicht auf einen Baum, hatte aber offenbar ein anderes Versteck im Sinn, denn sie hörte, dass Jack ihr noch immer unter wütendem Gebell auf den Fersen war. Plötzlich herrschte Schweigen.
Jane wartete ab und rief dann nach ihm. Nichts rührte sich. Kein Geräusch weit und breit. Hatte sich die Katze endlich aus dem Staub gemacht? Doch in diesem Fall hätte Jack sicherlich gebellt. Also wartete Jane noch eine Weile und ging dann mit einem Seufzen in die Richtung, in die die beiden Tiere verschwunden waren.
Nach etwa fünfzig Metern stieß sie auf eine Kate zwischen den Bäumen. Es war eine typische Waldhütte mit weißen Wänden und einem strohgedeckten Dach, allerdings ein wenig besser ausgestattet, denn ein Windloch dicht unter dem Giebel wies darauf hin, dass sich oben mindestens ein weiterer Raum befand. Auf der Lichtung ringsum sah sie einen kleinen Hof und einige Nebengebäude. Von der Katze und Jack war nichts zu sehen. Jane fragte sich schon, ob sie vielleicht in eine andere Richtung gelaufen waren, als sie den Hund bellen hörte. Das Geräusch kam eindeutig aus dem Inneren der Hütte.
Sie ging zur Tür, stellte fest, dass diese einen Spalt weit offen stand, und klopfte. Keine Antwort. Sie versuchte, sich bemerkbar zu machen. Gewiss war jemand zu Hause. Doch wieder nichts. Dann rief sie nach Jack und hörte erneut sein Bellen irgendwo aus dem Haus. Aber er erschien nicht. Ob er wohl irgendwo eingeschlossen war? Immer noch zögerte sie, weil sie nicht uneingeladen ein fremdes Haus betreten wollte. Andererseits befürchtete sie, ihr Hund könne drinnen Schaden anrichten.
Schließlich öffnete sie die Tür und trat ein.
Es war eine Hütte wie viele andere. Die Tür führte in eine Stube mit niederer Decke, an deren einem Ende sich ein Herd mit darüber hängenden Kochtöpfen befand. In der anderen Ecke standen ein blank geschrubbter Tisch, ein paar Bänke und ein Möbelstück, bei dem es sich offenbar um ein Kinderbett handelte. Rechts hinter einer Tür, die sie nicht aufmachen wollte, lag ein weiterer Raum. Geradeaus gelangte man über eine schmale Treppe, kaum mehr als eine Leiter, ins Speichergeschoss.
»Jack?«, rief sie leise. »Jack?« Sie hörte ein gedämpftes Bellen, das von oben kam. »Jack«, rief sie wieder. »Komm runter.« Hielt jemand den Hund oben fest? Sie sah nach, ob sie von draußen beobachtet wurde. Aber es war kein Mensch in Sicht. Also stieg sie die Treppe hinauf.
Oben befanden sich zwei Zimmer. Links war ein offener Speicher, rechts eine Eichentür, die offenbar zugefallen war und die sie langsam öffnete.
Das Zimmer war klein. Links drang durch ein niedriges Windloch in Kniehöhe Licht herein. Rechts von ihr stand eine alte Truhe an der Wand, auf der die Katze es sich bequem gemacht hatte. Das Tier starrte Jane an, als habe es sie erwartet. Doch noch sonderbarer war der Anblick, der sich ihr mitten im Raum bot.
Der Großteil der Wand wurde von einem Eichenbett mit vier Pfosten eingenommen. Darüber befand sich ein schlichter Betthimmel aus Stoff, der fast das schräge Strohdach berührte. Es war kein großes Bett, vermutlich von vornherein für dieses Zimmer und für zwei nicht sehr hoch gewachsene Menschen gebaut. Das dunkle Eichenholz schimmerte fast schwarz und war mit Schnitzereien verziert. Noch nie hatte Jane eine so kunstvolle Arbeit gesehen: Hirschköpfe, fratzenähnliche menschliche Gesichter, Schlangen, Eichhörnchen blickten ihr von den vier dunklen, glänzenden Bettpfosten entgegen, die auch noch mit den Darstellungen von Eicheln, Pilzen und Blättern verziert waren. Und plötzlich fiel ihr ein, dass man ihr ein solches Bett schon einmal beschrieben hatte. »Das muss Puckles Haus sein«, murmelte sie.
Das Bett war mit einer schlichten leinenen Überdecke versehen, auf der Jack saß. Überall waren deutlich die schwarzen Abdrücke seiner Pfoten zu erkennen. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und machte keine Anstalten herunterzukommen oder die Katze zu jagen. Offenbar erwartete er, dass Jane sich an seine Seite setzte.
»Oh, Jack. Was hast du bloß angestellt? Sofort runter vom Bett!«, rief sie und wollte ihn herunterzerren. Als er sich wehrte, begann sie ihn auszuschimpfen und ihn fester zu packen. Plötzlich hörte sie hinter sich eine raue Stimme. Mit einem Aufschrei fuhr sie herum.
»Offenbar gefällt es ihm hier.«
Puckle stand in der schmalen Tür. Jane erkannte ihn auf Anhieb. Sein schwarzer Bart war noch immer kurz gestutzt, aber damals war ihr gar nicht aufgefallen, wie hell seine Augen funkelten. Er beobachtete sie, ohne sich von der Stelle zu rühren.
»Oh«, keuchte sie erschrocken und errötete. »Er ist Eurer Katze nachgelaufen.«
»Ja.« Puckle nickte langsam. »Es macht ganz den Anschein.« Etwas an seiner Art sagte ihr, dass er das nicht für die ganze Wahrheit hielt.
»Er hat alles schmutzig gemacht.« Sie wies auf die Decke. »Es tut mir wirklich Leid.«
»Das ist nicht weiter schlimm.«
Sie starrte ihn an. Offenbar hatte er draußen im Wald gearbeitet. Auf dem schwarzen Brusthaar, das ihm aus dem offenen Kragen quoll, erkannte sie kleine Schweißtropfen. Als sie ihn im Spätsommer gesehen hatte, draußen bei Hurst Castle, hatte er sie an eine Eiche erinnert. Nun – wie bei einer Schlange, die sich häutet, oder bei einem Baum, der neue, frischgrüne Blätter treibt – wirkte seine Haut auf einmal viel heller. Sie musste an einen schlauen, hübschen Fuchs denken.
»Ich werde die Decke waschen«, meinte sie.
Er antwortete nicht und sah den Hund an, der den Blick mit einem fröhlichen Schwanzwedeln erwiderte.
»Habt Ihr das alles selbst geschnitzt?« Sie deutete auf das Bett.
»Ja. Gefällt es Euch?«
Wieder betrachtete sie die seltsamen dunklen Fratzen und die knorrigen, geschwungenen Ornamente. Sie wusste nicht, ob sie diese schön oder abstoßend finden sollte, doch sie waren zweifellos mit großer Kunst geschnitzt. »Wundervoll«, stieß sie hervor. An Stelle einer Antwort nickte er ruhig, sodass sie nach einer kurzen Pause hinzufügte: »Eure Frau hat mir von dem Bett erzählt.«
»Hat sie das?«
»Im letzten September bei Hurst Castle. Damals hattet ihr gerade Holzkohle ausgeliefert.«
»Stimmt.«
»Ist Eure Frau hier?«, fragte Jane. Sie war nicht sicher, ob sie die seltsame Frau wieder sehen wollte.
»Sie ist gestorben. In diesem Winter.«
»Oh. Das tut mir Leid.« Jane fehlten die Worte. Sie starrte Jack und die völlig verschmutzte Bettdecke an. Dann griff sie nach ihrem Hund. »Soll ich die Decke mitnehmen und waschen?«
»Das lässt sich ausbürsten«, erwiderte er.
Jane hatte ein so schlechtes Gewissen, dieses Waldhaus betreten zu haben, dass sie sich unbedingt nützlich machen wollte. »Darf ich sie mitnehmen?«, fragte sie. »Ich werde sie Euch sauber zurückbringen.«
»Wie Ihr wollt.«
Also nahm Jane die Decke vom Bett, schüttelte die Kissen ordentlich aus, strich alles glatt und machte sich mit Jack auf den Heimweg. Inzwischen hatten sich ihre Schuldgefühle ein wenig gelegt.
Die Eiche bekam im Frühling nur langsam Blätter. Mitten im Winter auf wundersame Weise ergrünt, war sie wie ihre übrigen Artgenossen wieder im Winterschlaf versunken. Das Weihnachtslaub war erfroren und abgefallen, und die Äste des Baumes waren für den Rest der kalten Jahreszeit kahl und grau geblieben. Doch im März stiegen wieder die Säfte. Allerdings grünten die Eichen im Wald nicht alle gleichzeitig, sodass die Kronen zu Frühlingsanfang ein sehr unterschiedliches Bild boten – von geschlossenen braunen Knospen bis hin zu zartgrünen Blättern und kräftigem, raschelndem Laub.
Die Eiche bot für die verschiedensten Arten Lebensraum. Im Frühling lockten die Früchte des Efeus hungrige Amseln an. Unten am Stamm hatten die Hirsche im Winter die Efeublätter abgefressen und damit den Flechten Platz gemacht. Einige waren bereits gelb, und andere, die Algen mit grünem Chlorophyll enthielten, bekamen graugrüne Bärte. Besonders beeindruckend wirkten die großen, pelzigen Flechten, die aus dem Stamm wuchsen und als »Lungen der Eiche« bezeichnet werden. Kaum hatten sich die Knospen der Eiche geöffnet, da kam schon der grüngoldene und scharlachrote Eichelhäher durch den Wald geflogen und suchte sich eine Höhle hoch oben auf einem absterbenden Ast, um dort sein Nest zu bauen. Buchfinken mit grauen Köpfen und rosafarbener Brust zwitscherten in den Zweigen. Wenn im April alle Bäume grün waren und die Zugvögel aus den wärmeren Regionen zurückkehrten, hallte der Ruf des Kuckucks durch den Wald. Überall schossen die steifen Halme des Farns aus dem Boden, und seine eng zusammengerollten Wedel öffneten sich. Der Ginster stand in leuchtend gelber Blüte. Die Schlehenbüsche blühten dicht und weiß.
Und während sich die Blätter entfalteten, stand die Eiche vor der langwierigen Aufgabe, ihren Samen zu verbreiten. Die mächtige Eiche erzeugt, wenn sie im Frühling erblüht, männliche und weibliche Samen. Der männliche Pollen, der vom Wind verweht werden muss, hängt in Fäden herab und ähnelt goldenen Weidenkätzchen mit winzigen Blüten, sodass die Eiche im Frühling gleichsam mit einem gelblichen Flaum bedeckt ist.
Die weiblichen Blüten, die, wenn sie befruchtet werden, zu Eicheln heranwachsen, sind weniger gut zu sehen. Sie erinnern an winzige, halb geöffnete Knospen, die bei näherer Betrachtung drei winzige, rote Stempel preisgeben, welche den vorbeiwehenden Pollen auffangen.
Gegen Ende April war die grün belaubte Eiche bereit, ihren Samen auszustreuen. Sie war nun mit goldenen Fäden bedeckt wie eine Sagengestalt aus der Zeit, als die Götter in den Eichenhainen mit den Menschen ihre Scherze trieben. Der Pollen konnte über weite Entfernungen über das Blätterdach hinweg getragen werden und mischte sich unterwegs mit dem Pollen Hunderter anderer Eichen. So pflanzte sich die Eiche gemeinschaftlich mit unzähligen Artgenossen fort, die eine weit verzweigte Familie bildeten.
Am ersten Mai war in Minstead der Maibaum aufgestellt worden. Der Vikar, der so klug war, solche harmlosen heidnischen Bräuche zu gestatten, veranstaltete ein kleines Fest auf dem Dorfanger. Auch die Einwohner von Brook waren eingeladen.
Die Kinder hatten um den Maibaum getanzt, und die Erwachsenen hatten kräftig gezecht. Als die Feier zu Ende war, begleitete Nick Pride seine Verlobte nach Hause.
Sie gingen den Hügel oberhalb von Minstead hinauf und schlenderten gemächlich den Pfad entlang, der an der Rufuseiche vorbeiführte.
Seit ihrem seltsamen Erlebnis in Burley war fast eine Woche verstrichen, aber Jane hatte noch keine Möglichkeit gehabt, Puckle die Decke zurückzugeben. Denn es hatte ununterbrochen geregnet. Heute jedoch hatte die Sonne von einem fast wolkenlosen Himmel geschienen. Auch jetzt am Abend war es noch angenehm warm. Zufrieden spazierte Jane neben Nick her.
Nick fand nichts dabei, unter dem Rufusbaum stehen zu bleiben und sie zu küssen.
Als ihre Lippen und Zungen einander erkundeten, schien die Zeit im Schutz des ausladenden Baumes still zu stehen. Der türkisfarbene Himmel jenseits der Lichtung verfärbte sich orange. Nick umfasste Jane und drückte sie fest an sich. Seine Leidenschaft wuchs, er wollte sie ganz und gar besitzen. »Jetzt«, murmelte er. Schließlich waren sie verlobt. Sie würden heiraten. Das Verbot galt nicht mehr. Und die Natur sagte seinem Körper in diesem Augenblick nur eines: »Jetzt.«
Sie wich zurück. »Nein, das geht nicht.«
Wieder nahm Nick sie in die Arme. »Doch, Jane.«
»Nein.« Sanft, aber mit Nachdruck schob sie ihn weg und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
Er bebte vor Begierde. »Jane, bitte.« Aber sie wandte sich ab, und er stand vor Erregung keuchend hilflos da. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sie hier und jetzt mit Gewalt zu nehmen. War sie wirklich so fest entschlossen, sich ihm erst nach der Hochzeit hinzugeben? Vielleicht hatte sie ja auch nur gemeint, dass sie ihre Regel hatte. Er war ratlos. »Wie du meinst«, sagte er schließlich mit einem Seufzer der Resignation, legte zärtlich den Arm um ihre Schulter und brachte sie nach Hause.
Unterwegs sagte sie kaum ein Wort. Wie hätte sie ihm auch erklären können, was sie wirklich bewegte? Sie begriff es ja selbst nicht ganz. Sie spürte nur, dass an diesem warmen Maiabend etwas zwischen sie getreten war, trotz allem, was sie für ihn empfand, wenn er sie fest an sich drückte. Plötzlich hatte sich eine unsichtbare Mauer erhoben, die verhinderte, dass sie sich ihm hingeben konnte. War es die Angst, weil sie noch Jungfrau war? War es die Furcht, ihre Freiheit zu verlieren? Sie wusste es nicht. Doch die Frage wollte ihr nicht aus dem Sinn. Er war der Mann, den sie heiraten wollte, und auf einmal begehrte sie ihn nicht mehr. Was hatte das zu bedeuten?
Während Nick und Jane den Maibaum am Dorfanger verließen, gab sich Clement Albion viereinhalb Kilometer entfernt der Lieblingsbeschäftigung aller pflichtbewussten Männer hin. Er redete sich ein, dass er kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte. »Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand«, murmelte er vor sich hin. »Gott ist mein Zeuge.«
Die Kampfbereitschaft seiner Miliz ließ sich wohl nicht mehr steigern. Die Signalfeuer waren aufgebaut. Aber selbst die berüchtigten Spione des Rates konnten nicht mit Sicherheit sagen, wann die große spanische Eroberungsflotte eintreffen würde. Leute wie Gorges, die angeblich gut im Bilde waren, meinten jedoch, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Hatte er, Clement Albion, sich etwas vorzuwerfen? Wenn er morgen vor den Rat zitiert und gefragt werden würde, ob er ein treuer Gefolgsmann der Königin sei, würde er dann Cecil in die Augen sehen und bejahen können?
»Mein Gewissen ist rein.« Niemand hörte zu. Er versuchte es noch einmal. »Ihre Majestät hat keinen Grund, sich über mich zu beklagen. Ich habe sie nie belogen. Niemals.«
Nun, das war fast die Wahrheit. Denn Albion legte die Pflichten seiner Arbeit recht eigenwillig aus. Als Waldhüter, der die Bäume im Wald ihrer Majestät überwachte, erhielt er ein Gehalt und wertvolle Privilegien. Zum Beispiel gehörte die Rinde gefällter Eichen ihm. Er ließ sie mit Wagen nach Fordingbridge bringen, wo die Gerber ihn gut für diesen wichtigen Rohstoff bezahlten, den sie zur Herstellung von Leder brauchten. Außerdem bezog er Pachtzinsen.
Die Einfriedung, vor der er jetzt stand, war ein gepflegtes, zwölf Hektar großes Waldstück unweit von Knightwood an einem Weg, der vom westlichen Lyndhurst hierherführte. Der Erdwall und der stabile Zaun waren in gutem Zustand. Es oblag dem Waldhüter, diese Einfriedung für die üblichen einunddreißig Jahre zu verpachten, und das hatte er auch getan – nämlich an sich selbst. Nach den Pachtbedingungen durfte er das Unterholz verkaufen, das zum Großteil aus Dornengestrüpp und Haselbüschen bestand. Gleichzeitig jedoch war er verpflichtet, das kostbare Bauholz zu pflegen und mindestens zwölf junge Bäume pro halben Hektar stehen zu lassen. Also hätte Albions Einfriedung bei Beginn der Pacht mindestens dreihundertsechzig Bäume enthalten müssen, und so war es auch gewesen. Doch auf wundersame Weise waren hundertfünfzig davon verschwunden, sodass nur noch zweihundertzehn übrig blieben. Der Gewinn aus dem Verkauf dieses Holzes hatte ein nicht zu verachtendes Zubrot dargestellt.
Eigentlich war es die Aufgabe eines Waldhüters Ihrer Majestät, derartige Vergehen aufzuspüren, zu melden und für die Bestrafung des Pächters zu sorgen. Doch da er selbst der Waldhüter war, war ihm dieser Gesetzesverstoß gänzlich entgangen.
Noch schwerer wog die Straftat, die sich vor nicht allzu langer Zeit während des Verkaufs einer viel größeren Einfriedung ereignet hatte. Albion selbst hatte – im Auftrag der Krone – das Geschäft in die Wege geleitet und das Geld der Schatzkammer Ihrer Majestät übergeben. Auch eine große Menge Unterholz war veräußert worden, die Transaktion war säuberlich in einem schriftlichen Vertrag festgehalten. Allerdings fehlte in dem Dokument der Hinweis darauf, dass es sich dabei in Wirklichkeit um Bauholz von viel höherem Wert gehandelt hatte. Die Differenz zwischen tatsächlichem und offiziellem Kaufpreis war in Albions Tasche geflossen.
Natürlich bestand die Gefahr, dass die königlichen Inspektoren bei ihrem nächsten Besuch im New Forest – ein solcher fand alle paar Jahre statt – den Betrug aufdecken würden. Andererseits gehörte Albion selbst zu diesem erlauchten Kreis, weshalb er es für äußerst unwahrscheinlich hielt, dass dieser Betrug aufflog.
Seit seinem Gespräch mit Helena Gorges bei Hurst Castle vor einigen Monaten fühlte Albion sich nicht wohl in seiner Haut. Als Waldhüter ein ruhiges Leben zu führen war eine schöne Sache. Doch was würde geschehen, wenn der Rat Schritte gegen ihn einleitete? Oder falls die Nachbarn erfuhren, dass er unter Verdacht stand? Womöglich erschienen gar Cecils Leute im New Forest, um ihm etwas am Zeug zu flicken – und dann würden seine Unregelmäßigkeiten vielleicht ans Licht kommen. Auch wenn man ihm keinen Hochverrat nachweisen konnte, Schande und finanzieller Ruin wären unweigerlich die Folge.
Doch Winter und Frühjahr waren ereignislos verstrichen. Inzwischen war es Mai. Wie jeder aufrechte Mann, der glaubt, dass man ihm nie auf die Schliche kommen wird, hatte Albion ein reines Gewissen. Obwohl die Sonne bereits rotgolden im Westen unterging, leuchtete der weite Himmel über dem New Forest noch blau. Schmale Wolkenfetzen schimmerten rosafarben und silbern, als Albion nach Süden, vorbei an Brockenhurst, ritt. Er wollte den kleinen Fluss, der durch die Mitte des New Forest verläuft, an der ruhigen Furt überqueren, unterhalb derer sein Haus stand. Ein wenig beruhigt setzte er seinen Weg fort.
Deshalb war er nicht wenig erstaunt, als er an der Furt zwei Kutschen bemerkte. Die eine war mit kostbaren Vorhängen versehen, die andere ächzte unter einer riesigen Last von Truhen und verschiedenen Möbelstücken. Die beiden Gefährte überquerten vor ihm den Fluss. Das Haus der Albions, ein Landsitz mit Holzgiebeln, stand in einer Lichtung etwa anderthalb Kilometer von der östlichen Seite der Furt entfernt. Entweder wollte die kleine Karawane dorthin oder hinauf zur Heide von Beaulieu, was unwahrscheinlich war, da es allmählich dunkel wurde.
Albion wandte sich nach Süden und folgte ihnen. Aber die zweite Kutsche war so breit, dass er sie nicht überholen konnte. Und er erkannte überrascht, dass die erste in den Weg einbog, der zu seinem Haus führte, und vor der Tür zum Stehen kam. Die Dienstboten traten heraus, und der Bursche zog schon den Vorhang der Kutsche zurück, damit der Fahrgast aussteigen konnte, als Albion endlich hereinpreschte.
Die Gestalt, die das Gefährt verließ, war ganz in Schwarz gekleidet. Nur das Futter ihres Gewandes war purpurrot. Ihr Gesicht war mit einer dicken, geisterhaft weißen Puderschicht bedeckt.
»Mein Gott!«, rief Albion verdattert aus. »Mutter, was willst du denn hier?«
Sie lächelte ihn strahlend an, doch ihre Augen funkelten so aufmerksam wie die eines Vogels, der einem Wurm nachspürt. »Ich habe Neuigkeiten, Clement«, sagte sie. Und als sie ihn kurz darauf in die unvermeidliche Umarmung schloss, näherten sich ihre roten Lippen seinem Ohr. »Ein Brief von deiner Schwester«, flüsterte sie verschwörerisch. »Die Spanier kommen. Und ich bin hier, damit wir sie gemeinsam begrüßen können, mein liebster Sohn.«
Der Mai verstrich, und auch der Juni war schon zu einem Großteil vorüber. Aber die spanische Flotte – Armada genannt – war noch nicht erschienen. Das Wetter war für diese Jahreszeit ungewöhnlich. Ab und zu waren über dem New Forest ein blauer Himmel und die Sommersonne zu sehen, doch immer wieder ballten sich dunkle Wolken zusammen, und ein Sturm aus Südwesten brachte Regen oder Hagel. Einen solchen Sommer hatte es schon seit Jahren nicht mehr gegeben. Später im Juni hieß es, der Sturm habe die spanische Flotte gezwungen, sich auf verschiedene Häfen zu verteilen. »Drake wird sie sich vorknöpfen«, sagten die Leute. Aber obwohl Sir Francis Drake den Rat drängte, ihn endlich in See stechen zu lassen, zögerte die Königin. Denn sie war sicher, dass Englands beliebtester Freibeuter nach seinem erfolgreichen Angriff auf den Feind gewiss die Jagd auf Beute der Pflichterfüllung vorziehen würde. Schließlich liebte der große Entdecker und Patriot das Geld auch weiterhin mehr als alles andere.
Als Jane die Mill Lawn entlangging, hatte sie ein ziemlich schlechtes Gewissen. War es wirklich nötig gewesen, bis zu diesem Besuch in Burley zwei Monate verstreichen zu lassen? Doch wegen des Wetters und der vielen Erledigungen hatte sie, wie sie sich sagte, beim besten Willen keine Zeit gehabt, Puckle seine Decke zurückzubringen. Wenn sie Glück hatte, war er vielleicht gar nicht da. Dann konnte sie die Decke hinterlegen und sich sofort auf den Heimweg machen.
Heute war das Wetter schön. Der Ginster war bereits verblüht, doch auf dem kurzen Gras leuchteten Gänseblümchen, weißer Klee, Butterblumen und Habichtskraut. Die winzigen Veilchen reckten ihre lilafarbenen Köpfe aus dem Boden, und an den Ufern des Bächleins, das über die Wiese floss, ragten blaue Vergissmeinnicht zwischen den Kräutern hervor.
Kurz vor der Mittagszeit erreichte Jane die strohgedeckte Hütte. Puckle war nicht da, dafür aber seine drei Kinder. Das älteste war ein etwa zehnjähriges Mädchen, das offenbar zu schnell gewachsen war, denn es war klapperdürr. Die Kleine hatte dunkles Haar und wirkte sehr ernst. Offenbar hatte man ihr die Aufsicht über die jüngeren Geschwister übertragen. Ein kleines, ebenfalls dunkelhaariges Mädchen spielte vor der Hütte im Gras.
Doch es war der Jüngste, der Janes Aufmerksamkeit erregte. Er war ein pummeliger, fröhlicher Junge von drei Jahren. Offenbar hatte er mit einem Holzpferd gespielt, das sicher sein Vater für ihn geschnitzt hatte. Doch bei Janes Anblick lief er vergnügt auf sie zu. Ein breites Lächeln stand auf seinem runden Gesicht, und seine leuchtenden Augen blickten vertrauensvoll. Anscheinend war er sicher, dass sie sich mit ihm befassen würde. Er nahm Janes Hand und sagte: »Ich bin Tom. Spielst du mit mir?«
»Sehr gerne«, erwiderte sie, aber zuerst erklärte sie dem älteren Mädchen die Sache mit der Decke.
Das Kind war zunächst ein wenig argwöhnisch, doch nachdem es die Decke begutachtet hatte, nickte es. »Mein Vater hat gesagt, jemand würde sie bringen«, meinte sie. »Doch das ist schon lange her.« Da Puckle anscheinend nicht so bald zurückerwartet wurde, knüpfte Jane ein Gespräch mit dem Mädchen an, das, wie sie an seinem Betragen und seinen Worten bald erkannte, offenbar die Mutterrolle in der Familie übernommen hatte, obwohl es doch selbst noch eine Mutter gebraucht hätte.
Tom war ein reizender kleiner Knirps. Er holte einen Ball, gab ihn Jane und freute sich mächtig, als diese ihm seinen Wunsch erfüllte und ihm den Ball zuwarf. So ein hübscher kleiner Junge, überlegte sie. Wie gern hätte ich auch so einen. Doch da sie Puckle nicht begegnen wollte, beschloss sie zu gehen.
»Am besten lege ich das auf das Bett deines Vaters«, meinte sie und griff nach der Überdecke. Obwohl das Kind ihr versicherte, dass das nicht nötig sei, beharrte sie darauf und ging allein hinauf in das Zimmer, wo neben dem niedrigen Fenster das Eichenbett stand.
Da war es, dunkel, fast schwarz und schimmernd. Es war ein wirklich seltsames Möbel, genauso eigenartig, wie sie es in Erinnerung hatte. Die hölzernen Gesichter, wie Wasserspeier, starrten sie an, wie um sie als Freundin willkommen zu heißen. Unwillkürlich strich sie mit der Hand über einige der geschnitzten Figuren – das Eichhörnchen, die Schlange. Sie waren so vollendet geformt, dass sie zu leben schienen, und ihr war, als würden sie sich jeden Moment bewegen. Jane wurde ein wenig ängstlich zu Mute, und um sich zu beruhigen, umfasste sie fest das knorrige Eichenholz. Es war doch nur Holz, weiter nichts. Und doch wurde ihr für einen Augenblick schwindlig.
Sorgfältig breitete sie die Überdecke aus, richtete das Bett und trat dann einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. Hier hatte Puckle mit seiner Gattin gelegen. »Er kann eine Frau glücklich machen!« Die Worte dieser seltsamen Frau fielen ihr wieder ein. »Wer mit John Puckle in diesem Bett liegt, will kein anderes Bett mehr.« Jane sah sich im Zimmer um. Auf der Truhe, wo bei ihrem ersten Besuch die Katze gesessen hatte, lag ein Leinenhemd von Puckle. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie beobachtete, ging sie hinüber und nahm das Hemd. Er hat es getragen, aber nicht oft, dachte sie. Es roch nur leicht nach Schweiß, eher nach Holzrauch. Ein angenehmer Geruch. Ein wenig salzig. Vorsichtig legte sie das Hemd an seinen Platz zurück.
Wieder sah sie das Bett an. Es schien ihren Blick auf merkwürdige Weise zu erwidern, so als wären Puckle und das Möbelstück eins gewesen. Und in gewisser Hinsicht stimmte das auch, denn er hatte so viel von sich selbst in diese Schnitzereien gelegt. Puckle in Eiche, dachte sie lächelnd und kicherte dann in sich hinein. Wenn Seele und Körper dieses Mannes derart viel Kraft und Ideenreichtum enthielten, dann war es kein Wunder, dass seine Frau nur Gutes über ihn zu sagen gehabt hatte. Aber warum hatte sie es ihr, Jane, anvertraut?
Nach einem letzten Blick auf das schimmernde Bett wandte sie sich um, stieg die Treppe hinunter und trat aus der Hütte in den Sonnenschein. Als sie gerade auf der Schwelle stand, hörte sie den kleinen Jungen freudig rufen. Und während sie ins helle Licht blinzelte, erkannte sie den Mann, der nun seinen Sohn in die Arme nahm.
Puckle war schwarz, so schwarz wie die hölzernen Gesichter auf seinem Bett. Er drehte sich um, sah sie und starrte sie an, und sie spürte, wie sie unwillkürlich erschauderte. Natürlich wusste sie, woher seine Gesichtsfarbe rührte: Er hatte einen seiner Kohlenmeiler versorgt und war nun über und über mit Asche bedeckt. Doch dass er so sehr den seltsamen Teufelsfratzen auf dem Bett ähnelte, war ihr unheimlich.
»Bring mir Wasser«, sagte er zu dem Mädchen, das sofort mit einem hölzernen Eimer zurückkehrte. Er bückte sich, goss sich rasch Wasser über Gesicht und Haar und wusch sich dann die Arme. Er richtete sich wieder auf. Sein Gesicht war nun sauber, das Wasser tropfte ihm aus dem Haar. Er lachte.
»Erkennt Ihr mich jetzt?«, fragte er Jane, die ebenfalls lachte und nickte. »Seid Ihr Tom schon vorgestellt worden?«, erkundigte er sich.
»Ich habe Ball mit ihm gespielt.« Sie lächelte.
»Bleibt Ihr noch eine Weile?«, fragte er gut gelaunt.
»Nein. Nein, ich muss nach Hause.« Sie schickte sich zum Gehen an, stellte aber zu ihrem Erstaunen fest, dass sie lieber geblieben wäre. »Ich muss nach Hause«, wiederholte sie verwirrt.
»Ah.« Er kam näher und nahm sie am Ellenbogen. Sie bemerkte die dichten Haare an seinem kräftigen Unterarm. »Die Kinder mögen Euch«, meinte er leise.
»Oh. Woher wisst Ihr das?«
»Ich weiß es eben.« Er lächelte. »Schön, dass Ihr gekommen seid«, sagte er freundlich.
Sie nickte, denn ihr fehlten die richtigen Worte. Durch seine Berührung war eine Art von Vertrautheit entstanden. Sie spürte, wie seine Kraft zu ihr hinüberfloss; ihr wurden die Knie weich. »Ich muss nach Hause«, stammelte sie.
Seine Hand lag immer noch auf ihrem Arm.
»Kommt, setzt Euch.« Er wies auf eine Bank neben der Tür.
Also saß sie mit ihm in der Sonne, plauderte und spielte mit den Kindern. Eine Stunde später machte sie sich auf den Heimweg.
»Ihr müsst wiederkommen und die Kinder besuchen«, meinte er. Und sie versprach es ihm.
Inzwischen ritt Albion sehr oft in den New Forest, einfach nur, um allein zu sein. Die letzten beiden Monate waren nicht leicht gewesen.
Möglicherweise fassten die Worte seiner Frau es am besten zusammen: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die spanische Invasion für uns einen großen Unterschied bedeuten wird, Clement«, meinte sie Ende Mai. »Dieses Haus ist sowieso schon unter Besatzung.«
Seine Mutter und ihre Besatzungsarmee schienen allgegenwärtig zu sein. Stets drängten sich mindestens drei ihrer Diener in der Küche. Schon nach zwei Wochen hatte ihr Bursche die junge Zofe seiner Frau verführt. Während der Mahlzeiten und der Familiengebete morgens, mittags und abends erfüllte die bedrückende Gegenwart seiner Mutter das Haus.
Warum war sie hier? Albion hatte keinen Zweifel an ihren Gründen. Sie wollte sicherstellen, dass er seine Pflicht tat, wenn die Armada kam.
Drei Wochen lang litt seine Frau nun schon Höllenqualen. Sie wusste sehr wohl, dass Lady Albion ein großes Vermögen zu vererben hatte, und sie war selbst eine gute Katholikin. Doch in erster Linie war sie Mutter und wünschte sich ein geruhsames Leben für ihre Familie. Albion hatte nicht gewagt, ihr von dem wahnwitzigen Angebot seiner Mutter an den König von Spanien zu erzählen. Und er flehte Lady Albion an, es ihr zu verschweigen, um sie nicht zu ängstigen. Also erfüllte seine Frau gehorsam ihre Familienpflichten, bis sie es schließlich nicht mehr aushielt. »Diese Besatzung dauert mir inzwischen zu lang«, sagte sie ihm. »Ich bin nicht mehr Herrin in meinem eigenen Haus. Es ist mir gleich, ob deine Mutter zehn Vermögen zu vererben hat. Wir kommen auch ohne das Geld aus. Sie müssen weg.«
Also hatte Albion ängstlich seiner Mutter die Lage geschildert. Doch zu seinem Erstaunen nahm sie es gelassen auf.
»Natürlich, Clement. Sie hat ganz Recht. Dein Haus ist zu klein. Mein armer Diener muss sogar in der Scheune schlafen. Überlass alles nur mir.«
Und zu seiner Überraschung war schon am nächsten Morgen ihr ganzer Hofstaat – die schwer beladenen Kutschen samt Dienstboten – aufbruchsbereit. Clement Albion und seine Familie standen da und sahen verdattert zu, wie der Befehl zum Abmarsch gegeben wurde. Nur eine Sache erschien ihm seltsam.
»Solltest du jetzt nicht in deine Kutsche steigen, Mutter?«, fragte er. »Sie fährt gleich los.«
»Ich?« Seine Mutter sah ihn entgeistert an. »Ich, Clement? Ich bleibe hier.« Sie winkte den beiden Kutschen zu, die sich in Bewegung setzten. »Keine Sorge, Clement.« Sie lächelte ihm strahlend zu. »Ich werde mäuschenstill sein.«
Und von diesem Tage an war seine Mutter, nur ausgerüstet mit ein paar Kleidertruhen und ihrem Gebetbuch, in ihrer Kammer geblieben. »Wie eine gute Nonne«, pflegte sie zu sagen. Sie kam nur heraus, um im Wohnzimmer zu sitzen, den Kindern Gebete beizubringen, die Dienerschaft herumzuscheuchen und seiner Frau mitzuteilen, dass der Rinderbraten ein klein bisschen zu gar gewesen sei. »Seht ihr«, meinte sie jeden Tag beim Abendessen. »Ich lebe wie eine Einsiedlerin in eurem Hause. Ihr bemerkt kaum, dass ich hier bin.«
Für seine Frau mochte die Anwesenheit seiner Mutter ein Ärgernis bedeuten, Albion selbst bereitete sie mit jedem Tag mehr Magendrücken. Und ihre Gespräche unter vier Augen ließen keinen Raum für Zweifel: Die Spanier würden siegen. »Ich habe deiner Schwester schon vor allem alles über die Milizen geschrieben«, verkündete sie. »Die Spanier werden ihnen mühelos den Garaus machen. Und unsere Schiffe sind alle schrottreif.« Die erste Aussage stimmte, die zweite nicht. Doch die eiserne Katholikin hatte sich darüber ihre eigene Meinung gebildet.
Die schwierige Frage war, wie er den Verdacht von sich ablenken sollte, den er durch Lady Albions Anwesenheit in seinem Haus auf sich zog. Clement gelangte zu dem Schluss, dass Angriff die beste Verteidigung war.
»Meine Mutter ist inzwischen völlig übergeschnappt«, erzählte er einigen Herren, von denen er wusste, dass sie sich keine Möglichkeit zu Klatsch entgehen ließen. »Und jetzt habe ich endgültig genug davon.« Als einige Nonkonformisten wegen Verdachts auf Verschwörung vom Rat eingesperrt wurden, meinte Albion spöttisch zu Gorges: »Ich habe meine Mutter eigenhändig hinter Schloss und Riegel gesteckt. Ich bin ihr Gefängniswärter.« Als Gorges ihn daran erinnerte, dass er persönlich die schottische Königin Maria bewacht habe, entgegnete Albion: »Meine Mutter ist viel gefährlicher.« Und als Helena sich erkundigte, ob er sie tatsächlich eingeschlossen hatte, erwiderte er mit finsterer Miene: »Ich wünschte, ich hätte einen Kerker.«
Er hoffte, dass es ihm gelungen war, sie von seiner Loyalität zu überzeugen. Doch zwei Ereignisse belehrten ihn bald eines Besseren. Das erste fand statt, kurz nachdem sie erfahren hatten, dass Drake die Erlaubnis zu einem erneuten Angriff auf die spanischen Häfen verweigert worden war. Die Befehle der Königin riefen bei ihren Kommandanten ein leichtes Schmunzeln hervor. Wenig später besuchte Albion Hurst Castle.
»Hast du schon gehört, Clement«, meinte Helena, »dass die Königin von der Flotte verlangt, immer auf und ab zu fahren wie Palastwachen, die ihre Runden gehen?« Sie lachte. »Offenbar ist Ihrer Majestät, obwohl sie Freibeuter über die Meere schickt, nicht bekannt, dass Schiffe nicht nach Belieben die Richtung ändern können, ohne auf den Wind zu achten. Nun fährt die Flotte nach…« Sie hielt inne und fügte verlegen hinzu: »An einen anderen Ort. Wohin, weiß ich nicht.« Als Albion sich umdrehte, sah er gerade noch, dass Gorges hinter ihnen stand und den warnenden Finger von den Lippen nahm.
Der zweite Vorfall ereignete sich Mitte Juli.
Es war eine Tatsache, dass das königliche Agentennetz trotz seines guten Rufs nicht in der Lage war, die Strategie der Spanier in Erfahrung zu bringen, obwohl die Flotte täglich erwartet wurde. Man musste zwei Bedrohungen im Auge behalten. Eine ging von der großen Flotte selbst aus, die andere von den spanischen Truppen, die bereits auf der anderen Seite des Meeres in den Niederlanden lagen, wo sie die protestantische Revolte gegen die Herrschaft der katholischen Spanier niedergeschlagen hatten. Diese Truppen bestanden aus Zehntausenden von kampferfahrenen Soldaten und waren dem Kommando des Herzogs von Parma, eines fähigen Generals, unterstellt. Man nahm an, dass sie die Ostküste von England angreifen würden, vermutlich in der Nähe der Themsemündung, und zwar zeitgleich mit dem Eintreffen der Armada.
In diesem Fall würden sich die Engländer an zwei Fronten verteidigen müssen. Doch stimmte diese Neuigkeit wirklich? Beabsichtigte die Armada, die englische Flotte auf See zu zerstören und den erstbesten englischen Hafen – vermutlich Plymouth – einzunehmen und als Stützpunkt zu benutzen? Oder wollte man weiter den Ärmelkanal hinaufsegeln, um Southampton, die Insel Wight und Portsmouth zu erobern? Niemand wusste die Antwort.
»Ich habe wieder einen Brief aus Spanien erhalten«, verkündete seine Mutter ruhig eines Abends, als Albion von einem Besuch in Southampton zurückkehrte.
»Heute? Wie ist das möglich?« Wer hätte ihr hier in dieser abgelegenen Gegend des New Forest einen solchen Brief zustellen sollen?
Sie tat die Frage als unwichtig ab. »Du musst dich jetzt bereithalten, Clement. Bald kommt die Zeit.«
»Wann? Wann sind sie da?«
»Ich habe dir bereits gesagt, dass es nicht mehr lange dauert. Gewiss werden die Signalfeuer angezündet. Dann weißt du Bescheid und musst deine Pflicht tun.«
»Welche Neuigkeiten hast du sonst noch erhalten? Was haben sie vor? Wollen sie die Insel erobern? Oder Portsmouth?«
»Das darf ich dir nicht sagen, Clement.«
»Dann lass mich den Brief lesen, Mutter.«
»Nein, Clement. Ich habe dir alles erklärt, was du wissen musst.«
Er starrte sie an. Misstraut sie mir etwa? Natürlich nicht. Aber sie vermutet, dass ich es Gorges oder dem Leiter der Grafschaftsmiliz weitererzählen werde, wenn ich etwas über die Absichten der Spanier erfahre, dachte er. Und sie hat Recht. Wahrscheinlich würde ich das auch tun. Er fragte sich, wo sie den Brief wohl versteckt hatte. Ob er ihr Zimmer durchsuchen sollte? Oder ihre Kleidung, während sie schlief? Er gelangte zu dem Schluss, dass es hoffnungslos war.
Und dann schoss ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf. War das vielleicht eine Finte, eine List von ihr? Gab es vielleicht gar keinen Brief? Hatte sie ihn erfunden, um ihn auf die Probe zu stellen und um zu sehen, wie er sich verhalten würde? War sie so verschlagen? Durchaus möglich.
»Ich bedauere es, dass du Geheimnisse vor mir hast, Mutter«, sagte er steif, doch sie ließ sich davon überhaupt nicht anfechten.
Doch das, was am nächsten Tag geschah, war noch um einiges beängstigender. Zufällig begegnete er in Lymington Thomas Gorges. Und dieser bedachte ihn, nachdem sie eine Weile geplaudert hatten, mit einem scharfen Blick und meinte: »Wir versuchen immer noch herauszufinden, welche Absichten die Spanier hegen, Clement. Und wir haben den Verdacht, dass Nonkonformisten hier in England Briefe empfangen, deren Inhalt vielleicht wichtig ist.«
»Ich halte das für unmöglich.« Albion bemühte sich um Ruhe.
»Leute wie deine Mutter.«
Albion konnte nicht verhindern, dass er erbleichte. »Meine Mutter?«
»Sind für sie Briefe, Boten oder seltsame Besucher gekommen? Das hättest du doch bemerken müssen.«
»Ich…« Er überlegte fieberhaft. Wusste Gorges von dem Brief? Wenn ja, musste er sich ihm dann nicht anvertrauen? Sollten die Behörden seine Mutter doch durchsuchen und ihr Geheimnis enthüllen, wenn er selbst es schon nicht wagte. Aber was würden sie finden? Nur der Himmel konnte sagen, ob der Brief vielleicht etwas enthielt, was ihn belastete. Er durfte es also nicht riskieren. »Ich habe keine Ahnung von einem solchen Brief«, erwiderte er zögernd. »Aber ich werde sie fragen.« Und dann kam ihm noch eine Idee: »Hast du sie in Verdacht, Thomas? Nicht auszudenken, was sie in ihrer Narrheit alles anrichten könnte.«
»Nein, Clement. Ich habe mich nur ganz allgemein erkundigt.«
Albion betrachtete sein Gesicht. Was war, wenn er log? Gorges war viel zu schlau, um sich zu verraten. Und dann fiel ihm etwas Schreckliches ein: Möglicherweise wussten Gorges oder seine Vorgesetzten nicht nur von dem Brief, sondern hatten ihn sogar gelesen. In diesem Fall wäre Gorges besser im Bilde gewesen als er selbst. Ob das eine Falle war? »Selbst wenn meine Mutter einen Brief vom spanischen König höchstpersönlich erhalten hätte, Thomas«, sagte er, »würde sie es mir wahrscheinlich verschweigen, denn sie weiß genau, wie treu ich unserer Königin ergeben bin. Das ist die Wahrheit.«
»Ich vertraue dir, Clement«, entgegnete Gorges und ging davon. Aber wenn ein Mann einem anderen gegenüber behauptet, er vertraue ihm, überlegte Albion bedrückt, meint er damit meistens genau das Gegenteil.
Nick Pride hatte sich als fähiger junger Bursche erwiesen.
»Wer hält Wacht in Malwood?«, pflegte Albion während seiner Inspektionsbesuche zu rufen, die Mitte Juli fast täglich stattfanden. Er hatte festgestellt, dass es dem jungen Mann gefiel, so begrüßt zu werden.
»Nicholas Pride, Sir«, antwortete der Bursche. »Und alles ist in Ordnung, Ihr könnt zufrieden sein.«
Es war zwar nur eine Formsache, aber Albion sah sich alles genau an.
Man hatte das Signalfeuer am höchsten Punkt des alten Erdwalls angelegt, von wo aus man eine sehr gute Aussicht hatte, da Albion das Gelände hatte abholzen lassen. Es bestand aus einem dicken, etwa dreieinhalb Meter hohen Pfahl, der einige Meter tief in den Boden gerammt worden war und von vier Stangen oder Strebebalken gestützt wurde, die wie Halteseile zur Mitte hinreichten. Oben auf dem Pfahl befand sich ein großes Eisenfass. Es enthielt eine Mischung aus Pech, Teer und Flachs, die stundenlang lichterloh brennen würde.
Dieses Teerfass erreichte man mit Hilfe einer Leiter, einer mit Sprossen versehenen Stange. Entfacht wurde es mit einer brennenden Fackel. Und um Feuer für das Anzünden der Fackel bereitzuhaben, hielten Nick und seine Kameraden Tag und Nacht ein Kohlenbecken am Brennen.
Nick teilte sich die Wache stets mit einem anderen Mann. Wer gerade keinen Dienst hatte, ruhte sich in einer kleinen Holzhütte gleich hinter dem Erdwall aus. Hin und wieder kamen Leute aus dem Dorf herauf, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Doch aus irgendeinem Grund hatte der Rat das Mitbringen von Hunden zu den Signalfeuern verboten. Vermutlich befürchtete man, dass sie die Männer ablenken könnten.
Die Leuchtfeuer konnten nur in einem Fall versagen, nämlich bei Nebel oder äußerst schlechtem Wetter – und da es in letzter Zeit häufig gestürmt hatte, war das durchaus wahrscheinlich. Dafür hatte man eine Reihe von Meldeposten überall im Land eingerichtet. Reiter ritten von Posten zu Posten und gaben die Nachricht weiter.
Die Signalfeuer auf der Insel Wight waren kompliziertere Gebilde. An jedem Ende der Insel gab es drei davon. Wenn eines angezündet wurde, bedeutete das, dass ein Signal von der Küste eingegangen war – oder dass die Wächter auf der Insel selbst die feindliche Flotte am Horizont gesichtet hatten. Auf diese Weise wurde die nächste Grafschaft alarmiert, die wiederum ihr Signalfeuer entfachte. Wenn der Feind sich der Küste näherte, zündete man ein zweites Feuer an. Das war das Zeichen, in den Festungen an der Küste ebenfalls Feuer anzuzünden, um die Milizen herbeizurufen. Brannten drei Signalfeuer, hieß das, dass die Verteidiger der Küste Verstärkung aus dem Landesinneren brauchten, worauf dort die Feuer angezündet wurden. Dann setzten sich die ausgebildeten Truppen eilig zu ihren Sammelpunkten in Marsch und begaben sich zur Küste. Malwood galt als Signalfeuer für das Landesinnere. »Allerdings«, hatte Albion Nick Pride angewiesen, »müsst Ihr das Feuer auch dann anzünden, wenn Ihr auf der Insel zwei Feuer brennen seht, da wir zu wenige Männer haben. Dann marschieren wir nach Hurst.«
An den meisten Tagen besuchte Jane ihren Verlobten für ein oder zwei Stunden. Sie brachte ihm eine selbst gebackene Pastete, einen Kuchen und einen Krug mit einem kühlen Getränk aus Früchten oder Blüten mit, das sie oder ihre Mutter zubereitet hatte. Gemeinsam saßen sie auf den mit Gras bewachsenen Wällen von Malwood und blickten über den grünen Wald hinüber zum blauen, vom Dunst verschleierten Meer. Abends blieb sie manchmal bis lang nach Einbruch der Dunkelheit bei ihm und hielt mit ihm Wache.
Und so wartete Nick Pride mit dem Mädchen, das er heiraten wollte, auf die spanische Armada. Bei Janes Anblick tanzte sein Herz, und wenn er die Arme um sie schloss und sie zusammen im Dämmerlicht den New Forest betrachteten, wurde er auf einmal von Wärme ergriffen, und er dankte den hellen Abendsternen, dass er mit einer solchen Braut gesegnet worden war.
Besessenheit. Lange war Jane dieses Wort fremd geblieben, doch allmählich begriff sie seine Bedeutung und alles, was dazugehörte: Unruhe, Trübsal, Zerstreutheit. Jane war sechzehn Jahre alt, und innerhalb von drei Wochen hatte sie all diese Gefühle durchlebt.
Sie hatte ihn bereits häufiger besucht. Beim ersten Mal hatte sie im Vorbeigehen die Kinder gesehen und mit dem kleinen Jungen gespielt, bis der Vater nach Hause kam. Am nächsten Tag hatte sie sich einen Zeitpunkt ausgesucht, wenn Puckle gewiss zugegen sein würde. Jane saß da, plauderte ein wenig mit ihm oder betrachtete ihn, wie er sich mit Tom beschäftigte oder stumm an einem Stück Holz schnitzte. Ihr wurde klar, dass sie bereits jede Sehne seiner Hände kannte.
Seit sie seine Hand auf ihrem Arm und ihrer Schulter gespürt hatte, sehnte sie sich nach seiner Berührung. Sie war machtlos dagegen. Außerdem rührte er sie an. Auch wenn er ein starker Mann war, erschien er ihr plötzlich hilflos, wenn sie sah, wie seine Tochter das Essen zubereiten musste oder wie er sich ziemlich ungeschickt daran machte, die Kleider der Kinder zu waschen. Er braucht mich, dachte sie.
Zweimal war sie schon zu der Stelle im Wald gegangen, wo er, wie sie wusste, arbeitete, und hatte ihn aus der Ferne beobachtet, ohne dass er sie bemerkte. Einmal hatte sie ihn zufällig auf dem Weg aus Lyndhurst im Wagen vorbeifahren sehen. Ihr Herz hatte einen Satz gemacht, doch sie war still stehen geblieben und hatte ihm nachgeblickt; er hatte sie nicht wahrgenommen.
Besessenheit. Sie musste sie verbergen. Ihre Familie ahnte nichts von ihren regelmäßigen Ausflügen nach Burley, für die sie stets einen harmlosen Vorwand fand. Und natürlich tappte auch Nick Pride im Dunkeln. Aber was hatte das alles zu bedeuten? Warum litt sie so sehr? Warum sehnte sie sich Tag und Nacht nach der Gesellschaft des Köhlers?
Wenn sie nach Burley ging, blieb sie jedes Mal am Rufusbaum stehen und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Auf dem Rückweg verharrte sie wieder, um sich auf die Begegnung mit ihrer Familie und Nick vorzubereiten.
Wer am späten Nachmittag im Schatten der mächtigen Eiche rastete, nahm die Geräusche des Waldes überdeutlich wahr. Es wimmelte hier von Vögeln – Laubsängern und Meisen, Rotschwänzchen und Kleibern. Doch da Paarungszeit und Brutzeit längst vorbei und die Jungen zum Großteil schon flügge waren, sangen sie nur noch leise und selten. Bloß das Gurren der Tauben hallte weiterhin ständig durch den Wald. Das stete Zirpen der Grillen, das Surren unzähliger Insekten und das Summen der Bienen, die sich am duftenden Geißblatt labten, vereinten sich zu einer trägen Sommermelodie, der Jane gerne lauschte.
Für gewöhnlich saß Jane eine Stunde unter dem Baum. Sie beobachtete die bunten Raupen und blickte zu den grünen Schatten der anderen Eichen in diesem Hain hinüber. Hin und wieder dachte sie an die herannahende Armada und den jungen Nick an seinem Signalfeuer. Ab und zu kamen ihr Puckle und ihre eigene Familie in den Sinn. Wenn sie sich zum Gehen anschickte, wirkte sie – wenigstens von außen betrachtet – ganz ruhig.
Seine Mutter war verschwunden.
Als Albion an einem Spätnachmittag in der dritten Juliwoche nach Hause kam, erfuhr er, dass sie ausgeritten und schon seit Stunden nicht mehr gesehen worden war. Obwohl er deshalb ein schlechtes Gewissen hatte, hoffte er kurz, sie möge gestürzt oder an einem überhängenden Ast im Wald hangen geblieben sein und sich das Genick gebrochen haben. »Und sie hat nicht gesagt, wohin sie wollte?«, fragte er seine Frau.
»Kein Wort.«
»Warum hast du sie nicht aufgehalten?« Der Blick seiner Frau sagte ihm, wie albern diese Frage war. »Nein.« Er seufzte. »Das wäre wohl nicht gut möglich gewesen.«
Tot oder lebendig. Er würde losziehen und sie suchen müssen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit blieb ihm noch genug Zeit. Allerdings fürchtete er sich vor dem, was diese Nacht ihm bringen mochte. Ein Stelldichein mit der spanischen Armee lag durchaus im Bereich des Möglichen. »Gott steh uns bei«, murmelte er.
Als Lady Albion den Rufusbaum erreichte, war sie sehr mit sich zufrieden. Sie fand, dass sie so etwas eigentlich schon früher hätte tun sollen.
Sie war einen ziemlich großen Bogen geritten. Nachdem sie bei Albions stillem Haus die Furt überquert hatte, schlug sie den Weg nach Brockenhurst ein, sah sich dort die kleine Kirche an und plauderte mit ein paar Dorfbewohnern. Die meisten der Leute waren ihr zwar noch nie begegnet, doch der Besuch der seltsamen Lady in Albions Haus hatte sich schon längst herumgesprochen. Und deshalb wusste man beim Anblick der merkwürdigen, in Schwarz gekleideten Gestalt sofort, mit wem man es zu tun hatte. Allerdings waren verschiedene Gerüchte über sie im Umlauf. Während der Landadel gut über die Familie Pitts und über Albions Schwierigkeiten im Bilde war, tappten die Dörfler mehr oder weniger im Dunkeln. Dreißig Jahre waren vergangen, seit Lady Albion im New Forest gelebt hatte, sodass sich nur wenige undeutlich an sie erinnerten. Man hatte gehört, dass sie fromm und eine Nonkonformistin war, doch das störte nicht weiter. Denn es hieß, sie sei außerdem noch wohlhabend, und das war auf keinen Fall zu verachten. Vielleicht würde sie sich ja als großzügig erweisen, wenn man sich bei ihr beliebt machte. Einige meinten, sie habe den Verstand verloren, und das eröffnete ebenfalls mannigfaltige Möglichkeiten. Deshalb zogen alle höflich die Mützen oder salutierten und versammelten sich hoffnungsfroh um sie.
Und sie konnte wirklich gut mit ihnen umgehen, schließlich war sie nicht umsonst eine Pitts. Ihre ungezwungene und doch aristokratische Art und ihre freundlichen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.
Lady Albion erklärte, sie habe die Kirche besichtigt und bedaure, dass diese auf Grund von Nachlässigkeit ein wenig heruntergekommen sei. Selbstverständlich unterstelle sie den Dörflern keinesfalls bösen Willen. Sofort sagten ihr einige lange Gesichter in der Menge, dass einige der Leute auf ihrer Seite standen. Doch sie schwieg dazu, und nachdem sie ihnen höflich einen guten Tag gewünscht hatte, ritt sie weiter in Richtung Lyndhurst. Die Dorfbewohner waren einhellig der Ansicht, dass Lady Albion nicht verrückt, sondern eine Dame mit hervorragenden Manieren war.
In Lyndhurst hatte sie einen Häusler angetroffen und ein ähnliches Gespräch mit ihm geführt. Danach hatte sie Minstead umrundet und war durch Brook geritten, wo sie das Ganze wiederholte.
Als sie sich nun dem Baum näherte, sah sie darunter ein Mädchen mit nachdenklicher Miene stehen. Die junge Frau machte einen verständigen Eindruck. Lady Albion hielt vor ihr an. »Guten Tag, mein Kind«, sagte sie freundlich. »Wie ich sehe, steht Ihr unter einem Baum, von dem es heißt, dass er Wunder vollbringt.«
Ja, erwiderte Jane höflich, so sei es. Und sie erzählte der fremden Dame von dem grünen Laub im Winter und der Rufuslegende.
»Vielleicht«, erwiderte Lady Albion, »handelt es sich um ein Zeichen Gottes.« Sie wies auf die anderen beiden Bäume. »Ist unser Herr nicht gemeinsam mit zwei Dieben gekreuzigt worden?«
»Und dann sprechen wir ja auch von der Heiligen Dreifaltigkeit, Mylady«, ergänzte das Mädchen.
»Da habt Ihr ganz Recht, mein Kind«, lobte Albions Mutter. »Ist das nicht der Beweis dessen, dass wir an die wahre Kirche glauben sollen?«
»Das kann sein, Mylady. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, entgegnete Jane wahrheitsgemäß.
»Dann denkt jetzt darüber nach«, befahl Lady Albion streng. Ein wenig freundlicher fügte sie hinzu: »Seid Ihr ein frommes Kind unserer heiligen Kirche?«
Jane Furzey hatte noch nie von Albions Mutter gehört. Schließlich lag Brook sechzehn Kilometer von Albions Haus entfernt, und die Lady hatte den New Forest fast fünfzehn Jahre vor Janes Geburt verlassen. Also hatte sie keine Ahnung, wer diese beeindruckende Frau mit dem herrischen Auftreten sein mochte. Doch nun starrte sie sie an, als sei ihr plötzlich ein neuer Gedanke gekommen.
Jane hatte niemals die Königin gesehen. Jeden Sommer bereiste Königin Elisabeth einen Teil ihres Königreiches und hatte bereits die Grafschaft besucht, allerdings noch nie den New Forest. War es möglich, dass Ihre Majestät gekommen war, um die Verteidigungsanlagen an der Küste in Augenschein zu nehmen? Aber sie würde doch sicherlich nicht ohne Gefolge umherreiten. Jane erschien es zwar seltsam, aber vielleicht waren die Herren ja ganz in der Nähe und würden jeden Augenblick eintreffen. Die prächtige Kleidung der Lady, ihre stolze Art und ihre freundlichen Worte passten eindeutig zu den Beschreibungen der Königin, die Jane kannte. Und wenn sie es nicht selbst ist, dachte sie, ist es gewiss eine wichtige Persönlichkeit. »O ja, Mylady«, meinte sie deshalb und machte einen unbeholfenen Knicks. Sie war nicht sicher, was die majestätische Dame ihr sagen wollte, aber sie hatte nicht vor, ihr zu widersprechen.
Albions Mutter lächelte. In allen drei Ortschaften, in denen sie heute gewesen war, hatte sie bemerkt, dass viele der Bauern – vielleicht sogar die meisten – noch dem alten Glauben anhingen. Mit dieser Einschätzung hatte sie vollkommen Recht. Und nun bestätigte dieses kluge Mädchen ihre Vermutung.
Da fiel ihr noch etwas ein: »Es heißt, mein Kind, dass die Spanier kommen. Was wird dann geschehen?«
»Die Miliz wird sich ihnen entgegenstellen, Mylady. Mein Bruder«, fügte Jane eifrig hinzu, »und mein Verlobter« – bei diesem letzten Wort zögerte sie leicht – »gehören beide dazu.«
»Und sind sie auch fest im wahren Glauben?«
»O ja.«
»Und gewiss auch tapfere Männer«, fuhr die Lady freundlich fort. »Wer ist denn ihr Befehlshaber?«
»Ein edler Herr, Mylady.« Jane hoffte, dass das die richtige Anrede für die Königin war. »Sein Name ist Albion.«
»Albion?« Genau auf diese Antwort hatte sie gehofft. »Und werden sie ihm gehorsam folgen?«
»Aber natürlich, Mylady.«
»Dann lasst mich Euch etwas fragen, mein Kind: Falls sich herausstellt, dass die Spanier an unserer Küste in Wahrheit nicht unsere Feinde, sondern unsere Freunde sind, was wird Euer Bruder dann tun?«
Jane sah sie verdattert an. Ihr fehlten die Worte.
»Wenn sein guter Befehlshaber Albion ihm Anweisung dazu erteilt?«
Janes Miene erhellte sich. »Er wird treu gehorchen. Das verspreche ich Euch, Mylady, und alles tun, was Albion von ihm verlangt.«
»Gut gesprochen, mein Kind!«, rief die Lady aus. »Ich sehe, Ihr seid England treu ergeben.« Und mit einem Winken, das einer Königin alle Ehre gemacht hätte, ritt sie in Richtung Brockenhurst davon.
Als sie nördlich des Dorfes ihrem unglücklichen Sohn begegnete, begrüßte sie ihn mit freundlichen Worten, die sein Unbehagen noch steigerten: »Ich habe mit den braven Leuten des New Forest geredet, Clement. Alles wird gut. Du bist beliebt, und man vertraut dir, mein Sohn.« Sie strahlte ihn beifällig an. »Du brauchst nur zu befehlen, dann werden sie sich erheben.«
Zwei Tage vergingen. Das Wetter im New Forest blieb schön. Es hieß, die Spanier hätten schon Segel gesetzt, doch niemand wusste, wo sie sich befanden. Die englische Flotte lag in Plymouth im Westen. Die Signalfeuer waren bereit, doch keine Nachricht traf ein. Der junge Nick Pride oben in Malwood war in heller Aufregung. Jane besuchte ihn jeden Abend, und heute hatte sie versprochen, länger zu bleiben, um ihm bei der Nachtwache Gesellschaft zu leisten. »Aber ich könnte einschlafen, Nick«, warnte sie ihn.
»Das macht nichts.« Er lächelte selbstbewusst. »Ich werde wach bleiben.«
Als es dämmerte, erzählte sie deshalb ihren Eltern, sie werde die Nacht bei Nick in Malwood verbringen, und schlug von Brook aus den üblichen Weg vorbei am Rufusbaum ein. Die Schatten wurden schon länger, als sie die alte Eiche erreichte. Sie ging weiter und hatte eigentlich nicht vor stehen zu bleiben, als sie plötzlich bemerkte, dass sie nicht allein war. Unter den nahe gelegenen Bäumen stand ein kleiner Wagen. Und darin saß Puckle.
Jane zuckte zusammen. Er beobachtete sie stumm. Sie fragte sich, ob er wohl schon lange dort war und ob er auf jemanden wartete. Offenbar schien er damit zu rechnen, dass sie näher kam. Und genau das tat sie nun auch, obwohl ihr das Herz bis zum Halse klopfte.
»Was bringt Euch hierher?«, fragte sie lächelnd.
Als sie ihn erreicht hatte, hob er langsam den Blick. Seine Augen waren sehr klar, groß und hell und sahen sie unverwandt an. »Ihr.«
Jane spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie erinnerte sich, dass sie ihm einmal gesagt hatte, sie nehme stets diesen Weg nach Malwood. Also hatte er sie sehen wollen. Sie bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. »Und was kann ich für Euch tun?«
Er musterte sie weiter ruhig. »Ihr könntet zuerst einmal in den Wagen steigen.«
Der Atem stockte ihr, und ein kleiner Schauder durchfuhr ihren Körper. »Oh?« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Und wohin fahren wir?«
»Nach Hause.«
Zum Haus ihrer Eltern? Stirnrunzelnd sah sie ihn an und blickte dann zu Boden. Er meinte sein Haus, die Hütte in Burley mit dem geschnitzten Bett. Dass er es wagte, ihr einen solchen Vorschlag zu machen, war fast anstößig. Sie wich seinem Blick aus. Seinem Verhalten nach zu urteilen, kam es für ihn offenbar nicht in Frage, dass sie ablehnen könnte. Er war gekommen, um sie zu holen, ganz einfach so, ohne sich um Sitte und Moral zu scheren. Eigentlich hätte sie kehrtmachen und davongehen müssen. Aber wider alle Vernunft empfand sie nur eine unglaubliche Erleichterung, die sie sich jedoch nicht anmerken ließ.
Jedes anständige Mädchen hätte ihn stehen gelassen, doch Jane war wie gelähmt.
»Ich muss mit Nick Nachtwache am Signalfeuer halten«, brachte sie schließlich heraus.
»Verlasst ihn.« Seine Stimme war so ruhig wie die Dämmerung.
Sie schüttelte den Kopf und hielt stirnrunzelnd inne. »Ich muss ihm Bescheid geben.«
»Ich werden solange warten.«
Sie wandte sich um und lief in Richtung Malwood. Scharlachrotes Licht fing sich im Laub der Bäume. Einmal blickte sie sich zur Rufuseiche um, die in einen orangefarbenen Lichtschein getaucht war. Puckle hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Sie marschierte weiter.
Was sollte sie jetzt tun? Sie wusste es nicht. Oder vielleicht doch? Nein, schalt sie sich, sie war völlig ratlos. Sie musste mit Nick Pride sprechen und ihn ansehen.
Bald hatte sie die alte Befestigungsanlage erreicht. Als sie eintrat, malte der feurige Sonnenuntergang über dem New Forest einen leuchtenden Halbmond auf die dunkelgrünen Wälle.
Nick, der bei der Hütte stand, kam aufgeregt auf sie zu. »Es ist Zeit hinaufzusteigen. Du kommst zu spät.«
Wie jung er wirkte. Wie reizend. Jane wurde von Zuneigung ergriffen. Aber er war eigentlich noch kein Mann.
Sie folgte ihm auf den Wall neben dem Signalfeuer. Währenddessen erzählte er ihr rasch vom vergangenen Tag und davon, dass einer seiner Männer fast seine Wache verpasst hätte. Er klang so stolz, und Jane freute sich für ihn.
Nach einer Weile sagte sie: »Ich muss kurz noch einmal zurück nach Brook, Nick. Aber ich versuche, später wiederzukommen.«
»Oh.« Er runzelte die Stirn. »Stimmt etwas nicht?«
»Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Es dauert sicher nicht lang.«
»Aber du kannst nach Dunkelwerden nicht allein durch den Wald gehen.«
»Doch, das geht schon, wenn ich es zeitlich schaffe. Ich kenne den Weg.«
»Heute Nacht scheint der Mond«, meinte er. »Also wirst du dich schon nicht verirren.«
»Also vielleicht bis später.« Warum empfand sie bei dieser Lüge eine solche Freude und Aufregung? Noch nie hatte sie so etwas getan, und es passte gar nicht zu ihr, einen anderen Menschen zu täuschen. Gleichzeitig fühlte sie sich, als würde sie schweben. Nachdem sie sich mit einem Kuss verabschiedet hatte, kehrte sie zum Rufusbaum zurück.
Dennoch zitterte sie, als sie in den Wagen stieg. Wortlos nahm Puckle die Zügel, stupste das Pony mit der Peitsche an, und sie fuhren los. Was tat sie da? Hatte sie etwa vor, Nick mit Puckle zu betrügen? Bedeutete das, dass sie sich von ihrer Familie und ihrem früheren Leben lossagte, um Puckles Frau zu werden? Sie wusste es nicht.
Als der Wagen die offene Heide erreichte, stand vor ihnen tiefrot die untergehende Sonne. Die Strahlen beleuchteten Puckles Gesicht, sodass es seltsam gelblich, ja, fast dämonisch wirkte, während sie weiter gen Westen fuhren. Bei diesem Anblick lachte Jane leise auf. Und als die Sonne sank und es auf der Heide dunkel wurde, lehnte sie sich zu ihm hinüber, und er legte zum ersten Mal tröstend den Arm um sie. Vor ihnen lag ein verbotenes Geheimnis.
Bei ihrer Ankunft stand die Hütte still im bleichen Mondlicht. Die Kinder waren nicht da. Vermutlich hatte er sie für diese Nacht bei irgendwelchen Verwandten untergebracht. Im Haus zündete er mit der Glut aus dem Herd eine Kerze an, brachte sie nach oben und stellte sie auf die Truhe, sodass das seltsame Eichenbett in ihrem Licht vertraut und anheimelnd wirkte. Die Überdecke war zurückgeschlagen.
Nachdem er das Hemd ausgezogen hatte, legte Jane die Hände auf sein dichtes, dunkles Brusthaar und betastete es staunend. Sein Gesicht mit dem kurzen Spitzbart sah im Kerzenlicht plötzlich dreieckig aus wie das eines Waldtiers. Sie war nicht sicher, was sie nun tun sollte, doch er hob sie sanft hoch und legte sie aufs Bett. Als sie seine kräftigen Arme um sich spürte, schwindelte ihr. Und als er sich zu ihr legte, bemerkte sie, dass er so hart und kräftig war wie das Eichenbett selbst. Lange Zeit streichelte und liebkoste er sie, bis sie sich fühlte, als habe sie sich auf wundersame Weise in eines der so kunstvoll geschnitzten Geschöpfe verwandelt, die sich um die Bettpfosten schlängelten. Obwohl sie einmal vor Schmerz aufschrie, konnte sie sich später kaum daran erinnern, wann das gewesen war, in jener Nacht, in der sie ein Zauber mit dem Wald vereint hatte.
Während sie schlief, bemerkte sie nicht, dass kurz vor Morgengrauen die Signalfeuer an der Küste angezündet worden waren. Sie verkündeten, dass man die Armada gesichtet hatte.
Don Diego gähnte und biss sich auf die Fingerknöchel. Er durfte nicht einschlafen, sondern musste seine Pflicht erfüllen. Es ging um seine Ehre.
Aber er war so unbeschreiblich müde. Seit der Einfahrt der spanischen Armada in den Ärmelkanal und dem Anzünden der Signalfeuer waren sechs Tage vergangen. Sechs anstrengende Tage, die Don Diego das Äußerste abverlangt hatten. Und dennoch hatte er Glück gehabt. Denn seine – wenn auch entfernte – Verwandtschaft mit dem Herzog von Medina Sidonia, der nun die gesamte Armada befehligte, hatte ihm einen Platz auf dem Flaggschiff gesichert. Und von diesem ausgezeichneten Beobachtungsposten hatte er alles gut im Blick.
In den ersten Tagen hatte die Lage sehr viel versprechend ausgesehen. Als sie die südwestliche Spitze des Inselkönigreichs umfahren hatten, war ein vorwitziges englisches Fischerboot aufgetaucht, hatte die gesamte Flotte umrundet und die spanischen Schiffe gezählt, um dann wieder zu verschwinden. Eines der spanischen Schiffe hatte sich vergeblich an die Verfolgung gemacht, doch der Herzog hatte nur gelächelt. »Soll es losfahren und den Engländern berichten, wie stark wir sind, meine Herren«, verkündete er. »Je mehr Angst sie haben, desto besser.«
Als sie am nächsten Tag langsam nach Plymouth segelten, erfuhren sie, dass der Wind die englische Flotte im Hafen von Plymouth fest hielt. Auf dem Flaggschiff wurde Kriegsrat einberufen, und bald wusste Don Diego, was dort besprochen worden war.
»Zerschlagt sie. Nehmt den Hafen ein und benutzt ihn als Stützpunkt«, drängten die kühneren Kapitäne. Und Don Diego erschien dieser Rat sehr weise.
Allerdings vertrat sein adeliger Verwandter eine andere Auffassung. »König Philipps Befehle sind eindeutig«, widersprach er. »Wir gehen keine unnötigen Risiken ein, solange es sich vermeiden lässt.« Und so war die mächtige Armada gemächlich weitergesegelt.
In jener Nacht jedoch waren die englischen Schiffe aus dem Hafen von Plymouth gerudert und hatten sich richtig zum Wind gestellt. Und nun waren sie der spanischen Flotte auf den Fersen wie ein Rudel Bluthunde.
Die Engländer griffen fast ununterbrochen an. Die spanischen Galeonen mit ihren hohen Brücken am Vorder- und Achterdeck und ihren vielen Soldaten würden den Kampf sicher gewinnen, wenn die Engländer sich zu nah heranwagten. Deshalb umkreisten die Engländer sie, schlugen Haken und deckten die Feinde mit Salven von Kanonenfeuer ein. Die Spanier zahlten es ihnen mit gleicher Münze heim. »Sie scheinen viel öfter zu feuern«, meinte Don Diego zum Kapitän.
»Das ist richtig. Unsere Mannschaften sind gewöhnt, nur ein- oder zweimal zu schießen, dann beizudrehen und Mann gegen Mann zu kämpfen. Die englischen Schiffe hingegen sind als Kanonenstützpunkte gebaut. Deshalb schießen sie immer weiter. Und sie haben die schwereren Kanonen«, fügte er bedrückt hinzu.
Doch am meisten fiel Don Diego die unterschiedliche Geschwindigkeit der englischen und spanischen Schiffe auf. Fälschlicherweise hatte er angenommen, dass die englischen Schiffe kleiner sein würden – doch einige davon übertrafen die spanischen Galeonen sogar an Größe. Allerdings waren ihre Maste anders angeordnet, und man hatte auf die hinderlichen Brücken verzichtet. Sie waren nicht fürs Entern und Kämpfen gebaut; ihr Ziel war überlegene Geschwindigkeit. Während eine traditionelle Seeschlacht im Mittelalter eigentlich nur eine Fortsetzung des Bodenkrieges mit anderen Mitteln gewesen war, verließ sich die englische Marine fast ausschließlich auf ihre Artillerie. Wenn die Spanier versuchten, sie einzuholen und zu entern, was einige Male geschah, segelten die Engländer einfach davon.
Der Herzog von Medina Sidonia hatte es ihnen nicht leicht gemacht. Die Armada war in Formation in den Ärmelkanal eingefahren – ein gewaltiger Halbmond von mehr als zehn Kilometern Durchmesser, die Ränder geschützt von den Schiffen, die über die schwerste Bewaffnung verfügten. Die verwundbaren Transportschiffe befanden sich in der Mitte. So konnten die Engländer, die von hinten angriffen, so manchen Erfolg verbuchen. Am Sonntag, drei Tage zuvor, hatten sie einigen Nachzüglern schwere Schäden zugefügt, und am nächsten Tag eroberten sie ein paar davon. Der Kommandant einer Galeone, Don Pedro de Valdez, deren Takelage beim Zusammenstoß mit einem anderen Schiff beschädigt worden war, ergab sich kampflos Sir Francis Drake. Danach jedoch befahl der Herzog den Schiffen an den Flanken zurückzubleiben. So segelte die gewaltige Flotte wie eine schwimmende Festung den Ärmelkanal hinauf.
In dieser neuen Formation war die Armada fast nicht aufzubrechen. Die Spanier konnten die Engländer zwar nicht einholen, doch diese scheiterten bei dem wiederholten Versuch, Lücken in die Reihen der Feinde zu schlagen.
»Vorsicht«, hatte man die spanischen Kapitäne gewarnt. »Die englischen Kanoniere zielen auf die Wasserlinie.« Und am Dienstag hatten die Engländer vor der südlichen Landzunge von Portland aus die Spanier aus vollen Rohren beschossen. Trotz der vielen Gefallenen gab es nur bemerkenswert geringe Sachschäden, was zum Teil daran lag, dass die Engländer sich nicht nah genug an den Feind heranwagten. Ein weiterer Grund, den die Untertanen des Inselkönigreiches nie erfahren sollten, lag auf der Hand, und Don Diego sprach ihn gegenüber seinen Mitstreitern wie folgt an: »Ein Glück, dass diese Engländer keine allzu guten Schützen sind.«
Allerdings war die Armada nicht völlig unbesiegbar. Und ein kleiner Erfolg der englischen Kanoniere gab Don Diego nun die Möglichkeit, zu Ruhm und Ehre zu gelangen.
Als Albions Mutter ihrem Sohn erzählte, sein Schwager sei ein bedeutender Kapitän bei der spanischen Marine, hatte sie wie fast immer übertrieben. Catherine hatte ihrer Mutter nur geschrieben, ihr Gatte Don Diego hoffe auf ein Kommando. Doch bei der gottesfürchtigen Lady Albion liefen Hoffnung und Wahrheit auf dasselbe hinaus.
In Wahrheit war Don Diegos Werdegang mehr oder weniger bescheiden. Er hatte gute Manieren, und er liebte seine Frau, seine Kinder und seine Güter. Und wie jeder wahre Edelmann sehnte er sich danach, sich in der Schlacht zu beweisen, obwohl die Freude am beschaulichen Familienleben ihn bislang daran gehindert hatte, dieses Ziel weiter zu verfolgen. Inzwischen war er mittleren Alters und wusste, dass sich ihm nie mehr im Leben eine solche Gelegenheit bieten würde. Also betrachtete er den Angriff auf England als eine einmalige Chance. Seiner wenn auch entfernten Verwandtschaft mit dem Herzog von Medina Sidonia hatte er den Posten auf dem Flaggschiff zu verdanken. Und nun riskierte dieser brave Familienvater, der eine gute Partie gemacht hatte und von seinen Kindern geliebt wurde, Kopf und Kragen, um endlich ein Kriegsheld zu werden und bloß nicht am heimischen Herd zu versauern.
Allerdings unterschied sich seine Rolle in dieser gewaltigen Unternehmung nicht von jener der übrigen Herren, die die Armada begleiteten. Auf jedem der Schiffe befanden sich wohlhabende Aristokraten, verarmte Adelige, Prinzen aus sämtlichen europäischen Königshäusern und uneheliche Söhne italienischer Herzöge, alle auf der Suche nach Anerkennung und Beute. Sogar ein leiblicher Sohn des frommen Königs von Spanien höchstselbst war darunter. Einige von ihnen waren erfahrene Kämpfer, andere wollten nur zusehen, und wieder andere wie Don Diego waren sich über ihre Beweggründe selbst nicht im Klaren. Schließlich handelte es sich um einen Kreuzzug. Doch heute Nacht war Don Diegos Stunde endlich gekommen.
Es lag in der Natur der Formation der Armada, dass die gewaltige Flotte nicht schneller vorankam als ihr langsamstes Schiff. Wenn eines der Schiffe getroffen wurde, mussten alle anderen ebenfalls anhalten, und sie segelten ohnehin schon recht gemächlich dahin. Deshalb wurden havarierte Schiffe mitleidlos zurückgelassen.
Das beschädigte Schiff war ein unbeholfener Koloss, das nur über wenige Kanonen verfügte und dem Transport von Truppen, Munition und Vorräten diente. Während des gestrigen Beschusses durch die Engländer war ein Mast getroffen und der Rumpf leckgeschlagen worden. Außerdem war der Kapitän ums Leben gekommen. Den ganzen Tag über hatte sich das Schiff mit der Flotte mitgeschleppt, doch am Abend wurde klar, dass es der Belastung nicht länger standhalten konnte. Der Herzog, der bereits überlegt hatte, welche Aufgabe er seinem unbedarften Verwandten übertragen konnte, ließ ihn zu sich rufen und bat ihn, sich um das Schiff zu kümmern.
Nun arbeitete Don Diego schon seit Stunden. Er hatte sich große Mühe gegeben und war wohl überlegt zu Werke gegangen. Zuerst hatte er die Soldaten auf andere Schiffe verteilt. Dann hatte er sich mit der wichtigen Munition befasst. Anders als die Engländer verfügten die spanischen Schiffe nicht über Nachschub. Alles Nötige musste mitgeführt werden. Und da sie jetzt bereits seit vier Tagen das englische Feuer erwiderten, ging einigen Schiffen allmählich das Pulver aus. Don Diego hatte alle verfügbaren kleineren Boote versammelt und mit Hilfe der Besatzung Fass um Fass abgeladen und auf die anderen Schiffe bringen lassen. Anschließend war er mit den Kanonenkugeln genauso verfahren, eine mühsame Plackerei, bei der ein halbes Dutzend Kugeln ins Wasser gefallen war. Eine hätte sogar fast den Boden eines Bootes durchschlagen. Bei Dämmerung schufteten sie immer noch, und die Mannschaft begann zu murren. Doch Don Diego gönnte ihnen keine Pause, und so war gegen elf Uhr alles erledigt.
Seit dem frühen Morgen war Don Diego nun auf den Beinen, ohne einen Mittagsschlaf gehalten zu haben, und ihm fielen vor Müdigkeit fast die Augen zu. Und obwohl sie das Schiff nun schon seit Stunden entluden, wurde es langsamer und langsamer. Der Herzog schickte eine Nachricht, in der er Diego für seine gute Arbeit dankte. Aber nun müsse man das Schiff zurücklassen. Die Mannschaft machte sich bereit, von Bord zu gehen.
Doch Don Diego zögerte. Er hatte noch etwas vor.
Denn bei der Überprüfung des Frachtraums war ihm etwas aufgefallen. Obwohl Pulver und Kugeln sämtlich von Bord geschafft waren, befanden sich dort noch einige andere Dinge. Er hörte, wie das Wasser gegen den Rumpf schlug, während das Schiff immer tiefer sank. Don Diego leuchtete mit der Laterne das Wasser ab und spähte hinunter, um festzustellen, wie weit das Schiff bereits voll gelaufen war. Und da sah er es, ein schwaches, silbriges Funkeln, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen.
Der gesamte Boden des Schiffes war mit Silberbarren ausgelegt, es waren Tausende, die ihm geheimnisvoll im Licht der Laterne aus dem Wasser entgegenleuchteten.
Natürlich hatte dieser Schatz für die Armada nur einen geringen Wert, denn die Flotte führte gewaltige Mengen von Gold und Silber mit sich. Unter den gegebenen Umständen waren Pulver und Kugeln um einiges wichtiger. Doch wenn man das Schiff einfach sich selbst überließ, würde das Silber in die Hände der Engländer fallen, und diese Vorstellung gefiel Don Diego gar nicht. Es ist mein Auftrag, dachte er, und ich werde ihn zu Ende bringen.
Die Lösung war ganz einfach. Er schickte die Hälfte der Besatzung von Bord. Der Rest genügte, um die Arbeiten zu erledigen. Außerdem befahl er, auf jeder Seite des Schiffes eine Pinasse bereitzuhalten.
»Wir werden dieses Schiff zurückfallen lassen«, sagte er den Männern. »Aber wir müssen Acht geben, dass es dabei nicht zu einem Zusammenstoß kommt. Und dann versenken wir es.«
Die Männer sahen ihn mürrisch an. Sie mussten diesem Adeligen gehorchen, der von der Seefahrt keine Ahnung hatte und der ihnen einfach vor die Nase gesetzt worden war. Aber sie taten es nur widerwillig.
»Und was machen wir dann?«, fragte einer der Männer ein wenig trotzig.
»Wir steigen in die Pinassen«, erwiderte Don Diego. »Wenn ihr kräftig rudert, holen wir die anderen zweifellos ein«, fügte er kühl hinzu.
Die Nacht war dunkel, da Wolken den Mond verdeckten. Zentimeter um Zentimeter fiel das Schiff langsam hinter die Flotte zurück. Rechts und links ragten riesige, beleuchtete Schiffsrümpfe auf. Don Diego schätzte, dass es etwa eine halbe Stunde dauern würde, bis alle sie passiert hatten.
Er ging zur großen Kapitänskajüte am Heck, wo er sich in einem Sessel niederließ. Trotz seiner Müdigkeit war er sehr mit sich zufrieden. Es war fast vollbracht. Er war zwar erschöpft, aber ein Lächeln spielte um seine Lippen. Kurz wurde er von Schläfrigkeit ergriffen, doch er schüttelte den Kopf, um sie zu verscheuchen. Er beschloss, bald wieder an Deck zu gehen. Don Diego sank das Kinn auf die Brust.
Albion knirschte mit den Zähnen. Obwohl es mitten in der Nacht war, wollte seine Mutter einfach nicht zu Bett gehen.
Der eichengetäfelte Salon war hell erleuchtet. Erst vor einer Stunde hatte sie frische Kerzen bringen lassen. Und nun erging sie sich wohl schon zum vierten Mal – er hatte das Zählen bereits vor einer Weile aufgegeben – in einer leidenschaftlichen Tirade.
»Nun ist die Zeit gekommen, Clement. Es ist so weit. Sattle dein Pferd. Das Wild ist los. Versammle deine Männer.«
»Es ist mitten in der Nacht, Mutter.«
»Geh hinauf nach Malwood!«, rief sie aus. »Zünde das Signalfeuer an. Alarmiere die Bürgerwehr.«
»Ich bitte dich doch nur darum, Mutter«, sagte er geduldig, »dass wir bis zum Morgengrauen warten. Dann wissen wir mehr.«
»Wissen? Was sollen wir wissen?« Ihre Stimmgewalt hätte einem Prediger alle Ehre gemacht. »Haben wir es nicht selbst gesehen, Clement? Haben wir sie nicht mit eigenen Augen kommen sehen?«
»Mag sein«, erwiderte er ausdruckslos.
»Oh!« Verzweifelt rang sie die Hände. »Du bist schwach. Schwach. Ihr alle. Wenn ich doch nur ein Mann wäre.«
Als Mann hätte man dich schon längst eingesperrt, dachte Albion.
Die Armada war am späten Nachmittag gesichtet worden. Albion und seine Mutter hatten sich mit anderen adeligen Herren und Damen oben auf dem Hügel bei Lymington eingefunden, von wo aus man einen ausgezeichneten Blick über die Pennington Marsches und den Ärmelkanal hatte. Sobald die Schiffe in der Ferne erschienen waren, war seine Mutter in Begeisterung verfallen. Albion hatte ihr Pferd am Zügel packen und es beiseite führen müssen. »Nimm dich zusammen, Mutter«, hatte er eindringlich geflüstert. »Wenn du jetzt den Spaniern zujubelst, verdirbst du alles.«
»Zusammennehmen. Ja. Ha, ha!«, hatte sie gerufen. Und dann hatte sie gezischt, und zwar so laut, dass man es sicher bis Hurst Castle hören konnte: »Du hast Recht. Wir müssen schlau sein.
Wir werden sie überlisten. Gott schütze die Königin!«, schrie sie plötzlich, sodass die Herren und Damen sich erstaunt umdrehten. »Diese Ketzerin«, fügte sie leise, aber in bösem Ton, hinzu.
Drei Stunden lang hatten sie angespannt zugesehen, wie die Armada nach Osten vorrückte. Da der Wind sich gelegt hatte, machte sie immer weniger Fahrt. Die englische Flotte, in ordentliche Schwadronen aufgeteilt, war dicht hinter ihr zu erkennen. Kurz darauf konnte man beobachten, wie einige kleine, schnelle Schiffe sich aus der Formation lösten und rasch auf die Einfahrt des Solent zuhielten. In weniger als einer Stunde hatten zwei von ihnen die Stelle passiert und vor Hurst Castle Anker geworfen, während die anderen auf Southampton zuhielten. Bald sah man die Besatzung von Hurst Castle in mit Pulver und Kugeln beladenen Leichtern zu ihnen hinausfahren. Nachdem die beiden Schiffe alle Munition, die man entbehren konnte, an Bord genommen hatten, eilten sie wieder auf die Flotte zu. Von dort aus waren hin und wieder kleine Rauchwolken und Flammen zu sehen, nach einer Weile gefolgt von einem leisen Grollen, das an ein entferntes Gewitter erinnerte.
Bis jetzt machte es nicht den Anschein, als hielte die spanische Armada auf die englische Küste zu. Wie winzige, gezackte Scherenschnitte zeichneten sich die Umrisse der Schiffe vom Horizont ab. Auf der Insel Wight hatte die Garnison das zweite und dritte Signalfeuer noch nicht angezündet. Doch auch als es dunkel wurde und in der Ferne nur noch gelegentliche Lichtblitze zu sehen waren, rückte Albions Mutter nicht von ihrer Meinung ab: »Sie werden kehrtmachen und sich im Schutze der Dunkelheit nähern, Clement«, versicherte sie ihm im Brustton der Überzeugung. »Morgen früh sind sie im Solent.« Und das wiederholte sie seitdem unablässig.
Albion warf seiner Frau einen verschwörerischen Blick zu. Sie trug schon ihr Nachtgewand und hatte sich bettfertig gemacht. Das helle Haar, das nur einige silberne Strähnen aufwies, hing ihr offen über die Schultern. In ein Umhängetuch gewickelt, saß sie schweigend in einer Ecke. Albion wusste genau, was in ihr vorging. Sie wartete ab. Wenn es ihm gelang, seine Mutter zu bändigen, war alles schön und gut. Anderenfalls, so hatte sie ihn gewarnt, hätten die Dienstboten ihre Befehle. Und selbst er würde dann nicht wagen, einzuschreiten.
»Wir verlieren unser Erbe«, protestierte er.
»Aber wir bleiben am Leben. Wenn sie uns zwingen will, an einem Hochverrat mitzuwirken, werden wir sie einsperren.«
Albion konnte ihr daraus keinen Vorwurf machen. Wahrscheinlich hatte sie Recht, doch der Gedanke, auf ein so großes Vermögen verzichten zu müssen, schmeckte ihm gar nicht. Und deshalb versuchte er immer noch – seinen Kindern zuliebe, wie er sich sagte –, mit seiner Mutter zu rechten und dadurch Zeit zu gewinnen. »Ich habe einen Diener nach Malwood geschickt, Mutter«, teilte er ihr nun schon zum dritten Mal mit. »Wenn die Signalfeuer angezündet werden und die Spanier kommen, wird man es mir melden.«
»Ach, die Signalfeuer«, wiederholte sie verächtlich.
»Sie erfüllen ihren Zweck ausgezeichnet, Mutter«, entgegnete er mit Nachdruck. »Was erwartest du von mir? Dass ich mit meinen Männern zur Küste marschiere, um die Kanonen von Hurst Castle zum Schweigen zu bringen?« Er bereute diesen Satz, bevor er ihn beendet hatte.
Ihre Miene erhellte sich. »Ja, Clement. Ja. Das musst du tun, ich flehe dich an. Halte dich wenigstens bereit, rasch zuzuschlagen. Warum zögerst du? Geh gleich los.«
Nachdenklich blickte Albion in die brennenden Kerzen. Würde sie endlich Ruhe geben, wenn er sich auf den Weg machte? Gleichzeitig jedoch fiel ihm etwas anderes ein. Er war ziemlich sicher, dass die Armada nicht den westlichen Solent ansteuerte. Dazu war sie noch viel zu weit vom Ufer entfernt. Doch was war, wenn sie, vorbei an der Insel Wight, nach Portsmouth segelte? Oder auf einen anderen beliebigen Hafen an der Südküste zuhielt? Man durfte Parma nicht vergessen. Was war mit seiner großen Armee in den Niederlanden? Womöglich landete sie jetzt in diesem Augenblick an der Themse. Auch wenn seine Mutter gefährlich oder übergeschnappt war, musste sie sich nicht zwangsläufig irren. Das genau war die Frage, die er nie mit seiner Frau besprochen hatte: Wenn die Spanier landeten, konnten sie gewinnen. Und wenn sie gewannen, warum sollte er dann nicht auf ihrer Seite stehen? In jener Nacht war er gewiss nicht der einzige Engländer, der sich mit solchen Gedanken trug.
Und sicher, so überlegte er, war es nicht eben klug von ihm, sich seine Mutter zur Feindin zu machen.
»Nun, Mutter, vielleicht hast du ja Recht.« Er wandte sich an seine Frau. »Du und Mutter, ihr bleibt hier und sagt niemandem, dass ich fort bin. Ich kenne einige aufrechte Männer, denen ich vertrauen kann.« Diese Behauptung war natürlich eine reine Erfindung. »Ich werde sie nun zusammenrufen und mit ihnen zur Küste marschieren. Wenn die Spanier Anstalten machen zu landen…«
In Wahrheit hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er sich in einem solchen Fall verhalten sollte, doch seine Mutter strahlte übers ganze Gesicht.
»Gott sei gedankt, Clement. Endlich. Der Allmächtige wird dich belohnen.«
Kurz darauf verließ Albion das Haus und ritt durch den Wald nach Lymington im Süden. Wenn er schon die ganze Nacht über fortbleiben musste, konnte er sie genauso gut unten am Strand verbringen. So würde er wenigstens rechtzeitig zur Stelle sein, falls sich etwas Wichtiges ereignete.
Seine Frau und seine Mutter blieben schweigend im Salon sitzen. Einige der Kerzen waren schon heruntergebrannt, und der Raum war in ein heimeliges Dämmerlicht getaucht.
Nach einer Weile gähnte Lady Albion. »Ich glaube, ich ruhe mich eine Weile aus«, sagte sie. »Weckst du mich, sobald es Neuigkeiten gibt?«
»Selbstverständlich.«
Lady Albion küsste ihre Schwiegertochter auf die Stirn und gähnte wieder. »Also gut«, meinte sie, nahm eine Kerze und verließ das Zimmer. Kurz darauf hörte Albions Frau, wie sie ihre Kammer betrat. Dann herrschte Schweigen. Nachdem sie eine Weile gewartet hatte, löschte sie alle Kerzen bis auf eine, begab sich rasch zu Bett und legte sich hin. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ihre Schwiegermutter bis zum Tag des Jüngsten Gerichts schlafen können.
Sie selbst schlummerte tief und fest, als Lady Albion sich eine halbe Stunde später lautlos aus dem Haus stahl.
Don Diego erwachte in völliger Finsternis. Er sah sich verwirrt um, wusste nicht, wo er sich befand. Er betastete die Armlehnen des Sessels, erkannte die große Kajüte und erinnerte sich wieder. Erschrocken sprang er auf. Wie lange hatte er geschlafen? Er taumelte an Deck und rief nach seinen Männern.
Keine Antwort. Als er an die Reling stürzte und nach der Pinasse Ausschau hielt, war diese verschwunden. Er lief zur anderen Seite. Auch hier keine Pinasse. Er war allein. Don Diego blickte in die Dunkelheit. Nur wenige Sterne lugten zwischen den Wolken hervor, doch er konnte die Umgebung recht gut erkennen. Es waren keine Schiffe in Sicht. Er runzelte die Stirn. Wenn wirklich so viel Zeit vergangen war, hätte das Schiff doch längst gesunken sein müssen. Was war geschehen?
Hätte er die Seeleute besser gekannt, so hätte er auch die Antwort gewusst. Da die Männer keine Zeit verlieren wollten, hatten sie nur einen nachlässigen Versuch unternommen, das Schiff zu versenken. Dann waren sie mit den Pinassen zu verschiedenen Schiffen gerudert, und jeder hatte behauptet, Don Diego sei wohl mit dem anderen Boot mitgefahren. Das Schiff selbst schwamm zwar langsam weiter, doch da die Matrosen daran gedacht hatten, das Ruder einzustellen, hatte es sich nach Backbord gedreht. Die Engländer, die es aus der Ferne sahen, hielten es in der Dunkelheit für eines ihrer Schiffe. Nun trudelte das Schiff schon seit einigen Stunden langsam mit Kurs auf Nordost.
Als Don Diego geradeaus spähte, bemerkte er etwa drei Kilometer vor ihm in der Finsternis eine verschwommene, weiße Masse. Zuerst hielt er es für eine Wolke, doch nach einer Weile wurde ihm klar, dass dahinter eine dunkle Silhouette aufragte. Es waren weiße Klippen, die er nun deutlich erkennen konnte. Er blickte nach Backbord. Ja, vor seinen Augen erstreckte sich eine flache, dunkle Küste. Nun wusste er, wo er sich befand. Bei dem dunklen Umriss handelte es sich bestimmt um die Südküste von England. Und die weißen Klippen gehörten zur Insel Wight.
Er trieb auf das westliche Ende des Solent zu. Eine Weile starrte er erschrocken geradeaus. Doch sein Verstand arbeitete fieberhaft. Und dann nickte er langsam mit dem Kopf.
Er lachte laut auf.
Denn nun war ihm klar, welche Gelegenheit die göttliche Vorsehung ihm bot. Nie hätte er von einer solchen Chance auch nur zu träumen gewagt. Gott tat wirklich Wunder.
Er freute sich immer noch über sein großes Glück, als das Schiff auf eine Sandbank lief und mit einem Ruck stecken blieb.
Nick Pride hörte das Pferd sofort, doch er wandte den Blick nicht von dem Signalfeuer in der Ferne ab. Da draußen in der Dunkelheit leuchtete immer noch nur ein Lichtpunkt.
Nick stand allein auf dem Wall. Der Mann, der ihn ablösen würde, schlief in der Hütte. Seit Einbruch der Dämmerung, als Jane sich entfernt hatte, war er allein. Diese Nacht war besonders wichtig. Wenn die Spanier auf die Küste zusteuerten, würden gewiss alle drei Leuchtfeuer auf der Insel Wight angezündet werden. Seit Anbruch der Dunkelheit hatte er das Signal daher nicht mehr aus den Augen gelassen. Aber er hatte nicht verhindern können, dass seine Gedanken abgeschweift waren.
Was war bloß mit Jane los? An drei aufeinander folgenden Tagen hatte sie ihm jeweils nur kurz Gesellschaft geleistet, niemals länger an seiner Seite bleiben wollen. Und jedes Mal hatte sie sich seltsam verhalten. Einmal schien sie geistesabwesend und ausweichend, dann wieder hatte sie ihn aus heiterem Himmel getadelt und wirkte grundlos gereizt. Und beim dritten Mal war sie guter Laune gewesen und hatte ihn mütterlich auf die Stirn geküsst, als wäre er ein kleines Kind. Als sie ihm heute Abend eröffnet hatte, dass sie gehen müsse, hatte er sie zweifelnd angesehen und gefragt, was geschehen sei. Daraufhin hatte sie auf die Armada am Horizont gewiesen und erwidert: »Reicht das nicht als Grund zur Sorge, Nick? Was soll aus uns allen werden?« Mit diesen Worten war sie einfach verschwunden.
Auch wenn der Anblick der Armada jeden Engländer in Aufregung versetzen musste, kam ihm Janes Verhalten immer merkwürdiger vor, je länger er darüber nachdachte.
Das Schnauben des Pferdes sagte ihm, dass der Reiter den Wall fast erreicht hatte. Nick hatte nicht mit Albion gerechnet, doch sein Befehlshaber hatte nun einmal die Angewohnheit, selbst um diese Zeit nach dem Rechten zu sehen. Er wartete auf den üblichen Gruß.
»Hallo, Bursche. Wächter.«
Eine Frauenstimme. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?
Plötzlich hatte er vergessen, was er auf eine derartige Anrede zu erwidern hatte, und fragte stattdessen wie ein Bauernjunge: »Wer ist denn da?«
Eine Pause entstand. Dann rief die Frau mit befehlsgewohnter Stimme: »Zündet Euer Signalfeuer an, Bursche. Ruft die Miliz zusammen.«
Das war zu viel.
»Das Signalfeuer wird nur angezündet, wenn auf der Insel drei aufflammen. Oder wenigstens zwei. So lauten meine Befehle von Hauptmann Albion.«
»Aber ich komme von Albion, mein guter Mann. Er bittet Euch, das Feuer anzuzünden.«
»Und wer seid Ihr?«
»Ich bin Lady Albion. Er hat mich geschickt.«
»Das behauptet Ihr. Ich zünde das Feuer nur an, wenn ich zwei von drüben sehe«, erwiderte Nick mit Nachdruck. »Und damit Schluss!«
»Muss ich Euch zwingen?«
»Ihr könnt es ja versuchen.« Er zog sein Schwert.
»Die Spanier kommen, Narr.«
Für einen Augenblick zögerte Nick. Dann hatte er einen Geistesblitz. »Nennt mir zuerst das Losungswort.«
Wieder herrschte Schweigen. »Er hat es mir gesagt, der gute Junge, aber ich habe es leider vergessen.«
»Er hat es Euch gesagt?«
»Ja, bei meinem Leben.«
»Lautete es vielleicht« – er überlegte – »Rufuseiche?«
»Ja. Ja, ich glaube, das war es.«
»Dann will ich Euch mal etwas verraten.«
»Was?«
»Es gibt kein Losungswort. Und nun fort mit Euch, lästiges Frauenzimmer.«
»Dafür sollt Ihr mir büßen.« Nick hörte in der Dunkelheit, dass ihre Stimme nicht nur zornig, sondern auch enttäuscht klang.
»Fort mit Euch, habe ich gesagt.« Er lachte auf. Und kurz darauf war die seltsame Reiterin wieder in der Finsternis verschwunden. Er fragte sich, wer sie wohl gewesen sein mochte. Wenigstens hatte sie ihn von seinen Grübeleien abgelenkt. Er blickte wieder zu dem einsamen Licht in der Ferne hinüber.
Lady Albion ritt nach Süden. Notfalls würde sie selbst das Kommando über die Kanonen von Hurst Castle übernehmen.
Die Nacht war schon ziemlich weit fortgeschritten, als Albion die Hochebene bei Lymington erreichte. Die Sterne wurden noch immer von Wolken verdeckt. Als er, vorbei an den fahlen Kreidefelsen der Insel Wight und den Nadeln, aufs Meer hinausspähte, konnte er im Dunst nichts erkennen. Ganz gleich, wo die Armada auch stecken mochte, sie näherte sich eindeutig nicht der Küste. Wahrscheinlich hatte sie sich hinter der Insel Wight versteckt. Er überlegte, bei Morgengrauen ein paar Kilometer die Küste entlang nach Westen zu reiten, um festzustellen, ob er die Flotte hinter der Insel entdecken konnte. Nun stieg er vom Pferd und setzte sich auf den Boden.
Er saß schon eine ganze Weile da, als er draußen auf dem Wasser etwas Dunkles bemerkte. Zuerst hielt er es für Einbildung. Aber nein, es war wirklich da: Ein Schiff näherte sich. Albion erhob sich, das Herz klopfte ihm plötzlich bis zum Halse. War es möglich, dass sich die Armada unbemerkt durch die feindlichen Linien geschlichen hatte? Vielleicht hatte man auch im Schutze der Dunkelheit eine Schwadron losgeschickt, um den Solent zu erobern. Er schwang sich in den Sattel. Er musste Hurst Castle warnen.
Dann jedoch hielt er inne. Musste er das wirklich? Sollte er Gorges helfen oder zulassen, dass die Spanier ihn überraschend angriffen? Niemand würde ihm jemals einen Vorwurf machen. Schließlich wusste kein Mensch, dass er hier war. Schlagartig traf ihn die schreckliche Erkenntnis, dass der Augenblick der Entscheidung gekommen war. Auf welcher Seite stand er?
Er hatte keine Ahnung.
So viel Zeit hatte er damit verbracht, seiner Mutter nach dem Mund zu reden und der Welt gegenüber die entgegengesetzte Meinung zu vertreten, dass er nicht mehr wusste, was er selbst eigentlich dachte. Hilflos starrte er aufs Wasser hinaus.
Das Schiff kam immer noch näher, allerdings sehr langsam. Vergeblich hielt er Ausschau nach weiteren Schiffen. Er wartete ab. Immer noch nichts. Dann schien die Galeone innezuhalten. Sie rührte sich nicht mehr. Albion schmunzelte. Gewiss war sie auf eine Sandbank aufgelaufen. Die Sandbänke da draußen konnten durchaus noch einem Dutzend weiterer spanischer Schiffe zum Verhängnis werden. Doch es ließen sich keine weiteren blicken.
Erleichtert seufzte Albion auf. Also brauchte er sich doch nicht zu entscheiden. Noch nicht.
Eine Stunde später zeigte sich im Osten das erste Tageslicht. Die Wolken verzogen sich. Der graue Horizont lag verlassen da. Weit und breit keine Spur von der Armada.
Inzwischen konnte Albion die Galeone deutlich erkennen. Er versuchte festzustellen, ob sich Menschen an Bord befanden, sah aber niemanden. Der Wind hatte sich gelegt, es wehte nur noch eine kaum merkliche Brise. Das Wasser rund um das Schiff war ruhig. Vielleicht gab es Überlebende. Wenn ja, hatten sie vermutlich die Strände jenseits von Keyhaven erreicht.
Er fragte sich, ob er sich nicht besser vergewissern sollte. Eine Bootsladung voller Spanier konnte gefährlich werden. Andererseits war er zu Pferde. Und er hatte ein Schwert. Nach einer Weile zuckte er mit den Achseln.
Die Neugier hatte die Oberhand gewonnen.
Don Diego sah sich aufmerksam um. Er war zwar klatschnass, hatte aber dennoch großes Glück gehabt. Das Schiff war nur etwa anderthalb Kilometer vor der Küste auf Grund gelaufen. Im Frachtraum hatte er rasch alles Nötige gefunden, um sich ein einfaches Floß und ein breites Ruder zu bauen. Dank der Flut hatte er den Strand noch vor Morgengrauen erreicht. Nachdem er das Floß versteckt hatte, war er die Sanddünen hinaufgestiegen und die Heide entlanggegangen. Doch eine Vorsichtsmaßnahme hatte er getroffen. Wie die meisten Adeligen, die die Armada begleiteten, trug er eine lange Goldkette um den Hals; ihre Glieder waren so gut wie bares Geld, und deshalb hatte er sie unter seinem Hemd und Wams versteckt. Dann hatte er versucht, sich einigermaßen ansehnlich herzurichten, seine Schuhe und Strümpfe gesäubert und sich so gut wie möglich Hose und Wams abgebürstet. Er wusste, dass die Engländer der spanischen Mode folgten. Allerdings konnte er nicht sagen, ob seine Englischkenntnisse ausreichen würden. Er hatte sich große Mühe gegeben, die Sprache zu erlernen, und seine Frau versicherte ihm stets, dass er sie gut beherrschte. Vielleicht konnte er so für einen englischen Adeligen durchgehen, der den Räubern in die Hände gefallen war – und würde nicht für einen schiffbrüchigen Spanier gehalten werden.
Vorsichtig schritt er voran, stets bereit, Deckung zu suchen, sobald sich jemand näherte. Aus den Karten auf dem Flaggschiff des Herzogs wusste er, wie die Landschaft an der Mündung des Solent beschaffen war. Und er kannte den Standort von Hurst Castle. Leider hatte er nicht die geringste Ahnung, wo Brockenhurst lag.
Don Diegos Plan war bestechend einfach. Zuerst einmal musste er vermeiden, von übereifrigen Milizionären ausgeraubt oder umgebracht zu werden. Und zweitens kam es darauf an, so schnell wie möglich einen bestimmten Mann zu finden. Dann würde er aller Sorgen ledig sein.
Er sah den einsamen Reiter schon aus einiger Entfernung, sprang hinter einen Ginsterbusch und hielt sich bereit.
Als Albion den Ginsterbusch fast erreicht hatte, ließ er sein Pferd Schritt gehen. Er hatte den Mann gesehen – offenbar war er allein – und beobachtet, wie er sich hinter dem Busch versteckt hatte. Die Hand am Schwert wartete er ab, was der Fremde als Nächstes unternehmen würde.
Er musste nicht lange warten.
Der zerraufte Spanier – dass es sich um einen solchen handelte, war unverkennbar – trat hinter seiner Deckung hervor und sprach Albion zu dessen Erstaunen in einem recht passablen Englisch an, das allerdings einen spanischen Akzent aufwies. »Sir, ich bitte Euch um Hilfe.«
»Wie könnte ich Euch helfen?«
»Ich bin überfallen und beraubt worden, Sir, und zwar auf dem Weg zu einem Verwandten, der, wie ich glaube, nicht weit von hier wohnt.«
»Ich verstehe.« Clement behielt zwar die Hand am Schwert, beschloss aber, sich auf das Spiel einzulassen. »Woher kommt Ihr, Sir?«
»Aus Plymouth.« Das stimmte in gewisser Hinsicht.
»Ein weiter Weg. Darf ich Euren Namen wissen?«
»Selbstverständlich, Sir.« Der Spanier lächelte. »Ich heiße David Albion.«
»Albion?«
»Ja, Sir.« Don Diego bemerkte, dass sich abgrundtiefes Erstaunen auf dem Gesicht seines Gegenübers malte. Offenbar habe ich ihn beeindruckt, dachte er und fuhr mit frischem Mut fort: »Mein Verwandter ist kein Geringerer als der große Hauptmann Clement Albion persönlich.«
Nun wirkte der Engländer ganz und gar verdattert. »Ist er denn ein so wichtiger Mann?«, fragte er mit zitternder Stimme.
»Aber natürlich, Sir. Schließlich kommandiert er als Hauptmann alle Truppen und Küstenbefestigungen zwischen hier und Portsmouth.«
Albion verstummte entgeistert. War das etwa sein Ruf bei den spanischen Invasoren? Hatte die gesamte spanische Armada von ihm gehört? Würde jeder gefangene Spanier seinen Namen ausrufen? Wie sollte er das jemals dem Rat erklären, sofern England nicht innerhalb der nächsten Tage in die Hände der Spanier fiel? Trotz seines Entsetzens nahm er sich zusammen, denn er musste unbedingt mehr erfahren. »Ihr seid nicht David Albion, Sir. Zuerst einmal halte ich Euch für einen Spanier.« Ruhig zog er sein Schwert. »Und zweitens hat Albion keinen Verwandten dieses Namens.« Er betrachtete den Spanier streng. »Das weiß ich deshalb, Sir, weil ich selbst Albion bin.«
Ein frohes Lächeln huschte über das Gesicht des Spaniers, doch er unterdrückte es rasch. »Warum soll ich Euch glauben, dass Ihr Albion seid?«
»Das ist Eure Sache«, entgegnete Clement gelassen.
Der Spanier überlegte. »Es gibt einen Weg, das zu beweisen«, erwiderte er ruhig, und dann nannte er Clement seinen richtigen Namen.
»Welch ein Glück und was für ein Zeichen von Gottes Vorsehung ist es, mein lieber Bruder, dass ich von allen Menschen in England ausgerechnet dir begegnet bin.« Don Diego schien außer sich vor Freude und Rührung. Er blickte Albion froh, aber ernst an. »Das ist wirklich ein Wunder.«
Albion schlug vor, sich in eine geschützte Senke unterhalb der Klippen zu begeben, wo niemand sie stören würde. Bald hatten sie einander davon überzeugt, dass sie wirklich diejenigen waren, die sie zu sein vorgaben. Albion erkundigte sich liebevoll nach seiner Schwester Catherine. Und Don Diego fragte besorgt nach dem Befinden seiner Schwiegermutter, die er als »Engel und Heilige« bezeichnete. Als Albion ihn jedoch höflich zu seinem Kommando beglückwünschte, machte Don Diego ein erstauntes Gesicht.
»Mein Kommando? Ich habe überhaupt kein Kommando. Ich bin nur ein adeliger Herr, der die Armada aus freien Stücken begleitet. Ganz im Gegensatz zu dir, mein lieber Bruder, der du einen so hohen und ehrenvollen Posten erhalten hast. Deine Mutter hat es uns schon vor langer Zeit geschrieben.«
Albion nickte langsam. Allmählich dämmerte es ihm. Offenbar hatte seine Mutter alles nur frei erfunden. Doch er hielt den Moment für ungünstig, dem wohlmeinenden Spanier seine Illusionen zu rauben, denn er musste einiges in Erfahrung bringen. Erwartete der König von Spanien etwa, dass er, Albion, Hurst Castle persönlich an die Eroberer übergab?
»Ah, mein Plan!« Don Diegos Miene erhellte sich. »Oder besser gesagt, der Plan deiner Mutter. Was für eine Frau!« Dann jedoch blickte er düster drein. »Gott weiß, mein lieber Bruder, ich habe es versucht. Ich habe einen langen Brief an meinen Verwandten, den Herzog von Medina Sidonia, geschrieben. Aber…« Er breitete schicksalsergeben die Hände aus. »Nichts.«
»Ich verstehe.« Inzwischen war Albion einiges klar.
Dann erkundigte er sich vorsichtig nach den Invasionsplänen der Spanier.
»Ah. Die Pläne.« Don Diego schüttelte den Kopf. »Wir alle und auch die Kommandanten der Schiffe haben angenommen, dass wir einen Hafen zu unserem Stützpunkt machen würden. Plymouth, Southampton oder Portsmouth, einen von den dreien. Von dort aus könnte man unsere Schiffe mit Nachschub versorgen.«
»Das hört sich klug an.«
»Dann aber hat Seine Majestät beschlossen, dass die Armada sofort mit dem Herzog von Parma zusammentreffen soll. In den Niederlanden.«
»Sind die Gewässer dort nicht zu flach für eure Galeonen?«
»Ja. Doch wir können nach Calais segeln.« Don Diegos Miene war bei diesen Worten zweifelnd. »Das ist nur eine Tagesreise entfernt.«
»Und dann?«
»Danach wird der Herzog von Parma nach England übersetzen. Wie du weißt, ist er ein großer General. Manche sagen« – er senkte die Stimme, als befürchte er, jemand könne sie belauschen –, »dass er an Stelle von König Philipp sich selbst zum König von England machen wird. Natürlich heißt das nicht, dass er ein Verräter ist.« Don Diego schien weiterhin beunruhigt.
»Wie will Parma denn übersetzen? Hat er eine Flotte?«
»Sie besteht nur aus Prahmen. Also braucht er schönes Wetter.«
»Die englische Flotte würde solche Frachtschiffe doch in Stücke schießen«, widersprach Albion.
»Nein, nein, Bruder, du vergisst, dass unsere Armada ihnen während der Überfahrt Deckung geben wird. Die Engländer werden nicht wagen, sie anzugreifen.«
»Und warum greifen sie die Armada dann jetzt an?«
Wie um seine Aussage zu bestätigen, war vom Meer her – jenseits der Insel Wight – ein leises Grollen zu hören. Die englische Attacke auf die Armada hatte begonnen.
Don Diego verzog besorgt das Gesicht. »Offen gestanden hat mein Verwandter, der Herzog von Medina Sidonia, angedeutet, der Plan des Königs ließe einiges zu wünschen übrig.« Er schüttelte den Kopf. »Uns hat man gesagt, eure Schiffe seien alle verrottet, und ihr würdet feige die Flucht ergreifen.«
»Hat meine Mutter das auch behauptet?«
»Oh, ganz gewiss.« Sofort besserte sich Don Diegos Stimmung merklich. »Allerdings, mein lieber Bruder, dürfen wir das Wichtigste nicht vergessen.«
»Und das wäre?«
»Dass Gott mit uns ist. Es ist sein Wille, dass wir siegen. Dessen sind wir sicher.« Er lächelte. »Also wird alles gut. Und natürlich werden die Engländer, sobald sie wissen, dass wir gelandet sind, auch wenn nur die Hälfte von Parmas Männern die Fahrt übersteht…«
»Was werden die Engländer dann?«
»Das Volk wird sich erheben.« Don Diego strahlte. »Ihm wird klar sein, dass wir gekommen sind, um es von der Hexe Elisabeth zu befreien, von der Mörderin, die es in ihren Klauen hält.«
Albion dachte an die einfachen Männer in den Milizen, denen man erklärt hatte, die spanischen Galeonen hätten hauptsächlich Folterinstrumente der Inquisition geladen. »Und wenn sich nicht alle erheben?«, fragte er vorsichtig.
»Ach, eine Hand voll Protestanten sind sicher dabei.«
Albion schwieg. Nun war ihm eines klar. Wenn sein Schwager, was die spanische Strategie anging, sich nur halbwegs an die Wahrheit hielt, würde die gefürchtete Invasion vermutlich scheitern. Und während er noch über die Frage und die Folgen grübelte, die das für ihn persönlich haben würde, bemerkte er, dass sein Schwager aufgeregt weitersprach.
»…so eine Gelegenheit. Du und ich gemeinsam. Wenn der Herzog von Parma landet, können wir die Truppen von hier aus nach London führen und uns dort mit ihm vereinen.«
»Verlangst du, dass wir uns an die Spitze eines großen Aufstandes stellen?«
»Das wird dir gewaltigen Ruhm einbringen, Bruder. Und was mich betrifft.« Don Diego zuckte die Achseln. »Dich zu begleiten, wäre mir eine Ehre.«
Albion nickte langsam. Dieser wahnwitzige Vorschlag hätte genauso gut von seiner Mutter kommen können. »Eine große Armee zu mobilisieren«, wandte er taktvoll ein, »ist in England nicht so einfach. Selbst wenn der Glaube stärker wäre…«
»Ah.« Don Diego sah ihn erfreut an. »Das ist ja genau das Wunder, an dem man Gottes Vorsehung so deutlich erkennt«, beruhigte er seinen Schwager. »Unsere spanischen Truppen sind auch nicht besser. Man hat ihnen in England reiche Beute versprochen. Aber genau das ist der springende Punkt, mein Bruder. Gott hat uns die nötigen Mittel in die Hand gegeben, seinen Willen zu tun. Wir können die Truppen bezahlen.« Als er Albions verblüfften Blick bemerkte, wies er in Richtung Meer. »Als ich ganz allein Schiffbruch erlitt, hielt ich es zunächst für eine Strafe. Doch das stimmte nicht. Der Rumpf dieses Schiffes da draußen ist unterhalb der Wasserlinie mit Silber gefüllt.« Freudig lachte er auf.
»Und du hattest keine Begleiter?«
»Nein. Dieses Silber gehört nur dir und mir, Bruder. Es ist uns geschenkt worden.«
Wieder geriet Albion ins Grübeln.
Während er den Spanier bat, sitzen zu bleiben, stand er selbst auf und ging zum Rand der Klippe. Die Galeone saß auf der Sandbank fest und würde sich nicht mehr von der Stelle rühren. Nicht einmal die Flut konnte sie wieder flottmachen. Während er zu dem gestrandeten Schiff hinüberblickte, ging im Osten über dem New Forest silbrig die Morgensonne auf.
Er drehte sich zu Don Diego um. Welch eine seltsame Fügung des Schicksals, dass er dem Spanier nach so vielen Jahren unter solchen Umständen begegnet war. Überdies fand er den Mann sogar sympathisch. Das machte die ganze Sache noch komplizierter. Albion seufzte.
Er überlegte gründlich und dachte an seine Schwester, an sich selbst, an Don Diego und dessen Glauben an die katholische Sache, an seine Mutter, an den Rat, an Gorges, der gegen ihn, Albion, schon einen gewissen Verdacht hegte. Und er machte sich eingehende Gedanken über das Silber, das der Angelegenheit einen gewissen Reiz verlieh. Und so nahm nach einer Weile ein Plan Gestalt an, welcher Albion, als er das Für und Wider gegeneinander abwog, durchführbar erschien. Stumm blickte er der aufgehenden Sonne entgegen.
Da sah er sie. Sie ritt allein über den Hügel bei Lymington. Ihr schwarz-scharlachroter Mantel wehte hinter ihr her. Der Hut war ihr verrutscht. Sie wirkte gespenstisch, wie eine Hexe zu Pferde, sodass er fast glaubte, sie könne jeden Moment über die Felskante hinausgaloppieren und sich in die Lüfte erheben. Im gleichen Augenblick wurde er von einer kalten Furcht ergriffen: Und wenn sie ihn und Don Diego hier entdeckte?
Erschrocken warf er sich zu Boden, während der Spanier ihn nur erstaunt betrachtete. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihm, still zu sein, und spähte über das Grasbüschel hinweg, hinter dem er sich verborgen hatte. Lady Albion war noch immer dort oben. Doch sie hatte ihn nicht bemerkt. Sie war stehen geblieben und starrte auf das Meer hinaus. Nachdem er sie eine Weile beobachtet hatte, robbte er zu dem Spanier zurück.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Don Diego verdattert.
»Ja.« Albion bedachte seinen Schwager, den er eben erst kennen gelernt hatte, mit einem liebevollen Blick. Es war ein Jammer, dass ihm nichts anderes übrig blieb. »Ich muss dir etwas zeigen, Bruder«, sagte er leise und zog sein Schwert. »Hier auf der Klinge. Schau.«
Don Diego beugte sich vor.
Und da durchbohrte Albion ihn mit dem Schwert.
Wenigstens beinahe. Denn die Spitze der Waffe blieb an der Goldkette unter dem Hemd des Spaniers hängen. Während Don Diego einen Schrei ausstieß und erstaunt die Augen aufriss, musste Albion schweren Herzens ein paarmal zustoßen, bis es endlich vorbei war.
Er verharrte, bis Don Diego sein Leben ausgehaucht hatte und reglos dalag, nahm ihm die fast zwei Kilogramm schwere Goldkette ab und bedeckte die Leiche so gut wie möglich mit Erde, bevor er sich zu seinem Pferd begab. Zum Glück war seine Mutter inzwischen verschwunden. Wahrscheinlich versucht sie wieder, in Lymington einen Aufstand anzuzetteln, dachte er finster.
Er warf einen Blick zurück auf die Stelle, wo er Don Diego begraben hatte. Natürlich nagten Schuldgefühle an seinem Herzen. Doch manchmal war es schwer zu sagen, was falsch und was richtig war. Es ging ums Überleben. So war nun einmal die Natur.
Er musste sich beeilen. Es gab eine Menge zu tun.
»Silber? Bist du sicher?«
Er war mit Gorges und Helena allein in dem großen Raum in Hurst Castle. Sie hatten ihn eine Weile warten lassen, während er über den Solent hinausgeblickt hatte.
»Ich habe ihn eindringlich und mit gezücktem Schwert befragt. Ich glaube, er sagte die Wahrheit.«
»War dieser Spanier allein?«, erkundigte sich Gorges.
»Das behauptete er wenigstens. Er hat versucht, das Schiff zu versenken, und ist versehentlich an Bord zurückgelassen worden. Und ich habe außer ihm niemanden gesehen«, fuhr Albion fort. »Also denke ich, dass es stimmt. Von uns abgesehen weiß kein Mensch von dem Silber. Ich bin sofort zu euch gekommen.«
»Du hast den Spanier getötet?« Die Zweifel standen Gorges ins Gesicht geschrieben.
»Er hat mich plötzlich mit dem Schwert angegriffen. Ich hatte keine andere Wahl.«
»Sollten wir nicht die Leiche holen?«, schlug Helena vor.
Eine lange Pause entstand, während die beiden Männer eindringliche Blicke wechselten.
»Vielleicht besser nicht«, erwiderte Albion.
»Das Wrack«, sagte Gorges streng, »ist Eigentum der Königin. Daran gibt es nichts zu rütteln. Ich werde es in ihrem Namen beschlagnahmen.«
»Ich frage mich«, meinte Albion, »ob die Königin dir das Wrack nicht vielleicht schenkt, Helena. Sie hat dich doch sehr gern. Schließlich hat sie auch Drake und Hawkins Beute zuerkannt, und Thomas befehligt für sie Hurst Castle, selbst wenn er noch nie zur See gefahren ist.«
»Aber Clement«, widersprach Helena. »Ich glaube nicht, dass sie sich von so viel Silber trennen wird.«
Gorges betrachtete sie schweigend.
»Welches Silber?«, fragte Albion leise.
»Oh.« Endlich hatte sie begriffen. »Ich verstehe.«
»Ich werde ihr das Wrack sofort melden. Du könntest auch einen Brief schreiben und fragen, ob wir die Fracht haben dürfen. Sag, es ist nur ein Transportschiff. Die Munition werden wir in die Festung bringen lassen, aber falls sich sonst noch etwas von Wert dort finden sollte, bitte sie, ob wir es behalten können. Sie weiß«, gestand Gorges spöttisch, »dass ich zurzeit ein wenig in der Klemme stecke.«
»Und wie wird sie es aufnehmen, wenn wir all das Silber entdecken?«, wollte Helena noch wissen.
»Ein glücklicher Zufall«, erwiderte Gorges mit Nachdruck.
»Schließlich haben wir im Augenblick keine Beweise für die Existenz dieses Silbers«, fügte Albion hinzu. »Man könnte uns getäuscht haben. Also gibt es keinen Grund für ein schlechtes Gewissen. Es ist ja nur eine Möglichkeit.«
»Und der Spanier?«
»Welcher Spanier?«
»Ich werde sofort den Brief schreiben, Clement.« Helena sah ihren Mann an. »Wir sind sehr dankbar.«
Nachdem sie hinausgegangen war, herrschte Schweigen.
Schließlich ergriff Gorges das Wort. »Wusstest du, dass kurz vor deiner Ankunft bei uns deine Mutter in Lymington festgenommen worden ist?«
»Nein.«
»Wir haben eine Nachricht vom Bürgermeister erhalten. Offenbar wollte sie die Leute dort dazu bringen, sich zu erheben und zu den Spaniern überzulaufen.«
Albion erbleichte, bewahrte allerdings Haltung. »Ich wünschte, ich könnte sagen, dass mich das überrascht. Sie hat letzte Nacht vollends den Verstand verloren. Aber ich hatte keine Ahnung, dass es ihr gelungen ist, das Haus zu verlassen.«
»Das habe ich mir gedacht. Sie behauptete, du würdest den Aufstand anführen, Clement.«
»Wirklich?« Albion schüttelte den Kopf. »Letzte Nacht meinte sie zu mir, da ich es offenbar nicht tun wolle, würde sie es selbst übernehmen.« Er lächelte spöttisch. »Ich freue mich, dass sie mir wieder vertraut.«
»Sie sagte, du hättest die Spanier schon immer unterstützt.«
»Tatsächlich? Den einzigen Spanier, dem ich bis jetzt begegnet bin, habe ich getötet.«
»Richtig.« Gorges nickte langsam.
»Wie du weißt«, fuhr Albion langsam fort, »wäre es völlig unmöglich für mich gewesen, mich mit den Spaniern zu verbünden. Meine Mutter leidet schon seit Jahren unter Wahnvorstellungen und spricht von nichts anderem mehr. Jeden Tag träumt sie von einem Aufstand. Und ganz gleich, wie oft ich ihr auch widerspreche, sie bildet sich ein, dass ich ihn anführen werde.« Er seufzte. »Ich kann es ihr einfach nicht ausreden.«
Gorges schwieg. »Es stimmt«, meinte er nach einer Weile. »Du hättest keine Gelegenheit zu einer Verschwörung gehabt.«
»Und ich würde nie im Leben an so etwas denken, Thomas. Ich bin loyal.« Er sah Gorges an. »Ich hoffe, du weißt das, Thomas. Oder hast du Zweifel?«
Gorges erwiderte seinen Blick. »Nein«, antwortete er leise, »ich glaube dir.«
Vom Morgengrauen bis zehn Uhr vormittags nahmen die Engländer auf der ruhigen See jenseits der Insel Wight die Armada unter Beschuss. Am Nachmittag fuhren beide Flotten wieder den Ärmelkanal entlang. Das ging noch zwei Tage so, bis der Herzog von Medina Sidonia vor Calais ankern ließ und dem Herzog von Parma dringende Botschaften schickte. Er flehte den General an, sofort zu ihm zu stoßen und nach England überzusetzen.
Aber der Herzog von Parma weigerte sich. Verärgert erklärte er, in seinen Prahmen sei eine Überfahrt unmöglich, solange irgendwo feindliche Schiffe in Sicht seien. Wenn die Armada ihn nicht abholen werde – was in den flachen Gewässern vor den Niederlanden unmöglich war –, würde er sich nicht von der Stelle rühren. Wie sich herausstellte, predigte er das dem König von Spanien schon seit Wochen. Doch der König, der an die göttliche Vorsehung glaubte, hatte sich entschieden, dem Herzog von Medina Sidonia diesen Umstand zu verschweigen.
Deshalb lag die spanische Armada vor Calais und sandte weiterhin Hilferufe an den Herzog von Parma, während dieser eine Tagesreise entfernt in den Niederlanden verharrte und die Anfragen mit zunehmend gereizten Schreiben beantwortete. Die Engländer warteten an der Themse und rechneten jeden Moment mit einer Invasion, denn sie wären nie auf den Gedanken verfallen, dass der König seine Armada ohne jeden Schlachtplan auf sie losgelassen hatte.
So verbrachte die Armada zwei untätige Tage. Dann schickten die Engländer im Schutze der Dunkelheit acht mit Teer bestrichene brennende Schiffe los, die so hell leuchteten wie tausend Signalfeuer. Bei ihrem Anblick durchtrennten die spanischen Kapitäne überstürzt ihre Ankertaue und zerstreuten sich. Am folgenden Morgen schlugen die Engländer zu. Die spanischen Schiffe wurden in Richtung Küste getrieben. Einige erlitten Schiffbruch, andere wurden gekapert, doch der Großteil von ihnen war noch seetüchtig.
Und am nächsten Tag schickte Gott einen Wind.
Ein protestantischer Wind, wie viele meinten. Kein noch so frommer Angehöriger einer der beiden Parteien konnte abstreiten, dass die mächtige Armada eigentlich vom Wetter zerstört worden war. Der Sturm blies Tag um Tag und Woche um Woche und wühlte das Meer zu schaumgekrönten Wogen auf. Schiffe verloren den Sichtkontakt; Galeonen wurden über sämtliche nördliche Gewässer zerstreut. Manche strandeten an den Felsen Nordschottlands oder sogar in Irland. Nur einige wenige kehrten nach Hause zurück. Ganz gleich, ob der Wind nun dazu gedacht gewesen war, die Protestanten für ihren Glauben zu belohnen, oder ob er den Zweck erfüllte, die Katholiken für ihre Sünden zu bestrafen – Königin Elisabeth von England und König Philipp von Spanien waren sich darin einig, dass er ganz sicher von Gott kam.
Für Lady Albion waren die stürmischen Wochen eine Qual. Zunächst wurde sie auf Gorges’ strikte Anweisung hin in das winzige Gefängnis von Lymington gesperrt. Und das, obwohl der Bürgermeister von Lymington den Adeligen anflehte, die starrsinnige Lady an einen anderen Ort zu verbringen, hinzurichten oder freizulassen – solange er nur nicht mehr die Verantwortung für sie tragen musste. Dennoch wurde sich der Rat erst im Oktober darüber einig, dass Lady Albion zwar eine Verräterin war, aber keine Gefahr für den Staat darstellte. Nach ihrer Entlassung – natürlich hatte Albion ihr stets seine treue Ergebenheit versichert – kühlte sich ihr Verhältnis zu ihrem Sohn ein wenig ab. Im folgenden Jahr schiffte sie sich ein, um ihre Tochter Catherine zu besuchen, deren Gatte Don Diego beim tragischen Untergang der Armada unter geheimnisvollen Umständen verschollen war. Dass ihr eigener Sohn den armen Don Diego an einer geheimen Stelle tief im New Forest beerdigt hatte, und zwar noch während ihrer ersten Nacht im Gefängnis, sollte sie nie erfahren.
Es war nicht weiter überraschend, dass sie bei ihrer Tochter in Spanien blieb. Und Clement Albion, der sich trotz ihrer Aufforderungen weigerte, ihr dorthin zu folgen, und dadurch seine Chance auf ein Erbe endgültig verspielte, machte sich eine gelassene Haltung zu Eigen: »Ich glaube, ich würde sogar eine meiner Einfriedungen opfern, nur um sicherzugehen, dass sie nie wiederkommt«, gestand er einmal.
So wurde aus Albion kein wohlhabender Mann. Doch seine Freunde Thomas und Helena Gorges waren auf einmal vom Reichtum gesegnet. Denn Königin Elisabeth gewährte ihnen gnädig die Bitte, das Wrack behalten zu dürfen. Und nachdem Sir Thomas Gorges und seine Frau, die Marquise, die Ladung gelöscht hatten, wurde ihnen klar, dass sie nun eines der größten Vermögen in Südengland besaßen.
»Und jetzt«, verkündete Helena überglücklich, »kannst du unser Haus in Longford bauen, Thomas.«
Es dauerte noch fast zwei Jahre, bis Albion die Einladung erhielt, sie zu dem großen Gut unterhalb von Sarum zu begleiten. »Das Haus ist noch nicht ganz fertig, Clement«, sagte sein Gastgeber. »Aber ich hätte gern, dass du es dir ansiehst.«
Sie haben sich wirklich ein hübsches Plätzchen ausgesucht, dachte Albion, als sie durch die üppig grüne Landschaft am Avon kamen. Allerdings hatte ihn niemand auf den Anblick des Anwesens vorbereitet, das ihn erst den Atem beraubte und dann in Gelächter ausbrechen ließ.
Denn in einem friedlichen Tal in Wiltshire stand eine gewaltige dreieckige Festung, nur mit großen Fenstern an Stelle von Schießscharten. »Bei allen Heiligen, Thomas!«, rief Albion aus. »Das ist ja Hurst Castle!«
In der Tat. Das große Landhaus, das Gorges Longford Forest nannte, war ein detailgetreuer Nachbau der Festung an der Küste. In Erinnerung an das spanische Schiff mit seiner Ladung aus Silber hatte Gorges über dem Eingang eine Abbildung von Neptun anbringen lassen, der sich, den Dreizack lässig über der Schulter, in einem Schiff ausruhte. Zu beiden Seiten befand sich eine Karyatide, eine mit Gorges’ Gesicht, die andere mit dem seiner Frau.
»Helena behauptet, alle schwedischen Schlösser seien dreieckig, und die Schnitzereien stellten ihre Vorfahren, die Wikinger, dar«, meinte er augenzwinkernd.
Ganz gleich, ob es sich nun um ein schwedisches Schloss oder um eine Festung handelte, das riesige, dreieckige Gebäude würde wohl für lange Zeit eines der ausgefallensten Landhäuser Englands bleiben.
Auch wenn Albion später hin und wieder ein wenig neidisch auf das Glück seines adeligen Freundes war, musste er zugeben, dass seine Loyalität dank Thomas und Helena nie wieder in Frage gestellt wurde. So konnte er im Laufe der Jahre auch weiterhin eine beträchtliche Menge Holz aus dem Besitz Ihrer Majestät abzweigen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu empfinden.
Als die Heirat von Jane und Puckle bekannt wurde, verstanden Nick Pride und auch alle anderen die Welt nicht mehr. »Hätte ich nicht oben in Malwood am Signalfeuer gesessen, wäre das nie passiert«, sagte er.
»Wenn sie so etwas tut«, meinte seine Mutter, »sei froh, dass du sie los bist.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Nick. »Vielleicht stand sie ja unter einem Zauber.« Doch das war eine ziemlich alberne Bemerkung.
Auch Janes Eltern waren nicht sehr erfreut. Janes Mutter wollte ihr nicht einmal wie versprochen das kleine Holzkreuz zur Hochzeit schenken. Aber da sie kein Interesse hatte, sich völlig mit ihrer Tochter zu überwerfen, gab sie es ihr schließlich doch. Jane trug es als Talisman.
Der große Sturm, dem die Armada zum Opfer fiel, veränderte nicht nur das Leben der Menschen; hie und da hatte er auch Einfluss auf den New Forest.
Es war spät in der Nacht. Die spanischen Galeonen taumelten hilflos über die Nordsee, als ein ungewöhnlich heftiger Windstoß durch den Hain fuhr, wo auch der Rufusbaum stand. Die Äste des großen Baumes bogen sich und erzitterten. Die vielen Lebewesen klammerten sich fest oder verkrochen sich tiefer in ihren Verstecken. Winzige Insekten wurden in wildem Durcheinander in die Dunkelheit geweht. Ringsum schwankten die hohen Bäume, Blätter und Eicheln raschelten, als der Wind sie durchfuhr.
Doch die Wurzeln des Wunderbaums waren so ausladend wie seine Äste. Auch wenn sich die Welt oberhalb des Erdbodens in dieser sturmdurchtosten Nacht, in der die Armada ihr Ende fand, der zerstörerischen Gewalt kaum erwehren konnte, spürte man unterirdisch nichts vom wilden Schwanken der Äste.
Ganz in der Nähe jedoch wuchs eine andere Eiche. Sie war erst zweihundert Jahre alt und stand – hoch und schmal – dicht inmitten von Artgenossen und Buchen. Deshalb waren ihre Krone und auch ihre Wurzeln viel kleiner.
Und so gelang es dem tosenden Wind, die Eiche mit einem gewaltsamen Ruck aus dem Boden zu reißen, sodass sie krachend mitten durch ihre Nachbarn stürzte und wie ein gefällter Riese zu Boden fiel.
Eine entwurzelte Eiche ist ein erschütternder Anblick, doch auch sie trägt zum Leben des Waldes bei. Die zersplitterte Krone und die vielen, ineinander verschlungenen Äste ragen wie ein schützender Zaun in die Höhe und geben in den nächsten Jahren vielleicht einem Schössling die Gelegenheit zu wachsen, ohne dass Hirsche oder andere Pflanzenfresser ihn vernichten können.
Dem Sturm jener Nacht fielen zwei Bäume zum Opfer. Und im folgenden Herbst, nach so vielen Jahren, in denen ihr Samen verschwendet worden war, landeten zwei Eicheln der Wundereiche innerhalb dieser natürlichen Einfriedung, schlugen Wurzeln und begannen zu wachsen.