12. Kapitel

Glückseligkeit war es, in diesem .Morgengrau’n am Leben nur zu sein

 

Es gibt… einen Strom starker, ausfließender Elektrizität.

Anthony Carson, >A Train to Tarragona<

 

1

 

Die Szene wechselt jetzt dramatisch zu einer Stelle ungefähr drei Viertel des Weges weiter nach Burraford, wo Jack Jones auf seinen Kissen liegt, um sich von der Anstrengung des Jagdtreffens zu erholen, wo Isobel Jones den Zapfhahn in ein Faß eines der wenigen im Land noch trinkbaren Ale-Biere schlägt und Mrs. Clotworthy eine Steak-Nieren-Pastete mit dicker Fettkruste backt zu einer Stelle nämlich, wo der Pisser hinter der Hecke steht und mit seinen Geräuschen nicht nur die vorbeikommenden Einheimischen, sondern sogar Fremde erschreckt, die von seinen Gewohnheiten nichts wissen, aber instinktiv spüren, daß mit dem Ding nicht alles seine Ordnung hat. Im Augenblick jedoch ist der Pisser stumm, und mit der Ausnahme einer einzigen Leitung buchstäblich entspannt; alles ist Geruhsamkeit und Frieden; der Lärm aus der Richtung Glazebridge ist hier nicht zu hören, und selbst wenn er vernehmbar wäre, würde er wenig Aufmerksamkeit erregen, da die Landschaft voll unerklärlicher Erscheinungen ist, akustischer und anderer. Sich über jede einzelne den Kopf zu zerbrechen, würde den Verstand notwendigerweise unter Ausschluß aller anderen Dinge beanspruchen. Und von den vier anwesenden Personen hat in der Tat nicht eine die geringste Aufmerksamkeit für etwas anderes als die Sorgen und Probleme ihrer unmittelbaren Umgebung zu erübrigen; ja eine davon scheint selbst diesen keinerlei Augenmerk zu widmen.

Die beiden Ingenieure vom E-Werk sind angestrengt an der Arbeit. Die Mützen ganz ungesund bis zu den Ohren herabgezogen, mühen sie sich, den Pisser und sein Verhalten zu verstehen und seinen derzeitigen Ruf als Schreckgespenst zu heilen oder wenigstens zu verändern. Zwischen dem Pisser und der Hecke haben sie einen sehr viel kleineren Mast errichtet und auf irgendeine Weise fest im Boden verankert so, als wären die Geräusche des Pissers von Wehenschmerzen hervorgerufen gewesen und er hätte endlich kalben können und eine genaue Entsprechung dieses Objekts steht auf der anderen Seite der Straße (Zwillinge also, einer davon bei der Geburt weiter geworfen als der andere). Zwischen diesen Miniaturen, die Straße also querend, ist eine Art Flechtwiege aus dickem, viellitzigem Draht gespannt. Darin ruhen die massiven Leitungen, die (bis auf eine einzige) von den Anschlüssen des Pissers gelöst worden sind, und deren Enden nun, wahllos zusammengerollt, wie große, sich in der Sonne aalende Blindschleichen auf dem Gras in der Nähe der gespreizten Beine des Pissers liegen.

Auf der burrafordschen Seite all dieser Hindernisse steht der E-Werk-Lastwagen, den Fen und der Major vorher gesehen hatten. Man kann feststellen, daß er reich ausgestattet ist bis hin zu einem Funkgerät.

Aber die Dinge stehen nicht gut, und das Funkgerät kann nichts beitragen. Das diagnostiziert jedenfalls Goodey, der dritte des Quartetts. Goodey ist, wie man sich erinnern wird, der Angler, der am Ufer des Burr das traumatische Erlebnis hatte, beim Dösen von Rouths abgetrenntem Kopf, oder, um genauer zu sein, von dem improvisierten Floß angestoßen worden zu sein, auf dem dieses gräßliche Memento mori festgenagelt war. Er hat inzwischen jedoch Zeit genug gehabt, sich von diesem furchtbaren Weckverfahren zu erholen. Demzufolge hat er sich wieder seiner normalen Hauptbeschäftigung zugewandt, die, vom Angeln abgesehen, darin besteht, anderen Leuten bei der Arbeit zuzusehen. Und dabei übernehmen eindeutig die beiden Techniker die Hauptrollen. Der vierten anwesenden Person, obschon sie in einer gewissen Beziehung tätig ist überdies mit kaum einer Überlegungspause – fehlt in Goodeys Augen das erfreuliche Charisma intensiver Muskelbetätigung; mehr noch, die Art seiner Zugehörigkeit zu den Technikern, obwohl offenkundig vorhanden, ist schwer zu definieren. Er ist ein hochgewachsener Mann in hohen Gamaschen; seine Kleidung und allgemeine Haltung deuten an, daß er gesellschaftlich etwas über den beiden anderen steht; er hält einen großen Pappdeckel in der Hand, dessen Federklammer vor Papieren beinahe birst. Vieles von dem Papier ist beschrieben, und es hängt über den Pappdeckel herab, aber ein beträchtlicher Stapel bleibt jungfräulich, und darauf schreibt der Gamaschenträger eifrig mit einem silbernen Kugelschreiber. Er ist also eine Art Aufseher, eine Art Vorarbeiter, und seine Tätigkeit besteht darin, die am Pisser geleistete Arbeit festzuhalten, die Emsigkeit ihrer Verrichter oder den Unfleiß ihrer Verrichter, die Triumphe, die sie von Zeit zu Zeit erzielen mögen, und dergleichen mehr. Ja; aber hier verwandelt sich Goodeys Interesse in Verwirrung. Der Gamaschenträger schreibt doch gewiß viel mehr, als für diese schlichten Ausführungen ausreichend wäre? Im Herbstsonnenschein glitzernd, gleitet sein Kugelschreiber mit der Schnelligkeit eines Webschiffchens einer Spinnmaschine von links nach rechts über die Seite. Er erreicht das Ende einer Zeile; blitzschnell zuckt er zurück, eine Zeile tiefer, zum Anfang der nächsten – und mit unverminderter Schnelligkeit wiederholt sich das Ganze. Nun ist der Gamaschenträger zum Ende seiner Seite gekommen; er blättert um und beginnt augenblicklich mit dem nächsten Blatt. Also kaum ein amtlicher Bericht, obwohl solche Produkte außerordentlich umfangreich zu sein pflegen. Goodey, wenngleich infolge Faulheit nicht zu einer Arbeit zu vermitteln, ist keineswegs ungebildet. Möglicherweise, so mutmaßt er, vertreibt sich der Gamaschenträger seine Zeit mit der Komposition eines großen, panoramischen Romans, etwa nach Art von >Little Dorrit< oder >Krieg und Friedens Jedenfalls macht es nicht lange Spaß, ihn zu beobachten, und Goodeys Blick kehrt zu den beiden Technikern zurück.

Sie befinden sich jetzt beide auf Pissers Seite der Straße, noch immer vergeblich um eine Art Windenmechanismus bemüht, der durch eine Trosse vom Mini-Mast zum näheren Ende der Drahtwiege verbunden ist. Die Wiege ruckt und zuckt unter ihren gemeinsamen Bemühungen, blockiert aber weiterhin störrisch die Durchfahrt. Goodey tun die beiden sehr leid. An einem so heißen Morgen muß es ärgerlich sein, sich so sehr anzustrengen und so geringen Erfolg zu ernten. Goodey entscheidet irrigerweise, wie sich herausstellt, aber er gehört zu den Leuten, die chronisch Irrtümern erliegen – , daß vielleicht ein kleines Maß an Aufmunterung durch einen Außenstehenden tröstlich sein mag und möglicherweise die Waagschale sogar zugunsten der Werktätigen beeinflussen wird.

»Gibt’s Schwierigkeiten?« ruft er.

Der Gamaschenträger schreibt unbeirrt weiter. Die beiden Techniker lassen sich jedoch durchaus beirren. Einen Augenblick lang scheint es, als seien sie zu Bronze erstarrt. Dann lassen sie einmütig den Mini-Mast und die Winde im Stich und gehen zu dem Gatter, an dem Goodey lehnt. Irgend etwas in ihren Mienen beunruhigt Goodey, der sich ein paar Schritte zurückzieht. Die Techniker gehen durch das Gatter und treten ihrem Hiobströster entgegen. Der ältere Mann geht voraus, aber der andere ist knapp hinter ihm. Der ältere Mann sieht Goodey und beginnt zu sprechen.

»Verpiß dich bloß«, sagt er vertraulich.

Goodey ist über einsachtzig groß, aber sein Gegenüber überragt ihn noch um mindestens sieben Zentimeter. Überdies ist er kräftig, braun und sehr muskulös von vielen Stunden Arbeit in der frischen Luft. Keine anderen als versöhnliche Gedanken bewegen Goodeys Gemüt.

»War nicht bös’ gemeint«, murmelte er.

»Aber so aufgefaßt«, sagt der Arbeiter. Er starrt Goodey noch einige Sekunden fest an, so als wolle er sich seine Züge für ein persönliches Verbrecheralbum irgendwo hinter seinem Sulcus einprägen. Dann wendet er sich seinem Begleiter zu, nickt kurz und geht mit ihm zurück zu ihrem Schauplatz gemeinsamen Fleißes am Mini-Mast, das Gatter bedächtig hinter sich schließend.

Der Gamaschenträger unterbricht die Niederschrift lange genug, um die Augen zum Himmel zu richten, vermutlich auf der Suche nach Inspiration. Er findet sie, und der Kugelschreiber tritt auf der Stelle wieder in Aktion.

Goodey fragt sich, ob er nicht lieber ganz verschwinden und irgendwo anders Ablenkung suchen soll. Die gegenwärtige Situation enthält jedoch Elemente, die unwiderstehlich sind: Goodey fühlt, daß er unbedingt warten und sehen muß, wie die Situation sich zuletzt auflöst. Vorsichtig ja beinahe auf Zehenspitzen nähert er sich wieder dem Gatter.

Der Gamaschenträger unterbricht sich lange genug, um ein Taschentuch herauszuziehen und sich die Augen zu wischen: Er hat vielleicht gerade mit einer ausführlichen und rührenden Sterbebettszene begonnen.

Rasselnd wie ein tollwütiger Köter mit Dutzenden leerer Blechbüchsen, die man ihm an den Schwanz gebunden hat, taucht ein Hubschrauber über Worthington’s Steep auf, offenbar an der Reihe von Masten orientiert, zu denen der Pisser gehört. Er erreicht diesen selbst und beginnt ohrenbetäubend zu kreisen, möglicherweise denkt Goodey, der seine Aufmerksamkeit von den Technikern ab- und sie dem Hubschrauber zuwendet in der Absicht, Luftaufnahmen zu machen.

Aber Hubschrauber sind im Grunde nicht sehr fesselnd, im Gegensatz zu verärgerten Arbeitern.

Die Drahtwiege quer über der Straße quiekt und lallt wie die wandelnden Toten, gleichzeitig wie jene Römer schaudernd, die das Pech hatten, unterwegs zu sein und ihnen zu begegnen.

Der ältere Techniker schreit immer wieder: »Eins, zwei, DREI! Eins, zwei, HOPP!« und bei jedem Höhepunkt erhebt sich ein Stöhnen, begleitet von knarrenden Sehnen.

Die Wiege bleibt am Boden.

Nachdem er die kleine Großherzogin an ihren krausenbesetzten Damastkissen aufgesetzt hat (Spielzeug am Bett von Faberge), fährt der Gamaschenträger mit dem Schreiben fort. Die kleine Großherzogin lächelt tapfer und lispelt eine Bitte um ein Glas Eau de vie. Nein, doch lieber Limonade oder Passionsfruchtsaft.

Die Wiege scheint sich jetzt zu bewegen. Nein, sie tut es nicht. Doch, sie tut es.

Nein, sie tut es nicht.

Sie ist wieder auf die Straße zurückgefallen. Sexuelle, skatologische und religiöse Flüche werden von den beiden Technikern in rascher Folge ausgestoßen.

Selbst über diesen und dem Lärm des Hubschraubers nimmt Goodey mit seinen scharfen Ohren ein neues Geräusch wahr. Es wird also nun wirklich Schwierigkeiten geben, denkt er.

Von Glazebridge her nähert sich rasch eine Staubwolke auf der Straße.

Daraus wird schließlich ein grauer Mini, gesteuert von einer kleinen Person mit rosigem Gesicht und grauem Hut.

Es ist der Mann von Sweb.

 

 

2

 

Vom Naturell her war der Mann von Sweb ein Ausweicher, kein Entspringer. Er war dreimal eingelocht worden das erste Mal für ein halbes Jahr, dann für knapp über ein Jahr und schließlich für einundzwanzig Monate, aber da er ein Treppentänzer war, ein Einsteigdieb, waren die Richter geneigt gewesen, nachsichtig zu sein, mit der Ausnahme der letzten Gelegenheit, als seine Tat laut Anklage des Staatsanwalts dadurch verschärft worden war, daß er ein Fenster zerbrochen hatte, um >sich Zutritt zu verschaffen< (der Mann von Sweb hatte das bestritten und eine lange, weitschweifige Phantasiegeschichte über Leute zum besten gegeben, die ihr Haus nicht in Ordnung hielten; leider hatte der Richter ihm das aber nicht abgenommen). Immerhin, im ganzen gesehen war er dank der Tatsache, daß er allein arbeitete, sorgfältig erkundete, ein beträchtliches Wissen über Kunstwerke besaß und zwischen den Einsätzen unauffällig blieb, ganz gut zurechtgekommen, und seine früheren Verhaftungen waren alle friedliche, unerwartete Gelegenheiten gewesen, ohne eine Zeitspanne, um nervös zu werden. Aber die jetzige Sache war anders: Nun hetzte die Meute wild hinter ihm her, und er floh, um irgendwo Zuflucht zu suchen, statt sozusagen vergleichsweise freundschaftlich enthüllt zu werden; nun mußte er gegen erfahrene Konkurrenz schnell in sein Versteck und das war weit entfernt. Kein Wunder, daß er Angst hatte und demzufolge etwas unsicher fuhr. Statt auf die Straße vor sich zu achten, starrte er immer wieder in den Rückspiegel und drehte sich sogar häufig um, damit er durch die Heckscheibe nach hinten sehen konnte. Die Bullen waren hinter ihm her, daran gab es keinen Zweifel…

Er sah, so dachte Goodey verwundert, als der kleine Wagen rasch immer näher kam, ganz aus wie ein vor dem Gesetz die Flucht Ergreifender.

Mit seinem, oder vielmehr des Pfarrers, schwerem Eisenkasten aus dem Haus tretend und in der Absicht, damit so unauffällig wie möglich zu verschwinden, war der Mann von Sweb bestürzt gewesen, zornig erhobene Stimmen zusammen mit Motorengeräusch und verschiedenen Tierlauten zu hören, und das in unmittelbarer Nähe; eine heimliche Erkundung der Lage durch ein kleines Loch in der äußersten der vielen Hecken des Pfarrers hatte seine Angst beinahe so weit gesteigert, daß er erwog, den Kasten auf den Speicher des Pfarrers zurückzutragen und den offenbar dazu passenden Schlüssel auf den Dielentisch zurückzulegen, wo er nachlässigerweise hingelegt worden war; dann konnte er, wenn im Haus entdeckt, leicht irgendeinen unschuldigen Grund für seine Anwesenheit erfinden. Aber nun die Polizei! Und in starker Besetzung! Gewiß, für den Augenblick schien sie von dem wachsenden Tumult auf der Straße in Anspruch genommen zu werden. Gewiß, wenn er klar hätte denken können, wäre der Mann von Sweb leicht in der Lage gewesen, die Truhe aufzuschließen, nachzusehen, ob sie etwas Wertvolles enthielt, sie, wenn das nicht der Fall war, wegzuwerfen und das Weite zu suchen. Aber seine Empfindungen bei der Aussicht der möglichen Aussicht auf neuerliche Gefängniskost waren von solcher Art, daß er ebenso unfähig war, klar zu denken, wie er es gewesen wäre, eine Handgranate auf Prinzessin Anne zu werfen. Hätte er gewußt, daß der Teufel in Gestalt des Pfarrers vom Inneren des Hauses aus jeden seiner Schritte frohlockend verfolgte, er wäre vermutlich vor Angst ohnmächtig geworden. So geriet er lediglich in Panik und beschloß, ein Risiko einzugehen, durch das Tor zum Mini zu stürzen und davonzufahren, bevor die Polizei Gelegenheit hatte, sich aus dem Durcheinander zu lösen oder auch nur ernsthaft wahrzunehmen, daß er sich in der Nähe aufhielt. Als er davonbrauste, hörte er jedoch den Pfarrer schreien: »Haltet den Dieb!« und wußte mit tiefer Bedrückung, daß er entdeckt war. Jetzt schien nichts anderes übrigzubleiben, als so schnell wie möglich zu fahren und zu hoffen, daß ihn im letzten Augenblick irgendein gänzlich unwahrscheinlicher Zufall retten würde.

Demzufolge war er so damit beschäftigt, hinter sich auf die Straße zu blicken, daß er des Pissers Wiege quer über der Straße fast erreicht hatte, bevor ihm ein Chor von Warnrufen, in den sogar der Gamaschenträger auch einfiel, die Gefahr zum Bewußtsein brachte. Er trat heftig auf das Bremspedal, geriet ins Schleudern und brachte den Mini auf irgendeine Weise Millimeter vor dem Hindernis zum Stehen, wobei er beinahe mit dem Kopf voraus durch die Windschutzscheibe flog. Während der Staub sich ringsum legte, kletterte er hinaus und starrte armselig die beiden Techniker an, die ihn ihrerseits leer anblickten. Der Gamaschenträger war zu seiner Niederschrift zurückgekehrt und versuchte zu entscheiden, ob die kleine Großherzogin tödliche Blässe oder fieberhafte Röte zeigen sollte.

Goodey, der am nächsten stand, ergriff das Wort.

»Na, diesmal hätte es Sie aber beinah’ erwischt«, sagte er freundschaftlich.

Die sanfte und schüchterne Art des Mannes von Sweb war echt, keine Pose.

»Dauert es lange?« fragte er. »Ich möchte mich nicht aufdrängen, aber – «

»Wenn es so weitergeht, brauchen wir offenbar den ganzen Tag«, antwortete Goodey fröhlich. »Ich würde an Ihrer Stelle wenden und über die Hole Bridge fahren.«

»Aber ich muß durch! Ich muß weiter!«

»Na, wenn Sie ein bißchen warten, bin ich sicher – «

»Nein, nein! Sie begreifen nicht!«

Goodey, der von sich ziemlich eingenommen war, wollte das durchaus nicht zugeben. Er sagte: »Sie müssen durch. Richtig? Aber Sie können nicht durch, bis das Ding hier hoch geht. Richtig? Also werden Sie« hier blickte Goodey zweifelnd auf den Gamaschenträger, der im Schreiben wieder innegehalten hatte, möglicherweise über die literarische Ratsamkeit von Petechien grübelnd »werden Sie die Leute da fragen müssen, wie sie vorankommen. Richtig?«

Der Mann von Sweb räusperte sich.

»Dauert es lange?« rief er. Aber sein Tonfall war nicht nur quiekend, sondern auch demütig und gedämpft, und die beiden Techniker verstanden ihn nicht.

»Was?« brüllten sie. »Was haben Sie gesagt?«

Der Mann von Sweb wiederholte mit lauterer Stimme: »Ich sagte, dauert es lange? Ich – ich habe es nämlich ziemlich eilig, wissen Sie.«

Die beiden Techniker sahen einander an und kamen offenbar zu dem Schluß, daß das kein ihnen würdig erscheinender Gegner war.

»Es dauert so lange, wie’s dauert«, sagte der Ältere auf welchen Witz hin er und sein Kollege sich in einem gemeinsamen Lachanfall umklammerten. »Wissen Sie was? Wenn Sie durchwollen, dann kommen Sie her und helfen uns.« Der Gamaschenträger sah sie kurz stirnrunzelnd an, aber die Muse war zu stark für ihn, und er nahm die Komposition wortlos wieder auf.

»Sie begreifen nicht«, quiekte der Mann von Sweb verzweifelt. »Niemand begreift.«

»Doch, doch«, sagte Goodey beruhigend.

»Ich begreife. Ihr Problem, so wie ich es sehe – «

Aber der Mann von Sweb achtete nicht länger auf ihn. Statt dessen starrte er voller Entsetzen auf die Straße hinauf, wo eine zweite, kleinere Staubwolke aufgetaucht war. Diese formte sich rasch zu einem O-beinigen Affen in Klerikerschwarz, der mit beträchtlicher Schnelligkeit auf sie zukam.

»Er ist es!« kreischte der Mann von Sweb. »Er ist es! Sie sind hinter mir her! Sie holen mich ein!«

Obwohl Goodey sich zu fragen begann, ob er es mit einem Irren zu tun haben mochte, versuchte er erneut zu trösten.

»Das ist doch nur der Pfarrer«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum er so rennt und auch etwas schreit, wie es sich anhört – , aber wenn Sie ihn nicht besucht und etwas Wichtiges bei ihm vergessen haben… Übrigens habe ich gehört, daß er heute nachmittag bei irgendeiner Konferenz sein soll, aber das ist wohl – «

Weiter kam er nicht, da der Mann von Sweb in diesem Augenblick einem Schrei freien Lauf ließ, wie eine Maus, die von miteinander streitenden Kätzchen zerrissen wird. Denn nun waren zwei weitere Staubwolken aufgetaucht, die hintereinander schnell näher kamen und Motorengeräusche von sich gaben. Diese überholten den Pfarrer rasch und waren bald als ein Cortina, gefolgt von einem Streifenwagen der Polizei, erkennbar. Der Mann von Sweb warf entsetzt die Arme hoch und schaute sich mit wild rollenden Augen um. Dann sprang er zurück in den Mini, kam mit einer schweren Eisentruhe wieder heraus und stürzte sich damit durch das Gatter, um schwankend auf den Niederwald zuzulaufen, der die nächstverfügbare Zuflucht zu bieten schien. Goodey hatte doch recht gehabt: Der Mann floh vor dem Gesetz. Sollte er, Goodey, daher die Verfolgung aufnehmen? Er diskutierte dieses Problem innerlich noch, als es für ihn dadurch gelöst wurde, daß der Cortina und der Streifenwagen unmittelbar hinter dem verlassenen Mini des Mannes von Sweb mit quietschenden Bremsen anhielten.

Widger und Ling ahnten in Wirklichkeit von dem Mann von Sweb und seinen ruchlosen Aktivitäten im Haus des Pfarrers nichts: Sie hatten Wichtigeres zu tun. Alles, was sie wußten, war, daß hier ein weiteres Hindernis gegen ihre wahrhaft bedeutende Mission aufgetaucht war, und als sie die Köpfe zu den Fenstern hinaussteckten, konnten sie den schweren Drahtschlitten erkennen, der die Straße versperrte und den Mini zum Stehen gebracht hatte.

»Gehört der Wagen Ihnen?« brüllte Widger dem Gamaschenträger zu.

Dieser, den Kugelschreiber kurz anhaltend, schüttelte den Kopf.

»Gehört er Ihnen?« fuhr Widger Goodey an.

Goodey sagte, das sei nicht der Fall.

»Gehört er denen?« fragte Widger und wies auf die beiden Arbeiter, aber zu dem Gamaschenträger gewendet.

Der Gamaschenträger runzelte bei der neuerlichen Störung die Stirn und schüttelte wieder den Kopf.

Widger stieg aus.

»Wem gehört er dann?« fragte er zornig die Welt im allgemeinen.

»Ihm«, sagte Goodey.

»Ihm? Wem?

»Dem.« Und Goodey wies auf den Mann von Sweb, der inzwischen einige hundert Meter entfernt war und sich in leichter Gefahr, die vom Hubschrauber ausging, befand; dieser war über dem Pisser immer tiefer gegangen und wollte jetzt offenkundig in seiner unmittelbaren Nähe landen. Das Geknatter erschwerte ein Gespräch am Boden zusehends.

»Wer ist das?« schrie Widger. »Warum läuft er weg?«

Goodey zuckte mit den Schultern.

»Fragen Sie mich nicht«, schrie er zurück. »Ich glaube, er flieht vielleicht vor der Polizei.«

»Warum denn das?«

»Was?«

»Ich sagte, warum denn das?«

Der Pfarrer erreichte sie. Für einen Mann in seinen Jahren hatte ihn die lange Strecke erstaunlich wenig Luft gekostet.

»Ihm nach, Widger!« rief er. »Ihm nach, sage ich! Horrido! Da bläst er! Hussa! Sagen Sie nie, Sie hätten ihn sich jetzt noch entwischen lassen!«

»Na, na, Sir.«

»Was?«

»Ich sagte: Na, na.«

»Hätte Ihnen gleich verraten können, daß er nicht von Sweb war«, erwiderte der Pfarrer. »Dafür war er schon einmal nicht bösartig genug. Wissen Sie, warum er zu mir gekommen ist, Widger? Er hat mich ausbaldowert.«

»Wollen Sie damit sagen, Sir, daß er ein ein – «

»Aber ich war schon gewappnet«, unterbrach ihn der Pfarrer. »Als er das erste Mal zu mir kam, sagte ich mir, der ist nicht von Sweb. Ich rief dort also an, und tatsächlich war er nicht von denen. Aber gute Maske, wohlgemerkt. Heutzutage sind wir ja alle so verblödet, daß wir jedem glauben, der behauptet, er käme von den Behörden. Mich hat er jedenfalls nicht getäuscht, nicht eine Sekunde lang. Das ist ein übler Bursche, sagte ich mir. Und tatsächlich war er das auch. Der Fehler, den er gemacht hat, war aber der, die Gelegenheit zu früh auszubaldowern, denn in der vergangenen Woche habe ich praktisch alles Wertvolle verkauft, und es ist alles abgeholt worden. Als ich dann verbreiten ließ, ich wäre am Nachmittag nicht zu Hause – «

»Warten Sie, warten Sie, Sir!« schrie Widger. »Wollen Sie behaupten, daß dieser Mann« er wies auf die nun schon ziemlich weit entfernte, kleine graue Gestalt, die noch immer in mühsamer Hast über die holprige Wiese zum Wald stolperte »daß dieser Mann ein Einbrecher ist?«

»Natürlich ist er ein Einbrecher. Man sieht ihm die Kriminalität direkt an.«

Die Tür des Cortina ging auf und ließ eine dichte Rauchwolke herausdringen, hinter welcher, als die Brise sie forttrug, die erboste Gestalt des leitenden Polizeibeamten bei diesen Ermittlungen sichtbar wurde.

»Was, zum Teufel, ist denn nun wieder los?« wollte sie wissen, als sie um den Wagen herumging, um zu Widger, Goodey und dem Pfarrer in den Schatten des Pissers zu treten.

»Es ist der Pfarrer, Eddie. Soviel ich erkennen kann, glaubt er, daß bei ihm eingebrochen wurde.«

»Was?«

»Ich sagte, soviel ich erkennen kann, glaubt der Pfarrer, daß bei ihm eingebrochen wurde.«

»Inspektor, nehmen Sie den Mann fest«, verlangte der Pfarrer.

»Superintendent, Sir. Ich rauche Pfeife.«

»Superintendent, nehmen Sie den Mann fest. Er hat mir einen viktorianischen Schmucksafe gestohlen.«

»Ah, in diesem Fall, Sir – «

»Holen Sie ihn zurück und veranlassen sie ihn veranlassen Sie ihn« hier nahm der normal sonore Tonfall des Pfarrers ein deutliches und bemerkenswertes Beben an… »veranlassen Sie ihn, den Safe in Ihrer Gegenwart zu öffnen.«

»Sehr wohl, Sir, ich…« Ling rief den beiden Constables im Streifenwagen zu: »Crosse! Tavener! Laufen Sie dem Mann da nach« er zeigte in die Richtung »und bringen Sie ihn zurück.«

Die beiden Constables sprangen aus dem Fahrzeug und trabten hinter dem Mann von Sweb her, der sich umdrehte und sie kommen sah, aber, beschwert wie er war, nicht anders seinen Lauf hätte beschleunigen können, als dadurch, daß er sich von seiner Beute getrennt hätte. Mit den Handschellen immer noch vage an sich herumkratzend, stieg Rankine aus dem Cortina und trat zu der sich ständig vergrößernden Gruppe am Gatter.

»Nicht, daß ich ihn nicht dazu bringen wollte, wohlgemerkt«, sagte der Pfarrer.

Ling hatte das Gefühl, daß der Hauptzweck ihrer Mission durch Nebensächlichkeiten verwässert wurde. Er schrie den Arbeitern zu: »He, los, Leute, schafft das verdammte Ding hier weg, ja?«

»Wir sind von der Polizei«, plärrte Widger, um den unaufhörlich zunehmenden Lärm des herabsinkenden Hubschraubers zu übertönen.

»Wenn ihr von der Polizei seid, dann steckt uns lieber in die Zellen«, plärrte der Techniker zurück, der Goodey erschreckt hatte, und wischte mit dicht behaartem Unterarm Schweiß von seiner Stirn. »Da wär’s bestimmt viel kühler als hier… Los, Bert«, sagte er zu seinem Kollegen, »geh auf die andere Seite rüber und schau nach, ob die Walze wieder klemmt, ja?«

Bert zwängte sich ohne Umschweife durch die Versammlung am Gatter, überquerte die Straße, kämpfte sich auf irgendeine Weise durch eine Lücke in der Hecke und verschwand. Die Wiege begann wieder zu zucken und zu rucken.

Rankine hatte ein Notizbuch herausgezogen.

»Soll ich Einzelheiten aufnehmen, Sir?« fragte er Widger.

»Nein.«

Nun stießen zwei Pferde zu der stehenden Truppe. Das erste trug Miß Mimms, die im Augenblick zwar nicht weinte, aber ganz den Eindruck einer Feuchtigkeit aufsaugenden Gewitterwolke vor einem neuerlichen Ausbruch erweckte. Das zweite trug den bärtigen Jäger, der offenbar sein einziges Schimpfwort schon parat hatte, und auf der Kruppe den Mann im Kaftan, der sorgenvoll in allen Richtungen Ausschau nach seiner vermißten Stute hielt. Das war die Lage, als jeder seinen Mund geöffnet hatte, um etwas zu sagen.

Und das war der Augenblick, als praktisch gleichzeitig drei verschiedene Höhepunkte eintraten.

Als erstes explodierte der Pisser, wie jedermann, außer den Fachleuten, das schon immer vorhergesagt hatte. Nachdem er zunächst mit einem Zischen wie von tausend Gruben voll Fu Man Chus todbringender Schlangen eine kurze Warnung hatte laut werden lassen, entlud zunächst der eine noch vorhandene Anschluß einen Regen von gleißenden blauen und orangeroten Funken und erzeugte dann eine so trommelfellzerreißende und kolossale Detonation, daß selbst Leute, die weit entfernt wohnten, zu dem Schluß kommen mußten, der Atomkrieg sei endlich doch Wirklichkeit geworden. Alle Herde wurden kalt, Bügeleisen hörten auf, ordentliche Falten zu bügeln, Trockenschleudern kamen knirschend zum Stillstand, und in weitem Umkreis nahmen Fernsehschirme eine bestürzende Leere an. Von allen, die versammelt waren und diese dénouement miterlebten (abgesehen von den Pferden, die sich aufbäumten und wieherten, als würden sie plötzlich von allen Seiten von Hornissen angegriffen), vermochte sich viele Sekunden lang nur einer zu bewegen: Schrecklich fluchend und seinen Pappdeckel umklammernd, rannte der Gamaschenträger zum Kabelschlitten, zwängte sich irgendwie darunter durch, griff nach dem Hörer der Funksprechanlage im Lastwagen und begann verzweifelte Warnungen hineinzuplappern.

Die zweite Explosion folgte hart auf die erste und war, wenngleich bei weitem nicht so laut, eigentlich schockierend genug. Der Mann von Sweb schaute sich um, sah Crosse und Tavener aufholen und tat, was er längst hätte tun sollen: Er blieb stehen, warf die Truhe des Pfarrers auf den Rasen, fischte den Schlüssel aus der Tasche, sperrte sie auf und öffnete den Deckel: Er erlebte eine Demütigung, die ihn beinahe zu dem Entschluß brachte, den Rest seines Lebens als Ausübender eines unangreifbaren Berufes zu verbringen, etwa als Politiker oder als Verkäufer einer Enzyklopädie von Tür zu Tür.

Die Rotoren des Hubschraubers waren langsam zum Stillstand gekommen, als der Pisser zu zischen begonnen hatte. Der Pilot war aus der Kanzel gesprungen, riß die Fahrgasttür auf und klappte eine kleine Treppe herunter, über welche, in dieser Umgebung kaum glaubhaft, zwei Männer mit Melone herunterstiegen, jeder mit Aktentasche und säuberlich gerolltem Schirm, beide in schwarzen Nadelstreifenhosen und schwarzen Sakkos. Sie waren mutmaßlich Teil der Direktion des Stromversorgungsamtes, erschienen, um dem technischen Problem, vor dem ihre Untergebenen standen, ihre persönliche Aufmerksamkeit zu widmen.

Der erste hatte jedoch terra firma noch nicht erreicht, als der Pisser losging; und der zweite Knall, so schnell nach dem ersten, kostete sie endgültig die Nerven. Sie schrien dem Piloten etwas zu (vielleicht »Starten Sie! Starten Sie!«), fuhren herum und hasteten zurück in ihre Flugmaschine. Der Pilot, aus härterem Holz geschnitzt, zuckte die Achseln, klappte die kleine Treppe hoch, warf die Tür zu, kletterte in sein Cockpit zurück und gehorchte. Die Maschine stieg höher und höher. Dann schwenkte sie davon und klipp-klappte rasch über die Höhe von Worthington’s Stepp nach Süden, wo sie verschwand, um in der Tat in dieser Gegend nie mehr gesichtet zu werden.

Der zweite Knall war inzwischen das Werk des Mannes von Sweb gewesen, als er den Kasten des Pfarrers öffnete. Der Knall wurde begleitet von einer dichten schwarzen Wolke, die aus dem Inneren des Kastens quoll und die Vorderseite des Mannes von seiner Hutkrempe bis etwa zur halben Höhe der Hose völlig einhüllte, so daß es den Anschein hatte, als sei der Schminkmeister der >Black und White Minstrel Show< übergeschnappt, oder er wolle gegen Rassismus protestieren, oder (da sich beides nicht unähnlich ist) beides. Auch das war noch nicht alles obschon zunächst nur der Mann von Sweb und das ihn verfolgende Gesetz am geeigneten Ort waren, um die abschließende feine Note des Pfarrers schätzen zu können. Und das verfolgende Gesetz, das den Mann von Sweb erreichte, der an Flucht angesichts seines schrecklichen Zustandes nicht mehr dachte, konnte vom Gatter aus als nicht nur zögernd, sondern sogar als etwas zurückzuckend beobachtet werden.

Aber dann trat wieder die Pflicht, die strenge Tochter der Stimme Gottes, in ihre Rechte. Das verfolgende Gesetz trat wieder vor. Crosse ergriff den Mann von Sweb am Arm und machte sich mit ihm auf den Rückweg; Tavener hob den Kasten vorsichtig auf und folgte ihnen damit.

Sie kamen an, und bei ihrer Annäherung wurde bald klar, was das dritte Element der Schreckladung gewesen war.

Es war Schwefelwasserstoff.

Der Mann von Sweb roch wie eine Ladung zerbrochener fauler Eier.

Ein schwaches Glucksen wurde am Rand der Gruppe hörbar. Es stammte vom Pfarrer, der sein Gelächter zu unterdrücken versuchte.

Der Mann von Sweb, der unter Druck seine reizbare Seite zu zeigen vermochte, funkelte böse.

»Nennen sich einen Mann Gottes«, quiekte er. »Nennen sich einen Mann Gottes, und sehen Sie sich an, was Sie sehen Sie sich an, was Sie, sehen Sie sich an, was Sie – « Er fand keine Worte mehr.

»Das haben die Hulland-Zwillinge für mich gemacht«, sagte der Pfarrer. »Sehr geschickt mit den Händen, die beiden. Weiß nur nicht, wie sie den Schwefelwasserstoff zu einem Spray haben machen können. Ich dachte immer, das sei nur ein Gas.«

»Und was für ein Gas!« sagte Crosse. »Pfui Teufel! So was hab’ ich überhaupt noch nicht gerochen.«

»Er stinkt, er stinkt, er ist schwarz, und er stinkt«, intonierte der Pfarrer auf den ersten Teil der Melodie, die gewöhnlich für den Psalm Justus es, Domine verwendet wird. »Und der Ruß auch noch. Herrlich. Er war ganz feucht und verbacken, als ich ihn den Hulland-Zwillingen aus meinem Kamin besorgte. Sie müssen ihn sehr sorgfältig getrocknet und dann immer wieder durchgesiebt haben. Aber der Gestank ist das Beste. Ha-ha«, gluckste der Pfarrer, beugte sich in seiner Heiterkeit vor und umfaßte mit beiden Händen seinen Bauch, als hätte er einen großen Riß, aus dem sonst ungehemmt seine Eingeweide herausplatzen würden. »Ah, ha-ha-ha-ha-^w!«

»Was ist denn?« Das war Fen, der sie endlich alle eingeholt hatte. »Was ist los, und wo ist der Major?«

»Der Major«, sagte Widger und zeigte mit dem Finger, »ist dort.«

Denn das war das dritte der Dinge, deren Gleichzeitigkeit und unmittelbare Folgen eine unverständliche chronologische Beschreibung so erschweren.

Während der Pisser sich auf die Detonation vorbereitet und der Mann von Sweb in seiner Tasche nach dem Schlüssel zu dem viktorianischen Schmuckkasten gekramt hatte, konnte man inmitten all der anderen Erscheinungen, um die man sich nicht zu kümmern vermochte, im angrenzenden Feld aus Richtung Glazebridge das Klappern von Hufen hören. Das Pferd näherte sich mit großer Geschwindigkeit und hörte auf, Geräusch zu sein, um zum Anblick zu werden, gerade als Xanthippe, mit dem Major nach wie vor im Sattel, die Hecke zum Feld des Pissers übersprang. Leider war das auch der Augenblick, in dem der doppelte Knall laut wurde.

Nun ist es physisch ausgeschlossen, daß ein Pferd, das mit dem Boden keinerlei Verbindung hat, mitten in der Luft völlig erstarrt; das war es jedoch, was Xanthippe für den Bruchteil einer Sekunde zu tun schien. Dann war, wie bei einem Filmprojektor, der nach einer kleinen Störung wieder normal weiterläuft, alles erneut Bewegung. Xanthippe flog herüber. Sie landete. Und nun erstarrte sie wirklich, alle vier Hufe eingestemmt, während ihr Kopf und ihr Rumpf sich nach hinten spreizten.

Ein derart abruptes und heftiges Anhalten kann für den Reiter nur ein Ergebnis haben: Der Major flog über Xanthippes Kopf hinweg.

Er tat seinen ersten Sturz.

Er war jedoch nicht tot oder auch nur, wie es schien, ernsthaft behindert. Zuerst bewegte er sich; dann hob er den Kopf; dann stand er etwas schwankend auf, überließ sein Pferd auf höchst unreiterliche Art sich selbst, und begann, auf die Gruppe am Gatter zuzuhinken. Fen ging ihm entgegen.

»Major, ist alles in Ordnung?«

»Ja, vollkommen, mein Lieber, vollkommen. Haben Sie das gesehen?«

»Ja, ich bin gerade rechtzeitig gekommen. Aber die Sache ist die – «

»Ich hatte einen Sturz, mein lieber Freund, ich hatte einen Sturz. Ich hatte meinen ersten Sturz. Wohlgemerkt ein ganz übles, hinterlistiges Wesen, das sie verweigerte dreimal, und jedesmal mußte ich neu anreiten. Aber schließlich sind wir doch hier angekommen.«

Beim Anblick seines Pferdes hatte der Mann im Kaftan ein einziges »XANTHIPPE!« gekreischt, war hinter dem Bärtigen praktisch heruntergefallen und seiner entführten Liebe in großer Hast zu Hilfe gekommen, während Miß Mimms, obschon selbst mit Pferdegesicht versehen, ihm angesichts der Tatsache, daß sie zugunsten eines Tieres von so erkennbar schlechtem Geblüt völlig vergessen war, reichlich erbost nachschaute. Sie warf einen flehenden Blick über die Schulter auf den Bärtigen, der »Scybalon!« sagte, anscheinend mehr aus Prinzip, denn aus irgendeinem besonderen Anlaß. Der Mann im Kaftan blieb, als er an Fen und dem Major vorbeikam, lange genug stehen, um dem Major »Pferdedieb!« zuzuzischen, dann raste er weiter, um seinem malträtierten Liebling Trost zu spenden, der aber, wiewohl er stark schwitzte, weiter keinen Schaden davongetragen zu haben schien.

»Was ist mit dem Mann von Sweb?« fragte der Major.

»Man hat ihn gefaßt. Er ist hier.«

»Super«, sagte der Major, der in letzter Zeit zu viele Sendungen mit David Frost gesehen hatte. »Kann nicht zulassen, daß Kerle wie er sich am Eigentum des Pfarrers vergreifen. Ah, da ist er ja.«

»Wer?«

»Der Pfarrer. Wie gewohnt beim Tod dabei. Ich meine den menschlichen Tod«, erläuterte der Major liebenswürdig. »Der Pfarrer ist kein Waidmann.«

»Sind Sie sicher, daß Sie sich nichts gebrochen haben?« fragte Fen.

»Nein, nein, mein Lieber, nichts derart Peinliches. Nur Prellungen. Hamamelis, habe ich jetzt Hamamelis zu Hause? Ja, ich glaube doch. Ich wollte es einmal bei Sal verwenden, aber sie hat mich gebissen. Der Briefträger hatte ihr einen Tritt gegeben, der gemeine Kerl.«

»Und was ist mit Ihrem Kopf? Haben Sie eine Gehirnerschütterung?«

»Gewiß nicht. Höre ich mich so an…? Aber wenn ich es mir überlege« sie näherten sich jetzt dem Gatter –, »scheint doch mit meinem Geruchssinn etwas nicht zu stimmen. Zum Beispiel…«

»Ach, das ist in Ordnung«, sagte Fen. »Das ist nur der Mann von Sweb.«

»Wirklich? Ich erinnere mich aber nicht, daß er beim letztenmal so gerochen hätte. Vielleicht ist das jedoch eines der Herren-Duftwässer, für die dauernd geworben wird.«

»Es ist Schwefelwasserstoff«, sagte Fen. »Im Ernst, Major, ich wäre ruhiger, wenn Sie sich kurz von Dr. Mason untersuchen lassen würden.«

»Sehr freundlich von Ihnen, mein Lieber, aber das ist wirklich nicht notwendig. Ein paar Stunden Ruhe, und ich bin wieder völlig auf dem Damm. Übrigens glaube ich, daß der Sturz meiner Arthritis gutgetan hat; sie scheint nicht so schmerzhaft zu sein wie sonst.«

Bei der Ankunft fanden sie Widger mit dem Pfarrer uneinig.

»Nein, natürlich werde ich keine Anzeige machen«, sagte der Pfarrer gerade. »Ich habe ihm eine Falle gestellt, und er ist hineingetappt, das genügt.«

»Er hat heimlich Ihr Haus betreten, Sir.«

»Ja, ich weiß. Das tun Dutzende von Leuten, denn abgesehen von den Speicherräumen sperre ich es nie ab. Und selbst diese sind in den letzten Tagen unverschlossen gewesen, seit Spink und Sotheby und Christie alles Wertvolle abgeholt haben… Sie hätten hören sollen, wie begeistert die Leute gewesen sind. Ja, Dutzende von Leuten kommen ins Haus, laufen herum und rufen: >Pfarrer! Pfarrer!, während ich mich die ganze Zeit oben im Kleiderschrank verstecke. Ich gebe zu, sie haben wie jeder eine zu rettende Seele, aber der Haken dabei ist, daß ich die meisten schon gerettet habe und sie mich nur um so mehr belästigen.«

»Nun, mir ist es egal«, sagte Widger in einem seiner seltenen Anfälle von Gereiztheit. »Wenn Sie ihn nicht zur Anzeige bringen, tue ich es. Ich denke nicht daran, in meinem Bezirk Einsteigdiebe frei herumlaufen zu lassen… Rankine!«

»Sir?«

»Nehmen Sie den Mann fest!«

»Sir!«

Mit einigem Zögern ging Rankine auf den Mann von Sweb zu.

»Ich bin Polizeibeamter«, sagte er, »und ich nehme Sie fest… ich nehme Sie fest… ich n… Wie heißt er, Sir?«

Widger funkelte den Mann von Sweb böse an.

»Wie heißen Sie?« fragte er.

»Humphrey de Brisay«, quiekte der Mann von Sweb.

Ling schnaufte angewidert.

»Ach, Quatsch«, sagte er.

»Nein, Augenblick mal, Eddie«, sagte Widger. »Ich glaube, er könnte wirklich so heißen.« Zu dem Mann von Sweb: »Ich habe von Ihnen gehört. Sie sind gerade wegen Einbruchs im Knast gewesen, weil Sie einen Koekkoek und einen Bosboom aus einem Haus in Wiltshire gestohlen haben. Sie haben eine Vorstrafenliste, so lang wie mein Arm.«

»Ich habe nicht eingebrochen«, sagte de Brisay mit schriller Stimme empört. »Die Hälfte der Leute mit Wertsachen geht den ganzen Tag weg und läßt Türen und Fenster im Erdgeschoß offen, so daß man nichts aufbrechen muß. In Wiltshire ist mir aufgefallen, daß eines der Fenster im Billardzimmer einen Sprung hatte, und ich klopfte ein bißchen dagegen, nur um zu sehen, ob es fest sei, worauf das Ganze zusammenbrach.« Er versank in Düsternis. »Nur wollte der Richter mir nicht glauben«, schloß er mit falschem Pathos.

»Ich glaube Ihnen auch nicht«, sagte Widger. »Los, los, Rankine, machen Sie weiter!«

»Sir… Ich bin Polizeibeamter und nehme Sie, Humphrey de Brisay, fest, weil Sie weil Sie Was hat er getan, Sir?«

»Eingebrochen, versteht sich.«

»Keine Spur«, sagte de Brisay.

Rankine hob einen Zeigefinger.

»Wir müssen jetzt bedenken«, begann er.

»Wir müssen jetzt bedenken, Rankine«, sagte Widger, »ob Sie im Polizeidienst bleiben, oder ob ich vorschlagen soll, daß Sie – «

»Ja, Sir«, meinte Rankine hastig. »Ich bin Polizeibeamter«, sagte er. Ling stöhnte.

»Ich bin Polizeibeamter und nehme Sie Humphrey de Brisay, wegen des Diebstahls von Diebstahls von -. Was hat er eigentlich gestohlen, Sir?«

»Den Schmuckkasten meiner Großmutter«, sagte der Pfarrer. »Spink und Co. wollten ihn, aber ich habe ihn aus sentimentalen Gründen behalten. Er ist nicht sehr wertvoll, wie man mir versichert, aber diese Händler in London Sotheby und so weiter würden ihre Mutter >Gnä Frau< nennen und sich vor ihr verbeugen.«

»Er hält sich eine Dame höchst grausam täglich in einem Käfig«, sagte de Brisay.

»Sehen Sie«, sagte der Pfarrer triumphierend, »es gibt in jedem von uns etwas Gutes, wenn man nur weiß, wo man es suchen muß.«

»Worüber reden Sie beide eigentlich?« fragte Widger, dem die Galle hochstieg. »RANKINE!«

»weil Sie den Schmuckkasten der Großmutter des Pfarrers gestohlen haben, im Wert von von – «

»Ungefähr hundert«, sagte der Pfarrer.

»im Wert von ungefähr hundert im Besitz des Pfarrers unter Paragraphen eins und sieben des Diebstahlgesetzes von 1968.«

»Bravo«, quiekte de Brisay. »Und jetzt noch einmal alles von vorn.«

»Ich bin P-«

»Rankine, steigen Sie sofort ins Auto! Und nehmen Sie de Brisay mit!« Widger runzelte plötzlich die Stirn. »Nein, warten Sie! Wenn ich es mir recht überlege…«

»Genau«, murmelte Ling.

»Müssen wir wirklich zu fünft sein, Eddie? Wenn nicht, könnten Crosse oder Tavener de Brisay mit dem Mini fortbringen, während wir anderen – «

Aber Ling schüttelte den Kopf.

»Es könnte fünf erfordern«, sagte er noch leiser. »Wir sähen ziemlich dumm aus, wenn wir bei einer solchen Sache mit Personal knausern würden.« Dann hellte sich sein Gesicht ein wenig auf. »Aber passen Sie auf: Der Pfarrer könnte ihn im Mini zu seinem Haus zurückbringen und dort einsperren, bis wir jemanden frei haben, der ihn abholt.«

»Ich sperre niemanden ein«, sagte der Pfarrer, der die letzten Sätze mitangehört hatte. »Ich nehme ihn mit nach Hause, ja. Und ich befreie ihn von dem Gestank. Und mache ihn sauber. Und gebe ihm neue Sachen. Und etwas zu essen heute gibt es Tournedos Barbara, die müßten ihm schmecken… Und dafür«, sagte er zu de Brisay, »können Sie mir bei meiner morgigen Predigt helfen. Alle die endlosen Sonntage nach Trinitatis, es wird schwer, sich etwas einfallen zu lassen, das auf irgend etwas Bezug hat.«

»Ich habe Ihnen schon erklärt«, quiekte de Brisay, »daß ich nicht religiös bin.«

»Das beheben wir bald«, sagte der Pfarrer. »Der reuige Dieb, jetzt. Natürlich ist das nicht genau die richtige Jahreszeit für ihn, aber Sie könnten mir trotzdem dabei helfen. Wir könnten Sie sogar auf die Kanzel stellen, und Sie könnten Zeugnis geben.«

»Aber ich bin nicht reuig.«

»Hm. Dann könnten Sie mir beim Essen vorlesen. John Dickson Carr >The Crooked Hinge<. Sehr gut. Und nachdem Sie Ihre Schuld der Gesellschaft gegenüber abgetragen haben, wollen Sie vielleicht mein Diener werden.«

De Brisay war sprachlos.

»Ihr Diener, Herr Pfarrer?« fragte der Major verwundert. »Wozu wollen Sie, um alles in der Welt, einen Diener?«

»Nun, ich komme immer ziemlich unordentlich daher, wissen Sie«, antwortete der Pfarrer heiter, »weil meine Haushälterin vom Anziehen nichts versteht. Ich will nun zwar nicht aufgeschmückt wie ein Papist herumlaufen, habe aber doch das Gefühl, daß ich wegen meiner Ordinierung und so weiter zumindest etwas ordentlich sein sollte. Und da dachte ich, Sie könnten da gerade recht kommen«, sagte er zu de Brisay, »sobald wir Sie erst von dem gräßlichen Gestank befreit haben. Ha! Da hab’ ich Sie aber genau erwischt, nicht? Oh, ha-ha«, sagte der Pfarrer. »Ah, ha.-ha-Ha.-Ha. Genau, Sie richten sich behaglich ein und werden mein Diener. Sonntag abends frei und im Jahr zwei Wochen Urlaub. Fünf Pfund.«

»Da sind ja die Bedingungen im Knast besser«, quietschte de Brisay. »Die Antwort ist also Nein, ich werde ganz gewiß nicht kommen und Ihr Diener sein.«

An diesem Punkt tauchte der Gamaschenträger wieder auf, der sein Funkgespräch offenbar beendet hatte. Er war sichtlich schlechter Laune, und aus irgendeinem Grund, den niemand jemals zu ergründen vermochte, weder zu dieser Zeit noch später, schob er sofort de Brisay die alleinige Schuld an seinem ganzen Mißgeschick zu. Er schritt auf den kleinen Mann zu, hob seinen Pappdeckel der sich trotz des Anscheins nicht als Pappdeckel, sondern als massives Holzbrett erwies und hieb ihn mit kolossaler Kraft auf das Haupt seines Opfers und zerquetschte dessen rußbedeckten Filzhut, so daß Brisay blind, aus dem Gleichgewicht gebracht und halb betäubt, in die Arme von Kriminalinspektor Widger taumelte. Von dem Gestank beinahe überwältigt, zog Widger sich hastig aus dieser unwillkommenen Umarmung zurück, während de Brisay, nachdem er mehrmals im Kreis herumgestolpert war, endlich sein Gleichgewicht und sein Sehvermögen wiedergewann und damit zum Stehen kommen konnte.

»Na, na, Sir«, sagte Widger schwach zu dem Gamaschenträger, »Sie hatten keinen Anlaß, so etwas zu tun, wissen Sie. Überhaupt keinen.« Aber der Gamaschenträger war ein Mann von zu echtem Schrot und Korn, um sich von solch schwächlichen Einwänden beirren zu lassen; ohne Antwort zu geben oder auch nur merklich auf die anderen zu achten, kehrte er an seinen ursprünglichen Platz zurück und begann wieder zu schreiben.

»Nun, ich glaube, ich gehe nach Hause«, sagte der Major. »Ein, zwei Stunden hingelegt und ferngesehen wird Wunder wirken. Kannst du die Butter von Stork-Margarine unterscheiden?« sang er. »Natürlich nicht, natürlich nicht, natürlich nicht. Ich kann es zwar, und das sehr leicht, aber es ist eine hübsche kleine Melodie, wirklich reizend. Wir sehen uns dann später im Gasthaus. Tag allerseits inzwischen.« Und damit humpelte er die Straße in Richtung Aller House hinauf, das man hinter den Hecken und Bäumen gerade noch erkennen konnte.

Es war der Beginn des Aufbruchs.

»Herr Pfarrer«, sagte Ling, »ich weiß, wir können uns darauf verlassen, daß Sie de Brisay für uns im Auge behalten. Wir lassen ihn mit dem Auto abholen, sobald wir können. Inzwischen« – er wandte sich Widger zu »habe ich mir überlegt, ob ein Pferd diesen Kabelschlitten überspringen und eine Nachricht für uns voraustragen könnte. Wir haben die Pferde, wir haben wir haben wir – «

Verblüffung verurteilte ihn, als er sich umsah, zum Schweigen, und Widger, der seinem Blick folgte, war gleichermaßen fassungslos. Denn während des vorangegangenen Aufruhrs waren die Pferde zusammen mit dem Bärtigen und Miß Mimms so spurlos verschwunden, als hätte der Boden sich aufgetan und sie verschlungen; sie waren einfach nirgends zu sehen. Es war Widger, der als erster den Grund für dieses scheinbar übernatürliche Ereignis wahrnahm.

»Da!« schrie er. »DA!«

Die beiden Techniker hatten endlich Erfolg gehabt. Wie lange das schon her war, sollte zum Thema einer scharfen Auseinandersetzung zwischen Widger und Ling im Schankraum von >The Seven Tuns< an diesem Abend werden. Das Entscheidende für den Augenblick war, daß an irgendeinem unbestimmbaren Punkt ihre schweißtreibende Plackerei vom Triumph gekrönt worden war. Der Schlitten versperrte die Straße nicht mehr; statt dessen hing er hoch in der Luft zwischen seinen Mini-Masten und gewährte einem drei Meter hohen Lastwagen Durchlaß.

Ling wurde zum Handeln angespornt.

»Rasch!« brüllte er. »Rasch! Crosse, Tavener, zurück ins Fahrzeug! Rankine – «

Ein neuer, aber völlig verschmutzter Volvo, der von Burraford kam, stoppte mit quietschenden Reifen neben ihnen. Auf dem Rücksitz saßen der Bärtige und Miß Mimms, deren Kopf seitlich auf der Brust des ersteren lag, so daß es (sie hatte die Mütze abgenommen) aussah wie ein gigantisches, haariges Brustgewächs, das durch den Schleier seines Bartes geplatzt war und tröpfelte (sie schluchzte wieder). In Abständen schlug der Bärtige mit der flachen Hand ziemlich fest auf sie ein, wohl als Therapie gegen Hysterie. Aber ihre Tränen flössen nur stärker und färbten einen peinlichen Bereich der Reithose des Bärtigen dunkel.

Vorne am Steuer saß Dr. Mason, der den Kopf zum Fenster hinausschob, um Widger und Ling anzusprechen.

»Kann ich irgend etwas tun?« fragte er fröhlich. »Ich habe die beiden da aufgelesen, als ich zu einem Krankenbesuch in Glazebridge unterwegs war es sind nur wieder Mrs. Teachers Hitzeblattern, also eilt es nicht und sie sagten, das Mädchen sei gestürzt, und ich sagte, sie sollte sich in Glazebridge lieber röntgen lassen, also ließen sie ihre Pferde an >The Stanbury Arms< stehen, und hier sind wir. Sie sagten etwas von einem Unfall weiter oben an der Straße.« Er sah de Brisay an, der wahrlich einen jammervollen Anblick bot, und schnupperte. »Sind Sie der Unfall? Sie sehen so aus. Dann müssen Sie in einen Kippschen Apparat gefallen sein und anschließend versucht haben, durch einen Kamin zu klettern. Nein?« Dr. Mason sah Rankine an. »Sie sehen auch ein bißchen mitgenommen aus.«

»Ich bin P-«

»Steigen Sie ein, Rankine, und versuchen Sie mindestens eine halbe Minute lang nichts zu sagen. Nein, Doc, uns fehlt allen nichts«, sagte Widger. »Und wenn Sie uns jetzt entschuldigen wir haben es ziemlich eilig. Also…«

»Ein Kuhknecht ist von seinem Fahrrad gefallen und glaubt, sich den Knöchel gebrochen zu haben«, sagte Fen. »Das ist hinter dem Haus des Pfarrers.«

»Steigen Sie ein und helfen Sie mir, ihn zu finden«, erklärte Dr. Mason. »Ganz unter uns«, murmelte er, »die beiden da hinten sind ungefähr so nützlich wie ein weher Kopf und nicht so leicht zu heilen.«

»Gut«, sagte Fen. Er war froh, seine moralische Verpflichtung gegenüber dem leidenden Enoch loszuwerden obwohl manches dafür sprach, daß irgendein vorbeifahrendes Fahrzeug ihn inzwischen mitgenommen und zu einem Arzt gebracht hatte. Die Polizeiautos rasten in Richtung Burraford. Dr. Mason raste in Richtung Glazebridge. Als Fen sich umschaute, konnte er de Brisay und den Pfarrer in den Mini steigen sehen, wobei der Pfarrer sich betont die Nase zuhielt…

Frieden senkte sich über Pisser-Land.

Der Mann im Kaftan führte Xanthippe angesichts ihrer vermuteten Kränklichkeit und Erschöpfung im Schneckentempo auf den Wald zu. Sie wurden kleiner. Und kleiner. Und waren endlich verschwunden. Entwaffnet stand der Pisser stumm, nur mehr ein konstruktivistisches Monstrum, das zu lange im Regen gewesen war. Oder war es praktikabel, metallische Gebilde rostfrei zu machen, wie Autos?

Die beiden Techniker wußten es nicht und scherten sich auch nicht darum. Sie machten Pause und saßen mit baumelnden Beinen auf der herabgelassenen Heckklappe des Lastwagens, während sie belegte Brote und Bier zu sich nahmen.

Die kleine Großherzogin lächelte tapfer unter Tränen.

 

 

3

 

Enoch war noch da und raffte sich, als der Volvo herankam, aus seiner selbstmitleidigen Erstarrung lange genug auf, um mit den Händen heftige Bewegungen zu vollführen. Das Auto hielt neben ihm, und der Arzt sprang heraus.

»Ha! Was haben wir hier?« sagte er mit der eingewurzelten Eupepsie, die zu irgendeiner Zeit die Empfindsamkeit der meisten Bewohner des Bezirks betäubt hatte. »Was gibt es denn?«

»Mein Knöchel, Doktor.«

»Ja? Und was ist mit Ihrem Knöchel?«

»Is gebrochen.«

»So, so. Welcher denn?«

Enoch wies stumm auf eine Stelle an der Grasböschung, genau in der Mitte zwischen seinen ausgestreckten Beinen. Der Arzt riet, ergriff seinen rechten Fuß und drehte ihn gewaltsam herum. Der qualvolle Schrei, der sich Enoch entrang, bestätigte, daß der Arzt richtig geraten hatte.

»Ja, nun, er ist ein bißchen geschwollen«, sagte Dr. Mason. »Aber vermutlich nur verrenkt. Können Sie die Zehen bewegen?«

»Weiß nich’.«

»Na, dann sitzen Sie nicht einfach da. Stellen Sie’s fest.«

Schweißtropfen standen auf Enochs Stirn, als er den Versuch unternahm. Schließlich sagte er widerwillig: »Jo.«

»Dann ist es nur eine Verrenkung«, sagte der Arzt. »Aber wir wollen lieber vorsichtig sein. Ich bringe die junge Dame da zum Röntgen nach Glazebridge, also können Sie gleich mitkommen.«

»Kann mich nich’ bewegen.«

»Dann sollten Sie sich lieber darauf vorbereiten, die Nacht hier zu verbringen. Fen, kommen Sie her und helfen Sie mir, ja?«

Während Enoch ihre beiden Hälse im Schraubstockgriff hatte, gelang es ihnen, ihn, der auf einem Bein hüpfte, zum Auto zu schaffen und auf irgendeine Weise hineinzustopfen.

»Kommen Sie mit, Fen?« fragte der Arzt.

Aber Fen schüttelte den Kopf.

»Ich habe heute morgen schon genug Aufregung gehabt«, erwiderte er. »Ich gehe nach Hause und mache mir einen stillen Nachmittag, glaube ich.«

»Mein Rad!« rief Enoch aus dem Auto. »Was is’n mit mei’m Rad?«

Fen seufzte.

»Ich kümmere mich um Ihr Rad«, sagte er und winkte ihnen nach.

Da der Lenker völlig verdreht war, erwies sich Enochs Fahrrad als unzugänglich, und Fen entschied, nachdem er praktisch gezwungen gewesen war, es ein Stück zu tragen, daß er von der Philanthropie genug hatte. Er schleppte das Rad in den Garten des Pfarrers und versteckte es dort hinter einer Hecke und lauerte dort selbst, bis de Brisay und der Pfarrer mit dem Mini eingetroffen waren und das Haus betreten hatten. Dann ergriff er die Flucht. Der psychedelische Kombiwagen war jetzt leer, wie er feststellte, als er vorbeikam. (Er blieb an seinem Platz, verfiel Monat für Monat, während die Polizei vergeblich den Eigentümer ausfindig zu machen versuchte, und mußte schließlich zum Verschrotten abgeschleppt werden. Der kahlköpfige junge Mann und die Jagdsaboteuse, so erfuhren Mr. Dodds Vertraute später, waren es plötzlich müde geworden, zu streiten hatten vielmehr schlagartig alle Anzeichen der innigsten Zuneigung füreinander erkennen lassen und die Jagdsaboteuse hatte erklärt: »Wir gehen jetzt bumsen«, so als beziehe sie sich auf einen Besuch bei den Festspielen in Bayreuth oder Glyndebourne, »und zwar hinter einer Hecke, wie alle anständigen Tiere das machen.« Dann hatten sie sich entfernt, um ein geeignetes Gatter zu finden, obwohl nie jemand erfuhr, ob ihre Vereinigung von Erfolg gekrönt war oder nicht, weil kein Mensch in Devon sie je wieder zu Gesicht bekam. Was Mr. Dodd anging, so war er taumelnd auf den Straßen nach Glazebridge heimgewankt, um eine Ersatzbrille zu holen; barmherzigerweise nahm ihn bei Hole Bridge ein Kunde mit. Danach gestaltete sich sein Interesse an der Jagdstörung zunehmend theoretisch und verlor sich endlich ganz, obwohl ihn seine weiland Mitkreuzzügler leidenschaftlich rügten.)

So kam Fen an dem verlassenen Kombi vorbei und setzte seinen Weg fort, um bald die Abzweigung zu erreichen, die zum Haus der Dickinsons führte. In der Hütte im Garten von Thouless’ Bungalow verrieten gräßliche Dissonanzen, daß der Komponist gezwungen gewesen war, seine Trostmusik zugunsten eines neuen Monsters aufzugeben, und in Youings’ Schweinefarm kümmerte sich ein Mann, den Clarence Tully geschickt hatte, um die Bedürfnisse von Youings’ Schweinen.

»Buh«, sagte er, sich bei Fens Annäherung umdrehend. »Buh, ah, buh-buh.«

»Buh?« erwiderte Fen zugänglich und wurde auf der Stelle ausgebuht. Alptraum eines Opernsängers. Als sich das ein wenig gelegt hatte, sagte Fen: »Buh. Oh, ah, buh-buh.«

Der Dorftrottel war von dieser schneidenden, überlegten Antwort offensichtlich begeistert.

»Buh«, sagte er, zum Abschied freundlich winkend, und wandte sich wieder der Fütterung der Schweine zu. »Buh.«

»Buh«, bestätigte Fen und ging weiter. Als er die steinige Auffahrt hinaufstieg, überlegte er sich, daß Dorftrottel in dieser Zeit eher eine Seltenheit waren, während in früheren Zeiten die Verbindung von zwei Mitgliedern einer besonders beschränkten Familie praktisch als Garantie dafür hatte gelten dürfen, einen weiteren Blödsinnigen hervorzubringen.

Nun waren sie nahezu ausgestorben, möglicherweise deshalb, weil 1908 der Inzest unter Strafe gestellt worden war, möglicherweise auch wegen der Bemühungen von Leuten wie dem Pfarrer, möglicherweise, weil -

An diesem Punkt seiner Meditation nahm Fen wahr, daß in seinem Garten eine schildkrötenförmige Lücke bestand. Die Stiefmütterchen waren zumeist abgestorben oder im Verwelken, Ellis war bei sonstiger Kost mäkelig, und es war ohnehin Zeit für ihn, es wieder einmal mit dem Winterschlaf zu versuchen. (Fen erinnerte sich dunkel, irgendwo erst vor ganz kurzer Zeit eine Schildkröte gesehen zu haben, aber wo?) Inzwischen wartete Stripey, der einen etwas verstörten Eindruck machte er hatte es mit dem Sex wieder einmal übertrieben –, vor der Eingangstür darauf, daß jemand ihn hineinließ.

Fen tat es, und sie hasteten Seite an Seite zur Spülküche, wobei Fen gerade noch im letzten Augenblick daran dachte, den Kopf einzuziehen. Hier öffnete Fen, während Stripey zwischen und um seine Knöchel Achter beschrieb, eine Dose Katzenfutter, schnitt den Inhalt auf und warf ihn in eine Schüssel, anschließend frische Milch und Wasser hinzufügend, mit dem Gefühl, daß alles menschliche Streben eitel sei, weil Stripey für beide Flüssigkeiten wenig übrigzuhaben schien: Jedenfalls erlebte Fen nie, daß Stripey davon trank. Er wandte sich nun seinen eigenen Bedürfnissen zu, nahm eine Terrine Gänseleberpastete aus dem Kühlschrank zusammen mit einer halben Flasche Roederer Cristal Brut, ergänzte diese Dinge durch ein Glas, einen Teller, einen Löffel, ein Messer und einige Kekse und wollte das Ganze ins Wohnzimmer tragen, als seine Aufmerksamkeit von einem unvertrauten weißen Fleck auf dem Kaminsims über dem Rayburn gefangengenommen wurde. Er stellte vorübergehend alles ab, ging nachsehen und fand auf einem Zettel eine Nachricht für sich. Sie stammte von seiner Zugehfrau und lautete:

»Ich hab’s angenommen, weil es in Ordnung zu sein schien.

Bragg«

(Mrs. Bragg sprach von sich aus irgendeinem Grund stets in dieser lakonischen Art.) Ihr Zettel lehnte an einem Umschlag mit dem Vermerk Einschreiben Eilboten<. Die Adresse verriet die Handschrift von Henry, dem Pförtner am St. Christopher’s College in Oxford, mit dem Fen als Dekan leider ständig in stummer Feindschaft lebte. Fen hatte ihm vor Antritt seines Studienurlaubs den Auftrag gegeben, ihm nach Devon nichts nachzuschicken, wenn es nicht von höchster Wichtigkeit war und Henry hatte sich bislang auch daran gehalten. Was konnte das hier also sein? Fen riß Henrys Umschlag auf, um einen zweiten darin zu finden, der mit einer klaren Handschrift an ihn im College adressiert war. Er war ebenfalls eingeschrieben und die Lasche zusätzlich zur üblichen Gummierung noch durch ein großes, eindrucksvolles rotes Siegel gesichert. Darunter stand gedruckt: >Wenn nicht zustellbar, sofort an den Senior Official Reseiver, Thomas More Building, Königliche Gerichte, Strand, W. C. 2, zurücksenden<

Das erklärte jedenfalls Henrys Verhalten. Henry hatte sich eingebildet, daß Fens Abwesenheit seinen Gläubigern Gelegenheit verschafft habe, einen Konkursantrag gegen ihn zu stellen, und er hatte Wert darauf gelegt, daß Fen davon so schnell wie möglich erfuhr und ins Zittern geriet denn, wie la Rochefoucauld einmal gesagt hat, das Unglück der anderen hat stets etwas Erfreuliches für uns, vor allem, wenn die anderen Professoren sind und man selbst nur ein schlichter Pförtner ist. Fen schnaubte, schob den Brief ungeöffnet in seine Jackentasche, raffte seine Mahlzeit wieder zusammen und trug sie ins Wohnzimmer, wo er seine Bedenken gegen fettes Geflügel mit künstlich erzeugter Hepatitis unterdrückend – die Terrine öffnete, den Roederer entkorkte und sich auf das Sofa niederließ, um zu essen und zu trinken. Um dabei in Verbindung mit der Zivilisation zu bleiben, griff er nach dem obersten Band auf dem nächsten Stapel und begann zu lesen. Der Band trug den Titel >Hackenfeller’s Ape< und war das Werk von Brophy, Brigid.

Inzwischen war Stripey, vom Katzenfutter ungesättigt, in das Zimmer geschlichen, auf den Kaffeetisch gesprungen und fiel über die Gänseleberpastete her. Fen bemerkte den Raub zu spät, um ihn verhindern zu können. Er holte eine zweite Terrine aus der Spülküche, fuhr mit dem Messer rundherum, nahm den Deckel ab und hatte sich kaum wieder niedergelassen, als er bemerkte, daß Stripey, der die eine Terrine noch nicht halb verzehrt hatte, zu Terrine zwei gekrochen war und sich an dieser gütlich tat. Fen trank Champagner und kehrte zu seiner Lektüre zurück.

Hackenfeller. Das hörte sich an wie ein Alias von Groucho Marx Otis B. Hackenfeiler, lizenzierter Chiropraktiker. Es waren jedoch nicht mehr als zwanzig Seiten erforderlich, um Fen davon zu überzeugen, daß an diesem Werk S. J. Perelman nicht beteiligt gewesen war.

Der Literatur plötzlich überdrüssig, dachte Fen an den eingeschriebenen Brief, zog ihn aus der Tasche und riß ihn auf, wobei ein großer Teil des zerbrochenen Siegels in den Roederer fiel. Jobson & Ellis (die das Buch über moderne britische Romanciers in Auftrag gegeben hatten) träten, so erfuhr er, bedauerlicherweise freiwillig in Liquidation, da sie ihre Schulden nicht mehr bezahlen könnten; alle Verträge mit Autoren würden daher bis zur Klärung des Sachverhalts suspendiert; weitere Informationen würden zu gegebener Zeit erfolgen; bis dahin sei der Unterzeichnete Fens gehorsamer Diener. Krakel.

Fen überlegte, und je mehr er nachdachte, desto besser gefiel es ihm. Ein Teil der Lektüre war natürlich genußvoll gewesen >The Doctor is Sick, I Want It Now<, die >Balkan-Trilogie<, Elizabeth Bowen, >The Ballad and the Source<. Aber ein viel größerer Teil war es nicht gewesen und vieles von dem, was noch bevorstand, würde es auch nicht sein.

>Würde es auch nicht sein?< Was meinte er mit >würde es auch nicht sein?< >Wäre es nicht gewesen<, denn er würde jetzt nichts mehr davon lesen.

Mit einem Seufzer, bei dem Unzufriedenheit nur eine kleine Rolle spielte, gab Fen Brigid Biophy auf und griff statt dessen nach Gibbons >Autobiographie<.