Er war nicht gekommen. Zwar hatten er und die Burrards bei den Tottons gespeist – die Fanny eigentlich auch hätten einladen können –, doch in Haus Albion hatte er sich nicht blicken lassen. Vielleicht war dies angesichts des Empfangs, den man ihm beim letzten Mal bereitet hatte, nicht weiter erstaunlich. Allerdings hätte sie auf Grund seiner Worte beim Abschied wenigstens einen Brief erwartet. Doch sie hatte überhaupt nichts von ihm gehört.

»Nein, Tante Adelaide«, erwiderte sie. »Es geht mir gut.«

Auf der Ebene von Wilverley bemerkten sie in der Ferne ein paar kleine Jungen, dachten sich aber nichts dabei.

 

 

Das Schwein stellte die größte Herausforderung dar. Denn ein ausgewachsenes Schwein ist ein ziemlich Ehrfurcht gebietendes Tier, das sich trotz seines beträchtlichen Gewichts bemerkenswert schnell bewegen kann. Also brauchte man ein Geschirr, um es an der Leine zu führen. Und es gab auch noch eine andere Schwierigkeit.

»Wir müssen es über Nacht irgendwo unterstellen«, sagte Nathaniel. Und dieses Hindernis schien fast unüberwindlich, bis einem Mitglied der Bande einfiel, dass sein Cousin in Bruley einen Schuppen hatte.

Sie hielten sich ein paar hundert Meter nördlich von der Hauptstraße und kamen an einem einsam da stehenden, kahlen alten Baum vorbei.

»Das ist der ›Nackte Mann‹«, verkündete Nathaniel, während die anderen Jungs den Baum feierlich betrachteten. »Hier machen wir es.«

 

 

Der Vikar war ein hoch gewachsener, magerer, grauhaariger Mann, der die beiden Frauen freundlich in seinem gemütlichen Pfarrhaus willkommen hieß. Offenbar freute er sich über die Einladung, sie zum Abendessen nach Hale zu begleiten. Der neue Pächter, versicherte er Adelaide, sei von Kopf bis Fuß ein Gentleman und habe das Gut für fünf Jahre übernommen.

»In den letzten Jahrzehnten hat Hale verschiedene Besitzer und Pächter gesehen«, erklärte er, »und das Gut wurde ziemlich vernachlässigt. Doch soweit ich weiß, will Mr. West andere Saiten aufziehen.«

Während Tante Adelaide sich von der Reise ausruhte, ließ Fanny sich vom Vikar das Städtchen Fordingbridge zeigen. Die fünf Flüsse von Sarum, das etwa fünfzehn Kilometer im Norden lag, hatten sich bereits mit dem Avon vereint, der hier, inmitten von hübschen, mit Schilf bewachsenen Ufern unter einer malerischen alten Steinbrücke hindurchfloss. Als Fanny zurückkehrte, um sich für die abendliche Einladung fertig zu machen, gelang es ihr immerhin, eine halbwegs fröhliche Miene aufzusetzen.

Langsam fuhr die Kutsche des Vikars die Anhöhe von Godshill hinauf. Die Lage des Gutshauses von Hale oberhalb des Avontals war wirklich idyllisch. Doch schon von der langen Auffahrt aus erkannte Fanny, dass die schöne georgianische Fassade deutliche Anzeichen der Vernachlässigung zeigte. Als sie vor der Tür hielten, kamen sofort zwei livrierte Pagen heraus, was darauf hinwies, dass Mr. West auf gewisse Formen Wert legte. Und beim Anblick von Mr. West selbst war Fanny schließlich alles klar.

Mr. Arthur West war ein blonder, ziemlich gedrungener Herr von fünfunddreißig Jahren, dessen forsches männliches Auftreten davon kündete, dass er sich kraft seiner hohen Geburt und seiner Fähigkeit dazu berufen fühlte, jedes Gut auf Vordermann zu bringen. Da sein Erbe es ihm nicht ermöglichte, sich in angemessenem Rahmen als Gutsbesitzer zu etablieren, hielt er es für zwingend, sich nach einer reichen Erbin umzusehen. Niemand hätte ihn für einen Abenteurer gehalten. Er betrachtete es schlicht und ergreifend als sein Recht, die Erbin eines wohlhabenden Gutes zu heiraten. Dieses Selbstbewusstsein wirkte auf viele reiche Frauen anziehend. Denn wenn Arthur West seinen Blick aus blauen Augen auf eine dieser Damen richtete, war dieser sofort klar, dass er genau wusste, was er wollte. Und wie jede Frau früher oder später herausfindet, ist diese Eigenschaft bei einem Mann nicht zu verachten.

Tante Adelaide gegenüber verhielt er sich höflich und galant, was der alten Dame gut gefiel. Was Fanny betraf, versuchte er, sich auf ruhige und routinierte Weise bei ihr einzuschmeicheln. Sie hatte den Eindruck, dass zwischen ihnen eine stillschweigende Übereinkunft bestand: Falls sie dies wünschte, würde er ihr den Hof machen. Da sie eine solche Behandlung durch Männer bis jetzt noch nicht kannte, war sie ein wenig argwöhnisch. Doch da sein Betragen makellos war, weckte die Situation ihre Neugier, und sie fand es eigentlich recht amüsant.

»Mein Onkel hat mir viel von Ihrem Vater und seinen Reisen erzählt, Miss Albion«, sagte er schmunzelnd. »Er muss ein sehr abenteuerlustiger Mann sein.«

»Ich fürchte, inzwischen nicht mehr, Mr. West.«

»Nun.« Er sah sie freundlich an. »Jedes Alter hat seine Vorzüge. Vermutlich sind jetzt wir mit den Abenteuern an der Reihe.«

»Ich bin nicht sehr abenteuerlustig, vielleicht deshalb, weil ich auf dem Land lebe.«

»Das glaube ich nicht, Miss Albion.« Er grinste ein wenig spitzbübisch. »Auch auf dem Land bieten sich braven Leuten wie uns genug Gelegenheiten zu einem Abenteuer.«

»Ich liebe den New Forest«, erwiderte sie schlicht.

»Da bin ich ganz Ihrer Ansicht«, entgegnete er.

Sie plauderten im großen Salon. Während Mr. West ein paar Worte mit dem Vikar wechselte, tippte Tante Adelaide ihrer Schutzbefohlenen auf den Arm und flüsterte ihr zu, dass sie ihren Gastgeber für einen sehr tüchtigen Mann halte. Fanny verstand sehr wohl, was das bedeuten sollte: Da Mr. West nicht mit eigenen Gütern beschäftigt war, würde er für Haus Albion ein großer Gewinn sein. Dann wurde angekündigt, das Abendessen stehe bereit, was sie aus der Verlegenheit befreite, darauf antworten zu müssen. Mr. West geleitete die alte Dame am Arm ins Speisezimmer.

Das Essen war ausgezeichnet, und Mr. West erwies sich als sehr unterhaltsam. Er erzählte amüsante Geschichten aus London und war freundlich genug, sich für Tante Adelaides und Fannys Haltung zu den wichtigsten Ereignissen der letzten Tage zu interessieren. Er ließ sich gern von der französischen Garnison in Lymington berichten und sich das Leben im New Forest ausführlich schildern.

Außerdem besaß er eine entwaffnende Offenheit. Denn als Fanny anmerkte, sie führten eigentlich ein sehr ruhiges Dasein, funkelten seine blauen Augen schelmenhaft, und er entgegnete: »Aber natürlich, Miss Albion. Doch ich muss Sie bitten, das Landleben deshalb nicht zu verurteilen. Schließlich kämpfen unsere Armeen, und unsere Schiffe patrouillieren die Küste, um genau dieses Ziel zu erreichen.«

Es stellte sich heraus, dass Mr. West Rennpferde liebte und gerne jagte und fischte.

Nach dem Dessert schlug er vor, dass sich die Männer nicht wie sonst üblich mit einem Glas Portwein zurückzögen, sondern alle gemeinsam in der Bibliothek Platz nähmen. Das wiederum gefiel Tante Adelaide sehr gut, doch sie sagte, sie hoffe, man werde ihr vergeben, wenn sie wegen ihres vorgerückten Alters nicht mehr lange bleibe.

»Aber ich würde gern das Haus besichtigen, Mr. West«, meinte sie, »denn da es meistens leer stand oder von kurzzeitigen Pächtern bewohnt wurde, habe ich es mir noch nie richtig ansehen können.«

»Natürlich, gerne«, erwiderte ihr Gastgeber und erhob sich, »wenn Sie mir verzeihen, dass ich noch nicht genug Zeit hatte, hier Ordnung zu schaffen, können wir es ja zusammen erkunden.« Er griff nach einem Kerzenleuchter, wies die Diener an, weitere zu bringen, und ging, seinen Gästen voran, in die Halle hinaus.

Im Erdgeschoss gab es neben der Bibliothek noch zwei kleinere Empfangszimmer, deren – ein wenig verblasste – Ausstattung der eines georgianischen Gutshauses entsprach. Die besseren Möbelstücke hatte Mr. West mitgebracht, doch einige Bilder und ein paar alte Wandbehänge gehörten zum Inventar und stammten offenbar aus dem letzten Jahrhundert. Die Atmosphäre erinnerte Fanny an die dunkle Geborgenheit von Haus Albion.

Sie hatte geglaubt, dass sie nach der Besichtigung dieser beiden Räume aufbrechen würden, doch ihre Tante war noch nicht fertig. »Wie sieht es denn oben aus?«, wollte sie wissen.

»Es gibt dort einen Treppenabsatz, eine kleine Empore und einen Salon«, entgegnete Mr. West. »Und natürlich die Schlafzimmer. Doch bis jetzt wurde dort kaum etwas getan, und ich fürchte, sie sind noch nicht vorzeigbar.«

»Dürfen wir sie uns nicht dennoch anschauen, Mr. West?«, erkundigte sich die alte Dame. »Da ich nun schon einmal hier bin, wäre ich, wie ich zugeben muss, schrecklich neugierig.«

»Wie Sie wünschen.« Er lächelte. »Wenn Ihnen die Treppe nicht…«

»Ich muss jeden Tag Treppen steigen«, antwortete sie. »Richtig, Fanny?« Also gingen sie langsam hinauf. Adelaide stützte sich auf Mr. Wests Arm. Zwei Diener trugen die Kerzenleuchter, und der Vikar folgte Adelaide in diskretem Abstand, um sie aufzufangen, falls sie stolpern sollte. Oben auf dem Treppenabsatz blieben sie kurz stehen. Dann schritt Mr. West voran und öffnete eine Tür, die leise in den Angeln quietschte.

Drinnen war es stockfinster, doch als der Diener die Kerzen hineinbrachte, waren die Umrisse eines hohen Himmelbetts mit schweren, alten, zerschlissenen Vorhängen zu sehen, ein Stuhl aus schimmernd polierter Eiche und das geisterhafte Flackern der Kerzenflamme in einem geschwärzten Spiegel.

»Ich glaube, an diesen Zimmern ist seit fast hundert Jahren nichts mehr getan worden«, verkündete Mr. West. Nachdem sie das Nebenzimmer besichtigt hatten, wo es genauso aussah, gab Tante Adelaide zu verstehen, dass sie nun gern wieder nach unten gehen würde.

Gerade hatten sie die Treppe erreicht, als die alte Dame am Ende des Ganges ein großes Porträt in einem schweren Goldrahmen erkannte. Es blickte ihnen entgegen, doch die Gesichtszüge lagen im Dunkeln. Mr. West, der ihr Interesse bemerkte, forderte den Diener auf, den Kerzenleuchter ein wenig näher heranzuhalten. Und da bot sich ihnen ein erstaunlicher Anblick.

Es handelte sich um das fast lebensgroße Porträt eines hoch gewachsenen, düster wirkenden, aber dennoch gut aussehenden Mannes. Seine Kleidung wies darauf hin, dass das Bild etwa hundert Jahre alt sein musste. Der Porträtierte trug keine Perücke, und das lange, dunkle Haar fiel ihm bis über die Schultern hinab. Seine Hand ruhte auf dem Knauf seines großen Schwertes, und er sah dem Betrachter mit der kalten, stolzen und ein wenig tragischen Miene entgegen, wie man sie oft bei Bildnissen von Anhängern der Stuarts findet.

»Wer ist das?«, fragte Adelaide.

»Ich weiß es nicht«, gestand Mr. West. »Es hing schon bei meiner Ankunft hier.« Er ging zu dem Bild hinüber und leuchtete mit der Kerze die untere Kante des Rahmens ab. »Da steht etwas«, meinte er, »aber man kann es kaum lesen.« Er versuchte, die Inschrift zu entziffern. »Ah«, rief er, »ich glaube, ich hab es. Dieser Herr ist…« – er zögerte noch – »Oberst Thomas Penruddock.«

»Penruddock?«

»Aus Compton… Compton Chamberlayne. Sagt Ihnen der Name etwas?«

Natürlich. Gewiss hatten die Penruddocks aus Hale dieses Bild hier aufgehängt, dachte Fanny. Doch wer hätte wissen können, dass sie ein Porträt ihres Verwandten besaßen oder dass sie es einfach zurückgelassen hatten? Welches böse Schicksal hatte beschlossen, sie einem solchen Schrecken auszusetzen?

Tante Adelaide war sichtlich entsetzt. Sie erbleichte und umklammerte das Geländer aus Eichenholz, als befürchte sie zu stürzen. Als sie aufstöhnte und in sich zusammenzusacken schien, eilte Fanny zu ihr hinüber. Dann aber richtete die alte Dame sich auf und entgegnete – wohl um ihrem Gastgeber Peinlichkeiten zu ersparen – tapfer: »Dieser Name ist mir vertraut, Mr. West. Die Penruddocks waren vor langer Zeit die Besitzer dieses Hauses.« Noch nie war Fanny so gerührt und auch so stolz auf ihre Tante gewesen, die sich nun auf ihren Arm stützte. »Nun würde ich am liebsten hinuntergehen«, fuhr Adelaide fort. »Ich möchte mich bei Ihnen für diesen sehr angenehmen Abend bedanken, Mr. West.«

Fanny führte sie wohlbehalten in die Halle hinunter, und niemand außer ihr bemerkte, dass ihre Tante noch immer zitterte.

Während sie darauf warteten, dass die Kutsche vorgefahren wurde, blickte Adelaide Fanny jedoch aus scharfen Augen an und fragte leise: »Fühlst du dich wohl, Kind? Du bist ganz bleich.«

»Ja, Tante Adelaide, es geht mir gut«, erwiderte Fanny mit einem Lächeln.

Allerdings entsprach das nicht ganz der Wahrheit, obwohl Fanny nur wenig Lust hatte, ihrer Tante den Grund zu nennen. Denn das Gesicht von Oberst Penruddock war ihr nur allzu vertraut, und es hatte sie Mühe gekostet, nicht laut nach Luft zu schnappen, als sie es im Kerzenlicht vor sich gesehen hatte.

Der Mann auf dem Bild glich Mr. Martell wie ein Ei dem anderen.

 

 

Am Mittwochmorgen machte sich Caleb Furzey bei Tagesanbruch von Oakley aus auf den Weg. Er fuhr fast jeden Monat nach Ringwood auf den Markt. Manchmal hatte er Ferkel oder gewilderte Hirsche zu verkaufen. Meist traf er am späten Vormittag ein, stellte Pferd und Wagen am Gasthof ab und schlenderte über den Markt, wo er über kurz oder lang einen Verwandten traf. Am Nachmittag saß er dann im Gasthof, trank und plauderte mit den anderen Gästen. Bei Sonnenuntergang, oder manchmal sogar erst nach Dunkelwerden, luden ihn seine Cousins oder der Wirt auf seinen Wagen. Und während er seelenruhig schlief, brachte ihn sein Pferd, das den Weg genauso gut kannte wie er, langsam über Burley und Wilverley nach Hause.

Wegen seines Aberglaubens und weil Burley ein verwunschener Ruf anhaftete, hätte sich Caleb Furzey unter gewöhnlichen Umständen geweigert, bei Vollmond dort vorbeizufahren. Heute jedoch war – wie er seinen Nachbarn schon vor einiger Zeit verkündet hatte – ein ganz besonderer Tag. Einer seiner Cousins in Ringwood feierte nämlich seinen fünfzigsten Geburtstag. »Und wenn ich nicht dabei bin«, meinte Furzey zu seinem erstaunten Nachbarn, »werden alle sagen, es war gar kein richtiges Fest.«

Also freute er sich auf das Wiedersehen mit seiner Familie und auf eine feuchtfröhliche Feier, als er an diesem Tag durch den New Forest fuhr. Bei Wilverley Plain begegnete er der Kutsche mit den zurückkehrenden Albions und grüßte respektvoll.

Als Wyndham Martell zu seinem Ritt aufbrach, ging über der Heide von Beaulieu bereits rot die Sonne unter. Martell hatte aufschlussreiche zwei Stunden in Cadland bei Mr. Drummond verbracht, doch nun musste er sich beeilen. Er würde ohnehin schon zu spät zu Mrs. Grockletons Ball kommen. Soweit er im Bilde war, würde fast niemand erscheinen.

Als Martell nun den Wald betrachtete, sah er ihn verständlicherweise mit den Augen eines Adligen. Und für diese war der New Forest – auch wenn die gewöhnlichen Waldbewohner das nicht ahnten – nichts weiter als eine gewaltige Einöde. Im Osten lebten die Mills und die Drummonds, einige andere adlige Familien hatten sich an der Küste niedergelassen, in der Mitte wohnten die Morants und die Albions, und es gab noch einige Adelsgüter im nördlichen Teil des New Forest und im Avontal, wie zum Beispiel Bisterne an der östlichen Grenze. Doch für die adeligen Kreise dieser Gegend hätten die Dörfer und Weiler, ja selbst die geschäftige Stadt Lymington, genauso gut auf einem anderen Planeten liegen können. »Dort wohnt niemand«, pflegte man zu sagen, ohne sich dabei auch nur des geringsten Widerspruches bewusst zu sein. Und deshalb entsprang Mrs. Grockletons Wunsch, die Angehörigen dieser Schicht bei sich zu versammeln, viel mehr als bloßer Geltungssucht: Es handelte sich eher um das Grundbedürfnis, als menschliches Wesen wahrgenommen zu werden.

Ihre Hoffnung, die Burrards würden sich die Ehre geben, wurde enttäuscht. Als Mrs. Grockleton erfuhr, dass Mr. Martell beabsichtigte, Mr. Drummond in Cadland zu besuchen, hatte sie ihm durch Louisa eine dringende Nachricht zustellen lassen, in der sie ihn bat, den Gentleman und seine ganze Familie mitzubringen. Martell hatte sich jedoch entschlossen, nicht auf dieses Ansinnen einzugehen. Aber die Tottons würden kommen, und er hatte versprochen, sie zu begleiten. Und außerdem würde Fanny Albion da sein.

Warum hatte Wyndham Martell ihr bis jetzt noch nicht seine Aufwartung gemacht?

Auf den ersten Blick wirkten seine Ausflüchte recht einleuchtend. Schließlich war er hier, um Sir Harry Burrard besser kennen zu lernen, und er wollte seinem Gastgeber uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Und Sir Harry hatte ihn wirklich mit Beschlag belegt, viele Gespräche mit ihm geführt und Sitzungen mit örtlichen Honoratioren wie Mr. Drummond einberufen. Selbstverständlich hatten diese Dinge Vorrang, und es wäre falsch gewesen, Fanny Hoffnungen auf ein Treffen zu machen, das dann möglicherweise abgesagt werden musste. Außerdem gab es noch ein zweites Problem: Martell war nicht sicher, ob er in Haus Albion erwünscht sein würde, und er hatte nur wenig Lust, einen zweiten Hinauswurf zu riskieren. Deshalb war es gar nicht so leicht, Fanny wieder zu sehen.

Allerdings hätte er ihr in all diesen Tagen wenigstens eine Nachricht zukommen lassen können. Ja, gewiss, doch das hatte er nicht getan.

In Wahrheit – und er selbst war sich darüber im Klaren – hatte er sie absichtlich warten lassen.

Er mochte sie und musste sich eingestehen, dass er sie wirklich sehr gern hatte. Sie war klug und freundlich und hatte eine gute Erziehung genossen. Außerdem stammte sie aus einer alteingesessenen Familie und würde einmal ein bescheidenes Vermögen erben. Wahrscheinlich war es übertrieben, sie als gute Partie zu bezeichnen, aber wie er einen neidischen jungen Burschen vor einer Woche in London hatte sagen hören: »Als Besitzer zweier großer Güter kann dieser Martell jede x-Beliebige heiraten, ohne dass es ihm schaden würde.«

Wenn er einen der beiden Parlamentssitze für Lymington errang und die Erbin des Gutes Albion heiratete, würden sein Vater und dessen Freunde das gewiss als Erfolg betrachten. Und Martell konnte nicht leugnen, dass ihm derartige Dinge wichtig waren. Auch wenn er sich insgeheim nach mehr sehnte als nach diesen konventionellen Freuden, nahm er an, dass ihm eine politische Karriere weitere Möglichkeiten eröffnen würde.

Außerdem gefiel ihm noch etwas an Fanny: Sie war bescheiden und hatte nicht versucht, sich ihm an den Hals zu werfen. Das taten viele Frauen in London, was ihm anfangs geschmeichelt hatte, bald aber zur Last geworden war. Es störte ihn nicht, wenn ein keckes Mädchen wie Louisa Totton ihre Netze nach ihm auswarf, denn trotz ihrer Fehler hielt er sie nicht für klug genug, ihn zu täuschen. Außerdem amüsierte sie ihn. Mit Fanny jedoch war es eine völlig andere Sache. Fanny hatte ein schlichtes, reines Wesen und war darüber hinaus intelligenter.

Und sie wartete auf ihn. Wenn er sich dafür entschied – und da war er noch nicht sicher –, würde sie ihm gehören. Vor Nebenbuhlern hatte er keine Angst. Aber er wollte eine Frau, deren Herz uneingeschränkt ihm und nur ihm allein gehörte.

Deshalb hielt er in Herzensangelegenheiten nicht viel von Spielchen – außer natürlich, wenn sie von ihm ausgingen. Jeder Mann wusste, dass es nicht schaden konnte, die Geduld einer Frau, die auf einen wartete, noch ein wenig länger auf die Probe zu stellen.

Und heute Abend würde sie auf Mrs. Grockletons Ball sein.

 

 

Manche hätten das Pflanzenaufgebot wohl übertrieben gefunden, doch schließlich galt der unfehlbare Grundsatz, dass sich mögliche Mängel von Räumlichkeiten oder Zusammensetzung der Gästeliste durch eine prächtige Blumendekoration ausgleichen ließen. Und genau daran hatte sich Mrs. Grockleton gehalten, soweit es das im September verfügbare Angebot gestattete. Jeder Makel war hinter einem Rosenstock oder einem Busch getarnt, sodass die Versammlungsräume von Lymington an diesem Abend deshalb eher einem Gewächshaus ähnelten.

Die Gäste entstammten den verschiedensten Gesellschaftsschichten. Hauptsächlich handelte es sich natürlich um die jungen Damen der Akademie, für die der Ball offiziell veranstaltet wurde und die Mrs. Grockleton als Vorwand dienten. Sie, ihre Eltern und ihre Brüder waren eingeladen, um sich unter Mrs. Grockletons Vorsitz zu vergnügen. Auch wenn die Burrards auf die Gesellschaft einiger Elternpaare keinen allzu großen Wert legten, wäre es sehr unhöflich von ihnen gewesen, den jungen Damen von der Akademie die kalte Schulter zu zeigen oder die Schulleiterin vor den Kopf zu stoßen. Mrs. Grockleton hatte zwar der Versuchung nicht widerstehen können, ihre Einladungen auch über diese Kreise hinaus zu verteilen, doch im Fall des Falles würde sie zumindest nicht allein dastehen.

Die Anwesenheit der französischen Offiziere war ein gewaltiger Vorteil. Sie hatten Charme, waren eindeutig Angehörige der Aristokratie und würden sich weiß Gott eine Tanzveranstaltung mit kostenlosen Erfrischungen nicht entgehen lassen. Die Franzosen konnten als Tanzpartner für die Kaufmannstöchter herhalten und standen zudem mit Leuten wie Mr. Martell auf einer Stufe. Unter diesen Bedingungen hätte Mrs. Grockleton auch hundert Regimenter verköstigt. »Es ist«, meinte sie zu ihrem Mann, »als käme Versailles heute Abend nach Lymington.«

Und so waren die Offiziere Schachfiguren in Mrs. Grockletons Spiel, das dem Knüpfen gesellschaftlicher Beziehungen diente – wobei man selbstverständlich darauf achten musste, dass sich nicht etwa eine Romanze zwischen einem der Mädchen und einem Franzosen entwickelte.

War es passend, den Arzt der Stadt mit Mr. Martell bekannt zu machen? Ja, selbstverständlich. Wie verhielt es sich mit den Eltern einiger Mädchen, die einfache Kaufleute waren? Lieber nicht. Mrs. Grockleton träumte davon, dass der Zufall ihr in die Hände spielen würde. Wenn zum Beispiel die Burrards erschienen, einer anderen wichtigen Familie begegneten und feststellten, dass diese bereits mit ihr, Mrs. Grockleton, befreundet war, dann mussten sie ihr doch einfach Eintritt in ihre Kreise gewähren. Falls Mr. Martell also Mr. Drummond mitbrachte, würde Drummond wiederum erfahren, dass sie die Albions kannte. Und wenn es ihr dann gelang, eine Einladung nach Cadland zu ergattern, wo die Möglichkeit bestand, die Burrards zu treffen… »Das sind gute Verbindungen, Mr. Grockleton«, sagte sie zu ihrem Mann. »Es geht nur darum, die richtigen Leute zu kennen.« Doch offenbar erschöpfte sich ein großer Teil von Mrs. Grockletons Phantasie darin, dass sie sich diese Begegnungen und Zufälle ausmalte. »Wer auch immer kommt«, verkündete sie – und damit meinte sie Persönlichkeiten wie die Drummonds oder die Burrards –, »wird sehen, dass wir mit den Tottons, den Albions und Mr. Martell gut befreundet sind. Hoffentlich wird es ein Erfolg.«

»Ganz gewiss, meine Liebe«, erwiderte ihr Mann. Der Ballsaal war wirklich ein hübscher Anblick. In einem Nebenzimmer hatte man Kartentische aufgestellt. Die Speisen, die Mr. Seagull vom Angel Inn geliefert, und der Wein und der Brandy, die er dem Zollinspektor ohne mit der Wimper zu zucken zum vollen Preis verkauft hatte – alles stand bereit. In einer halben Stunde wurden die ersten Gäste erwartet, und sie würden sicher begeistert sein. »Und wenn erst die Musik anfängt«, sagte sie vergnügt, »und der Tanz beginnt…«

Mrs. Grockleton nickte zufrieden und hielt dann erschrocken inne. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus, der fast wie ein Kreischen klang. »Oh, Mr. Grockleton, Mr. Grockleton, was sollen wir tun?«

»Was gibt es denn, meine Liebe?«, erkundigte er sich besorgt.

»Eine Katastrophe ist geschehen. Oh, Mr. Grockleton, ich habe die Kapelle vergessen!«

»Die Kapelle?«

»Das Orchester. Die Musiker. Ich habe vergessen, sie zu bestellen. Nun haben wir niemanden. Oh, Mr. Grockleton, wie sollen wir ohne Musik tanzen?«

Mr. Grockleton musste zugeben, dass er darauf keine Antwort wusste. Seine Frau starrte entgeistert ihre Kinder an, als könne sie sie durch Blicke in Musiker verwandeln. Doch da ein solches Wunder ausblieb, wandte sie sich wieder an ihren Mann. »Was soll nun aus uns werden?« Und dann fiel ihr noch etwas Schlimmes ein. »Und wenn die Burrards kommen? Rasch, Mr. Grockleton, lauf ins Theater und sieh nach, ob die Musiker da sind!«, rief sie.

»Aber wenn heute ein Stück…«

»Ein Theaterstück besteht nur aus Wörtern. Sie müssen herkommen.«

»Heute Abend wird nicht gespielt, Mama«, mischte sich eines der Kinder ein.

»Dann hol die Musiker her. Schnell. Ein Klavier, Mr. Grockleton. Besorg mir ein Klavier. Mr. Gilpin wird spielen. Ich weiß, dass er es kann.«

»Vielleicht möchte Mr. Gilpin ja nicht…«

»Natürlich wird er. Er muss einfach.« Mrs. Grockelton schrie Befehle, sodass ihr Mann, ihre Kinder, die Dienerschaft und selbst Mr. Seagull in alle Richtungen auseinander stoben. Zwanzig Minuten später stand ein – wenn auch leicht verstimmtes – Klavier im Ballsaal. Kurz danach erschien ein Geiger mit seinem Instrument. Er war zwar unrasiert und hatte vielleicht auch schon einen Schluck getrunken, doch er erklärte sich einsatzbereit und gab Hinweise, wo sich möglicherweise noch ein Kollege von ihm auftreiben ließ. Als die erste ihrer Schülerinnen in Begleitung ihres Vaters, eines Kohlenhändlers, erschien, hörte Mrs. Grockleton perplex, wie der einsame Geiger hinter einer Topfpflanze ein Seemannslied anstimmte. Erleichterung und Bestürzung hielten sich bei der Gastgeberin die Waage.

 

 

Als die Kutsche Haus Albion verließ, war der Vollmond schon aufgegangen.

Dass Mrs. Grockleton ihren Ball in einer Vollmondnacht veranstaltete, war nicht weiter außergewöhnlich. Auf dem Land mussten die Menschen nach einem Fest oft spät nachts viele Kilometer weit nach Hause fahren, was bei hellem Mondschein um einiges angenehmer war. Deshalb legte man Bälle bevorzugt auf solche Tage und in Jahreszeiten, wenn der Himmel wahrscheinlich klar sein würde.

Allerdings rechnete Fanny nicht damit, dass sie allzu spät nach Hause kommen würden. Erstens erwartete sie keinen sehr unterhaltsamen Abend. Und zweitens war ein ausgesprochen überraschendes Ereignis eingetreten.

Mr. Albion hatte beschlossen, sie zu begleiten.

Bei ihrer Rückkehr am Nachmittag hatten sie ihn voll bekleidet angetroffen, und er beharrte darauf mitzukommen. Es war schwer zu sagen, ob das an einer plötzlichen Besserung seines Gesundheitszustandes lag oder ob der alte Francis nur erbost war, weil man ihn zwei Tage lang allein gelassen hatte. Jedenfalls wehrte er jeden Versuch ab, ihm das Vorhaben auszureden, und da er kurz vor einem Wutausbruch zu stehen schien, blieb ihnen nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Vorsichtshalber schloss sich Mrs. Pride ihnen an.

Tante Adelaide war zwar müde, aber bester Stimmung. Sie erzählte ihrem Bruder nur wenig von dem Besuch, richtete ihm lediglich Mr. Wests liebe Grüße aus und erklärte, der neue Pächter von Hale sei von Kopf bis Fuß ein Gentleman. Fanny gegenüber nahm sie jedoch kein Blatt vor den Mund und meinte, er sei ein passender Ehemann für sie. »Findest du nicht?«, fügte sie hinzu, und als Fanny zustimmte, er mache auf sie einen vernünftigen Eindruck, fragte sie: »Und magst du ihn, Kind?«

»Offen gestanden weiß ich das nicht, Tante«, erwiderte Fanny. »Ich habe ihn doch gerade erst kennen gelernt.« Ihre Tante gab sich mit dieser Antwort zufrieden und drang nicht weiter in sie. Doch Fanny erkannte an der Miene der alten Dame, die ihr, in einen Schal vermummt, in der Kutsche gegenübersaß, dass der Ausflug quer durch den New Forest in ihren Augen die Mühe wert gewesen war. Offenbar glaubte sie, etwas Wichtiges zu Fannys Zukunft beigetragen zu haben.

Allerdings war sich Fanny über ihre eigenen Gefühle ganz und gar nicht im Klaren. Mr. Martells Schweigen, das Wissen – Mrs. Pride hatte es ihr berichtet –, dass er sich selbst nach ihrer Abreise nicht bei ihr gemeldet hatte, und seine unheimliche Ähnlichkeit mit Penruddocks Porträt hatten sie sehr verstört. Außerdem fragte sie sich, was ihre arme Tante bei Martells Anblick wohl empfinden würde. Auch wenn ihre alten Augen vielleicht nicht mehr so scharf waren, würde ihr diese Ähnlichkeit gewiss nicht entgehen. Und sie hätte ihr gern einen weiteren Schock erspart.

Also hoffte sie inzwischen, dass er gar nicht da sein würde, als sie die High Street entlang zu den Versammlungsräumen fuhren. Kurz darauf bahnten sie sich langsam einen Weg durch die Pflanzen in den Ballsaal. Fanny fühlte sich wie betäubt.

Die Burrards waren nicht erschienen, wohl aber die Tottons. Ebenso der Graf d’Hector, seine Frau und alle französischen Offiziere. Die jungen Damen aus Mrs. Grockletons Akademie boten einen reizenden Anblick. Manche ihrer Eltern mochten zu bäuerlich gekleidet sein, mehr Puder als nötig verwenden, ein wenig zu laut lachen oder allzu schüchtern kichern, aber nur ein Mensch mit bösen Absichten hätte daran Anstoß genommen. Auch Mr. Gilpin war der Einladung gefolgt, wirkte jedoch ein wenig gereizt. Von Mr. Martell war nichts zu sehen.

Ihr Vater und Tante Adelaide wünschten, Platz zu nehmen, und Fanny musste Mr. Grockleton zugute halten, dass er die beiden alten Leute sofort unter seine Fittiche nahm. Er stellte ihnen Stühle in eine Ecke, holte passende Gesprächspartner wie den Arzt und seine Frau herbei und las ihnen jeden Wunsch von den Augen ab, sodass Fanny sich entfernen konnte, um mit ihren Freunden zu plaudern. Nachdem sie ihre Cousins begrüßt hatte, hielt sie es angesichts ihrer gesellschaftlichen Stellung für ihre Pflicht, die Runde durch den Raum zu machen. Eine Weile war sie so damit beschäftigt, hie und da ein freundliches Wort mit den Familien aus Lymington und den französischen Offizieren zu wechseln, dass sie sonst nicht viel bemerkte. Als sie sich hin und wieder umsah, stellte sie fest, dass Mr. Martell immer noch nicht erschienen war.

»Ein Menuett!«, rief Mrs. Grockleton. »Kommen Sie, Fanny und Edward. Sie müssen es anführen.«

Fanny und Edward waren beide gute Tänzer. Der Graf und seine Frau schlossen sich ihnen an, und auch die französischen Offiziere fanden rasch Partnerinnen. Es wurde fröhlich getanzt. Doch als Edward seiner Tanzpartnerin zuflüsterte, Mr. Gilpin sitze am Klavier, da Mrs. Grockleton die Kapelle vergessen habe, hätte Fanny sich vor Lachen biegen können. Auf das Menuett folgten einige weitere Tänze.

Dann befand der Vikar, dass er nun genug hatte, und erhob sich. Inzwischen hatten die beiden Geiger sich warm gespielt und stimmten einen Ländler an, der die Bürger von Lymington auf die Tanzfläche lockte. Also wurde Mr. Martell, der unbemerkt in den Saal trat, von einem sehr vergnügten, wenn auch nicht sonderlich eleganten Bild empfangen. Im nächsten Moment wurde verkündet, dass die Erfrischungen bereit standen.

Fanny sah ihn zunächst nicht. Mit Edwards Hilfe brachte sie ihrer Tante ein Stückchen Obstkuchen und ein Glas Champagner; mehr wollte die alte Dame nicht. Doch der alte Francis Albion, der sich glänzend zu amüsieren schien, verlangte einen Teller mit Schinken und Wein. Nachdem er seine Tochter mit einem ziemlich verwegenen Blick bedacht hatte, den sie noch gar nicht an ihm kannte, schlug er vor, sie solle ihm doch ein paar der jungen Damen vorstellen. Sehr verblüfft über die Verwandlung des alten Mannes, tat sie gehorsam, wie ihr geheißen.

Als sie kurz darauf mit einem französischen Offizier plauderte, spürte sie plötzlich, dass jemand neben ihr stand, und mit einem leichten Schauder wurde ihr klar, um wen es sich handelte.

»Ich habe Sie gesucht, Miss Albion«, sagte Mr. Martell, und sie sah ihm fast wider Willen ins Gesicht.

Unwillkürlich schnappte sie nach Luft, und offenbar konnte sie ihre Panik nicht verbergen, denn er runzelte die Stirn. Doch sie war machtlos dagegen. Denn sie erblickte neben sich den Mann, dessen Porträt sie am Abend zuvor gesehen hatte.

Es war unheimlich und mehr als eine bloße Ähnlichkeit des Haars, der düsteren Gesichtszüge oder der stolzen, herrischen Miene; nein, er und das Porträt schienen identisch zu sein. Kurz schoss es Fanny durch den Kopf, dass der Rahmen in dem dunklen Flur von Haus Hale jetzt gewiss leer war, da Oberst Penruddock sich schließlich nicht an zwei Orten gleichzeitig aufhalten konnte. Er hatte sich lediglich umgekleidet und stand nun neben ihr, hoch gewachsen, dunkel, sehr lebendig und bedrohlich. Sie wich einen Schritt zurück.

»Was haben Sie?« Natürlich war er verblüfft.

»Es ist nichts, Mr. Martell.«

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte er besorgt, aber sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte Sie schon früher aufsuchen sollen, doch Sir Harry hat mich ziemlich mit Beschlag belegt.«

»Sie hätten mich in den letzten beiden Tagen ohnehin nicht angetroffen, Mr. Martell. Ich war verreist.«

»Ah.« Kurz hielt er inne.

»In einem Haus, das ich kürzlich besucht habe, Mr. Martell, ist mir ein Bild aufgefallen, das Ihnen erstaunlich ähnlich sieht.«

»Wirklich? Hat es Sie so erschreckt, Miss Albion?«

Obwohl er sie mit dieser Bemerkung offenbar zum Lächeln bringen wollte, blieb ihre Miene ernst. »Das Gemälde stellt einen gewissen Oberst Thomas Penruddock aus Compton Chamberlayne dar. Etwa zur Zeit von Karl II. oder ein wenig später.«

»Oberst Thomas?« Neugierig musterte er sie. »Wo haben Sie das Bild denn gesehen?«

»In Hale.«

»Ich wusste gar nicht, dass es existiert. Was für ein Glück, Miss Albion, dass Sie es entdeckt haben. Ich muss es mir unbedingt anschauen.« Er lächelte. »Oberst Thomas war der Großvater meiner Mutter, mein Vorfahr. Aber wir besitzen kein Bild von ihm.«

»Dann sind Sie ein Penruddock?«

»Gewiss. Die Martells und die Penruddocks heiraten schon seit Jahrhunderten ineinander. Deshalb bin ich in vieler Hinsicht mit den Penruddocks verwandt.« Er schmunzelte. »Also ist jeder von uns sozusagen ein Martell und ein Penruddock in einem.«

»Ich verstehe.« Fanny bemühte sich um Ruhe. »Zwischen den Penruddocks und einer Familie namens Lisle im New Forest hat es Schwierigkeiten gegeben.«

»Davon habe ich gehört. Ich glaube, es ging um die Lisles von Moyles Court, obwohl ich zugeben muss, dass ich die Einzelheiten nicht kenne. Der andere Zweig der Familie war respektabler, oder?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Nein. Es ist ja auch lange her.«

Fanny blickte hinüber zu ihrem Vater und Tante Adelaide. Mr. Albion plauderte angeregt mit zwei jungen Damen, doch ihre Tante schien einzunicken. Ausgezeichnet. Es war besser, wenn sie nicht erfuhr, dass sich ein Penruddock im Raum befand.

»Wenn Ihr Vater so guter Stimmung ist«, meinte Mr. Martell, »darf ich Sie vielleicht aufsuchen…«

»Ich denke, das ist nicht ratsam, Mr. Martell.«

»Gut. Morgen veranstalten die Burrards ein Abendessen. Ich habe hier eine Einladung für Sie von Mrs. Burrard. Darf ich ihr sagen…«

»Ich fürchte, ich habe morgen bereits eine Verabredung, Mr. Martell. Würden Sie ihr bitte in meinem Namen danken. Ich werde ihr morgen schreiben.« Plötzlich fühlte sie sich sehr müde. »Jetzt muss ich mich um meinen Vater kümmern«, sagte sie.

»Natürlich. Aber der nächste Tanz gehört mir.«

Sie lächelte höflich, aber nichts sagend, und ergriff die Flucht. Martell blieb verdattert stehen. Offenbar war das Verhältnis zwischen ihnen abgekühlt, doch er konnte sich den Grund nicht erklären. Lag es daran, dass er sie während seines Aufenthalts vernachlässigt hatte? Gab es andere Ursachen? Ganz gewiss ließ sich die Angelegenheit aufklären, und er brannte darauf. Allerdings hinderte ihn die bedrohliche Anwesenheit ihres alten Vaters daran, ihr sofort nachzugehen. Außerdem tauchte kurz darauf Louisa auf, und als sie verkündete, sie sei hungrig, war er gezwungen, sie zum Büffet zu begleiten. Eine knappe halbe Stunde später stimmten die Geiger den nächsten Tanz an, doch Fanny rührte sich nicht mehr aus ihrer Ecke.

Inzwischen bemerkten einige der kritischeren Gäste im Saal, dass mit Mrs. Grockletons Ball nicht alles zum Besten stand. Die beiden Geiger plagten sich zwar redlich ab, doch einer von beiden war mittlerweile recht rot im Gesicht. Außerdem griff er zwischen den Tänzen – oder sogar währenddessen – immer wieder nach einem Krug, der sicherlich kein Wasser enthielt.

Spielten sie ein wenig falsch? Fehlte hie und da eine Note? Derartige Fragen wären ungehörig gewesen. Mr. Grockleton murmelte seiner Frau zu, er werde nun den Krug entfernen, doch diese warnte ihn: »Wenn du das tust, spielt er vielleicht gar nicht mehr.« Also blieb der Krug an seinem Platz.

Der Tanz war, wenn auch ein wenig außer Takt, aber doch in vollem Gange, als Mr. Martell endlich wieder in den Ballsaal kam und Fanny allein dastehen sah. Sofort ging er auf sie zu, ohne dass sie ihn bemerkte, denn ihr Blick galt anderen Dingen.

Tante Adelaide war in ihrem bequemen Sessel eingeschlafen.

Doch der alte Francis Albion befand sich in einer Stimmung, die sie noch nie bei ihm erlebt hatte. Inzwischen hatte er sein zweites Glas Wein intus und war allerbester Laune. Die Damen, angefangen von Fannys Schulfreundinnen bis hin zur Frau des Grafen, hatten ihn ins Herz geschlossen. Mindestens sechs von ihnen hatten sich um ihn geschart, saßen ihm zu Füßen, und nach dem Funkeln in seinen blauen Augen und ihrem Gekicher zu urteilen, unterhielt er sich ausgezeichnet. Fanny schüttelte verwundert den Kopf. Vermutlich war ihr Vater während seiner langen Wanderjahre vor ihrer Geburt ein geselligerer Mensch gewesen, als sie geahnt hatte.

»Geben Sie mir die Ehre, mir den nächsten Tanz zu schenken?«

Fanny drehte sich um. Sie hatte sich schon überlegt, was sie in diesem Fall tun sollte. Nun hoffte sie, dass sie ihren Entschluss auch durchhalten würde. »Danke, Mr. Martell, aber ich möchte gerade nicht tanzen. Ich bin ein wenig müde.«

»Das tut mir Leid. Aber wenigstens habe ich so Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen. Mein Besuch hier ist bald zu Ende. Ich kehre nach Dorset zurück.«

Sie neigte den Kopf und lächelte nichts sagend. Gleichzeitig ließ sie den Blick durch den Raum schweifen und suchte nach einer Möglichkeit, nicht weiter mit ihm plaudern zu müssen, ohne unhöflich zu wirken. Sie entdeckte den Grafen und nickte ihm zu. Mr. Gilpin sah leider nicht in ihre Richtung.

Schließlich nahte die Rettung aus einer anderen Richtung, und zwar in Gestalt von Mrs. Grockleton.

»Ach, Mr. Martell, da sind Sie ja! Aber wo steckt denn unsere liebe Louisa?«

»Ich glaube, Mrs. Grockleton, sie ist…«

»Ist das zu fassen, Sir? Wollen Sie damit sagen, dass Sie sie verloren haben?« Hatte Mrs. Grockleton sich etwa ein paar Gläschen Champagner genehmigt? »Sie müssen sie sofort wieder finden, Sir. Und was diese junge Dame betrifft«, sie drohte Fanny scherzhaft mit dem Finger, »mir deucht, ich habe unlängst von einem gewissen Fräulein gehört, das einen Herrn in Hale besucht hat.« Sie strahlte Fanny an. »Ich habe mit Ihrer Tante gesprochen, Miss. Sie hat eine hohe Meinung von Ihrem Mr. West.«

»Ich kenne Mr. West kaum, Mrs. Grockleton.«

»Sie hätten ihn mitbringen sollen!«, rief Mrs. Grockleton zu Fannys offensichtlicher Verlegenheit aus. »Mir deucht, Sie verstecken ihn.«

Fanny wusste nicht, wie sie ihre Gastgeberin zum Schweigen bringen sollte. In diesem Moment erschien der galante Graf d’Hector und bat sie, das Menuett, das gerade angestimmt wurde, mit ihm zu tanzen. Nachdem sie Mr. Martell – nicht wahrheitsgemäß – zugeflüstert hatte, sie habe dem Grafen diesen Tanz versprochen, nützte sie erleichtert diese Möglichkeit zur Flucht.

»Soll ich Sie wieder zu Mrs. Grockleton zurückbringen, wenn dieser Tanz vorbei ist?«, fragte der Franzose mit einem Augenzwinkern.

»Bitte so weit weg wie möglich«, flehte sie.

In der nächsten Viertelstunde gelang es ihr, Mr. Martell aus dem Weg zu gehen. Sie sah, dass er mit Louisa tanzte. Dann suchte sie bei Mr. Gilpin Schutz und beobachtete eine Weile unbehelligt mit ihm das Treiben.

Leider war es inzwischen nicht mehr zu leugnen, dass mit Mrs. Grockletons Ball einiges im Argen lag. Es wäre ratsam gewesen, dem Geiger den Krug abzunehmen, denn er enthielt eine gefährliche Mischung aus Wein und Brandy, sodass ihm mittlerweile die Finger von den Saiten rutschten. Seltsame Missklänge waren zu hören, eigenwillige Rhythmuswechsel brachten die Tänzer aus dem Takt. Einige Leute begannen zu kichern. Als Fanny einen Blick in Richtung Eingang warf, bemerkte sie, dass Isaac Seagull still dastand und die Szene belustigt betrachtete. Sie fragte sich, was für Gedanken dem alten Spötter wohl gerade im Kopf umhergingen. Und plötzlich fiel ihr ein, dass seine Anwesenheit, die sie an die finsteren Geheimnisse ihrer eigenen Abstammung erinnerte, ebenso unpassend war wie die falschen Akkorde.

»Man muss etwas unternehmen«, murmelte Reverend Gilpin. »Wenn Grockleton nicht zur Tat schreitet, werde ich es tun.« Und wie auf ein Stichwort gab die Geige ein ohrenbetäubendes Kreischen von sich, sodass die Tänzer wie angewurzelt stehen blieben.

In diesem Moment trafen sich die Blicke von Mr. Grockleton und dem Vikar. Auf ein Zwinkern und ein heftiges Nicken von Mr. Gilpin hin trat der Zollinspektor vor, klatschte in die Hände und verkündete: »Meine Damen und Herren, ich weiß, dass es für einige von Ihnen sehr spät geworden ist. Deshalb hat sich Mr. Gilpin freundlicherweise bereit erklärt, uns noch zu einem letzten Tanz aufzuspielen. Das ist wirklich zu gütig von Ihnen, Sir. Also noch zwei Menuette.«

Zuerst verlief alles reibungslos. Fanny tanzte mit einem französischen Offizier, Louisa war wieder Mr. Martells Partnerin. Doch Fanny gab sich Mühe, die beiden nicht anzusehen. Mr. Gilpin schlug sich sehr wacker am Klavier. Aber dann kam es zum großen Eklat.

Die beiden Geiger waren nämlich zu der Ansicht gelangt, dass sie ihre musikalischen Fertigkeiten noch nicht zur Genüge dargeboten hatten. Außerdem glaubten sie offenbar, dass Mr. Gilpin Begleitung nötig hatte. Deshalb drang den Tanzenden plötzlich das Schnarren von Saiten an die Ohren. Selbst das hätte man hinnehmen können, denn Mr. Gilpin ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Allerdings gelangten die Geiger zu guter Letzt zu der Erkenntnis, dass Begleitung allein nicht genügte. Und so wurde das Geigenspiel immer lauter und lauter und steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Getöse. Leider jedoch handelte es sich nicht um dieselbe Melodie, die der Vikar von Boldre angestimmt hatte, sondern um einen Ländler. Die Tanzenden blieben stehen. Auch Mr. Gilpin hielt mit finsterer Miene inne.

Mr. Grockleton trat vor und versuchte, den Geigern ins Gewissen zu reden, aber die spielten ungerührt weiter. Als er ihnen in den Arm fallen wollte, bekam er mit der Geige einen Schlag auf den Kopf. Mr. Grockleton erbleichte vor Wut, packte einen der Übeltäter und wollte ihn von der Bühne zerren. Doch der andere griff nach seinem Krug, entleerte ihn über den Zollinspektor und prügelte dann mit dem Bogen auf den Gastgeber ein. Womöglich hätte er ihn gar verletzt, hätte er nicht plötzlich Mrs. Grockletons Fingernägel in seinem Fleisch gespürt. Die Gründerin der Akademie zog ihn am Ohr aus dem Saal, vorbei an einem grinsenden Isaac Seagull und den Topfpflanzen, und verfrachtete ihn an die frische Luft.

Die guten Bürger von Lymington klatschten kichernd in die Hände und lachten Tränen, was vermutlich, da es ohnehin nicht gelungen war, die Form zu wahren, das Beste war. Mr. Gilpin, inzwischen reichlich verärgert, doch noch immer fest entschlossen, den Abend zu retten, wartete geduldig einige Minuten und fuhr dann tapfer mit dem Menuett fort. Die Gäste taten ihm den Gefallen und brachten den Tanz zu Ende. Als die Grockletons zurückkamen, herrschte noch überall Gekicher, sodass es den guten Vikar einige Beherrschung kostete, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Aber der Kirchenmann legte sich mächtig ins Zeug. »Meine Damen und Herren«, verkündete er und trat in die Mitte des Saals. »In den Tagen des alten Roms war es Sitte, einem siegreichen General einen triumphalen Empfang zu bereiten. Und sicher stimmen Sie mir zu, dass auch unsere freundlichen Gastgeber einen solchen Empfang verdient haben, denn sie haben die Barbaren von unseren Pforten vertrieben.«

Die Gäste trampelten mit den Füßen und riefen: »Hört, hört!« Dann wurde wieder Beifall geklatscht. Fanny vernahm neben sich eine Stimme, die sie als die von Mr. Martell erkannte. »Gut gemacht, Sir«, murmelte er.

»Und nun stehe ich für den letzten Tanz zu Ihrer Verfügung«, erklärte der Reverend. »Mrs. Grockleton, was soll ich spielen?«

Es wäre falsch gewesen zu behaupten, dass plötzlich Schweigen im Raum herrschte. Überall wurde hinter vorgehaltener Hand, dem Rücken anderer Leute oder Taschentüchern und Fächern getuschelt. Und Mrs. Grockleton hörte das sehr wohl. Also lächelte sie tapfer und erwiderte: »Einen Ländler bitte.«

Offenbar hatten alle Lust zu tanzen. Die französischen Adeligen, die Kohlenhändler, der Arzt und die Anwälte. Fanny glaubte sogar zu sehen, wie Mr. Isaac Seagull das Tanzbein schwang. Mr. Gilpin stimmte ein Lied an, offenbar in der Absicht, dass sich alle zum Abschluss noch einmal richtig amüsierten.

Nur Fanny tanzte nicht. Sie stand abseits und war mit der Rolle einer unbemerkten Beobachterin zufrieden. Martell konnte sie nirgendwo entdecken. Louisa tanzte mit einem jungen Franzosen. Fanny runzelte die Stirn. Und dann dämmerte es ihr. Da sie kurz vor dem Tanz hinter sich seine Stimme gehört hatte, hatte er sich offenbar nicht von der Stelle gerührt. Sie wagte nicht, sich umzublicken, denn sie wollte verhindern, dass er sie abermals aufforderte. Doch was tat er da hinter ihr? Wollte er sie gleich ansprechen? Warum sollte sie mit ihm reden, wo er doch ein Penruddock war? Sie wünschte, er würde endlich verschwinden.

Inzwischen tat sich etwas auf der Tanzfläche. Ein paar junge Mädchen hatten sich wie ein Schwarm Bienen um Louisa geschart, und diese sagte etwas zu ihrem Tanzpartner, der mit einem liebenswürdigen Lächeln die Achseln zuckte. Nun bewegte sich der Schwarm, angeführt von Louisa, auf Fannys Vater zu. Louisa beugte sich zu dem alten Mann hinunter und richtete das Wort an ihn. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass Mr. Albion sich geschmeichelt fühlte. Tante Adelaide, die mittlerweile aufgewacht war, protestierte, doch der alte Mann tat ihren Einwand ab. Nun stand ihr Vater, ein Mädchen zu jeder Seite, auf. Die anderen kreischten und applaudierten. Mein Gott, Louisa Totton hatte den alten Mann zum Tanzen aufgefordert.

Und dann tanzte er – natürlich ein wenig steif – mit Louisa, die ihn dabei geschickt stützte. Francis Albion tanzte einen Ländler. Die anderen Gäste bildeten einen Kreis um die beiden, und alle klatschten dem alten Mann Beifall, der nach so vielen Jahren wieder das Tanzbein schwang. Und wenn das hübsche junge Mädchen ihn dabei stützen musste, wirkte das nur umso rührender. Fanny stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse, denn sie freute sich für ihn und fürchtete gleichzeitig um seine Gesundheit. Ihr Vater tanzte mit seinen fast neunzig Jahren in der Öffentlichkeit. Louisa strahlte vor Freude und aufrichtiger Bewunderung. Mit einer Geste, die wohl »jetzt werde ich es euch mal zeigen« besagen sollte, löste sich der alte Francis von seiner Partnerin und vollführte zur allgemeinen Begeisterung ein paar schnelle Schritte. Während Applaus ausbrach, wandte er sich wieder Louisa zu. Doch plötzlich wurde er leichenblass, rang nach Atem, zerrte heftig an seinem Kragen und stürzte bäuchlings auf die Tanzfläche. Mr. Gilpin, der nicht bemerkt hatte, was geschehen war, spielte noch ein paar Takte, bis ihn das entsetzte Schweigen innehalten ließ.

»Oh, meine liebe Miss Albion.« Sie hörte Martells Stimme hinter sich. Ohne sich nach ihm umzudrehen, eilte sie durch die Menge. Mrs. Prides kräftige Arme hatten den zierlichen alten Herrn bereits vom Boden aufgehoben. Wortlos trug sie ihn, gefolgt von Mr. Gilpin und dem Arzt, zum Eingang und an die frische Luft.

Kurz darauf holten die ratlosen Gäste ihre Mäntel und verabschiedeten sich.

Und die arme Mrs. Grockleton, die einen solchen Abend hatte durchmachen müssen, wandte sich verzweifelt an ihren Mann. »Meiner Treu«, jammerte sie.

 

 

Das Schwein stand bereit, und der Mond hing hoch am Himmel, als der Wagen mit Caleb Furzey auf dem Pfad quer über die mit Ginster bewachsene Ebene von Wilverley Plain auf sie zugerumpelt kam.

Der Himmel war sternenklar. Der Mond verbreitete ein fahles Dämmerlicht.

Die sechs Jungen warteten bei dem Baum, der der »Nackte Mann« hieß. Das Schwein war erstaunlich ruhig, wahrscheinlich deshalb, weil sie es gut gefüttert hatten. Nur hin und wieder grunzte es.

Immer näher kam das Gefährt. Das Pferd ging im Schritt. Caleb Furzeys Füße ragten über den Wagenrand. Der leere Wagen wirkte als Klangkörper, der sein Schnarchen geisterhaft verstärkt zum Himmel emporsteigen ließ.

Nathaniel und Andrew Pride traten vor. Da das alte Pferd sie erkannte, blieb es sofort stehen, als Nathaniel es am Zaumzeug nahm.

Es war nicht weiter schwierig, das Tier auszuschirren. Andrew hatte die Aufgabe, es wegzuführen und es nur an einem Baumstumpf auf der anderen Seite der Ebene anzubinden, und zwar hinter einem großen, einige Meter entfernten Ginsterbusch. Dann mussten sie nur noch das Schwein an Stelle des Pferdes vor den Wagen spannen.

Das selbst gebastelte Geschirr erfüllte seinen Zweck sehr gut, doch die Deichsel des Wagens war viel zu hoch. Vergeblich versuchten zwei der Jungen, sie herunterzudrücken.

Zwei weitere Jungen hängten sich mit ihrem ganzen Gewicht an die Deichsel. Diese senkte sich zwar ein Stück, aber nicht tief genug. Außerdem schien dem Schwein die Sache nicht geheuer zu sein. Nathaniel hielt das Tier, das eine beachtliche Größe aufwies, nur mit Mühe fest. Wenn es die Flucht ergriff, würde er es nicht daran hindern können. Während er sich an das Geschirr des Schweins klammerte, hörte er aus dem Wagen ein Geräusch. Calebs Füße bewegten sich, und das Schnarchen hörte auf.

Plötzlich kippte der Wagen vorwärts, und ein Poltern ertönte. Caleb war nach vorne gerollt.

»Schnell.«

Nun war es eine Sache von Minuten, das Schwein anzuschirren. Nathaniel hielt das Tier weiterhin fest und versuchte es zu beruhigen. Dann traten die anderen zurück. Ängstlich betrachteten sie den Wagen, aber Furzey war erstaunlicherweise nicht aufgewacht.

»Jetzt.«

Sie liefen davon, allerdings nicht weit, und versteckten sich hinter dem Ginsterbusch, wo Andrew sie schon erwartete.

»Ihr wisst, was ihr zu tun habt«, sagte Nathaniel und fing an, sich auszuziehen. Die anderen nahmen ihre Posten ein. Nun konnte der Spaß richtig losgehen.

Wie durch ein Wunder rührte sich das Schwein über eine Minute lang nicht von der Stelle. Und dann setzte es sich in Bewegung.

Es war zwar viel kleiner als das Pferd, aber schwer und sehr kräftig. Der Wagen rollte los, doch dem Schwein war es offenbar nicht ganz recht, in seinem Bewegungsdrang von einem Gegenstand gehemmt zu werden, der ihm überdies noch folgte. Mit einem lauten Grunzen versuchte es loszurennen. Wieder verhinderte der Wagen die Flucht und ließ das Schwein nicht entrinnen. Die Wut des Tiers wuchs. Mit zornigem Gebrüll und Gequieke versuchte es sich von der Deichsel zu befreien.

Caleb Furzey schlug die Augen auf. Er war endlich aus seinem Schlaf erwacht und blinzelte verwirrt.

Der Vollmond stand hoch über Wilverley Plain. Um Caleb Furzey herum war alles in ein unheimliches, silbriges Licht getaucht. Der »Nackte Mann« reckte seine Arme in den Himmel, als hole er aus, um nach Caleb zu schlagen. Wieder blinzelte der Bauer. Was für ein seltsames Geräusch hatte ihn da geweckt? Er richtete sich auf und beugte sich vor. Sein Pferd war verschwunden. Stattdessen hing etwas anderes im Geschirr, das so seltsame Laute ausstieß, dass er erschrocken zurückwich. Der Wagen drohte umzukippen.

Das Schwein wurde in die Luft gehoben. Es quiekte, kreischte und ruderte wild mit den Beinen. Und Caleb Furzey stieß einen Schreckensschrei aus.

Sein Pferd hatte sich bei Vollmond in ein Schwein verwandelt. Jeder Bauer wusste, was das zu bedeuten hatte: Hexen und Feen. Jemand hatte ihn verzaubert! Er wollte schon aus dem Wagen klettern, als er noch etwas viel Schrecklicheres bemerkte. Zwischen den Ginsterbüschen huschten unter lautem Geheule kleine nackte Gestalten herum. Sie waren überall. Ganz sicher waren das Elfen. Er musste verrückt gewesen sein, bei Vollmond ausgerechnet nach Burley zu fahren. Während die Gestalten weiter umherwimmelten, steigerte sich das Quieken des Schweins zu einem ohrenbetäubenden Getöse. Der Wagen schwankte hin und her. In seiner Angst sah Caleb, wie sich das Schwein vom leuchtenden Mond abhob. Mit einem Aufschrei schlug er die Hände vors Gesicht und ließ sich bäuchlings in den Wagen fallen, der wieder nach vorne kippte.

Und so lag der arme Caleb Furzey, zu einer Kugel zusammengerollt und zitternd vor Furcht, etwa eine halbe Stunde lang da. Nachdem es eine Weile still geblieben war, wagte er, den Kopf zu heben.

Der Mond stand hoch am Himmel. Der »Nackte Mann« reckte noch immer drohend die Äste. Aber das Schwein war verschwunden, und auch die Elfen hatten sich offenbar wieder unter die Erde zurückgezogen. Etwa zweihundert Meter entfernt auf der silbrig beschienenen Ebene von Wilverley Plain weidete sein Pferd friedlich das Gras ab.

Ungefähr anderthalb Kilometer weiter gab Nathaniel seine letzten Anweisungen: »Kein Wort, nicht einmal an eure Brüder und Schwestern. Vergesst nicht, wenn jemand redet, ist es vorbei mit uns.« Er betrachtete sie feierlich. »Schwört es.« Alle folgten der Aufforderung. »Dann ist es gut«, meinte Nathaniel.

 

 

Wyndham Martell konnte nicht schlafen. Im großen Haus der Burrards war es still. Die anderen waren längst zu Bett gegangen. Doch er saß immer noch hellwach in seinem Zimmer.

Durch das Fenster fiel Mondlicht herein. Martell sagte sich, dass es der Vollmond war, der ihn keinen Schlaf finden ließ.

Man hatte den alten Francis Albion nach Hause gebracht. Zuerst hatte der Arzt einen Schlaganfall vermutet, war dann allerdings zu einem anderen Ergebnis gelangt. Man hatte den Kranken mit ein wenig Brandy gestärkt und nach etwa einer Stunde, begleitet von Reverend Gilpin, nach Hause geschickt.

Obwohl seine Anwesenheit offenbar unerwünscht war, hatte Martell gewartet und den Wirt des Angel Inn angewiesen, ihn auf dem Laufenden zu halten, bevor er zu den Burrards zurückkehrte. Er hatte Fanny kurz bei der Abfahrt gesehen, ohne dass sie ihn bemerkt hätte. Sie wirkte gefasst, aber aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. Gewiss war ihr der Zwischenfall peinlich, obwohl dazu seiner Ansicht nach überhaupt kein Anlass bestand.

Eine andere Frage ließ ihn einfach nicht los: Warum hatte sich Fannys Verhalten ihm gegenüber so plötzlich verändert? Natürlich war es möglich, dass er sie von Anfang an missverstanden hatte und dass sie gar nichts von ihm wissen wollte. Vielleicht hatte seine eigene Eitelkeit ihn getäuscht. Andererseits musste ein Mann seinem Instinkt vertrauen, und Martell war sicher gewesen, dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte. Weshalb also auf einmal diese Kälte? Sogar in ihrem Blick. Obwohl sie zugegebenermaßen gute Gründe dafür hatte, steckte gewiss doch mehr dahinter. Auch wenn Mrs. Grockletons Aussagen in diesen Dingen nicht sehr zuverlässig waren, existierte besagter Arthur West wohl tatsächlich, war vielleicht sogar Junggeselle und deshalb ein Faktor, der nicht vernachlässigt werden durfte. Ich hätte früher zurückkommen sollen, dachte er sich, anstatt Spielchen zu treiben. Aber war das wirklich die Erklärung für ihr kühles Verhalten? Und was sollte er jetzt unternehmen?

Doch dazu musste er sich zuerst darüber klar werden, was er eigentlich wollte.

Es nützte nichts. Er würde ohnehin keinen Schlaf finden. Martell griff nach seinen Stiefeln und schlich die Treppe hinunter nach draußen. Es war eine wunderschöne und warme Septembernacht. Die Sterne über dem New Forest funkelten kristallklar vom Himmel. Im Mondlicht machte er sich auf den Weg zur Heide von Beaulieu.

Gemütlich schlenderte er die Heide entlang und an Oakley vorbei. Er hatte kein besonderes Ziel, und er war etwa anderthalb Kilometer weit gekommen, als ihm einfiel, dass die Kirche von Boldre ganz in der Nähe sein musste. Und wirklich, nachdem er dem Pfad eine Weile gefolgt war, stieß er auf das heimelige Gotteshaus, das sich im Mondlicht auf dem Hügel erhob. Er umrundete das Gebäude und dachte daran, dass es von hier aus nicht weit nach Haus Albion war. Also nahm er die Straße hinab ins Tal und schlug dann den Weg ein, der durch den Wald nach Norden führte. Als er den Fluss über die Steine plätschern hörte, schritt er die noch finstere Auffahrt hinunter, bis er die Lichtung erreichte. Vor sich sah er die geisterhaften Giebel des Hauses, die ins kalte Mondlicht ragten. Vorsichtig pirschte er sich weiter und hielt sich am Rand des Grundstücks, da er nicht die Hunde wecken oder die Aufmerksamkeit wachsamer Geister erregen wollte, die vielleicht oben in den Balken oder auf den Kaminen Posten bezogen hatten, um Ausschau zu halten.

Er fragte sich, welches Zimmer wohl ihres war. Wo schlief der alte Francis Albion? Welche Geschichte hatte dieses alte Haus, und welche Geheimnisse beherbergte es? Konnte es sein, dass Fannys ablehnende Haltung ihre Ursache nicht nur in Gleichgültigkeit oder im Vorhandensein eines Nebenbuhlers hatte? Lag der Grund in ihrer Seele, hing ihr sonderbarer Stimmungsumschwung mit diesem Haus zusammen?

Auch wenn er glaubte, dass ihm seine Phantasie einen Streich spielte, harrte er noch eine Weile aus. Er suchte sich eine Stelle, von der aus er das Fenster, das er für ihres hielt, gut im Blick hatte. Etwa eine Stunde lang blieb er dort stehen.

Einige Zeit vor Morgengrauen, die Schatten der Bäume auf dem mondbeschienenen Rasen waren noch lang, sah er, wie sich die hölzernen Fensterläden öffneten. Dann ging das Fenster auf.

Fanny trug ein weißes Nachthemd. Sie starrte ins Mondlicht hinaus. Das Haar fiel ihr offen über die Schultern, und ihr Gesicht – so schön und doch so traurig – wirkte unwirklich und geisterhaft. Sie bemerkte ihn nicht, und nach einer Weile schloss sie die Läden wieder.

Die Oktoberluft war schon frisch, als Puckle nach Beaulieu Rails kam. Draußen in der dunstigen, braunen Heide kündete das urwüchsige Röhren eines Rothirsches davon, dass die Brunftzeit begonnen hatte.

Puckle war müde. Den ganzen Tag lang hatte er in Buckler’s Hard gearbeitet. Dann hatte er einem Freund auf dem Bauernhof, der früher das Gut St. Leonards gewesen war, einen kurzen Besuch abgestattet. Nun ging er auf die Hütten am Rande der Heide zu. Es dämmerte, und er wollte nur noch ins Bett. Gerade hatte er die Tür seiner kleinen Kate erreicht, als ihn ein Geräusch herumfahren ließ. Es war das Hufgetrappel eines Pferdes, das sich auf dem Pfad näherte – ein Pferd und ein Reiter. Noch ehe Puckle sich umgedreht hatte, wusste er, wer der Besucher war.

Trotz der Dunkelheit waren Isaac Seagulls kinnloses Gesicht und sein spöttisches Lächeln unverkennbar.

Der Schmuggler sprach erst, als er nahe genug an Puckle herangekommen war. »Ich werde dich bald brauchen«, sagte er leise. Puckle holte tief Luft.

Es war Zeit.

 

 

Die Erheiterung in Oakley war groß, als Caleb Furzey berichtete, er sei verhext worden.

»Vergiss nicht, dass du betrunken warst«, meinten die Nachbarn wohlwollend. »Trink doch noch einen und erzähl uns dann, wie viele Elfen du siehst«, spotteten sie. Oder: »Finger weg von diesem Pferd, es könnte sich in ein Schwein verwandeln.«

Doch Furzey wich keinen Schritt von seiner Geschichte ab. Und seine Schilderung des Schweins und der Geister oben bei Wilverley Plain war so lebhaft, dass einige Leute in Oakley ihm fast glaubten. Nur Pride bedachte den kleinen Nathaniel mit einem forschenden Blick. Doch falls er einen Verdacht hatte, hielt er es offenbar für besser, kein Wort darüber zu verlieren. So vergingen die Tage und Wochen. Abgesehen von ein paar Scherzen und von dem Gelächter über den leichtgläubigen Bauern blieb es in dem kleinen Weiler im New Forest am Rande der Heide von Beaulieu ruhig.

 

 

Es dauerte nicht lang, bis Mr. Arthur West in Haus Albion vorsprach. Er erschien in einer eleganten Kutsche und erklärte, er werde ein oder zwei Tage bei den Morants in Brockenhurst verbringen. Bekleidet war er mit einem schweren Kutschermantel und einem Hut.

Tante Adelaide empfing ihn begeistert, und da er der Neffe seines Freundes war, kam nicht einmal der alte Francis umhin, ihn höflich zu behandeln. Der Gast plauderte freundlich, locker und vergnügt mit Fanny und achtete darauf, keine Einladung auszusprechen, die sie zwingen würde, ihren Vater allein zu lassen. Stattdessen merkte er an, sie würden sich sicher bald bei einem ihrer Nachbarn wieder sehen, worauf er sich bereits sehr freue.

Im Großen und Ganzen hat er es geschickt angefangen, dachte Fanny belustigt. Und ihr wurde klar, dass sie ihm dafür dankbar war. Bei Mr. West wusste man, woran man war. Er war vernünftig, er war ledig, er würde sich mit den jungen Damen der Grafschaft bekannt machen, und wenn man ihm zu verstehen gab, seine Aufmerksamkeit sei erwünscht, würde er langsam und mit Bedacht zu Werk gehen. Sie würden sich hie und da bei einem Abendessen oder bei einem Tanz treffen, und wenn sich daraus etwas entwickelte, gut und schön.

Mr. West überbrachte ihnen auch eine Neuigkeit: »Gestern hatte ich Besuch von einem Herrn, den Sie kennen. Er ist ein Freund der Tottons – Mr. Martell.«

Zu ihrer Verlegenheit spürte Fanny, wie sie erst erbleichte und dann errötete. Als sie Mr. Wests erstaunten Blick bemerkte, erklärte sie rasch: »Ich fürchte, Vater und Mr. Martell hatten eine Auseinandersetzung, als er das letzte Mal hier war.«

Francis Albion, dessen Schwächeanfall auf Mrs. Grockletons Ball allen Gästen einen großen Schrecken eingejagt hatte, war inzwischen wieder ganz der Alte. Allerdings bestand auch weiterhin die Möglichkeit, dass er einem Schlaganfall erlag, doch wie der Arzt Mr. Gilpin anvertraut hatte, konnte er auch durchaus noch hundert Jahre alt werden. Und eines stand fest: Solange er lebte, würde er seinen Willen durchsetzen. »Martell? Ein ausgesprochen unverschämter junger Mann«, wandte er nun ein, ohne dass ihm der Zwischenfall im Mindesten peinlich war.

»Wie dem auch sei«, fuhr Mr. West fort. »Er wollte sich unbedingt ein Bild im Haus anschauen, das einen seiner Vorfahren darstellt. Und ich muss sagen, dass ich wirklich verblüfft war, als wir es in Augenschein nahmen. Er ist dem Porträtierten wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie haben das Gemälde ja selbst gesehen.« Er wandte sich an Tante Adelaide. »Der dunkelhaarige Herr, dessen Bild oben im Flur hängt. Oberst Penruddock.«

»Dieser junge Tunichtgut war ein Penruddock?«, rief Francis aus, während Tante Adelaide keine Miene verzog.

»Entschuldigen Sie.« Mr. West blickte zwischen den beiden hin und her. »Offenbar gibt es da ein familiäres Zerwürfnis, von dem ich nichts ahnte.«

»In der Tat, Mr. West«, erwiderte Tante Adelaide gefasst. »Doch das konnten Sie wirklich nicht wissen. Jedenfalls«, fuhr sie mit einem höflichen Lächeln fort, »verkehren wir nicht mit den Penruddocks.«

»Ich werde es mir in Zukunft merken«, versprach Mr. West mit einer Verbeugung.

Offenbar war Mr. West durch diesen Schnitzer nicht in Tante Adelaides Gunst gesunken, und sie teilte ihm zum Abschied mit, dass er jederzeit in diesem Haus willkommen sei.

»Ich finde, er ist ein sehr angenehmer Mann«, antwortete Fanny auf den fragenden Blick ihrer Tante. Und als Francis nörgelte, er hoffe, Mr. West werde nicht ständig wie eine Fliege im Haus herumschwirren, erwiderte sie mit einem Lachen, der Herr habe gewiss noch anderes zu tun.

Allerdings blieb Mr. West nicht der einzige Besucher in Haus Albion. Es mochte am Zufall oder am Zuspruch eines Freundes wie Mr. Gilpin liegen, jedenfalls sorgte die Vielzahl der Gäste dafür, dass Fanny nicht vereinsamte. Einer der charmantesten Besucher war der Graf d’Hector, der einmal mit seiner Frau und einmal allein vorsprach.

 

 

Eines Nachmittags kam Nathaniel gerade aus Mr. Gilpins Schule, als er auf der Straße von einem Mann aufgehalten wurde. Obwohl Nathaniel ihn nicht kannte, schloss er aus seinem Aussehen, dass er zur Familie Puckle gehörte. Und als der Fremde ihn fragte, ob er sich nicht sechs Pence verdienen wollte, war er ganz Ohr.

»Ich war gerade in Haus Albion. Miss Albion hat mich gebeten, diesen Brief nach Lymington zu bringen. Ich wollte es ihr nicht ausschlagen, aber es wäre ein Umweg für mich. Er ist an einen Franzosen gerichtet, hat sie gesagt.«

»Das sehe ich selbst.« Schließlich konnte Nathaniel lesen, und Fanny hatte eine ordentliche Handschrift. Das Schreiben war an den Grafen adressiert. Sechs Pence waren nicht zu verachten. »Ich bringe ihn hin«, meinte Nathaniel. »Auf der Stelle.«

Die Sterne waren hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden, und der Himmel über dem Meer pechschwarz. Nur das leise Plätschern der Wellen am Strand, der in dieser mondlosen Novembernacht aber nur zu erahnen war, wies darauf hin, dass sich da draußen etwas bewegte. Ideales Schmuggelwetter.

Puckle stand auf einer kleinen Anhöhe an der Küste. Die Marschen vor ihm erstreckten sich bei Ebbe viele hundert Meter weit. Allerdings wurden sie von langen Seitenarmen durchzogen, welche die Einheimischen als Seen bezeichneten. Links von ihm, etwa einen halben Kilometer entfernt, befand sich ein kleiner Landeplatz der Schmuggler, der Pitts Deep hieß. Etwa genauso weit weg auf der anderen Seite lag Tanners Lane. Und dahinter begann der Park eines stattlichen Herrenhauses namens Pylewell. Jenseits davon lagen die Ländereien der Burrards; von dort aus waren es noch ungefähr drei Kilometer nach Lymington.

Es war still. Der Pächter des Gutes Pylewell stand schon seit längerem in Verdacht, einer der wichtigen Drahtzieher des Freihandels zu sein. Angeblich waren bei Pitts Deep Hunderte von Brandyfässern vergraben.

Puckle hielt eine Laterne in der Hand, die sehr seltsam aussah, denn sie hatte an Stelle eines Fensters eine lange Tülle. Wenn man diese aufs Meer richtete, konnte man Lichtzeichen senden, indem man die Hand davor hin und her bewegte. Nur die Schmuggler in ihren Schiffen auf dem Wasser erkannten dieses Signal. Inzwischen hatte die Flut begonnen.

Puckle hatte Grockleton den Plan erklärt, der eigentlich sehr einfach war. Wenn die Flut einsetzte, brachten die Schmuggler die Ware an den Strand und verschwanden wieder. Dann kamen die Freihändler von der Tanners Lane her, um das Schmuggelgut abzuholen – der Augenblick für Grockleton und seine Leute, um zuzuschlagen.

»In einer Stunde«, meinte Puckle bemüht ruhig zu dem Mann, der reglos neben ihm stand. Grockleton nickte wortlos.

Er hatte seinen Feldzug sorgfältig geplant, und bis jetzt war alles reibungslos verlaufen. Der Brief von Fanny Albion war ein ausgezeichneter Einfall gewesen. Er hatte einen Umschlag benutzt, den sie vor einiger Zeit an seine Frau geschickt hatte, und ein kurzes Schreiben verfasst. Falls der Brief in die falschen Hände fiel, würden darin nur der Dank für ein geliehenes Buch und Grüße von ihrem Vater und Adelaide zu lesen sein. Den Brief hatte er Puckle übergeben, der wiederum Nathaniel damit beauftragt hatte, ihn dem Grafen zu bringen. Dieser hatte Anweisungen, Grockleton unverzüglich Mitteilung davon zu machen, dass eine große Schmuggellieferung unterwegs sei. Für diesen Fall waren Grockleton und Puckle wieder am Rufusfelsen verabredet.

Die militärische Seite hatte Grockleton sogar noch sorgfältiger vorbereitet. Er hatte niemandem reinen Wein eingeschenkt, denn weder seine Frau noch seine eigenen Soldaten durften wissen, was gespielt wurde. Der Oberst hatte sechzig seiner besten Leute nach Buckland verlegen lassen. Bei Dämmerung hatte er sie zusammengerufen und sich in Begleitung von zwanzig weiteren Reitern aus Buckland unbemerkt auf den Weg gemacht. Dann hatte er seine Truppe in kleine Einheiten aufgeteilt und sie im Schutze der Dunkelheit zum Treffpunkt geführt, einem Wäldchen oberhalb von Pitts Deep. Ein Dutzend Männer hatte bereits gut getarnt Posten bezogen und den Strand beobachtet. Sie hatten strikte Anweisungen, nichts zu unternehmen und sich nicht blicken zu lassen, bis die Ladung gelöscht war.

»Wir müssen die Bande, die an Land arbeitet, auf frischer Tat ertappen«, hatte Grockleton dem Grafen eingeschärft. Seine eigene Rolle würde sehr heldenhaft und ganz sicher gefährlich sein. Während die zwanzig Reiter aus dem Wald zum Strand stürmten, um den Schmugglern den Weg abzuschneiden, und weitere zwanzig seiner Männer mit Laternen die Karawane abliefen, beabsichtigte er, die Missetäter anzusprechen und ihnen die Bedingungen der Kapitulation zu unterbreiten. Wenn sie sich weigerten, würde man schießen.

Nun konnte er nur noch warten und Puckle im Auge behalten, bis die Schiffe kamen. Schließlich wollte er sichergehen, dass dieser es sich nicht noch anders überlegte.

 

 

Selbst Isaac Seagulls Augen konnten in der Dunkelheit nichts mehr erkennen. Er beaufsichtigte diese Lieferung persönlich, denn es ging um viel Geld. Hinter ihm warteten zweihundert Männer und achtzig Ponys ruhig in einer wohl geordneten Reihe.

Ein Pony konnte zwei über seinem Rücken zusammengeschnürte Fässer mit abgeflachten Seiten tragen, von denen jedes gut dreiunddreißig Liter enthielt. Die Männer schleppten zwei halb so große Fässer – je eines auf dem Rücken und eines vor der Brust. Da ein Fass etwa zweiundzwanzig Kilo wog, war das eine schwere Last, um damit einen Fußmarsch von fünfzehn bis zweiundzwanzig Kilometern zurückzulegen.

Der Tee war in wasserdichte Ölhäute verpackt, die man Happen nannte. Mit einem Pony konnte man mehrere dieser Pakete fortschaffen. Auch die Seidenballen hatte man in Ölhaut gewickelt, und für diese hatte sich Seagull eine besondere Form des Transports ausgedacht: Ein halbes Dutzend hoch gewachsener, kräftiger Frauen in langen, weiten Kleidern stand am Ufer bereit.

Wenn die Seide an Land gebracht wurde, zogen sich die Frauen aus, und dann wurde die Seide Meter um Meter um sie herumgewickelt, bis sie aussahen wie Mumien. Wenn sie schwer genug bepackt und doppelt so dick waren wie zuvor, schlüpften sie wieder in die Kleider und begaben sich zu Pferd oder zu Fuß zum nächsten Markt. Zwei dieser Frauen wurden in einigen Tagen in Sarum, eine weitere in Winchester erwartet.

Ein Schmunzeln spielte um Isaac Seagulls Lippen, als er in die Dunkelheit spähte.

Man konnte die Schmuggelware an verschiedenen Stellen der Küste an Land bringen. Für kleinere Ladungen waren Luttrells Turm im Osten und der Fluss von Beaulieu gut geeignet. Hin und wieder benutzte Seagull auch gerne die alte Festung Hurst Castle. Vor ein paar Jahren hatten die Zollbehörden dort einen ihrer Leute postiert. Also hatte Isaac Seagull den Mann aufgesucht und ihn auf seine freundliche Art gefragt: »Soll ich Ihnen lieber den Schädel einschlagen oder Sie bezahlen?«

»Bezahlen«, hatte der Mann prompt erwidert. Und obwohl er auch weiterhin in Grockletons Diensten stand, befolgte er von da an Seagulls Befehle.

Auf der westlichen Seite des New Forest, zwischen der Landzunge von Hurst Castle und Christchurch, gab es zwei wunderbare Landeplätze, nämlich die schmalen Rinnen, die an der Küste mündeten. Dort konnten die Packpferde ungesehen warten. Diese kleinen Hohlwege nannte man bunnys. Becton Bunny lag gleich unterhalb von Hurst. Chewton Bunny befand sich etwa anderthalb Kilometer weiter westlich. Chewton bot weiterhin den Vorteil, dass es am Strand zu beiden Seiten gefährlichen Treibsand gab, der ein Hindernis für die Zöllner bedeutete. Von Chewton aus erreichte man etwa anderthalb Kilometer später den Gasthof Cat and Fiddle Inn. Dort begann die Straße durch den New Forest, die zwischen Burley und Ringwood verlief und Smuggler’s Road hieß. An dieser Strecke befand sich auch der erste der vielen regelmäßig stattfindenden Märkte, die die Freihändler abhielten. Von der Smuggler’s Road gelangte man in den nördlichen Teil des New Forest und konnte sich aus dem Staub machen.

Außerdem lag im östlichen New Forest Pitts Deep, das auch nicht zu verachten war. Von hier aus ging es weiter nach Osten, an Southampton vorbei; oder man nahm den Weg zur Kirche von Boldre und über die Furt unweit von Haus Albion durch den westlichen Forest, wo man ein paar Kilometer weiter auf die Smuggler’s Road traf. Da Pitts Deep schwer einzusehen war, sollte heute Nacht hier Ware angeliefert werden.

 

 

Grockleton zuckte zusammen. Unwillkürlich umklammerte seine klauenähnliche Hand Puckles Arm, sodass dieser einen Fluch murmelte, weil die Laterne dabei ins Schwanken geriet.

Angestrengt blickte der Zollinspektor in die Dunkelheit, und schließlich bemerkte er ein bläuliches Licht, das draußen auf dem Meer blinkte. Puckle gab ein Zeichen mit der Laterne. Das blaue Licht blinkte zweimal. Puckle wiederholte das Signal. Darauf folgte ein langer, blauer Blitz.

»Sie kommen«, sagte der Schmuggler leise. Die Sterne schienen durch eine kleine Wolkenlücke, sodass man nun das Ufer und die weißen Schaumkronen der Wellen sehen konnte. Grockleton spürte, wie sein Herz schneller schlug. Der Augenblick des Triumphes war gekommen, bald würde die Welt ihm gehören.

Puckle hingegen, der wusste, dass diese letzte Tat sein Schicksal besiegeln würde, war ganz ruhig. »Keine Sorge«, murmelte Grockleton, um ihm Zuversicht einzuflößen. »Für Sie wird genug abfallen.« Nichts davon war wahr.

Nach einer Weile hörten sie das Schlagen von Rudern, und etwa zweihundert Meter draußen auf dem Wasser zeichneten sich die Umrisse dreier großer Lugger ab, die sich Pitts Deep näherten.

In geduckter Haltung eilte Grockleton die Klippen entlang. Er wollte sicherstellen, dass die Franzosen nicht zu früh losschlugen. Alles musste genau nach Plan verlaufen. Inzwischen sprangen die ersten Männer aus den drei Luggern heraus auf den Strand. Kurz darauf begannen sie mit dem Löschen der Ladung.

Selbst von seinem Beobachtungsposten aus erkannte Puckle, dass die Lieferung ungewöhnlich groß war. Truhen, Kisten, Ballen aus Ölhaut – genau konnte er es nicht sehen. Die hintereinander aufgestellten Waren bildeten eine etwa fünfzig Meter lange Kette. Noch nie war eine derart gewaltige Lieferung in Pitts Deep eingetroffen. Die Seeleute arbeiteten wirklich außergewöhnlich schnell. Im schwachen Schein der Sterne beobachtete Puckle, dass eine der Lugger schon wieder ablegte und auf ihn zukam. Auch das zweite Boot setzte sich in Bewegung. Puckle seufzte. Es war Zeit zum Aufbruch.

 

 

Grockleton wartete geduldig. Eine Stunde verstrich. Puckle hatte ihm erzählt, dass die Freihändler sich meist Zeit ließen und sich zuerst vergewisserten, dass die Luft rein war. Die Waren am Strand sahen so verführerisch aus, dass er sie am liebsten sofort genauer in Augenschein genommen hätte.

Puckle hatte Befehl, auf seinem Posten zu bleiben, und das hatte Grockleton ihm streng eingeschärft. Schließlich bestand noch immer die Gefahr, dass er die Schmuggler warnte. Doch in diesem Fall würde Grockleton ihn festnehmen und dafür sorgen, dass er die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekam. Der Zollinspektor lächelte finster. Allerdings wäre das kein Weltuntergang gewesen, denn wenn die Schmuggler flohen, konnte er die gesamte Ladung ohne Kampf beschlagnahmen.

Wieder verging eine Stunde. Grockleton lauschte angestrengt. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Geduckt und mit angehaltenem Atem, um nur ja kein Geräusch zu verursachen, schlich er zu der Stelle zurück, wo er Puckle verlassen hatte. Es dauerte zehn Minuten, bis er endlich oben auf dem kleinen Hügel stand.

Es war niemand da. Grockleton sah sich um. Vielleicht hatte den Mann ein menschliches Rühren überkommen. Oder er hatte sich den Freihändlern angeschlossen. Der Zollinspektor spähte in die Dunkelheit. Nichts regte sich, und kein Laut war zu hören. Er wartete fünf Minuten. Wenn die Schmuggler noch da waren, wären sie gewiss schon erschienen.

Grockleton war ein geduldiger Mann. Er verharrte eine weitere halbe Stunde. Es war totenstill. Offenbar hatte Puckle die Verbrecher gewarnt. Er stand auf und bewegte seine steif gewordenen Gliedmaßen. Dabei stieß er mit dem Fuß an einen Gegenstand. Ein blechernes Geräusch ertönte, mit dem man selbst einen Toten hätte aufwecken können: die Signallaterne. Er blickte sich um. Niemand hatte es bemerkt: Er war allein.

Grockleton kehrte zu seinen Männern zurück und verlangte eine Laterne, die er hoch in die Luft hob, um sich dann der Schmuggelware zu nähern. Es war eine unglaubliche Warenmenge – ein Vermögen lag ihm zu Füßen.

Neugierig griff er nach einem Brandyfass, um dessen Gewicht zu prüfen. Als er es aufzurichten versuchte, kippte es um. Achselzuckend nahm er das nächste, das sich mühelos heben ließ. Es war leer. Er trat gegen das nächste: ebenfalls leer. Grockleton stürzte zu einem Teeballen hinüber und wickelte ihn aus. Stroh. Verzweifelt lief er hin und her und trat gegen Fässer, Ballen und Truhen. Leer, alles leer.

Der Zollinspektor Grockleton stand an der nächtlichen Küste des New Forest, drehte sich zum Meer um und schickte einen schrecklichen Schrei in den dunklen Himmel empor.

Isaac Seagull sah zu, wie die lange Karawane zur Smuggler’s Road hinaufzog. Das Gewirr aus Pfaden, Abzweigungen und Rinnen genügte, um jeden Zöllner oder Dragoner zu verwirren, der versuchte, die Freihändler auf ihrem Weg nach Norden aufzuhalten. Außerdem befanden sich die Zöllner weit weg an der östlichen Seite, wohin er sie gelockt hatte.

Die Lieferung nach Chewton Bunny war der größte Augenblick seiner Laufbahn: eine gewaltige Ladung. Nur ungern hatte er Puckle gezwungen, als Lockvogel zu dienen, denn er hatte die Leiden des armen Mannes kaum mit ansehen können.

»Heißt das, ich muss den New Forest verlassen?«

»Ja.«

»Wann darf ich zurückkommen?«

»Wenn ich dir Bescheid gebe.«

Das Märchen von einer Auseinandersetzung zwischen ihnen und das bisschen Theater auf der Straße hatten den Zollinspektor getäuscht. Inzwischen war Puckle schon wohlbehalten auf hoher See. Er war mit einem der Schmuggelboote mitgefahren. Außerdem hatte Seagull ihn gut bezahlt. Ein ordentliches Sümmchen. Obwohl Geld dem Waldbewohner nichts bedeutete, wenn er dafür ins Exil musste.

 

 

Als Mr. Samuel Grockleton an diesem Nachmittag die High Street von Lymington entlangging, wurde er von allen höflich gegrüßt. Jeder stand auf seinem Stammplatz; nur Isaac Seagull schien ausgeflogen zu sein.

Auf ihre Weise hatten die Einwohner von Lymington den Inspektor lieb gewonnen, der Demütigungen wie ein Mann wegzustecken wusste. Nun schlenderte er die Straße hinunter zum Zollhaus am Kai und erwiderte jeden Gruß – und wenn er dabei nicht unbedingt lächelte, konnte man ihm das schlecht zum Vorwurf machen.

Unten an der Straße begegnete er dem Grafen d’Hector, der auf ihn zutrat und ihn freundschaftlich am Arm berührte. »Das nächste Mal, mon ami, haben wir sicher mehr Glück«, sagte er mit einem zerknirschten Grinsen.

»Mag sein.«

»Ich stehe Ihnen stets zu Diensten.«

Grockleton nickte und ging weiter. Er hatte bereits einen Haftbefehl für Puckle beantragt. Dieser würde zusammen mit einer genauen Personenbeschreibung an jeden Magistrat im Land geschickt werden. Auch wenn es eine Weile dauern sollte, irgendwann würde Puckle ihm dafür büßen. Außerdem war Grockleton fest entschlossen, mit Hilfe der französischen Soldaten jedem dieser vermaledeiten Schmuggler im New Forest den Garaus zu machen.

Nur eines hatte er dabei nicht bedacht: Solange er sich der Franzosen bediente, würden die Schmuggler ihm stets einen Schritt voraus sein.

Denn der Begleiter des Grafen zu dem Treffen an der Zickzackmauer in jener Frühlingsnacht war kein anderer gewesen als Mr. Isaac Seagull.

Der Graf hatte Mr. Grockleton und dessen überkandidelte Frau zwar wirklich gern, aber er war kein Narr.

 

 

Francis Albion wusste, dass er sich hin und wieder schändlich aufführte, und manchmal hatte er deswegen sogar ein schlechtes Gewissen. Doch wie viele Menschen am Abend ihres Lebens hielt er es für sein gutes Recht, dass man noch eine Zeit lang Rücksicht auf seine Launen nahm. Und so gelang es ihm meist, seine Schuldgefühle zu unterdrücken.

Obwohl Fanny nur selten ausging, hatte sie den allgegenwärtigen Mr. West bis Mitte Dezember schon dreimal getroffen. Francis fragte sich, ob seine Tochter West liebte. Wenn Fanny schon unbedingt heiraten musste, war dieser West gar keine so schlechte Wahl. Er konnte den Pachtvertrag für Hale auflösen und nach Haus Albion ziehen. Dann würde das junge Paar hier leben, sodass er, Francis, sich nicht von seiner Tochter trennen musste.

Eines Wintermorgens sprach er das Thema an, als Fanny, die in letzter Zeit häufig bedrückt und geistesabwesend wirkte, ihm in seinem Zimmer Gesellschaft leistete. »Empfindest du etwas für Mr. West, Fanny?«, fragte er freundlich.

»Ich mag ihn, Vater.«

»Mehr nicht?«

»Nein.« Fanny schüttelte den Kopf, und Francis merkte ihr an, dass sie es ernst meinte. »Warum, Vater? Möchtest du, dass ich ihn heirate?«

»O nein. Das ist nicht nötig.«

»Ich weiß, dass Tante Adelaide es wünscht. Und wenn ich dazu gezwungen wäre, würde er gewiss einen angenehmen Ehemann abgeben. Aber…« Sie breitete die Hände aus.

»Nein, nein, mein Kind«, meinte Mr. Albion liebevoll. »Du musst auf die Stimme deines Herzens hören.« Er hielt inne. »Und es gibt auch keinen anderen? Du wirkst ein wenig traurig.«

»Nein, Vater. Das liegt nur am Wetter.«

»Das freut mich.« Er musterte sie forschend. »Du hast noch dein ganzes Leben vor dir, mein Kind. Und du wirst einmal erben. Sehr erfreuliche Aussichten also. Ich habe nicht die geringste Sorge, dass du eine alte Jungfer werden könntest. Doch« – er lächelte zufrieden – »es besteht kein Grund zur Eile.«

»Willst du nicht, dass ich heirate, Vater?«

Der alte Francis überlegte eine Weile, ehe er zögernd antwortete: »Ich vertraue dir, Fanny. Und auch deinem Urteilsvermögen. Allerdings möchte ich nicht, dass du heiratest, nur um mir einen Gefallen zu tun. Außerdem« – er lächelte sie reizend an – »habe ich dich gern hier bei mir, und wie du sicher weißt, wird es nicht mehr lange dauern. Vermutlich wird deine Tante mich überleben. Doch falls ihr etwas zustoßen sollte, wäre ich sehr einsam.« Niedergeschlagen verzog er das Gesicht.

»Ich würde dich nie allein lassen, Vater.«

»Versprichst du mir, Fanny, dass du nicht von mir fortgehen wirst?«

»Niemals, Vater«, schwor sie gerührt. »Ich werde immer für dich da sein.«

 

 

Da Fanny noch nie zuvor verliebt gewesen war, hatte sie keine Erfahrung mit Liebeskummer. Und es gab noch eine weitere Schwierigkeit: Sie ahnte gar nicht, dass das, was sie empfand, Liebe war.

Wenn sie, wie so oft in letzter Zeit, an Mr. Martell dachte, spürte sie nur Angst und Widerwillen. Sie glaubte, seine dunkle Gestalt vor dem Fenster zu sehen oder Hufgetrappel zu hören, und wandte sich dann um in der Erwartung, er könnte es sein. Aufmerksam lauschte sie, wenn ihre Cousine Louisa von ihren Besuchen bei den Burrards sprach, und hoffte, sie würde ihn erwähnen. Doch sie hielt ihre Neugier für krankhaft, so als stelle sie sich eine Schauergestalt aus einem Roman vor. Kaum auszudenken, dass sie beinahe ein vertrauliches Verhältnis mit einem Mann begonnen hätte, der nicht nur ein Penruddock, sondern das Ebenbild des Mörders ihrer Großmutter war… Denn dass das alles auf ihn zutraf, daran bestand kein Zweifel. Wie sollte sie ihre Gefühle verstehen, sein Lächeln, seine Andeutungen, sogar seine Freundlichkeit? Sie wusste es nicht, und sie redete sich ein, dass es sie auch gar nicht interessierte. Aber je länger sie darüber nachgrübelte, desto mehr schreckliche Gedanken kamen ihr in den Sinn.

Schätzte sie die Situation vielleicht falsch ein? Schlechtes Blut. Sie hatte schlechtes Blut und Verwandte, die den unteren Schichten angehörten. Ein Makel haftete ihr an. Dass sie sich als Adelige gab und Respekt verlangte, war eigentlich nichts weiter als Betrug. Bauern wie Puckle verschleierten wenigstens nicht, wer sie wirklich waren, während sie, Fanny, sich mit fremden Federn schmückte. Selbst wenn Martell kein Penruddock gewesen wäre, würde er sie wohl nicht mit der Beißzange anfassen, wenn er erst einmal die Wahrheit erfuhr, dachte sie.

Als die Weihnachtszeit nahte, stellte sie fest, dass ihre Kräfte schleichend, aber stetig schwanden. Manchmal saß sie im Salon und tat, als lese sie in einem Buch, blätterte jedoch nur die Seiten um. Wenn Mr. Gilpin zu Besuch kam, nahm sie sich zusammen und war so fröhlich wie eh und je. Doch sobald sie allein war, verfiel sie wieder in Teilnahmslosigkeit und starrte aus dem Fenster. Hin und wieder lud Gilpin sie zum Tee ein, und sie sagte auch zu. Dann jedoch saß sie aus Gründen, die sie selbst nicht verstand, einfach nur da und war unfähig, sich zu rühren. Mrs. Pride musste ihr den Mantel bringen und sie ein wenig aufmuntern, damit sie überhaupt die Kraft aufbrachte, den Ausflug durchzustehen.

Sie lebte von Tag zu Tag und erfüllte ihre Pflichten. Wer sie nicht kannte, hätte vielleicht ihrer Ausrede geglaubt, das Wetter mache sie müde. Und kein Mensch wusste den wahren Grund, weil sie niemandem sagen konnte, dass sie ständig von einem alles erstickenden Gefühl gequält wurde. Es war weniger Trauer als eine große, graue Leere, eine übermächtige Sinnlosigkeit.

Im Januar begannen Mrs. Pride und Mr. Gilpin, sich große Sorgen um sie zu machen.

 

 

Allerdings musste der Vikar sich nicht nur mit Fanny Albion beschäftigen, denn das Schicksal eines kleinen Jungen lag ihm genauso am Herzen.

Man war Nathaniel Furzey auf die Schliche gekommen.

Wie nicht anders zu erwarten, hatte schließlich jemand zu reden angefangen. In den Weihnachtsferien hatte es einer der Komplizen seiner Schwester erzählt, die es wiederum an die Mutter weitergab. Eine Woche später hatte es sich im ganzen New Forest herumgesprochen. Manche lachten darüber, andere waren empört. Den Prides war die Angelegenheit schrecklich peinlich, und die Eltern der übrigen Jungen kochten vor Wut. Immerhin hatte Nathaniel seine Freunde dazu angestiftet, sich nachts aus ihren Hütten zu schleichen, nackt herumzulaufen und sich als kleine Hexenmeister zu betätigen. Man suchte den Vikar auf.

Auch der Schulmeister wandte sich an den Geistlichen. »So kann es nicht weitergehen«, sagte er zu Gilpin. »Der Junge übt einen schlechten Einfluss auf die übrigen Schüler aus. Ich glaube nicht, dass ich weiterhin hier unterrichten kann, solange er an der Schule bleibt. Vielleicht«, fügte er hämisch hinzu, denn es war ihm schon lange ein Dorn im Auge, »haben Sie ihm ja zu viel beigebracht.«

Widerspruch war sinnlos, und Gilpin war zu klug, um den Schulmeister gegen sich aufzubringen. Also wurde Nathaniel zu seiner Familie nach Minstead geschickt. Seine Zeit an Mr. Gilpins Schule war vorbei.

Doch was sollte nun aus ihm werden? Die übrigen Schüler kehrten mit elf oder zwölf Jahren entweder nach Hause zurück, um auf dem Hof ihrer Eltern zu arbeiten, oder sie begannen eine Lehre bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker. Aber je länger Gilpin darüber nachdachte, desto unmöglicher erschien es ihm, dass der Junge sich in den Alltag einer Werkstatt einfügen würde. Er konnte sich bildlich vorstellen, wie er seinen bedauernswerten Lehrherrn so lange mit Streichen plagte, bis dieser ihn lange vor Beendigung der Lehrzeit auf die Straße setzte. Der Vikar malte sich aus, wie Nathaniel in Southampton Arbeit suchte, einer Presspatrouille der Marine in die Hände fiel und an Bord eines Schiffes verschleppt wurde. Und was würde dann geschehen? Die Marine war Englands größte Zierde, ihr hölzerner Verteidigungswall. Doch wie sah das Leben der in den Dienst gezwungenen Männer auf diesen ruhmreichen Schiffen aus? »Rum, Sodomie und die Peitsche«, hatte ein alter Seemann ihm einmal gesagt. Gilpin hoffte, dass der Mann übertrieben hatte – aber wie dem auch sei, jedenfalls hatte Nathaniel Furzey eine bessere Zukunft verdient.

Wegen seines regen Verstandes und seiner Unternehmungslust standen ihm nach Gilpins Einschätzung zwei Wege offen: Er konnte sich, wenn er eine gute Ausbildung erhielt, als armer Gelehrter in Oxford niederlassen und vielleicht sogar Geistlicher werden. Sofern er im New Forest blieb, würde er sich zu einem sehr erfolgreichen Schmuggler entwickeln – weshalb es wohl das Beste war, dass er gleich zu Isaac Seagull in die Lehre ging. Denn wenn schon unbedingt geschmuggelt werden musste, dann wenigstens von fähigen Leuten. Mr. Gilpin entging die Ironie dieser Situation nicht, als er den Fall mir Mr. Drummond und Sir Harry Burrard erörterte. Offenbar fanden die beiden würdigen Herren die vorgetragenen Möglichkeiten höchst interessant.

Schließlich kam es aus unerwarteter Richtung zu einer Lösung. Der Kaufmann Mr. Totton hatte bei den Burrards gespeist und von Nathaniel gehört. »Da meine Kinder die Ausbildung nun hinter sich haben«, sagte er Gilpin in seiner umgänglichen Art, »würde ich dem Jungen gerne helfen, sofern Sie es empfehlen. Doch er scheint ein wenig ungebärdig zu sein.«

»Ich glaube, er langweilt sich nur. Allerdings wäre es für Sie ein Risiko.«

»Als Kaufmann muss man auch Risiken eingehen können«, erwiderte Totton vergnügt. »Wo sollen wir ihn denn zur Schule schicken?«

»In Winchester gibt es eine sehr gute«, antwortete Gilpin.

Und da auf eine gute Tat fast immer die nächste folgt, machte sich Mr. Gilpin nur wenige Tage, nachdem der kleine Nathaniel in Winchester untergebracht worden war, daran, etwas für Fanny zu unternehmen.

»Bath!«, rief Mrs. Grockleton aus. »Bath! Und noch dazu mit Fanny Albion in unserer Obhut. Wir werden sie behandeln, als wären wir ihre Eltern, Mr. Grockleton. In loco parentis.« Sie sprach die lateinische Wendung aus, als handle es sich um ein Staatsgeheimnis. »Stell dir das nur vor. Und außerdem«, fügte sie ein wenig taktlos hinzu, »hast du hier zurzeit ohnehin nichts zu tun.«

»Sind die Albions damit einverstanden?«

»Nun, der alte Mr. Albion ist natürlich wie immer dagegen. Und Fanny möchte ihn nur ungern allein lassen. Doch Mr. Gilpin hat sie überredet, wenigstens darüber nachzudenken. Und Mrs. Pride, die Haushälterin, die eigentlich ihr Kindermädchen war, unterstützt diesen Plan soweit ich weiß ebenfalls. Außerdem hat der Vikar die alte Miss Adelaide schon fast umgestimmt. Also ist die Sache mehr oder weniger entschieden.«

»Obwohl Mr. Albion dagegen ist?«

»Nun, mein Liebster, in diesem Haus treffen die Frauen die Entscheidungen.«

»Aha«, meinte Mr. Grockleton. »Dann glaube ich«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, in der er sich überlegt hatte, dass es eine wunderbare Gelegenheit war, Lymington für eine Weile den Rücken zu kehren, »dass wir wohl am besten nach Bath fahren.«

»Danke, Mr. Grockleton.« Seine Frau strahlte übers ganze Gesicht. »Ich habe ihnen schon gesagt, dass du immer meiner Meinung bist.«

Zwei Wochen später reisten sie ab.

 

 

»Oh, Fanny, wir wohnen ganz oben auf dem Hügel!«, rief Mrs. Grockleton bei ihrer Ankunft aus. »In allerbester Lage also«, fügte sie hinzu, nur für den Fall, dass Fanny sie nicht verstanden hatte. Der Aufenthalt sollte sechs Wochen dauern. Danach begannen Leute, die etwas auf sich hielten, sich nämlich in Bath zu langweilen, obwohl einige wenige – aus gesundheitlichen oder anderen Gründen – das ganze Jahr hier verbrachten.

Mr. Grockleton hatte wirklich ein wunderschönes Haus angemietet. Wie die meisten Häuser in Bath gehörte es zu einer hübschen georgianischen Wohnanlage und war aus cremefarbenem Stein erbaut.

Die Häuser standen in Reih und Glied auf den steilen Abhängen und boten Aussicht auf die Täler der Stadt, durch die sich zwischen felsigen Ufern ein Fluss schlängelte. Wenn der liebe Gott Mrs. Grockleton gefragt hätte, wie er das Paradies denn erschaffen solle, hätte sie vermutlich geantwortet: »So, dass es wie Bath aussieht.« Allerdings hätte sie angesichts ihrer eigenen Pläne gewiss noch hinzugefügt: »Aber mach, dass es am Meer liegt.«

Fanny gefiel es hier weniger, obwohl sie ihre Meinung für sich behielt. Das Haus war zwar gut geschnitten und elegant, verfügte jedoch wie die meisten derartigen Anwesen in Bath nicht über einen Garten. Immerhin war es ziemlich groß. Die Kinder der Grockletons wurden in den Kinderzimmern im Obergeschoss untergebracht. Die Empfangsräume lagen im Parterre und boten einen malerischen Blick über die Stadt. Fanny saß gerne dort und genoss die Aussicht. Sie versuchte sogar, sie zu zeichnen. Doch Mrs. Grockleton gönnte ihr nur wenig Ruhe.

Sie sorgte dafür, dass Fanny genügend Luftveränderung bekam, und ging mit ihr zur Mineralquelle neben dem alten römischen Bad, um Heilwasser zu trinken. In dem großen Hof, wo eine alte gotische Abteikirche einen hübschen Kontrast zur klassischen Architektur bildete, warteten Männer in blauen Jacken mit Goldknöpfen, um die Kurgäste auf Sänften umherzutragen. Mrs. Grockleton bestand darauf, dass sie und Fanny beim ersten Mal eine benutzten.

Am nächsten Tag besuchten sie ein Konzert in den großen, prächtig gestalteten Gemeinderäumen. Sie erfuhren, dass in zwei Tagen ein Ball stattfinden sollte, und Mrs. Grockleton ordnete an, man müsse dort unbedingt erscheinen.

Der dritte Tag wurde hauptsächlich mit einem Einkaufsbummel verbracht. Sie erstanden zwar nichts, sahen sich aber die eleganten Geschäfte an und beobachteten die anderen Kunden.

»Denn Bath macht die modischen Vorgaben«, verkündete Mrs. Grockleton. »Hier trifft sich die bessere Gesellschaft. Bath ist« – der plötzliche Einfall sagte ihr sehr zu – »wie unsere Akademie. Selbst die charmantesten jungen Damen aus bester Familie, die ihr ganzes Leben auf dem Land verbracht haben, können von einem Besuch in Bath profitieren.«

Der Ball entpuppte sich als kleine Enttäuschung. Falls sich die bessere Gesellschaft wirklich in Bath aufhielt, hatte sie beschlossen, durch Abwesenheit zu glänzen. Stattdessen war eine große Schar von Witwen, Invaliden, pensionierten Offizieren und Kaufleuten gekommen, die fröhlich und unter gehörigem Lärm in den Abend hineintanzten. Sie lernten die Familie eines Kaufmanns aus Bristol kennen, dessen beide Söhne Fanny zum Tanzen aufforderten. Außerdem tanzte sie mit einem sehr netten Major, dessen speckig glänzender Uniformkragen darauf hinwies, dass der Stoff bald fadenscheinig werden würde. »Sie brauchen mich nicht zu fürchten«, meinte er freundlich. »Ich bin hier, um mir eine reiche Witwe zu angeln.«

Wie sich herausstellte, war der Major sehr amüsant und erzählte Fanny viel Nützliches über die Stadt. »Bessere Leute wie Sie bleiben abends oben auf den Hügeln unter sich. Sie kommen nur selten in die unteren Gemeinderäume, wenn es nichts Wichtiges zu sehen gibt. Stattdessen veranstalten sie ihre privaten Feste. Dort gehören Sie hin.«

Mrs. Grockleton war zu einem ganz ähnlichen Schluss gekommen. »Ich fürchte«, meinte sie, als sie nachts mit ihrem Mann allein war, »dass heute Abend nur Leute wie wir gekommen sind.«

»Du hast wohl keine Lust, mit unseresgleichen zu verkehren?«, fragte ihr Mann wohlwollend.

»Dann hätten wir uns das Geld sparen und zu Hause bleiben können.«

In der Mitte der zweiten Woche kam es zu einem seltsamen Zwischenfall. Nachdem Fanny ein paar Stunden gelangweilt mit den Kindern der Grockletons im Haus gespielt hatte, war sie allein in die Stadt gegangen. Die Läden in den Arkaden boten alle möglichen Luxusgüter feil, doch ein prächtiges Porzellanservice aus Worchester in einem Schaufenster zog Fannys Blick besonders an. Es war im griechisch-römischen Stil mit englischen Landschaften bemalt. Da das Dekor der Architektur dieses Badeortes so sehr entsprach, beschloss Fanny, es sich aus der Nähe anzusehen. Nachdem sie die reizenden Bilder etwa eine halbe Stunde lang betrachtet hatte, war ihre Niedergeschlagenheit fast verflogen. Schließlich riss sie sich von dem Anblick los und ging den Hügel hinauf.

Sie war erst ein Stück weit gekommen, als sie eine Kreuzung erreichte. Auf der Straße rechts von ihr erkannte sie in etwa hundert Metern Entfernung Mr. Martell, der gerade aus einer Kutsche stieg. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und half einer sehr elegant gekleideten jungen Dame aus dem Gefährt. Dann verschwanden die beiden in einem großen Haus.

Mr. Martell. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Mit einer Dame. Warum nicht mit einer Dame? War es wirklich Mr. Martell gewesen? Schließlich hatte sie sein Gesicht nicht sehen können. Ein hoch gewachsener, düsterer Mann mit dunklem Haar. Die Kutsche wurde von vier prachtvollen, geschmückten Pferden gezogen und gehörte sicherlich einem Adeligen. In Bewegung und Gestalt hatte der Mann sie stark an Mr. Martell erinnert. Dann aber dachte sie an das Porträt und überlegte, dass Mr. Martell in Bath gewiss noch weitere Doppelgänger hatte.

Oder war es doch Mr. Martell gewesen? Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Obwohl sie ihre Neugier gern befriedigt hätte, zögerte sie. Was würde sie tun, wenn sie ihm begegnete? Würden sie miteinander sprechen? Was sollte sie zu Mr. Martell und der hübschen jungen Dame sagen? Würden sie einander zufällig treffen, wenn er wirklich in Bath wohnte? Oder würde er sich nur in privaten Kreisen bewegen und zu Hause bleiben, sodass sie ihn nie wieder sah?

Da er mit besseren Leuten verkehrt, hat er sicher keine Lust auf meine Gesellschaft, sagte sie sich schließlich. Außerdem hat er inzwischen gewiss sein Herz verschenkt. Und darüber hinaus ist er ein Penruddock, von dem ich mich fern halten muss.

Doch sie rührte sich nicht von der Stelle, redete sich ein, sie wolle nur die Aussicht bewundern, und wartete noch eine Weile, für den Fall, dass der Mann wieder aus dem Haus kam. Vielleicht hatte er die Dame ja nur nach Hause begleitet. Aber niemand zeigte sich. Die Kutsche stand noch immer an Ort und Stelle. Nach einigen Minuten näherte Fanny sich der Kutsche, und sie sagte sich, dass es nur Neugier war.

Dennoch klopfte ihr das Herz bis zum Halse. Was war, wenn er jetzt erschien und sie einander begegneten? Sie würde sich höflich, aber kühl verhalten und ihm dann die kalte Schulter zeigen. Sie nahm sich fest vor, sich keine Zweifel zu gestatten; und von diesem Vorsatz gestärkt, schlenderte sie lässig auf die Kutsche mit den großen Rädern zu.

Die Tür des Hauses war geschlossen. Der Kutscher in seinem eleganten schokoladenbraunen Rock und Umhang saß auf dem Bock. Lächelnd blickte Fanny zu ihm hinauf. »Das ist aber eine sehr hübsche Kutsche«, sagte sie freundlich. Er salutierte und bedankte sich höflich. »Wem gehört sie denn?«

»Mr. Markham, Mylady«, lautete die Antwort.

»Sagten Sie Markam oder Martell?«

»Markham, Mylady. Ich kenne keinen Mr. Martell. Mr. Markham ist soeben ins Haus gegangen.«

»Oh, ich verstehe.« Sie zwang sich wieder zu einem Lächeln und spazierte weiter. Hatte sie sich zum Narren gemacht? Sie glaubte nicht. War sie erleichtert? Sie vermutete es wenigstens. Weshalb also war die Kraft, die sie noch vor ein paar Minuten verspürt hatte, plötzlich verflogen, als sie um die nächste Ecke bog. Ihre Füße waren auf einmal bleischwer, und sie bemerkte nicht, dass sie Kopf und Schultern hängen ließ. Der Himmel über dem steilen Felsenberg wurde düster und grau.

Zu Hause angekommen, setzte sie sich mit einem Buch ans Fenster im Salon. Als Mrs. Grockleton eine Ausfahrt vorschlug, schützte sie Kopfschmerzen vor. So saß sie stundenlang da, ohne etwas zu tun oder zu denken. In jener Nacht schlief sie schlecht.

Fannys Neugier, was Mr. Martells Aufenthaltsort betraf, wurde am Anfang der folgenden Woche durch einen Brief von Louisa befriedigt.

Louisa schrieb, Mr. Martell werde in ein paar Tagen bei den Burrards erwartet. Außerdem müssten Edward und sie den Besuch in Bath absagen.

 

Sicher freut es dich zu hören, Fanny, dass Mr. Martell anschließend nach London Weiterreisen will und Edward und mich gebeten hat, ihn zu begleiten. Auch wenn es in Bath gewiss sehr amüsant ist, kann es mit London bestimmt nicht mithalten. Deshalb muss unser Besuch bei dir und Mrs. Grockleton leider ausfallen.

 

Mit diesen Worten endete das Schreiben. Louisa hatte vergessen, sich nach ihrer Gesundheit zu erkundigen, und schien es nicht einmal zu bedauern, dass das Treffen nicht stattfinden würde. Zunächst wusste Fanny nicht, wie sie es deuten sollte, doch als sie länger darüber nachdachte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Schadenfreude: Ihre Cousine teilte ihr unmissverständlich mit, dass sie sie übertrumpft hatte. Und Kälte: Die kurze, beiläufige Entschuldigung für den abgesagten Besuch sollte eigentlich heißen, dass Louisa Wichtigeres zu tun hatte und dass Fanny das auch ruhig erfahren konnte.

Meine Cousine und Freundin liebt mich nicht mehr, dachte Fanny bedrückt. Wer liebt mich überhaupt, außer meinem Vater und Tante Adelaide? Mr. Gilpin vielleicht, aber das ist seine Pflicht. Vielleicht habe ich ja zu wenig Liebenswertes an mir. Wieder fühlte sie sich wertlos und sah keinen Sinn mehr im Leben. Alles erschien ihr wie eine große, graue Welle, die sich im Winter an einem kahlen Strand brach.

 

 

Der Zwischenfall, der sich Ende Februar in dem modischen Badeort Bath ereignete, war eigentlich nicht der Rede wert. Allerdings sah man das in jener Zeit anders. Schon nach wenigen Tagen gab es keinen Menschen in der ganzen Stadt, der nicht für eine der beiden Seiten Partei ergriffen hätte, obwohl fast niemand die bedauernswerte junge Dame kannte, um die es ging. Die Angelegenheit erregte deshalb so großes Aufsehen, weil man sie sich kaum erklären konnte. Es wurde wild gemutmaßt. Ob all das Gerede, das der Unglücklichen nicht einmal zu Ohren kam, schädlich oder von Nutzen war, war schwer zu sagen. Nur der verarmte Major, der in den Gemeinderäumen mit ihr getanzt und geplaudert hatte, zog seine Vorteile daraus. Denn da er der Betreffenden persönlich begegnet war, lud man ihn plötzlich ein, in Häusern zu speisen, in die er bislang nie einen Fuß gesetzt hatte, wodurch sich seine Chancen, eine reiche Witwe zu angeln, beträchtlich erhöhten.

Fanny Albion saß im Gefängnis.

 

 

»Mrs. Pride muss mich begleiten.« Tante Adelaide duldete keinen Widerspruch, und unter diesen Umständen war sogar der alte Francis gezwungen, klein beizugeben. Allerdings erkundigte er sich in nörgelndem Ton, wer sich jetzt um ihn kümmern würde. »Du bleibst bei den Gilpins«, teilte seine Schwester ihm mit.

Eigentlich hatte Mr. Gilpin selbst zu Fanny fahren wollen, doch Adelaide hatte ihn davon überzeugen können, dass er ihr eine größere Hilfe war, wenn er ihren Bruder versorgte. »Ich hätte keine Ruhe, wenn ich ihn ohne Mrs. Pride zurückließe«, sagte sie. Und so wurde der alte Mann ins Pfarrhaus gebracht, wo er sich gemütlich einrichtete. Inzwischen schrieb Mr. Gilpin einen Brief:

 

Mein liebes Kind,

ich kann mir nicht vorstellen, wie es zu dieser seltsamen Verkettung von Umständen kommen konnte. Darüber hinaus erscheint es mir unmöglich, dass Sie in der Lage sind, etwas Böses zu tun. Ich bete für Sie und bitte Sie, nicht zu verzweifeln und stets daran zu glauben, dass wir alle in Gottes Hand sind. Vertrauen Sie auf ihn und denken Sie daran, dass die Wahrheit uns frei macht.

 

Zu Tante Adelaide meinte er nur: »Besorgen Sie sich einen guten Anwalt.«

Also machten sich die furchtlose alte Dame und Mrs. Pride auf die hundert Kilometer weite Reise nach Bath. Wenn sie die Fernstraßen nahmen und regelmäßig die Pferde wechselten, würden sie in zwei Tagen da sein.

 

 

Mrs. Grockleton tobte, als man Fanny ins Gefängnis sperrte. Doch alle Bemühungen der wackeren Dame waren vergebens. Aus irgendeinem Grund – vielleicht hatte er etwas Schlechtes gegessen, oder möglicherweise lag es auch nur daran, dass der Richter in Kürze erwartet wurde – hatte der Magistrat angeordnet, Fanny ins Stadtgefängnis zu bringen. Nicht einmal Mrs. Grockletons Drohungen, sie werde sein Haus von Zollbeamten durchsuchen lassen, konnten ihn erweichen.

Man hatte es Fanny in dem kleinen Gefängnis so bequem wie möglich gemacht. Sie hatte eine Zelle für sich allein und bekam genügend zu essen und auch sonst alles Notwendige. Außerdem wurde sie zuvorkommend behandelt, denn die Wärter hatten keine Lust, sich mit der großzügigen und gestrengen Mrs. Grockleton anzulegen, die ihren Schützling ständig besuchte. Währenddessen hatte sich Mr. Grockleton bereits die Dienste der größten Anwaltskanzlei von Bath gesichert, um Fanny zu verteidigen. Der Leiter der Kanzlei war schon dreimal persönlich bei der Verhafteten erschienen.

Also würde es gewiss nicht lange dauern, bis diese bedauerliche Angelegenheit aufgeklärt und Fanny wieder auf freiem Fuß war. Jedenfalls theoretisch betrachtet. Dennoch kam der angesehene Anwalt nach jedem seiner Besuche kopfschüttelnd aus dem Gefängnis. »Ich kann sie nicht zu einer Aussage bewegen«, gab er zu.

Deshalb sah sich Mr. Grockleton nach einer Weile zu einer Bemerkung bemüßigt, die ihm schon lange im Kopf herumging. »Was ist, wenn sie es doch war«, meinte er.

Man musste seiner Gattin zugute halten, dass sie diese Worte mit Empörung aufnahm. »Wenn du so etwas noch einmal sagst, Mr. Grockleton, bekommst du eine Kopfnuss.«

Und so schwieg Mr. Grockleton. Aber seine Zweifel blieben.

 

 

Es war nur ein kleiner Laden, in dem es allerdings geschäftig zuging. Man handelte mit Knöpfen, Schleifen, Bändern und feiner Spitze; die Kundschaft bestand aus Damen, Näherinnen und anderen Leuten, die sich mit den für das Leben in Bath lebenswichtigen Kleinigkeiten eindeckten.

Es war ein ruhiger, ereignisloser Tag gewesen, und obwohl es noch Nachmittag war, hatte es schon gedämmert, als hätte jemand einen Rollladen heruntergelassen. Fanny Albion war in Richtung Tür geschlendert. Sie hielt sich schon eine Weile im Laden auf, strich gelangweilt um die Theken und sah sich die Seidenstoffe und das andere modische Zubehör an. Eigentlich wollte sie gar nichts kaufen und war nur in den Laden gekommen, weil ihr die Kraft und der Antrieb fehlten, den Hügel hinauf und nach Hause zu gehen. Traurig grübelte sie vor sich hin. Beim Herumbummeln hatte sich die Tasche geöffnet, die an ihrem Arm hing. Etwa zwanzig Minuten später stand Fanny geistesabwesend an einem runden Tisch, auf dem verschiedene Stücke Spitze lagen. Sie griff nach einem, schloss ruhig ihre Handtasche und näherte sich der Tür.

Die Verkäuferin, die sie bereits beobachtet hatte, stürzte ihr nach und fing sie noch auf der Schwelle ab. Kurz darauf erhielt sie Unterstützung vom Geschäftsführer. Man hatte Fanny gezwungen, ihre Tasche zu öffnen, und wirklich hatte ein ordentlich gefaltetes Stück Spitze im Wert von zehn Shilling darin gelegen. Passanten waren als Zeugen herbeigerufen worden. Fanny war zurück in den Laden geschleppt worden. Dann hatte man den Polizeidiener geholt.

Alle hatten bemerkt, dass Fanny wie benommen wirkte und kein Wort gesagt hatte.

»Aber mein liebes Kind, was soll das heißen?«

Trotz der langen Reise hatte Tante Adelaide darauf bestanden, sofort nach ihrer Ankunft im Haus der Grockletons zu Fanny gebracht zu werden. Obwohl sie in dieser seltsamen Umgebung sehr zerbrechlich wirkte, war ihr die eherne Entschlossenheit deutlich anzumerken. Nun fixierte die würdige alte Dame ihre Nichte.

Doch auch das nützte nichts, denn Fanny saß nur da und schüttelte langsam den Kopf, während ihre Tante und Mrs. Pride sie ansahen.

»Was soll das heißen, mein liebes Kind?« Tante Adelaide war – obwohl sie sich um Selbstbeherrschung bemühte – kurz davor, die Geduld zu verlieren. Nun erhob sie gereizt die Stimme. »Was soll das heißen, du weißt nicht, ob du es getan hast?«, rief sie aus.

 

 

Das Abendessen bei den Burrards fand in festlichem Rahmen statt. Die Tottons waren gekommen und auch Mr. Martell, der erst am Nachmittag eingetroffen war. Außerdem Mr. Arthur West, inzwischen bei den Burrards ein gern gesehener Gast.

Man hatte soeben den ersten Gang aufgetragen, und die Gäste labten sich an Wildbret, Ente, Hasenragout, Fischpastete und weiteren Speisen, als Mr. Martell nach dem ersten Schluck von dem erstklassigen Claret Louisa höflich fragte: »Was gibt es Neues von Ihrer Cousine Miss Albion?«

Alle am Tisch schwiegen, und Louisa lief feuerrot an. Sir Harry, der am Kopfende der Tafel saß, meinte ruhig: »Wenn Sie sich und Fanny Albion helfen wollen, Louisa, sollten Sie sich eine bessere Antwort einfallen lassen, als nur zu erröten. Denn ich muss Ihnen offen sagen, dass der ganze New Forest über sie tratscht und es sich sogar schon bis nach London herumgesprochen hat.« Er wandte sich an Martell. »Die bedauernswerte junge Dame wird beschuldigt, in einem Laden in Bath ein Stück Spitze gestohlen zu haben, Sir. Dieser Vorwurf ist absurd und absolut unhaltbar. Man hat sie wie eine gewöhnliche Verbrecherin ins Gefängnis gesteckt und will sie vor Gericht stellen. Sehr bald, wie ich glaube. Da es sich nur um ein Missverständnis handeln kann, wird man sie natürlich freisprechen. Ihre Tante ist trotz ihres hohen Alters zu ihr gereist. Ihr Vater wohnt derzeit bei Mr. Gilpin.« Er sah Louisa eindringlich an. »Alle hier an diesem Tisch, Louisa, und auch unsere sämtlichen Freunde stehen hinter Fanny Albion, und wir werden sie bald wieder hier willkommen heißen.« Sein Tonfall war streng.

»Hört, hört«, sagte Mr. Totton mit Nachdruck.

»Ich wünschte«, meinte Mr. Martell stirnrunzelnd, »ich könnte ihr irgendwie behilflich sein. Ich kenne einen ausgezeichneten Anwalt in Bath.« Er hielt inne. »Leider fürchte ich, dass ich sie gekränkt habe, obwohl ich nicht weiß, warum.«

Die Tottons und die Burrards blickten einander fragend an. Mr. Totton wandte ein, ihm sei nichts Derartiges zu Ohren gekommen. Aber Mr. Arthur West beugte sich hilfsbereit vor. »Wenn Sie gestatten, Sir. Ich glaube, ich kann Ihnen den Grund erklären. Gewiss erinnern Sie sich noch an das Bild Ihres Urgroßvaters, das Sie sich in Hale angesehen haben.«

»Ja und?«

»Dem Sie so erstaunlich ähneln. Vielleicht sind Sie sich nicht darüber im Klaren, dass der alte Mr. Albion und seine Schwester die Enkel von Alice Lisle sind. In ihren Augen sind Sie ein Penruddock.«

Diese Worte lösten Entsetzen am Tisch aus. Burrard und die Tottons starrten ihn entgeistert an.

»Sie sind ein Penruddock?« Über Martell war so viel bekannt – seine beiden Güter, seine Bildung, sein gutes Aussehen und sein Interesse an Kirche und Politik –, dass sich nie jemand nach der Familie seiner Mutter erkundigt hatte.

»Die Martells und die Penruddocks heiraten schon seit Jahrhunderten ineinander. Meine Mutter war eine Penruddock«, erwiderte Mr. Martell stolz. »Ich wusste nichts von der Verwandtschaft der Albions mit Alice Lisle. Aber Oberst Penruddock hat damals nur eine berüchtigte Querulantin festgenommen. Die Sache ist doch schon längst vergessen.«

»Nicht im New Forest.« Sir Harry schüttelte den Kopf. »Zumindest die Albions lehnen sie strikt ab.«

»Ich verstehe.« Martell verstummte. Er erinnerte sich daran, wie Fanny ihn auf Mrs. Grockletons Ball ausgefragt hatte, und auch an ihre plötzliche Kühle.

»Besonders die alte Miss Albion«, erklärte Mr. Totton, »vertritt in dieser Sache eine unnachgiebige Haltung. Ihre Mutter hat sie gewissermaßen in Alice Lisles Schatten erzogen. Alice war eine geborene Albion, und Haus Albion war ihre wahre Heimat.«

Martell nickte langsam. Lebhaft stand ihm wieder der Eindruck vor Augen, den er bei seinem ersten Besuch in dem dunklen, alten Haus von Fanny gehabt hatte. Offenbar hatte er sich nicht getäuscht. Fanny war eine tragische Gestalt. Sie war mit zwei alten Leuten in einem Haus voller Erinnerungen und geisterhafter Schatten gefangen. Aber er wusste nun noch etwas: Ganz sicher hatte er mit seiner Annahme Recht gehabt, dass sie etwas für ihn empfand. Nur weil er ein Penruddock war, ging sie ihm nun aus dem Weg und wies ihn zurück.

Der Schatten von Alice Lisle steht zwischen uns, dachte er. Verdammtes Weib. Es war Wahnsinn. Und als ihm einfiel, in welcher schrecklichen Lage sich Fanny befand, wurde er von Mitleid ergriffen. Wie mochte sie sich fühlen, allein und im Gefängnis? »Es tut mir Leid zu hören, in welchen Schwierigkeiten sie steckt«, meinte er leise. Während der restlichen Mahlzeit wurde dieses traurige Thema nicht mehr erwähnt.

Als sich die Damen zurückgezogen hatten und die Herren beim Portwein saßen, besprach Martell die Angelegenheit mit Burrard und Totton.

»Eine seltsame Sache«, sagte Burrard. »Gilpin und ich haben versucht, uns kundig zu machen, natürlich ohne uns einzumischen. Der fragliche Laden, der die Vorwürfe erhebt, verweigert eine gütliche Einigung. Der Magistrat besteht darauf, Miss Albion in Haft zu behalten. Am schlimmsten jedoch ist der Zustand von Fanny selbst.« Rasch erklärte er, dass Gilpin die Grockletons überredet hatte, mit Fanny nach Bath zu fahren. »Im Winter ist sie sehr melancholisch geworden. Leider hat die Reise nach Bath offenbar keine Besserung bewirkt. Sie ist völlig teilnahmslos und trägt nichts zur Aufklärung des Falls bei. Und selbst bei Leuten unseres Standes, Martell, ist Diebstahl eben Diebstahl. Ich möchte Ihnen nicht verheimlichen, dass ich mir Sorgen um sie mache. Es ist eine schwerwiegende Anschuldigung.«

Diebstahl wurde im England des achtzehnten Jahrhunderts streng bestraft, und zwar häufig mit dem Tode oder Abschiebung in die Kolonien. Dabei hing das Strafmaß nur selten vom Wert der gestohlenen Ware ab. Viel wichtiger waren der Charakter des Übeltäters und der Umstand, dass er sich an fremdem Eigentum vergriffen hatte. Deshalb galt Fannys Verbrechen als schwerer Gesetzesverstoß, der auch für Adelige empfindliche Folgen haben konnte. Denn es ging darum, ein Exempel zu statuieren und zu beweisen, dass für niemanden Ausnahmen gemacht wurden.

»Weiß man, welchen Grund ihre Niedergeschlagenheit hat?«, fragte Martell.

»Nein«, erwiderte Edward Totton. »Ich glaube, es begann nach Mrs. Grockletons Ball. Vielleicht war es ihr peinlich, wie ihr Vater sich in der Öffentlichkeit aufgeführt hat, obwohl sie dazu überhaupt keinen Anlass hat. Außerdem denke ich, dass Louisa und ich einen Teil der Schuld tragen. Wir haben sie sträflich vernachlässigt, und ich schäme mich sehr dafür.«

Kurz nach dem Ball also. Womöglich hat ihre Melancholie eine andere Ursache, dachte Martell. Dennoch beschäftigte ihn, als sie sich zu den Damen gesellten, immer noch die Frage, wie um alles in der Welt er ihr nur helfen könnte. Gewiss hatte die Familie ihr bereits einen guten Anwalt besorgt. Und vielleicht würde seine Einmischung nicht willkommen sein.

Ein Satz des Gespräches wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf: »Sie ist völlig teilnahmslos und trägt nichts zur Aufklärung des Falls bei.« Darum musste man sie dazu bringen. Die Sache war viel zu ernst, um sie dem Zufall zu überlassen. Es war unabdingbar, dass Fanny selbst etwas unternahm, um sich aus dieser misslichen Lage zu retten.

An zwei Tischen wurde Karten gespielt, doch Martell war nicht in der richtigen Stimmung dafür. Da es Louisa offenbar ebenso erging, setzten sie sich auf ein Sofa, um zu plaudern.

Martell hielt Louisa zweifellos für eine sehr hübsche und amüsante junge Frau. Er mochte sie und genoss ihre Gesellschaft. Hin und wieder dachte er sogar daran, ihr den Hof zu machen. Die Tottons gehörten zwar nicht ganz zu seinen Kreisen, doch er war in der Wahl seiner Ehefrau mehr oder weniger frei. Die Nachricht von Fannys schwieriger Lage hatte ihn angerührt, und nun sah er Louisa voller Zuneigung an. »Ich muss gestehen«, sagte er, »dass ich mir große Sorgen um Miss Albion mache.«

»Das tun wir alle«, erwiderte sie leise.

»Außerdem frage ich mich, ob ich nicht etwas für sie tun sollte. Vielleicht«, überlegte er laut weiter, »könnte Edward sie besuchen. Ich würde ihn dann begleiten.«

Louisas Miene verdüsterte sich ein wenig. »Ich wusste gar nicht, dass Sie sich so für Fanny interessieren«, meinte sie sanft.

»Und außerdem könnte es sein, dass sie Edwards Anwesenheit zurzeit nicht wünscht.«

»Möglich. Dennoch« – er schüttelte den Kopf – »vermute ich, dass sie im Augenblick Gesellschaft und wirkliche Freundschaft nötig hätte.«

»Ich verstehe.« Man brauchte nur wenig weibliches Einfühlungsvermögen – und mit diesem war Louisa reichlich ausgestattet –, um zu sehen, in welche Richtung Martells Gefühle offenbar neigten. »Niemand weiß«, fuhr Louisa zögernd fort, »wie die Dinge wirklich liegen. Deshalb ist Vorsicht angebracht.«

»Was soll das heißen? Verdächtigen Sie Miss Albion etwa dieses Verbrechens?«

»Nein, Mr. Martell.« Louisa hielt inne. »Aber da wir nicht vor Ort sind, ist es schwierig, sämtliche Zweifel auszuräumen. Schließlich könnte…«

Entgeistert und gleichzeitig neugierig sah er sie an. Louisa war nicht dumm, und er fragte sich, was sie mit diesem Wink wohl gemeint haben könnte.

»Ich will Ihnen etwas anvertrauen, Mr. Martell, wenn Sie versprechen, es für sich zu behalten.«

»Gut.« Er überlegte. »Ich werde schweigen.«

»Es gibt da etwas, von dem meine Cousine vermutlich selbst nichts ahnt. Ich denke, Sie wissen, dass mein Vater und ihre Mutter Geschwister waren.«

»Ja.«

»Doch das stimmt nicht ganz. Sie war seine Halbschwester. Und ihre Mutter… nun, die zweite Frau meines Großvaters stammte aus anderen gesellschaftlichen Kreisen. Sie war eine Miss Seagull. Die Seagulls sind eine Familie von niedrigstem Stand: Matrosen, Wirte, Schmuggler. Und damals…« Sie verzog das Gesicht. »Besser, man redet nicht darüber.«

»Ich verstehe.«

»Und deshalb fragen wir uns vielleicht, wir glauben… wir können nicht sicher sein…« Sie lächelte entschuldigend. Mr. Martell starrte sie entgeistert an.

Ihm war sonnenklar, dass sie sich selbst nicht bewusst war, was sie mit ihrer kleinen Böswilligkeit, ihrer Beichte alles anrichten konnte. »Ich freue mich, dass Sie sich mir anvertraut haben, Miss Totton«, erwiderte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Und im selben Augenblick fasste er den Entschluss, sofort am nächsten Tag bei Morgengrauen nach Bath zu fahren.

 

 

Adelaide schüttelte den Kopf. Seit einer Woche weilte sie nun schon in Bath, ohne etwas bewirkt zu haben. Oft drohten ihre Kräfte zu erlahmen, und sie spielte schon mit dem Gedanken, nach Hause zurückzukehren, da sie es nicht mehr ertragen konnte. Allerdings war sie nun schon so lange Hüterin der Familienehre und hatte zuerst für ihre Mutter und später für ihren Bruder und für Fanny gesorgt – also kam es überhaupt nicht in Frage, dass sie jetzt aufgab. Schließlich ging ihr der gute Ruf des Hauses Albion über alles, und deshalb wäre es ihr auch unmöglich gewesen, ihre Nichte im Stich zu lassen.

Allmählich jedoch war sie mit ihrem Latein am Ende. »Es wird dir ergehen wie Alice!«, rief sie erbittert aus. »Sie hat sich nicht verteidigt und ist vor dem Richter eingeschlafen; mit keinem Wort hat sie sich gewehrt. Willst du etwa auch hingerichtet werden? Soll die Familie Albion denn aussterben?«

Aber Fanny schwieg nur.

»Können Sie nicht etwas tun, um sie zu überzeugen«, wandte sich die alte Dame Hilfe suchend an Mrs. Pride.

Seit einer Woche begleitete Mrs. Pride Tante Adelaide nun schon ins Gefängnis, beobachtete still das Treiben im Hause Grockleton und bemühte sich, die anderen so gut wie möglich zu trösten. Außerdem hatte sie Fanny eingehend beobachtet und ihre Schlüsse daraus gezogen. Nun sprach sie ihren Schützling in freundlichem, aber strengem Ton an.

»Ich kenne Sie nun schon seit Ihrer Geburt, Miss Fanny«, sagte sie. »Ich habe Sie gewissermaßen großgezogen, und Sie waren immer ein mutiges und vernünftiges Mädchen. Ihre Lage ist ernst.« Sie sah Fanny in die Augen. »Sie müssen sich retten. Etwas anderes bleibt Ihnen nicht übrig, wenn Sie nicht untergehen wollen.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, meinte Fanny.

»Sie müssen aber«, wiederholte Mrs. Pride.

»Du musst kämpfen, Fanny!«, rief ihre Tante. »Begreifst du denn nicht? Du musst kämpfen und darfst nie aufgeben.« Sie betrachtete Fanny und wandte sich dann an Mrs. Pride. »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen.« Mühsam erhob sie sich.

In der Tür sah Mrs. Pride die Gefangene noch einmal an, und ihre Blicke trafen sich. Die Botschaft der Haushälterin war unmissverständlich: »Rette dich.«

Nachdem sie fort waren, holte Fanny den Brief des Vikars heraus und las ihn noch einmal. Sie hoffte, dass er ihr Kraft geben würde, doch es nützte nichts, und sie steckte ihn wieder weg. Dann schloss sie die Augen, aber sie konnte nicht schlafen.

Sich retten. Aber wie denn? Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, rollte sie sich zusammen wie ein ungeborenes Kind und blieb lange Zeit in dieser Haltung liegen. Hin und wieder saß sie da, starrte mit leerem Blick geradeaus und war unfähig, sich zu regen. Fanny war sicher, dass sie verloren war. Ihr Leben war von Mauern umgeben, so kahl und unnachgiebig wie die eines Gefängnisses. Es gab kein Entrinnen, keinen Ausweg, keine Lösung.

Und dennoch sehnte sie sich danach zu fliehen, nach jemandem, der kam und sie befreite. Tante Adelaide war dazu nicht in der Lage. Nicht einmal Mrs. Pride. Alle verlangten von ihr, dass sie sich selbst half, obwohl sie doch von einem anderen Menschen gerettet und getröstet werden wollte. Aber von wem? Mr. Gilpins Gegenwart hätte sie möglicherweise aufgemuntert. Doch sie wusste, dass auch er nicht der Richtige war.

Sie wünschte sich Vergebung. Wofür, konnte sie nicht sagen. Vielleicht dafür, dass sie überhaupt lebte. Sie sehnte sich danach, dass der Mann, den sie liebte, bei ihr war, sie in die Arme nahm und ihr verzieh.

Dann würde sie die Kraft haben, sich allen Widrigkeiten zu stellen. Aber dieser Traum würde nie in Erfüllung gehen. Also blieb ihr nichts weiter übrig, als das Elend zu ertragen. Und deshalb schloss sie die Augen vor dem grellen, schmerzhaften Licht der Welt.

Und so sah sie ihn nicht hereinkommen.

 

 

Wie lange braucht ein Mann, um sich über seine Gefühle für eine Frau klar zu werden?

Wyndham Martell betrachtete die bleiche Gestalt, die stumm in ihrer Zelle saß. Ein schwacher Sonnenstrahl fiel durchs Fenster auf ihr Gesicht und ließ es fast durchscheinend wirken. Nun wusste er, wie zart sie war; er hatte viel über sie erfahren, und in diesem Augenblick ahnte er, dass das Schicksal ihm bestimmt hatte, diese Frau zu lieben. Nach dieser Erkenntnis gab es – wie jedem, der schon einmal geliebt hat, klar ist – nichts mehr zu sagen. Im Bruchteil einer Sekunde entschied er über seine Zukunft.

Als er eintrat, sah sie ihn entgeistert an. Ohne stehen zu bleiben, ging er auf sie zu, und als sie sich erheben wollte, nahm er sie in die Arme. »Ich bin hier, Fanny«, sagte er mit einem zärtlichen Lächeln. »Und ich werde dich nie wieder verlassen.«

»Aber…« Sie runzelte die Stirn und verzog verzweifelt das Gesicht. »Du weißt doch gar nicht…«

»Ich weiß alles.«

»Du kannst nicht…«

»Ich kenne sogar das dunkle Geheimnis deiner Großmutter Seagull und ihrer Vorfahren, mein Liebes.« Voller Zuneigung schüttelte er den Kopf. »Nichts spielt eine Rolle, solange wir nur beieinander sind.« Und bevor sie etwas erwidern konnte, drückte er sie an sich und küsste sie.

Fanny zitterte am ganzen Leibe, klammerte sich an ihn und weinte Tränen, die nicht mehr versiegen wollten. Er versuchte nicht, sie zu trösten, sondern ließ sie gewähren, umarmte sie fest und murmelte Koseworte. Sie wussten nicht, wie lange sie so dagestanden hatten.

Beide bemerkten sie nicht, dass Tante Adelaide zurückgekehrt war.

 

 

Im ersten Moment begriff die alte Dame nicht, was da vor sich ging. Fanny lag in den Armen eines Fremden, der sein Gesicht abgewandt hatte. Wer er war oder warum Fanny sich so an ihn klammerte, konnte sie nicht sagen. Tante Adelaide musste sich auf Mrs. Prides Arm stützen. Es dauerte eine Weile, bis sie die Sprache wieder fand.

»Fanny?«

Die beiden jungen Leute fuhren auseinander. Dann drehte sich der Mann um und sah Tante Adelaide an. Die alte Dame riss entsetzt die Augen auf und erbleichte.

Zunächst glaubte sie, Oberst Penruddock vor sich zu haben, der auf wundersame Weise dem Gemälde entstiegen und wieder zum Leben erwacht war. Dann jedoch wurde ihr anscheinend klar, dass es sich um Mr. Martell handeln musste. Starr vor Schreck blickte sie ihn an und zischte nur ein einziges Wort: »Sie!«

Rasch hatte Mr. Martell sich gefasst. »Miss Albion, ich bin Wyndham Martell.«

Doch Tante Adelaide hatte ihn entweder nicht gehört, oder sie zog es vor, nicht weiter darauf einzugehen. Ihr kreideweißes Gesicht war vor Wut und Hass verzerrt, wie Fanny es noch nie bei ihr erlebt hatte. Als sie weitersprach, triefte ihr Ton vor Verachtung, als hätte sie einen gemeinen Verbrecher vor sich. »Wie können Sie es wagen, hierher zu kommen, Sie Schurke! Hinaus!«

»Ich bin mir dessen bewusst, Madam, dass es in der Vergangenheit zu Zerwürfnissen zwischen Ihrer Familie und der meiner Mutter gekommen ist.«

»Verschwinden Sie, Sir.«

»Ich halte es für überflüssig…«

»Raus.« Sie wandte sich an Fanny, als wäre Mr. Martell Luft für sie. »Was soll das heißen? Was hast du mit diesem Penruddock zu schaffen?«

Es war nicht nur ihre eiskalte, zornige Stimme, die Fanny bis ins Mark traf, sondern auch die abgrundtiefe Enttäuschung, die sie im Blick der alten Dame sah.

Mein ganzes Leben lang war sie immer für mich da, dachte Fanny. Sie hat mir vertraut, und nun habe ich ihr etwas so Schreckliches angetan. Ich habe sie verraten. »Oh, Tante Adelaide!«, rief sie aus.

»Vielleicht«, entgegnete ihre Tante in scharfem Ton, der Fanny wie ein Pfeil ins Herz drang, »brauchst du deine Familie ja jetzt nicht mehr.«

»O doch, Tante Adelaide.« Sie drehte sich zu Martell um. »Bitte geh.«

Er sah zwischen den beiden Frauen hin und her. »Ich komme wieder«, sagte er.

Nachdem er fort war, herrschte Stille.

»Ich denke, du bist mir eine Erklärung schuldig«, meinte Tante Adelaide kalt und abweisend.

Fanny tat ihr Bestes. Sie beichtete ihrer Tante, dass sie Gefühle für Martell entwickelt habe, ohne seine Herkunft zu kennen. »Wahrscheinlich wusste er auch nichts von meiner«, fügte sie hinzu und schilderte, wie sie die Hintergründe entdeckt hatte und ihm von da an aus dem Weg gegangen war. Sie schwor, sie habe ihn nicht wieder gesehen, bis er überraschend in ihrer Zelle aufgetaucht sei.

»Du hast ihn geküsst.«

»Ich weiß. Er war so gut zu mir. Ich habe mich hinreißen lassen.«

»Hinreißen«, höhnte ihre Tante. »Von einem Penruddock.«

»Es wird nie wieder vorkommen.«

»Und wenn er sich nicht abweisen lässt?«

»Dann werde ich ihn nicht empfangen.«

Als ihre Tante sie argwöhnisch musterte, schüttelte Fanny den Kopf.

»Fanny.« Tante Adelaide war nun nicht mehr zornig, sondern sprach ganz ruhig. »Ich fürchte, unsere Wege werden sich trennen müssen, wenn du darauf bestehst, weiter etwas mit diesem Mann zu tun zu haben. Du gehörst dann nicht mehr zu uns.«

»Nein, Tante Adelaide, bitte verlass mich nicht. Ich verspreche dir, die Verbindung mit ihm abzubrechen.«

 

 

An diesem Abend erhielt Fanny noch einmal unerwarteten Besuch. Es war Mrs. Pride. Die gute Frau blieb fast eine Stunde lang bei ihr und erfuhr, was genau zwischen ihrem Schützling und Mr. Martell vorgefallen war. Schließlich musste sie erkennen, dass Fanny diesen Mann von ganzem Herzen liebte.

»Er ist gekommen, um mich zu retten«, klagte das Mädchen. »Doch das ist unmöglich. Ich weiß, dass es keinen Sinn hat. Alles ist sinnlos.« Mrs. Pride nahm sie zwar in die Arme, ließ sie sich ausweinen und tröstete sie so gut sie konnte, doch im Innersten ihres Herzens konnte sie nicht leugnen, dass Fanny die Wahrheit sagte. Solange der Geist von Alice Lisle in Haus Albion wohnt, dachte sie bedrückt, wird kein Penruddock über dessen Schwelle treten. So war es nun einmal. Der New Forest hatte ein langes Gedächtnis.

Als Mr. Martell am nächsten Morgen seine Aufwartung machte, wurde er auf Fannys Anweisung fortgeschickt. Dasselbe wiederholte sich am Nachmittag. Als er tags darauf einen Brief hinterlassen wollte, verweigerte man die Annahme.

 

 

Francis Albion hatte in der Vergangenheit so oft falschen Alarm geschlagen, dass Mr. Gilpin erst eine Nachricht an Adelaide schickte, als der Arzt ihm versicherte, der Greis läge tatsächlich im Sterben und habe nur noch wenige Tage zu leben.

Das Eintreffen des Briefes versetzte die alte Dame in helle Aufregung, da sie unbedingt zu ihrem Bruder zurückkehren, gleichzeitig aber Fanny nicht allein lassen wollte. Sie befürchtete, dass ihre Nichte erneut Besuche von Mr. Martell empfangen könnte, wenn sie kein wachsames Auge auf sie hatte. Doch als Fanny sie darauf hinwies, Mr. Martell habe schon seit drei Tagen nichts von sich hören lassen, und außerdem noch einmal schwor, sie werde ihn nicht wieder sehen, war die alte Dame ein wenig beruhigt.

»Wie könnte ich den Gedanken ertragen, dich, seinen einzigen Trost, in einer solchen Zeit von ihm fern gehalten zu haben?«, rief Fanny aus. »Fahr, ich flehe dich an, und sage ihm, wie sehr ich ihn liebe und dass ich im Geiste bei ihm bin, auch wenn ich dich nicht begleiten kann.«

Tante Adelaide konnte sich der Vernunft dieses Vorschlags nicht verschließen und stimmte zu. Allerdings durfte man nicht vergessen, dass in zehn Tagen der Prozess stattfinden sollte. Der beste Anwalt stand bereit, um Fanny zu verteidigen. Doch Fanny selbst verhielt sich immer noch schwankend. An manchen Tagen wirkte sie stark genug, um für ihre Rechte einzutreten, an anderen wiederum versank sie in Teilnahmslosigkeit. »Ich weiß nicht, welchen Eindruck sie vor Gericht erwecken und wie sie auf die ihr gestellten Fragen antworten wird«, musste der Anwalt einräumen.

»Ganz gleich, wie es um die Gesundheit meines Bruders steht«, versicherte ihm Adelaide, »ich bin rechtzeitig zum Prozess zurück. Bis dahin müssen wir unser Bestes tun. Vielleicht«, fügte sie hinzu, »bringe ich Mr. Gilpin mit.«

Nachdem alles so verabredet war, ging Tante Adelaide, gestützt auf Mrs. Prides Arm, hinaus und überließ Fanny für die nächsten Tage ihrem Schicksal.

 

 

Während die Kutsche über die Mautstraße zwischen Bath und Sarum rollte, hatte Mrs. Pride Gelegenheit, alle Vorfälle der letzten Tage gründlich zu überdenken. Sie wünschte, sie hätte die Katastrophe abwenden können, die ihnen bevorstand.

Sie hatte kaum Hoffnung, dass die Sache für Fanny glimpflich ausgehen könnte. Selbst mit der besten Verteidigung schien eine Verurteilung beinahe unausweichlich. Und was Fannys Gefühle für Mr. Martell betraf, so sah Mrs. Pride beim besten Willen keine Lösung.

Sie konnte Tante Adelaide wegen ihrer Einstellung gegenüber Mr. Martell keinen Vorwurf machen. Schließlich erinnerten sich auch die Prides noch an den Verrat, den die Familie Furzey begangen hatte. Wie sollte die alte Adelaide also einem Penruddock verzeihen? An ihrer Stelle hätte Mrs. Pride gewiss ebenso empfunden. Ganz sicher hatte es der alten Dame fast das Herz gebrochen, Fanny mit Mr. Martell in zärtlicher Umarmung zu sehen.

Wieder und wieder musste sie an das tränenreiche Gespräch mit Fanny denken. Sie wusste genau, wie es um das Mädchen stand: Fannys Teilnahmslosigkeit hatte ihren Grund in dieser unglücklichen Liebe. Als sie am Abend Sarum erreichten, hatte Mrs. Pride noch immer keinen Ausweg gefunden.

Von Salisbury fuhren sie auf der Straße nach Southampton über die hohen Kreidefelsen, von denen aus man den New Forest überblicken konnte. Dann nahmen sie die Mautstraße nach Lymington. Am späten Nachmittag sahen sie Mr. Gilpins Pfarrhaus vor sich.

Der Vikar selbst empfing sie an der Tür. Mit ernster Miene brachte er Tante Adelaide in den Salon und bat sie, Platz zu nehmen. Als sie sich nach der Gesundheit ihres Bruders erkundigte, hielt er kurz inne und erwiderte dann bedrückt: »Ihr Bruder ist heute kurz vor Morgengrauen gestorben. Er hat nicht sehr gelitten. Ich habe mit ihm gebetet, er hat ein wenig geschlafen, und dann ist er von uns gegangen. Ein so friedliches Ende wünsche ich mir auch einmal.«

Adelaide nickte. »Die Beerdigung?«

»Mit Ihrer Erlaubnis findet sie morgen statt. Wir können auch warten, wenn Sie es möchten.«

»Nein.« Adelaide seufzte. »Es ist besser so. Ich muss so schnell wie möglich zurück nach Bath.«

»Wollen Sie ihn sehen? Er ist im Speisezimmer aufgebahrt.«

»Ja.« Sie stand auf. »Ich gehe gleich hin.«

Mr. Gilpin hatte alles gründlich vorbereitet. Nachdem Adelaide von ihrem Bruder Abschied genommen hatte, erklärte er ihr kurz den Ablauf des Gottesdienstes in der Kirche von Boldre, wo sich die Familiengruft der Albions befand. Die Tottons, die Burrards und andere Familien aus der Gegend waren bereits in Kenntnis gesetzt worden und würden zur Beerdigung erscheinen, sofern Tante Adelaide keine Einwände erhob. Natürlich sei sie herzlich eingeladen, im Pfarrhaus zu übernachten, fügte der Vikar hinzu. Adelaide bedankte sich vielmals, lehnte jedoch ab, da sie lieber nach Haus Albion zurückkehren wollte. Einige Dienstboten hatten zwar während ihrer Abwesenheit Ausgang erhalten, doch es war noch genug Personal vorhanden, um für alles Nötige zu sorgen.

»Versprechen Sie mir, sich vor Ihrer Rückkehr nach Bath mindestens einen oder zwei Tage lang auszuruhen«, flehte Mr. Gilpin sie an. »Sie haben genug Zeit dafür.«

»Ja. Einen Tag. Dann muss ich zurück. Ich kann Fanny nicht allein lassen.«

»Ganz richtig. Darf ich Sie am Tag nach der Beerdigung aufsuchen? Es gibt in diesem Zusammenhang nämlich noch ein paar Dinge, die ich mit Ihnen besprechen möchte.«

»Selbstverständlich.« Sie fügte hinzu, sie würde sich über seinen Rat sehr freuen.

Er begleitete sie zur Tür und blickte der Kutsche nach, bis sie nicht mehr zu sehen war. Dann kehrte er durch den Flur in seine Bibliothek zurück, deren Tür während Adelaides Besuch geschlossen geblieben war. Er wandte sich an den Mann, der sich den Großteil des Nachmittags dort versteckt gehalten hatte. »Übermorgen werde ich mit ihr sprechen. Aber ich möchte, dass Sie mich begleiten. Sie sollen auch etwas sagen.«

»Halten Sie das für klug?«

»Klug oder nicht. Es könnte nötig werden.«

»Ich verlasse mich auf Ihren Rat«, meinte Mr. Martell.

 

 

Die Beerdigung in der alten Kirche auf dem kleinen Hügel hatte im engsten Familienkreis stattgefunden. Die Tottons, verschiedene Nachbarn und die Pächter und Dienstboten von Haus Albion waren erschienen. Mr. Gilpin hatte einen kurzen, aber würdigen Gottesdienst abgehalten. In seiner knappen Predigt und in den Gebeten hatte er auch Fanny erwähnt. Und beim Abschied baten die Trauergäste Tante Adelaide, Fanny ihre besten Wünsche zu übermitteln.

Nach der Beerdigung wollte Tante Adelaide allein nach Hause zurückkehren, worauf selbstverständlich Rücksicht genommen wurde. Also saßen nur sie und Mrs. Pride in der Kutsche, die den Weg zu dem alten Haus mit den hohen Giebeln hinauffuhr. Tante Adelaide ließ sich im Salon nieder, und Mrs. Pride brachte ihr etwas Kräutertee. Dann döste die alte Dame ein bisschen vor sich hin, verzehrte zum Abendessen ein wenig Schinken und legte sich schließlich früh zu Bett.

 

 

Als Mr. Gilpin am nächsten Morgen um elf Uhr bei Tante Adelaide vorsprach, war diese schon längst auf den Beinen.

Man muss sie einfach bewundern, dachte Mrs. Pride. Tante Adelaide saß kerzengerade und auf Kissen gestützt in ihrem großen Ohrensessel im Wohnzimmer. Trotz ihrer Gebrechlichkeit und der Schicksalsschläge der letzten Wochen war ihr Verstand hellwach.

Mrs. Pride wollte sich zurückziehen, als Mr. Gilpin hereinkam, doch Adelaide bedeutete ihr zu bleiben. »Ich möchte, dass Mrs. Pride bei dem Gespräch anwesend ist«, meinte sie zu Gilpin. »Ohne sie wären wir schon längst untergegangen.«

»Ganz Ihrer Ansicht.« Der Geistliche lächelte der Haushälterin freundlich zu.

»Lassen Sie mich zuerst erklären, wie es um Fanny steht«, begann die alte Dame.

Sie schilderte in allen Einzelheiten Fannys Gemütszustand, ihre Unfähigkeit, ihre Rechte zu verteidigen, die Besorgnis des Anwalts und den Ernst der Lage. Außerdem sprach sie von der Hilfsbereitschaft der Grockletons, doch Mr. Martell erwähnte sie mit keinem Wort. Als sie fertig war, wandte sich Mr. Gilpin an Mrs. Pride und fragte, ob sie dem etwas hinzuzufügen habe.

Mrs. Pride zögerte. Was sollte sie darauf antworten? »Miss Albion hat alles ganz genau wiedergegeben«, sagte sie zögernd. »Miss Fannys Lage ist ernst. Ich habe Angst um sie.«

»Seltsam, dass sie gar nicht versucht, sich zu verteidigen«, stellte Mr. Gilpin fest. »Ist es Ihrer Ansicht nach vielleicht möglich, dass die Anwälte meinen, sie könnte dieses Stück Spitze aus irgendwelchen Gründen tatsächlich eingesteckt haben?«

»Das ist absurd«, entgegnete ihre Tante.

Gilpin sah Mrs. Pride an. »Ich weiß nicht, was die Leute denken, Sir. Aber soweit ich im Bilde bin, hat Miss Fanny auf diese Frage bis jetzt noch gar nicht geantwortet.«

»Ganz offensichtlich befindet sie sich in einem seltsamen Gemütszustand. Fast so, als hätte sie – verzeihen Sie mir – den Verstand verloren. Anscheinend ist sie nicht sie selbst, meine liebe Miss Albion.«

»Richtig.«

»Und woran könnte das liegen?« Er musterte sie forschend. »Könnte sie irgendetwas aus dem Gleichgewicht gebracht haben?«

»Nichts von Bedeutung«, zischte Tante Adelaide.

»Ich glaube, Sir«, wandte Mrs. Pride ein, »dass ihre Gefühle stark durcheinander geraten sind.« Sie musste es einfach sagen, obwohl es ihr einen strafenden Blick von Adelaide einbrachte.

Und nun begann der schwierigste Teil von Mr. Gilpins Mission. Zuerst erläuterte er Adelaide klipp und klar, in welcher großen Gefahr Fanny seiner Ansicht nach schwebte. »Sie wird eines Verbrechens bezichtigt. Die Zeugen sind gut beleumundet. Unter diesen Umständen wird sie ihr gesellschaftlicher Stand nicht schützen. Ganz im Gegenteil könnte der Richter sie in die Kolonien abschieben, nur um ein Exempel zu statuieren und zu zeigen, dass er keine Klassenunterschiede kennt. Derartige Dinge sind schon vorgekommen.« Er hielt inne, damit diese Schreckensbotschaft sich setzen konnte.

Doch selbst er hatte nicht damit gerechnet, dass sich Adelaides Denken stets und ausschließlich nur um eines drehte. »Gerechtigkeit«, spottete sie. »Verschonen Sie mich mit Gerechtigkeit. Ich weiß noch sehr wohl, wie die Gerichte mit Alice Lisle umgesprungen sind.«

»Es geht hier nicht um Gerechtigkeit«, beharrte der Vikar, »sondern um das Risiko. Gewiss stimmen Sie mir zu, dass wir alles unternehmen müssen, um Fanny zu retten.« Als Antwort erhielt er ein kurzes Nicken. »Ich glaube, am besten begleite ich Sie nach Bath. Einverstanden?« Wieder ein Nicken. »Allerdings muss ich Sie warnen«, fuhr er fort. »Ich denke nicht, dass meine Anwesenheit Fanny notwendigerweise dazu bringen wird, sich zu verteidigen. Und genau das muss sie tun. Inzwischen bin ich überzeugt, dass die Lösung des Rätsels anderswo zu finden ist.«

Adelaide ließ sich nicht anmerken, dass sie ahnte, worauf er hinauswollte. Gilpin fuhr fort.

Und er ging dabei sehr klug zu Werk. Zuerst kam er – wie es sich für einen anständigen Christen gehörte – auf die Pflicht zur Versöhnung zu sprechen. Dann erläuterte er, es sei verwerflich, alte Fehden nicht ruhen zu lassen. »Die Sünden der Väter, Miss Albion, dürfen wir nicht den Söhnen anlasten.« Danach betonte er, dass alles andere hinter das Ziel, Fanny frei zu bekommen, zurücktreten müsse. »Ich glaube«, sagte er in eindringlichem Ton, »dass Sie ganz genau wissen, was ich meine.«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, widersprach die alte Adelaide trotzig.

»Erlauben Sie, Madam«, war da plötzlich eine ruhige, aber nachdrückliche Stimme von der Tür her zu vernehmen, »doch meiner Ansicht nach wissen Sie es sehr wohl.«

Mit diesen Worten trat Mr. Martell ins Zimmer und verbeugte sich höflich. Obwohl Gilpin den jungen Mann angewiesen hatte, draußen in der Kutsche zu warten, hatte er sich ins Haus geschlichen und lauschte schon seit einer Weile.

Adelaide erbleichte. Sie blickte zwischen Martell und Gilpin hin und her und fragte dann in scharfem Ton: »Haben Sie diesen Schurken mitgebracht?«

»Ja«, gestand der Vikar, »allerdings bin ich überzeugt davon, dass er kein Schurke ist. Ganz im Gegenteil.«

»Bitte gehen Sie, Mr. Gilpin, und nehmen Sie diesen Schurken mit.«

Sie wiederholte das Wort absichtlich. Dann blickte sie in die Ferne. »Ich muss feststellen, Sir, dass heutzutage sogar Geistliche das Vertrauen ihrer Freunde missbrauchen. Aber meine Familie weiß, wie man mit Schurken, Mördern und Verführern fertig wird, selbst wenn es heute das erste Mal ist, dass uns ein solches Subjekt von einem Mann der Kirche ins Haus geschleppt wird.«

»Meine liebe Miss Albion.«

»Ich schlage vor, Mr. Gilpin, dass Sie sich in Zukunft von diesem Haus fern halten. Außerdem werden Sie meine Nichte in Bath nicht aufsuchen. Guten Tag.«

Selbst Gilpin fehlten die Worte. Doch Wyndham Martell ließ sich nicht so schnell abfertigen. »Madam«, begann er höflich, »Sie können die Familie meiner Mutter beschimpfen, wie es Ihnen beliebt. Falls das, was Sie ihr vorwerfen, der Wahrheit entspricht, muss ich mich dafür entschuldigen. Wenn es in meiner Macht läge« – er hob die Hand –, »würde ich mir diese Hand abhacken, um mich von dem Erbe der Penruddocks zu befreien. Und ich würde es gern tun, um Ihre Nichte zu retten.«

Schweigend starrte er sie an. Vielleicht hatte es ja doch etwas genutzt.

»Ich habe festgestellt, dass ich einem meiner Vorfahren ähnle, von dem ich bis jetzt kaum etwas wusste. Dann erfuhr ich, dass die Familie der jungen Frau, an die ich bereits mein Herz verloren hatte und die mir ohne Erklärung den Laufpass gab, diesen Mann hasst und verabscheut. Dennoch wird jede Generation neu geboren, so sehr wir unsere Eltern und Vorfahren auch ehren mögen. Selbst im Wald wachsen immer wieder neue Eichen. Ich versichere Ihnen, dass ich nicht Oberst Penruddock bin und auch nicht sein möchte wie er. Ich bin Wyndham Martell. Und Fanny ist nicht Alice Lisle.«

»Hinaus!«

»Madam, ich halte es für möglich, dass ich Miss Albion dazu bringen könnte, sich selbst zu verteidigen. Ganz gleich, wie Sie über mich denken mögen – wollen Sie mir nicht einmal erlauben, einen Versuch zu unternehmen?«

Zufällig warf Gilpin in diesem Moment einen Blick auf Mrs. Pride, und er merkte ihr deutlich an, dass sie angesichts dessen, was sie von Fanny wusste, auch an diese Lösung glaubte. »Ich flehe Sie an. Sie müssen jetzt vor allem daran denken, Fanny zu retten«, wandte der Vikar ein.

»Ein Penruddock soll eine Albion retten? Niemals.«

»Gütiger Himmel, Madam!« Allmählich riss Martell der Geduldsfaden. »Soll Ihre Nichte denn im Gefängnis verrotten?«

»Hinaus.«

Er achtete nicht darauf. »Lieben Sie sie, Madam? Oder gilt sie Ihnen nur etwas als Priesterin des Familientempels?«

»Hinaus.«

»Ich sage Ihnen, Madam, dass ich Miss Albion um ihrer selbst willen liebe. Offen gestanden ist es mir völlig gleichgültig, ob sie eine Albion, eine Gilpin oder« – er blickte der hoch gewachsenen, würdevollen Frau in die Augen, die dieselben Ziele verfolgte wie er und die aufmerksam jedem seiner Worte lauschte – »eine Pride ist. Ich liebe sie, Madam. Als Mensch. Und ich beabsichtige, sie zu retten, mit oder ohne Ihre Erlaubnis. Allerdings wäre Ihre Hilfe für sie sehr nützlich gewesen.«

»Hinaus.«

Auf ein Zeichen von Mr. Gilpin verließ der inzwischen sichtlich erboste Mr. Martell den Raum, und kurz darauf fuhren die beiden Männer in der Kutsche des Geistlichen davon.

Schweigend saß Adelaide eine Weile da, während Mrs. Pride abwartend hinter ihr stand. Dann ergriff die alte Dame endlich das Wort, allerdings war sie nicht sicher, ob sie mit der Haushälterin oder mit sich selbst sprach. »Wenn er sie rettet, wird sie ihn heiraten.« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Oh, meine arme Mutter. In diesem Fall wäre es besser, sie stirbt.«

Nun wusste Mrs. Pride, was sie tun musste.

Am Abend saßen Martell und Gilpin in der Bibliothek des Vikars und erörterten die weitere Vorgehensweise.

»Ich möchte hinfahren«, sagte Gilpin. »Und ich bezweifle nicht, dass Fanny mich empfangen wird. Allerdings sind noch zwei Fragen offen. Wird meine Anwesenheit nicht nur zur Verwirrung beitragen, solange die alte Dame so halsstarrig bleibt? Und außerdem braucht sie im Augenblick Sie dringender als mich, Martell.«

»Die alte Dame kann mir den Buckel herunterrutschen«, erwiderte Martell. »Ich breche gleich morgen früh auf. Allerdings muss ich noch dafür sorgen, dass ich vorgelassen werde. Ich kann ja schlecht die Gefängnistür aufbrechen.«

»Ich gebe Ihnen einen Brief mit, in dem ich Fanny anflehe, Sie zu empfangen. Ich werde schreiben, dass Sie in meinem Auftrag handeln. Das könnte helfen.«

Gilpin hatte sich gerade an den Brief gesetzt. Martell las in einem Buch, als von der Tür ein Geräusch zu hören war. Kurz darauf kam ein Diener herein und flüsterte Gilpin etwas ins Ohr. Dieser erhob sich, ging hinaus in die Halle und kehrte wenig später eilig zurück. »Holen Sie Ihren Rock, Martell!«, rief er. »Wir brauchen Sie. Die Pferde werden schon gesattelt.«

»Wohin geht es?«, fragte Martell und stürzte in sein Zimmer hinauf, um Rock und Stiefel zu holen.

»Haus Albion. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

 

 

Niemand wusste, wann oder wo das Feuer ausgebrochen war, denn offenbar hatten alle im Haus fest geschlafen. Ein seltsames Knistern hatte im obersten Stockwerk einen Diener aufgeschreckt. Der Mann stürmte aus seinem Zimmer und stellte fest, dass der Flur bereits dicht verqualmt war. Im nächsten Moment begegnete er Mrs. Pride, die noch ihr Nachthemd trug. Offenbar war auch sie soeben erst wach geworden.

»Das ganze Haus brennt!«, sagte sie. »Schnell, rufen Sie die Dienstboten zusammen. Die Hintertreppe ist frei. Bringen Sie alle in die Ställe und vergewissern Sie sich, dass niemand fehlt.«

»Wo wollen Sie hin?«

»Zu der alten Dame. Wohin sonst?«

Beißender Rauch stieg Mrs. Pride in die Kehle, als sie sich zur Treppe durchkämpfte. Rasch lief sie in Adelaides Schlafzimmer, trat ein und ging zum Bett.

Es war leer.

Schnell blickte sie sich im Raum um: niemand. Sie versuchte es im Nebenzimmer, fand es ebenfalls verlassen vor, und kehrte zur Treppe zurück.

Das Feuer züngelte die Tapeten empor. Unten sah sie, wie Flammen aus dem Salon quollen. Also rannte sie hin, doch die große Hitze hinderte sie daran, den Raum zu betreten. Sie öffnete die Eingangstür und verließ rasch das Haus.

»Hat jemand Miss Albion gesehen?«

Der ganze Haushalt hatte sich in den Stallungen versammelt. Keiner fehlte. Die Männer suchten bereits Eimer zusammen, um eine Kette hinunter zum Fluss zu bilden. Obwohl Mrs. Pride wusste, dass das zwecklos war, ließ sie sie gewähren.

Der alten Dame war niemand begegnet.

»Bestimmt ist sie aufgestanden und nach draußen gegangen«, meinte jemand.

»Vielleicht ist sie mit einer Lampe gestürzt und hat so das Feuer verursacht«, sagte ein Hausmädchen.

»Niemand darf hinein«, befahl Mrs. Pride und kehrte zum Haus zurück.

Inzwischen qualmte auch das Dach, und aus einigen Fenstern im oberen Stockwerk züngelten Flammen. Offenbar hatte man das Feuer auch schon in Boldre bemerkt, denn es kamen einige Männer die Auffahrt entlanggestürmt. Mrs. Pride wies sie an, beim Wasserschöpfen zu helfen. Jemand war schon losgelaufen, um den Vikar zu holen.

»Suchen Sie weiter nach der alten Dame«, bat Mrs. Pride die Köchin und die anderen Frauen. »Möglicherweise irrt sie irgendwo draußen herum.« Dann ging sie wieder ins Haus.

Als Mr. Gilpin und Martell eintrafen, schlugen die Flammen bereits hoch aus dem Dach. Glut schwebte im dunklen Nachthimmel. Seltsamerweise war die Tür noch unversehrt, doch drinnen loderte Feuer in der Finsternis.

Die Suche nach Adelaide blieb ergebnislos. Niemand wusste, wohin sie verschwunden war. Falls sie sich im Salon befunden hatte, war sie sicherlich verbrannt.

»Sie könnte gestürzt sein«, sagte Mr. Gilpin. »Vielleicht lebt sie noch.« Er sah Martell an. »Also, wollen wir?«

Doch als die beiden Männer abstiegen, stellte sich ihnen Mrs. Pride in den Weg. »Warten Sie!«, rief sie. »Sie wissen nicht, wo Sie nachsehen sollen.« Und bevor jemand sie daran hindern konnte, eilte sie wieder ins Haus.

Die kahlen, steinernen dreieckigen Giebel ragten gespenstisch aus dem Flammenmeer. Der Großteil der Zimmer brannte inzwischen lichterloh. Es war unmöglich, dass jemand in dieser Flammenhölle überlebt hatte. Doch kurz darauf erschien Mrs. Prides hoch gewachsene Gestalt erst an einem Fenster, dann an einem anderen. Plötzlich war sie verschwunden, und Gilpin und Martell wollten schon ins Haus laufen, als Mrs. Pride aus der Tür trat. Sie trug eine zarte, in Weiß gekleidete Gestalt auf den Armen.

Es war Adelaide. Obwohl ihr Nachthemd angesengt und voller Rußflecken war, war sie nicht den Flammen zum Opfer gefallen. Doch ihre Gliedmaßen hingen schlaff herab. Sie war tot. Offenbar war sie gestürzt, hatte sich den Kopf gestoßen und war in dem dicken, schwarzen Rauch erstickt.

Ohne Wasserpumpe war es aussichtslos, Haus Albion retten zu wollen. Das Feuer brannte viele Stunden lang, da die dicken Eichenbalken aus der Tudorzeit nur allmählich zu Asche zerfielen. Einige wurden sogar nur von außen angesengt. Am frühen Morgen leuchtete das Haus noch immer feuerrot, und als es hell wurde, hatte es sich in eine glühende Ruine verwandelt. Haus Albion gab es nicht mehr, es war mit seinen beiden Bewohnern, Francis und Adelaide, der Bewahrerin der Familienehre, untergegangen.

Der gute Mr. Gilpin konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass es Fanny Albion nun frei stand, sich von Mr. Martell retten zu lassen. Er erinnerte sich an den Tag, an dem Francis Albion so tief geschlafen hatte, dass Fanny den Ausflug nach Beaulieu hatte mitmachen können. Forschend sah der Vikar deshalb Mrs. Pride an.

Aber der Miene der Haushälterin war nichts zu entnehmen. Das Feuer beleuchtete ihr edles Profil. Und der Vikar hatte klugerweise nicht vergessen, dass die Dinge im New Forest nicht immer das waren, was sie zu sein schienen.

 

 

Es war totenstill im Gerichtssaal. An diesem Morgen musste der Richter über drei Fälle von Diebstahl verhandeln. Die Angeklagten saßen, jeder von einem Polizeidiener bewacht, auf einer Bank und sahen zu, wie einer nach dem anderen aufgerufen wurde.

Zuerst war ein junger Mann an der Reihe, der einen älteren Herrn überfallen und ihn um sein Geld und seine goldene Uhr erleichtert hatte. Er hatte einen dunklen Lockenschopf; als Junge hatte er sicher Nathaniel Furzey geähnelt. Stumpf und benommen starrte er geradeaus. Die Geschworenen brauchten nicht lange, um ihn schuldig zu sprechen. Er wurde zum Tod durch Erhängen verurteilt.

Das arme sechzehnjährige Mädchen, das einen gekochten Schinken gestohlen hatte, damit ihre Familie etwas zu essen hatte, kam glimpflicher davon. Sie war blond und blauäugig, und ihre Schönheit wäre noch auffallender gewesen, hätte sie nicht drei Monate bei dünnem Haferbrei und trockenem Brot in einer schmutzigen Zelle verbracht. Da es ein Jammer schien, sie zu hängen, wurde sie für vierzehn Jahre nach Australien deportiert.

Es handelte sich um alltägliche Fälle, die zwar für die Familien der Verurteilten eine Tragödie darstellten, aber nicht weiter von Bedeutung waren.

Doch mit der jungen Dame, die angeblich ein Stück Spitze gestohlen hatte, war es eine ganz andere Sache. Der Gerichtssaal war voll besetzt. Die Geschworenen merkten interessiert auf. Die Anwälte mit ihren schwarzen Roben und ihren Perücken wurden neugierig. Ja, sogar der Richter schien Interesse an dem Fall zu haben.

Und die allgemeine Aufregung und das Erstaunen steigerten sich noch mehr, als der Richter die junge Dame fragte, wer denn ihr Rechtsvertreter sei. Denn diese erwiderte: »Wenn Sie erlauben, Euer Ehren, ich habe keinen Anwalt. Ich möchte mich selbst verteidigen.«

Im Gerichtssaal brach Geraune aus. Alle starrten die Angeklagte gebannt an.

Jeder, der Fanny Albion noch vor einer Woche gesehen hatte, musste zugeben, dass eine bemerkenswerte Veränderung mit ihr vorgegangen war. Sie trug ein schlichtes weißes Kleid, dessen Taille nach der neuesten Mode hoch angesetzt war, was ihr ein mädchenhaftes Aussehen verlieh. Die Spitzensäume, die Satinschärpe und die seidenen Schuhe verrieten, dass Miss Albion zwar bescheiden, aber offenbar wohlhabend war. Dass sich unter dem Kleid ein seltsames kleines hölzernes Kruzifix verbarg, das einst einer Bauersfrau gehört hatte, wussten nur sie und Mr. Gilpin.

Ruhig und selbstbewusst ließ Fanny sich an ihren Platz führen. Nachdem die Anklage verlesen worden war und man sie fragte, ob sie auf schuldig oder nicht schuldig plädiere, antwortete sie mit klarer, fester Stimme: »Nicht schuldig.«

Ein Blick in den Gerichtssaal zeigte ihr, dass sie nicht allein war. Die Grockletons waren gekommen. Mr. Gilpin, der sie gedrängt hatte, in möglichst einfachen Worten die Wahrheit zu sagen, saß zwischen ihnen und Mrs. Pride. »Sie müssen sich retten, Miss Fanny«, hatte die Haushälterin sie noch am Vortag angefleht. »Nach allem, was geschehen ist. Jetzt können Sie Ihr eigenes Leben führen.« Doch es war der Mann neben Mrs. Pride – er lächelte Fanny nun zu –, der ihr das Versprechen abgenommen hatte, sich endlich zu wehren. Wyndham Martell hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht und sie gebeten: »Tu es, liebe Fanny, für mich.«

Der Anklagevertreter glaubte, leichtes Spiel zu haben. Zuerst wurde die Verkäuferin aufgerufen. Sie sagte aus, sie habe die Beschuldigte einige Zeit beobachtet und gesehen, wie sich ihre Tasche geöffnet habe. Dann habe die Frau die Spitze betrachtet, ein Stück in ihre Tasche fallen lassen, die Tasche wieder zugeklappt und sich angeschickt, den Laden rasch zu verlassen. Die Verkäuferin beschrieb, wie sie die Diebin verfolgt und sie auf der Schwelle gestellt habe. In Gegenwart des Geschäftsführers habe sie dann die Spitze in Fannys Tasche gefunden.

»Was erwiderte die Angeklagte, als Sie sie des Diebstahls bezichtigten?«

»Nichts.«

Im Gerichtssaal brach Getuschel aus, der Richter verlangte Ruhe und forderte Fanny auf, die Zeugin ins Kreuzverhör zu nehmen.

»Ich habe keine Fragen, Euer Ehren.«

Was hatte das zu bedeuten? Die Anwesenden wechselten Blicke des Erstaunens.

Der Geschäftsführer, der anschließend aufgerufen wurde, bestätigte die Aussage der Verkäuferin. Wieder verzichtete Fanny auf ein Kreuzverhör.

Darauf folgte eine Zeugin, die den Zwischenfall beobachtet hatte. Erneut widersprach Fanny nicht. Mr. Grockleton wirkte besorgt. Seine Frau sah aus, als würde sie jeden Moment aufspringen. Mrs. Pride presste die Lippen zusammen.

»Ich rufe die Beschuldigte, Miss Albion, auf«, verkündete der Anklagevertreter.

Er war ein kleiner, rundlicher Mann. Wenn er sprach, schabten die gestärkten Spitzen seines Anwaltskragens an seinem dicken Hals entlang. »Würden Sie dem Gericht bitte schildern, was sich am fraglichen Nachmittag ereignet hat, Miss Albion?«

»Aber natürlich.« Fannys Stimme klang ernst und klar. »Ich habe mich im Laden umgesehen, genau so, wie das Gericht es gerade gehört hat.«

»War Ihre Tasche offen?«

»Ich habe es nicht bemerkt. Doch ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln.«

»Haben Sie sich dem Tisch genähert, auf dem die Spitze ausgelegt war? Und leugnen Sie, dass Sie ein Stück davon genommen und es in Ihre Tasche gesteckt haben und dann zur Tür gegangen sind?«

»Das streite ich nicht ab.«

»Sie geben es also zu?«

»Ja.«

»Sie haben die Spitze also gestohlen?«

»Offenbar.«

»Dasselbe Stück Spitze, das draußen vor dem Laden in Ihrer Tasche gefunden wurde, wie es der Geschäftsführer und die andere Zeugin dargestellt haben?«

»Genau.«

Der Anklagevertreter wirkte ein wenig verdattert. Achselzuckend sah er den Richter an. »Euer Ehren, verehrte Geschworene, nun haben Sie es aus dem Mund der Angeklagten gehört. Sie hat die Spitze gestohlen. Nach Ansicht der Anklagevertretung ist die Beweisaufnahme hiermit abgeschlossen.« Er kehrte an seinen Platz zurück und murmelte seinem Schreiber eine Bemerkung über die Dummheit von Frauen zu, die glaubten, ohne Anwalt auskommen zu können. Währenddessen forderte der Richter Fanny auf, fortzufahren.

Schweigen herrschte im Saal, als Fanny sich erhob. »Ich möchte nur einen Zeugen aufrufen, Euer Ehren«, verkündete sie. »Und zwar Mr. Gilpin.«

Würdevoll nahm Mr. Gilpin im Zeugenstand Platz. Er bestätigte, der Vikar von Boldre, Inhaber verschiedener akademischer Titel und Verfasser einiger anerkannter Werke zu sein. Er kenne Fanny schon seit ihrer Kindheit. Als man ihn bat, etwas über ihren gesellschaftlichen Stand zu sagen, erwiderte er, sie sei Erbin des Gutes Albion und somit Besitzerin eines beträchtlichen Vermögens. Fanny fragte, ob sie seiner Ansicht nach je in Geldschwierigkeiten gewesen sei, was er verneinte.

Aufgefordert, ihren Charakter zu schildern, tat er das in schlichten Worten. Er erwiderte, sie führe ein zurückgezogenes Leben und sei ihrem Vater und ihrer Tante treu ergeben gewesen. Dann erkundigte sich Fanny, weshalb sie ausgerechnet nach Bath gefahren sei. Der Vikar erläuterte dem Gericht, er selbst habe die Reise mit den Grockletons veranlasst, da Fanny dringend Luftveränderung gebraucht habe. Seiner Ansicht nach habe sie zu viel Zeit mit zwei alten Leuten in der Abgeschiedenheit von Haus Albion verbracht.

»Wie würden Sie meinen damaligen Gemütszustand beschreiben?«

»Melancholisch, antriebslos und zerstreut.«

»Hat es Sie erstaunt zu hören, dass ich eines Diebstahls beschuldigt werde?«

»Ich war wie vom Donner gerührt und traute meinen Ohren nicht.«

»Warum?«

»Da ich sie sehr gut kenne und es mir deshalb unvorstellbar ist, dass sie etwas stehlen könnte.«

»Ich habe keine weiteren Fragen.«

Der Anklagevertreter sprang auf und näherte sich dem Vikar. »Sagen Sie, Sir, haben Sie der Angeklagten geglaubt, als sie behauptete, ein Stück Spitze gestohlen zu haben?«

»Aber sicher. Soweit ich weiß, hat sie ihr Lebtag nicht gelogen.«

»Also ist sie schuldig. Keine weiteren Fragen.«

Der Richter sah Fanny an. Nun lag alles nur noch an ihr.

»Darf ich ein paar Worte in meiner Sache sprechen, Euer Ehren?«

»Sie dürfen.«

Fanny neigte den Kopf und wandte sich an die Geschworenen. Es waren hauptsächlich Kaufleute, ein paar Bauern, ein Beamter und zwei Handwerker. Sie hatten Verständnis für die Lage des Ladenbesitzers, bedauerten die junge Dame zwar, hielten sie aber eindeutig für eine Verbrecherin.

»Meine Herren Geschworenen«, begann Fanny. »Gewiss hat es Sie überrascht, dass ich den gegen mich vorgebrachten Beweisen nicht widersprochen habe.« Die Geschworenen antworteten zwar nicht, doch es stand ihnen ins Gesicht geschrieben. »Ich habe nicht einmal eingewendet, der Verkäuferin könnte ein Irrtum unterlaufen sein.« Kurz hielt sie inne. »Warum sollte ich das tun? Diese guten und anständigen Leute haben Ihnen das geschildert, was sie gesehen haben. Warum sollte man ihnen misstrauen? Ich jedenfalls glaube ihnen.«

Fanny sah die Geschworenen an, und diese erwiderten ihren Blick. Die Männer wussten nicht, worauf sie hinauswollte, aber sie lauschten aufmerksam.

»Meine Herren Geschworenen, ich möchte Sie nun bitten, die Hintergründe zu überdenken. Sie haben von Mr. Gilpin, einem höchst angesehenen Geistlichen, gehört, dass ich einen einwandfreien Leumund besitze und noch nie im Leben etwas gestohlen habe. Außerdem haben Sie erfahren, dass ich vermögend bin. Selbst wenn ich verbrecherische Neigungen hätte, was sich, weiß Gott, nicht so verhält, gibt es keinen vernünftigen Grund, warum ich das Stück Spitze nicht hätte bezahlen sollen. Ich bin wohlhabend. Es macht keinen Sinn.« Wieder hielt sie inne, damit sich diese Feststellung setzen konnte.

»Nun möchte ich Sie bitten, sich an die Aussagen zu erinnern, die mein Verhalten betreffen, als man mich vor dem Laden stellte. Offenbar habe ich geschwiegen. Ich habe kein Wort von mir gegeben. Und warum?« Sie blickte jeden Einzelnen von ihnen an. »Meine Herren, mir hatte es vor Schreck die Sprache verschlagen. Ehrliche Menschen warfen mir vor, ein Stück Spitze gestohlen zu haben. Der Beweis lag vor meinen Augen. Ich konnte es nicht leugnen. Ich nahm nicht an, dass sie logen. Es war die Wahrheit. Ich hatte die Spitze eingesteckt. Und dazu stehe ich auch heute noch. Dennoch war ich so verblüfft, dass ich kein Wort mehr herausbrachte. Und ich muss Ihnen offen gestehen, dass ich mir diese Tat bis heute nicht erklären kann. Ich bitte Sie, mir zu glauben, dass ich nicht wusste, was ich tat. Ich streite nicht ab, meine Herren, dass sich das Stück Spitze in meiner Tasche befand. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie es dorthin gekommen ist. Noch nie im Leben bin ich so verdattert gewesen.« Sie sah den Richter an und wandte sich dann wieder an die Geschworenen.

»Woran kann das liegen? Ich weiß es nicht. Mr. Gilpin hat Recht, wenn er erklärt, dass ich damals ziemlich verwirrt war. Ich erinnere mich noch, dass ich an jenem Nachmittag ständig an meinen lieben Vater dachte, um dessen Gesundheit es schon seit einiger Zeit nicht gut stand. Ich überlegte, ob ich abreisen sollte, um bei ihm zu sein, denn ich hatte eine starke Vorahnung, dass sein Ende nicht mehr weit war. Leider hat sich diese Befürchtung bewahrheitet. So geistesabwesend war ich, als ich grübelnd durch den Laden schlenderte. Ich weiß nicht einmal mehr, dass ich mir die Spitze angeschaut habe, und kann nur annehmen, dass ich einem Tagtraum nachhing, als ich sie in meine Tasche steckte. Vielleicht glaubte ich mich in diesem Moment zu Hause oder an einem anderen Ort. Denn meine Herren«, erhob sie nun die Stimme, »weshalb und aus welchem Grund sollte ich ein Stück Spitze stehlen, für das ich überhaupt keine Verwendung habe? Warum sollte ich als Erbin eines großen Gutes und gehorsame Tochter meinen guten Ruf wegen eines völlig sinnlosen Verbrechens aufs Spiel setzen?«

Fanny holte tief Luft und fuhr dann fort. »Meine Herren, man hat mir die besten Anwälte zu meiner Verteidigung angeboten, und ich habe mir überlegt, ob ich ihre Dienste in Anspruch nehmen soll. Gewiss hätten sie versucht, die Motive, die Wahrhaftigkeit und die Zuverlässigkeit der guten Leute in Zweifel zu ziehen, die mich beschuldigen. Bis zu diesem Prozess hat man mich ins Gefängnis gesperrt. In dieser Zeit habe ich meinen guten Namen, meinen Vater, meine Tante und sogar das Haus meiner Familie verloren. Gott hat beschlossen, mir alles zu nehmen.« Rührung überkam sie, sodass sie kurz innehalten musste. »Doch diese schwere Zeit hat mir eines klar gemacht, nämlich dass ich vor Sie hintreten und Ihnen die Wahrheit sagen muss. Ich überantworte mich Ihrer Weisheit und Gnade.« Sie drehte sich zum Richter um. »Euer Ehren, ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen.«

Die Geschworenen zogen sich zurück, aber ihre Beratung währte nicht lange. Selbst der Ladenbesitzer glaubte Fanny inzwischen. Bald waren sie zu einem Urteil gelangt.

»Nicht schuldig, Euer Ehren.«

Sie war frei. Als Fanny mit ihren lieben Freunden den Gerichtssaal verließ, empfand sie dennoch keine Freude. Draußen vor der Tür stand, bewacht von einem Polizeidiener, das arme Mädchen, das deportiert werden sollte. Fanny blieb stehen und sprach sie an. »Es tut mir Leid, was Ihnen passiert ist.«

»Ich lebe ja noch.« Das Mädchen zuckte die Achseln. »Dort wird es für mich auch nicht schlimmer sein als hier.«

»Aber Ihre Familie…«

»Ich bin froh, sie nicht mehr wieder zu sehen. Sie haben sich nie um mich gekümmert.«

»Fast hätte mir dasselbe Schicksal gedroht«, sagte Fanny leise.

»Ihnen? Einer Dame? Das soll wohl ein Witz sein. Sie wären sowieso freigekommen.«

»Werden Sie nicht unverschämt«, meinte Mr. Gilpin, allerdings in sanftem Ton.

Dennoch drehte Fanny sich noch einmal um und sah das Mädchen mitleidig an.

 

 

Im Frühling desselben Jahres fand die Hochzeit von Miss Fanny Albion und Mr. Wyndham Martell statt. Man hatte lange überlegt, wo man die Feier veranstalten sollte, doch die Frage beantwortete sich zur allgemeinen Zufriedenheit, als Mr. Gilpin sein Pfarrhaus zur Verfügung stellte. Dort wohnte Fanny zurzeit ohnehin. Mr. Totton führte die Braut zum Altar. Edward fungierte als Trauzeuge, und Louisa war die oberste Brautjungfer. Auch wenn sich das Verhältnis zwischen Tottons und dem Brautpaar ein wenig abgekühlt hatte, war an diesem Tag nichts davon zu spüren. Denn alle gratulierten Louisa zu ihrem Aussehen und verliehen der Überzeugung Ausdruck, dass sie gewiss auch bald einen Ehemann finden würde.

Am Tag vor der Hochzeit erhielt Fanny unerwarteten Besuch. Der Mann stand mit einem Geschenk vor der Tür des Pfarrhauses, und obwohl sich Fanny nicht ganz wohl dabei fühlte, empfand sie es als ihre Pflicht, ihn ins Wohnzimmer zu bitten.

Mr. Isaac Seagull hatte sich zur Feier des Tages mit einem eleganten blauen Rock, Seidenstrümpfen und einer ordentlich gestärkten Halsbinde herausgeputzt. Mit einer leichten Verbeugung und einem seltsamen Lächeln überreichte er Fanny das Geschenk, ein kunstvoll gefertigtes Tablett aus Silber. Fanny bedankte sich, doch sie errötete ein wenig, da sie es nicht für passend gehalten hatte, Mr. Seagull zur Hochzeit einzuladen.

Der Wirt des Angel Inn erriet ihre Gedanken. Sein kinnloses Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. »Ich wäre nicht gekommen, auch wenn Sie mich darum gebeten hätten«, meinte er leichthin.

»Oh.«

Sie blickte aus dem Fenster hinaus auf den Rasen, der nach dem Frühlingsregen noch ein wenig aufgeweicht wirkte. »Mein Mann ist über unser Verwandtschaftsverhältnis im Bilde.«

»Mag sein. Aber man braucht es trotzdem nicht an die große Glocke zu hängen. Geheimnisse haben auch etwas für sich«, erwiderte Seagull, der es schließlich wissen musste.

»Mr. Martell ist gerade nicht da. Er hätte Sie sicher gern begrüßt.«

»Nun«, sagte der Schmuggler, »ganz sicher werde ich bald das Vergnügen haben, ihm die Hand zu schütteln.« Fanny verstand nicht, was er mit dieser Bemerkung meinte.

Seagull verabschiedete sich. Eine halbe Stunde später fand Mr. Gilpin zu seiner Freude eine Flasche des besten Brandy vor seiner Hintertür.

 

 

»Sie waren alle da, Mr. Grockleton. Hast du das gesehen? Die Morants und die Burrards und noch viele andere Familien aus Dorset.« Abgesehen von ihrer eigenen Hochzeit – Mrs. Grockleton war so klug, das auch zu erwähnen –, war es der glücklichste Tag ihres Lebens gewesen. Und nichts, nein überhaupt nichts reichte an den Moment heran, als Fanny und Wyndham Martell, mit denen die Zollinspektorsgattin gerade beisammen stand, Sir Harry Burrard zu sich gerufen hatten. Dieser war lächelnd näher gekommen, und Fanny hatte schlicht und freundlich gesagt: »Mrs. Grockleton, bestimmt kennen Sie Sir Harry Burrard. Mrs.

Grockleton ist eine sehr gute Freundin, Harry.« Und ohne dass sie selbst sich dessen bewusst gewesen wäre, waren das genau die Worte, auf die Mrs. Grockleton schon ihr ganzes Leben wartete.

Für die meisten Gäste jedoch war Mr. Martells Ansprache der Höhepunkt des Tages.

»Ich weiß, dass viele von Ihnen sich fragen«, begann er, »ob ich beabsichtige, das letzte Mitglied der Familie Albion aus dem New Forest zu entführen. Doch ich versichere Ihnen, dass das nicht der Fall ist. Auch wenn die Geschäfte uns in nächster Zeit nach Dorset, Kent und auch nach London führen werden, habe ich vor, mein neues Haus Albion zu bauen.« Dieses sollte jedoch nicht an der alten Stelle mitten im Wald stehen, sondern auf einer großen Lichtung südlich von Oakley, und über einen Park mit Meerblick verfügen.

Die Pläne für ein prächtiges Anwesen im griechisch-römischen Stil waren schon in Arbeit. »Und um zu zeigen, dass wir über der neuen Ordnung nicht die alte vergessen haben«, verkündete er vergnügt, »haben wir beschlossen, es Albion Park zu nennen.«