9. Kapitel

Die kurzen Arme von Zufall und Gesetz

 

Sprach Hudibras, Freund Ralph, doch jetzt

hast eingeholt den Constable du doch zuletzt.

Samuel Butler, >Hudibras<

 

 

1

 

Die Pressekonferenz war kein Erfolg.

Das lag zum Teil daran, daß die Polizeistation Glazebridge keinen Raum besaß, der groß genug dazu gewesen wäre. Die Reporter mußten sich zusammenquetschen, und viele fanden keinen Sitzplatz. Angesichts der sensationellen Begleitumstände (die ein wenig Unbequemlichkeit vergessen ließen) hätte der Platzmangel aber nicht sehr viel ausgemacht, wäre nicht Ling gewesen. Er hatte bereits einen schweren Fehler begangen, als er zugelassen hatte, daß Presseleute und Zeugen unbehindert miteinander verkehren konnten, während er in Widgers Büro die Vernehmungen führte; jetzt vergrößerte er ihn noch, indem er so tat, als hätten diese Begegnungen nie stattgefunden. Die Zeugen waren eingehüllt gewesen in eine Wolke von Kameras, Notizbüchern und Kassettenrecordern. Sie waren Ziele einer ungeheuren Neugier, Mittelpunkte eines endlosen Stromes von Fragen. Und nur wenige hatten daran Anstoß genommen oder sich der Zurückhaltung befleißigt; die meisten waren hoch erfreut gewesen und hatten rückhaltlos geplaudert, oft, ohne sich an die reine Wahrheit zu halten, oft mit grandiosen Ausschmückungen. Scorer hatte sich, zu seiner anfänglichen Überraschung, als Held gefeiert gefühlt und mit der Behauptung reagiert, er hätte nicht nur den Mörder gesehen, sondern ihn auch durch die Nacht verfolgt und nur um Haaresbreite nicht zur Strecke gebracht. Der Major ließ sich über Sals ungewöhnliche Fähigkeiten als Wachhund aus. Luckraft ließ alle Hinweise auf Rechen, Mangeln und Oliver Meakins’ Pflegekünste beiseite und schilderte, wie er jemanden im Garten neben Mrs. Clotworthys Haus habe lauern sehen. Alle diese Leute und andere hegten Ansichten ausgefallenster Art nicht über diesen letzten Mord, sondern auch über Rouths und Mavis Trents Tod, und über die verschiedenen Zusammenhänge. Die Misses Bale sprachen wortreich über die Kränkung für ihren Botticelli, und Tittys Reaktion auf die Entdeckung der Leiche ÄLTERE DAME FINDET NACKTE MÄNNLICHE LEICHE HINTER UNSCHÄTZBAREM MEISTERWERK wurde weithin erforscht. Der Pfarrer begnügte sich mit der Feststellung, daß es eine Menge zweifelhafter Typen gebe. Unaufhörlich zuckten Blitzlichtlampen, die wildesten Gerüchte gingen von Mund zu Mund, und Scorer wurde so lästig, daß Sergeant Connabeer ihn mit Gewalt von seinen Befragern löste und in eine Zelle sperrte. Die Reporter freuten sich, und die schlichteren Gemüter unter ihnen nahmen an, daß Scorer weit davon entfernt, den Mord nur miterlebt zu haben jetzt der Tat überführt worden und rundweg verhaftet worden sei.

Ling machte seinen zweiten Fehler, als die Zeugen endlich fortgeschickt worden waren und die eigentliche Pressekonferenz begann. Zu Beginn schien sie gut zu verlaufen. Ling hatte ursprünglich in seiner Eröffnungserklärung wenig mehr anbieten wollen, als was am Morgen in der >Gazette< gestanden hatte, ergänzt durch ein paar harmlose Kleinigkeiten, wie die, daß der Mörder vermutlich ein Auto benutzt hatte und daß die Obduktion von dem gefeierten Sir John Honeybourne durchgeführt wurde. Es war daher ein Schock für ihn, als die Reporter Fragen zu stellen begannen, die auf ihren eigenen Befragungen der Zeugen beruhten. Wären diese Fragen halbwegs vernünftig geblieben, hätte Ling wohl kühlen Kopf behalten. Das waren sie aber nicht. Die meisten Zeugen hatten das Verbrechen in Begriffen des wildesten Melodrams ausgelegt, und ihre Übertreibungen waren von den Reportern komplett geschluckt worden. Und nun wurde dieser ganze Unsinn vor Ling ausgebreitet, von dem man erwartete, daß er bestätigte oder bestritt; und seine Versuche, die Fragen auf eine realistischere Ebene zurückzudrängen und sie gleichzeitig nicht zu beantworten, machten ihn zusehends unbeliebter. Er hätte ganz einfach den Kopf schütteln und es den Reportern überlassen sollen, in ihre Artikel an Einfältigkeiten hineinzuschreiben, was ihnen gefiel. Statt dessen versuchte er die Lage zu meistern und versank immer tiefer im Treibsand wortreicher Unverständlichkeit. Seine große Pfeife ging aus, auf seiner Stirn entstand Schweißglanz, und seine Gesprächspartner wurden immer unruhiger.

Ticehurst saß rechts von Ling an einem kleinen Tisch auf einer improvisierten Plattform, die laut knarrte, sobald sich jemand bewegte. Widger, steif vor Verlegenheit und ein entschlossener Nicht-Beiträger zu den Vorgängen, saß auf der anderen Seite. Während Ling sich immer mehr verhaspelte, gerann Ticehursts Gesicht zu einer Maske der Betroffenheit, und als er es nicht mehr aushielt, zupfte er Ling verstohlen am Ärmel. Ling war gerade bemüht, mit einer Gruppe von Reportern zurechtzukommen, die Scorer vorgeführt haben wollte, und es dauerte eine Weile, bis er sich seinem Pressesprecher widmen konnte.

»Sagen Sie einfach >Kein Kommentar«!« zischte ihm Ticehurst ins Ohr. »Sagen Sie immer wieder >Kein Kommentar<!«

»Was Scorer betrifft«, sagte Ling zur Versammlung, »so ist er ein KEIN KOMMENTAR.« Es war, als bremse ein Motorradfahrer in voller Fahrt schlagartig ab.

Ein Stöhnen erhob sich, und die Reporter funkelten Ticehurst an. Sie versuchten es noch einige Minuten lang, aber Ling hatte verspätet gelernt: Gleichgültig, was sie auch fragen mochten, er antwortete beharrlich mit >Kein Kommentar«. Widger und Ticehurst lehnten sich unter heftigem Knarren des Podiums zutiefst erleichtert zurück. Zwischen den standhaft wiederholten >Kein Kommentar« vermochte Ling sogar seine Pfeife wieder anzuzünden. Schließlich, durch seinen Erfolg ermuntert, war er kühn genug, auf seine Uhr zu blicken, aufzustehen und zu sagen: »Vorerst nichts weiter, meine Damen und Herren, tut mir leid. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.« Damit knarrte er vom Podium, gefolgt von Widger und Ticehurst, und zwängte sich zwischen den Gruppen murrender Reporter zur vergleichsweisen Stille der Eingangshalle hindurch.

»Das ging doch ganz gut, nicht wahr?« sagte er zu Widger.

Widger schluckte. »Finden Sie?«

»Allerdings. Sehr gut.«

Ticehurst holte sie ein und blickte nervös über die Schulter auf die Vorhut der unzufrieden aus dem Saal strömenden Reporter.

»Na, ich gehe jetzt, Eddie, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte er und watschelte, ohne eine Antwort abzuwarten, mit erstaunlicher Schnelligkeit zum Ausgang und in die Nacht hinaus. Widger glaubte, ihn sogar zu seinem Auto laufen zu hören.

»Verzeihen Sie, Sir«, sagte Sergeant Connabeer zu Ling, »aber was soll ich mit Scorer machen?«

»Erwähnen Sie den Namen nicht vor mir.«

»Wo ist Scorer jetzt?« fragte Widger.

»Ich habe ihn eingesperrt, Sir.«

»Gut«, sagte Ling.

»Warten Sie, bis alle Reporter fort sind«, sagte Widger, »dann lassen Sie ihn heraus und schicken Sie ihn nach Hause.«

»Mit einem Dienstfahrzeug, Sir?«

»Keinesfalls. Es gibt am Sonntag abend einen Bus nach Burraford, den kann er nehmen.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Kein Kommentar«, sagte Ling zu einem Reporter, der mit einer Frage über die Identifizierung der Leiche an ihn herangetreten war. »Charles, es wird Zeit, daß wir gehen. Holen Sie lieber den… dieses Ding aus Ihrem Büro.«

»Ja, gut«, sagte Widger und ging zur Treppe. Als er hinaufstieg, hörte er in der Halle Stimmengewirr und mehrmals Lings Stimme, die »Kein Kommentar« sagte.

Widger schloß die Tür zu seinem Büro auf, griff nach dem Sack, wog ihn in der Hand, stellte ihn, einem Impuls folgend, auf den Tisch und öffnete ihn. Später sollte er sich sagen, daß dieser Impuls eine unterschwellige Vorahnung des noch bevorstehenden Ärgers gewesen sein mußte; im Augenblick begründete er ihn mit dem Gedanken, daß der Kopf seit seiner Entdeckung überaus sorglos sogar nachlässig behandelt worden war und es ihm oblag, alle erdenkbaren Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.

Aber alles war in Ordnung. Gräßlich wie nur je und noch immer in Cobbledicks >Daily Mail< verpackt, war der Kopf auch richtig zur Stelle. Widger schnürte den Sack wieder zu und trug ihn hinaus. Danach sperrte er gewissenhaft die Tür ab.

In der Halle hatte das Stimmengewirr nicht nachgelassen. Warum, um alles in der Welt, marschierte Eddie nicht hinaus und versteckte sich irgendwo, statt dazustehen wie ein toter Weißfisch, mit dem man Meeraale anlocken wollte? Und plötzlich begann Widger zu fluchen. Es war ihm eben eingefallen, daß es hier gar keinen Hinterausgang gab. Er und der Sack würden durch die ganze Halle Spießruten laufen müssen. Und wenn die Reporter nicht begriffen, was das für ein Sack war und was er enthalten mußte, hatte er Schwachsinnige vor sich. Guter Gott, sobald sie ihn erblickten, würden sie sich wie ein Wolfsrudel auf ihn stürzen!

Widger zählte langsam bis fünf, während er zu sich sagte: Du bist ein Inspektor der Polizei. Du wirst deine Autorität gebrauchen, notfalls auch Gewalt, um diese Leute abzuweisen und zu entkommen. >Entkommen< schien nicht das richtige Wort zu sein:

Es hatte Obertöne des Kriminellen oder zumindest des Zaghaften. Aber es würde genügen müssen. Jetzt kam es darauf an, zu handeln.

Und tatsächlich sah es anfangs so aus, als sollte er Glück haben. Zum einen hatten sich die Reihen der Reporter gelichtet, da manche zu den Telefonen geeilt waren; zum anderen konzentrierten sich die noch Verbliebenen auf Ling. Widger schlich die Treppe hinunter, den Sack mit dem Körper abschirmend, und ging, der Versuchung widerstehend, auf Zehenspitzen zu schleichen, so schnell und lautlos wie möglich zum Ausgang.

Leider hatte der eine oder andere Reporter von Ling genug; ihre Aufmerksamkeit irrte ab, und Widger hatte kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sie ihn entdeckten. »Der Sack!« rief einer laut, und ein anderer stimmte ein mit: »Der Kopf!« Widger war augenblicklich umzingelt, und ein heilloses Durcheinander brach aus, das fast auf der Stelle zu einer Rangelei wurde. Widger preßte die Lippen zusammen und rammte und boxte und gebrauchte die Ellenbogen, innerlich fluchend. Ling, zunächst durch Verständnislosigkeit gelähmt, begriff plötzlich, was sich abspielte, und eilte seinem Kollegen zu Hilfe, gefolgt von Connabeer und einem Constable. Aus Furcht, der Sack könnte ihm entrissen werden, warf Widger ihn Ling wie ein Rugbyspieler bei einem Paß zu, und mehr durch Glück als durch Können gelang es Ling, ihn aufzufangen. Stoßend und schiebend und brüllend brach das ganze Gedränge durch die Schwingtüren hinaus auf den Parkplatz.

Hier kam die Presse zur Vernunft. Man war unzweifelhaft zu weit gegangen. Sorgenvoll wich man zurück. Von Connabeer beaufsichtigt, ließ man sich brav wieder hineinführen, wo der Sergeant die Namen und Adressen notierte. Er erklärte streng, er könne nicht sagen, was unternommen werden würde, aber es sei am besten, wenn man zehn Minuten an Ort und Stelle bliebe und sich dann unauffällig entferne. Ein linksgerichteter Reporter, dem Widger ein wenig die Luft genommen hatte, murmelte etwas von >brutalen Polizeimethoden«, aber als er zur Antwort erhielt, es sei schade, daß er sich nicht den Hals gebrochen habe, verstummte er, und von da an gab es keine Schwierigkeiten mehr.

 

 

2

 

Vor Verfolgung bewahrt, aber immer noch schwer atmend, hasteten Ling und Widger nach hinten, wo die Polizeifahrzeuge standen, darunter Widgers hochgeschätzter grauer Cortina. Widger sperrte die Beifahrertür auf, und Ling stieg ein, an die Brust den Sack pressend, als enthalte dieser den Schatz der Inkas. Die Türen wurden zugeworfen, der Motor begann zu schnurren, und sie fuhren über den Parkplatz auf die Ringstraße, wo sie links abbogen.

Endlich Frieden.

Nach einer Weile kam Ling auf den Gedanken, daß er den Sack nicht unbedingt während der ganzen Fahrt auf dem Schoß behalten mußte. Er drehte sich mühsam herum und legte ihn auf den Rücksitz, wobei er ihn Widger an den Kopf schlug. Dann lehnte er sich zurück, zündete seine Pfeife mit einer Staffel von sechs Streichhölzern an, hustete gequält und krächzte: »Ah.«

Widger nahm an, daß das Befriedigung ausdrücken sollte.

Sie drangen immer tiefer in ein Geflecht von fortwährend schmaler werdenden Straßen ein. Wilde Blumen schimmerten in den Hecken, und die Bäume selbst die Platanen, die Linden und die Kastanien waren noch belaubt; es war wahrhaftig ein ausgefallener Herbst. Bald gab es keinen Verkehr mehr, und die Häuser hier in der Gegend fast nur Bauernhöfe wurden immer seltener. Es war eine einsame, dünnbesiedelte Gegend, und Widger war froh, daß er vor vierundzwanzig Stunden beim Transport der Leiche zu Sir John beim Fahrer des Ambulanzwagens gesessen und sich den Weg gemerkt hatte.

Von dem großen Mann hatte er bei dieser Gelegenheit nicht viel gesehen. Die Tür war ihm von einem grobknochigen, stummen, blonden Diener geöffnet worden, der die Lampe über der Tür angeknipst und bedeutungsvoll genickt hatte und zur Ambulanz gegangen war, um dem Fahrer und dem von Widger mitgebrachten Constable zu helfen, die in Kunststoffsäcke gehüllten Überreste ins Haus zu schaffen. Widger hatte gewartet, und Sir John war schließlich erschienen, mit einem ausgestreckten Zeigefinger einen großen Rollwagen mit Gummireifen schiebend. Er war hochgewachsen, schmal, hager, kahlköpfig und leichenblaß, mit sehr großen, weit auseinanderstehenden bräunlichen Schneidezähnen, die er Widger mehr mit einer Grimasse als einem Lächeln zeigte, als er ihm guten Abend wünschte. Er hatte zugesehen, wie das Opfer auf seinen Wagen gehoben worden war, sich kurz einen Bericht über Art und Weise des Leichenfundes geben lassen, sobald wie möglich eine Stellungnahme versprochen, der Leiche einen freundschaftlichen Klaps auf den Bauch gegeben, gute Nacht gesagt und Widger die Tür vor der Nase zugemacht.

Unter diesen Umständen hatte Widger wenig Gelegenheit gehabt, sich umzusehen. Er wußte aber schon von der exzentrischen Art, in welcher der berühmte Pathologe, der so viele Jahre Starzeuge im Old Bailey gewesen war, seinen Ruhestand verbrachte. Er wußte davon, weil der nächste Nachbar Sir Johns, ein kluger, freundlicher Farmer namens Boddy, den Widger sehr mochte, ihm allerhand erzählt hatte. Sir John war begütert und hatte, nachdem er sich aus London zurückgezogen hatte, mehr oder weniger das getan, was ihm beliebte; und es hatte ihm beliebt, an der entlegensten Stelle, die er finden konnte, einen riesigen, aufgegebenen Kalkstein-Steinbruch zu kaufen und ein großes, aus Zedernholz bestehendes Haus im Ranch-Stil zu errichten. Es setzte sich zusammen aus drei Teilen: Auf der linken Seite stand eine Garage für drei Fahrzeuge, angeschlossen durch einen kurzen überdachten Bogengang war der gewaltige Mittelteil des geräumigen, luxuriös eingerichteten Wohnhauses, und daran wiederum schloß sich, abermals mit einem Bogengang, ein eigener Bau mit drei Laboratorien und einem Büro an. Da Sir John von Gärten nichts verstand, hatte er den ganzen Gebäudekomplex mit einer weiten Betonfläche umgeben. Der Betonsockel enthielt ein kompliziertes System von Kanälen und Abwassergräben, um das Regenwasser zu bewältigen, das an drei Seiten des Steinbruchs herabströmte.

Und was fängt dieser reiche Eremit mit seiner Zeit an? dachte Widger, als er das Lenkrad des Cortina drehte, um die letzte Kurve hinter sich zu bringen. Ah, das wußte Widger. Sir John forschte. In seinen Laboratorien stellte er Experimente an – Experimente, die alle mit seiner lebenslangen Beschäftigung, dem Verbrechen und ganz besonders mit Mord, zusammenhingen. Widger hatte die Gerichtsmedizin stets als einen der interessantesten Aspekte der Kriminalistik betrachtet, und er verstand weit mehr davon als der durchschnittliche Kriminalbeamte. Nach Widgers letzten Informationen war Sir John zur Zeit damit beschäftigt, die degenerativen Veränderungen getrockneten Blutes in einer Zeittabelle zu erfassen, unter Berücksichtigung von Temperatur und anderen äußeren Einflüssen. Gewiß, soviel Widger wußte, hatte er darüber noch nichts publiziert, aber trotzdem schien er der ideale Mann dafür zu sein, sich mit den forensisch-pathologischen Seiten des Botticelli-Mordes zu befassen. Weit mehr etwa als Easton, der eigentlich zuständige Mann. Easton war tüchtig, aber auch viel zu beschäftigt, um mehr als die gewohnte Routinearbeit zu leisten.

Und jetzt waren sie da.

Sir John hatte keine Einfahrt lediglich einen Betonfinger ohne Tor, der die Straße hinunterwies. Widger bog auf diesen Finger ein und fuhr mit dem Wagen bis vor die Haustür. Das Ganze sah verlassen aus; man sah kein Licht aber vielleicht waren die Fenster dicht verhängt.

Als die Bewegung aufhörte, der Motor und die Scheinwerfer abgeschaltet waren, bewegte Ling sich. Widger vermutete, daß er geschlafen hatte. Er starrte in die Dunkelheit hinaus.

»Mein Gott«, sagte er. »Wo sind wir?«

»Wir sind da.«

»Wie heißt das hier?«

»Es hat keinen Namen. Es ist nur ein Haus in einem Steinbruch.«

»Aber gibt es denn keine Ortschaft oder so etwas?«

»Nein.«

»Mein Gott«, sagte Ling noch einmal. »Wenn das nicht aus der Welt ist… Hören Sie, Charles?«

»Ja?«

»Ich habe das Gefühl, daß Sir Johns Feststellungen wichtig sein werden. Vielleicht sogar entscheidend.«

»Ja.«

»Und wir wissen, daß der Täter keine Skrupel kennt. Er könnte einen Vorteil davon haben, wenn er wieder tötet.«

»Eddie, Sie meinen doch nicht etwa, daß Sir John – «

»Doch, das meine ich. Wenn ich gewußt hätte, daß Sir John so abgelegen haust, an einem solchen Ort, wäre er unter Bewachung gestellt worden.«

»Ach, das ist doch lächerlich«, sagte Widger. »Kein Mensch würde – «

Aber da wurde er zum Schweigen gebracht, weil es da passierte. Von irgendwo hinter dem Haus ertönte ein langgezogener, schriller, gurgelnder, grauenhafter Schrei.

 

 

3

 

Ling handelte sofort. Er hatte Widgers Taschenlampe aus dem Fach im Armaturenbrett gerissen und war schon halb zur Beifahrertür hinaus, bevor Widger sich von dem unerwarteten gräßlichen Schrei so weit erholt hatte, daß er sich bewegen konnte. Und draußen begann Ling mit eingeschalteter Lampe zu laufen, mit einer Schnelligkeit, die für einen Mann seines Umfanges und seiner Jahre erstaunlich war. Er hetzte über den Beton zur Garage da dies der schnellste Weg war, nach hinten zu gelangen –, und Widger, der sich endlich erholt hatte, warf sich aus dem Wagen und folgte ihm. Er lief, so schnell er konnte, aber Ling hatte einen beträchtlichen Vorsprung, und als er und die Lampe um die Garagenecke verschwanden, befand Widger sich in fast völliger Dunkelheit und war gezwungen, sich langsamer zu bewegen. Als er sich endlich um die Ecke herumtastete, stellte er fest, daß auch Ling normal ging. Ling leuchtete mit der Lampe die Umgebung ab, wohl mutmaßend, daß er jeden Augenblick eine unheimliche dunkle zusammengesunkene Gestalt entdecken würde, sterbend oder tot. Aber dergleichen war nicht der Fall. Widger holte Ling ein und sah, daß die Betonfläche bis hin zu den Labors und darüber hinaus leer und offen dalag.

»Das Gebüsch«, sagte Ling.

Sie stürzten sich mannhaft in das Dickicht: Holunder, Ahorn, rotblättrige Spindelsträucher, Bärenklau, Blutweiderich, Gemeiner Kerbel, Flockenblume, Brennessel, und überall die cremigen, flaumigen, federleichten Bocksbart-Kapseln; Schlehdorn, der ihre Kleidung zerriß und ihre Hände zerkratzte. Sie gerieten auseinander, und Widger, ohne Lampe, sah sich wieder auf bloßes Tasten zurückgeworfen. In Abständen riefen sie einander, kaum verständlich, so daß Widger sich an Horatio und Bernardo und Marcellus erinnert fühlte, die auf den Mauern von Helsingör den Geist von Hamlets Vater dingfest zu machen suchten: »Ist hier!«

»Ist hier!«

»Ist fort!« Als seine erste Panik sich legte, begriff Widger, während er weiterstolperte, wie nutzlos das ganze wilde Gerenne war. Mehr oder weniger gleichzeitig schien Ling auf denselben Gedanken zu kommen.

»Bogenlampen!« rief er. »Wir brauchen Bogenlampen!« Aber noch während er diesen Wunsch äußerte, verlor er das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in ein eineinhalb Meter hohes Distelgewächs. Die Lampe flog ihm aus der Hand, und Widger hörte das Klirren, als sie an einem Stein zerbrach. Sie waren im Dunkeln.

Plötzlich öffnete sich eine Tür an der Rückseite des Hauses und ließ ein grelles Lichtrechteck hinausfallen. Zwei Gestalten standen in der Tür, eine davon war, wie Widger erleichtert sah, unzweifelhaft Sir John Honeybourne. Neben ihm stand ein viel jüngerer, viel kleinerer Mann, ein Kobold mit einer Mähne drahtiger Haare und dicken Brillengläsern. Sie starrten in die Nacht hinaus, und Sir John fragte gemessen:

»Darf ich fragen, was hier vorgeht?«

Ling raffte sich auf, und einen Augenblick lang standen er und Widger bis zu den Hüften im Unterholz, wie zwei erschreckte Fasane, die ein Jagdhund aufgebracht hat. Dann nahmen sie sich zusammen und zwängten sich hinaus auf den Betonplatz. Sie eilten zur Tür.

»Sir John«, sagte Ling. »Gott sei Dank, daß Ihnen nichts zugestoßen ist, Sir.«

»Zugestoßen? Zugestoßen?« sagte Sir John. »Natürlich ist mir nichts zugestoßen. Warum sollte mir etwas zugestoßen sein?«

»Aber haben Sie denn den Schrei nicht gehört, Sir?«

»Ach, den Schrei. Ja, gewiß, den habe ich gehört. War ja kaum zu überhören, nicht? Markerschütternd. Ich nehme an, es war eine Eule.«

»Eine Eule, Sir?« sagte Ling fassungslos. Weil er ein Städter war, überforderte der Hinweis auf eine Eule seine Fassungskraft bei weitem.

»Eine Eule, ja«, sagte Sir John entschieden. »Oder möglicherweise irgendein anderes Wesen ferae naturae. Nachts ist die Landschaft voll von seltsamen Geräuschen, habe ich festgestellt. Man soll sich darüber nicht den Kopf zerbrechen.«

»Aber, Sir – «

»Also, Sie werden Superintendent Ling sein.«

»Ja, Sir. Zu Diensten. Aber – «

»Und der andere Herr, den ich schon kenne, ist Inspektor Widger.«

»Sir«, sagte Widger. Er hatte das unbehagliche Gefühl, daß er und Ling aussahen, als wären sie gerade rückwärts durch eine Hecke gezerrt worden.

»Sir, dieser Schrei – «

»Du meine Güte, Superintendent, Sie sind aber beharrlich, wie? Haben wir nicht Wichtigeres zu tun, als einem flüchtigen Schrei nachzujagen? Wir – «

»Ihnen ist nichts passiert, Sir«, sagte Ling störrisch, »und dem Herrn hier auch nicht. Aber was ist mit den anderen Bewohnern?«

»Ich bin ein einsamer Mann«, sagte Sir John, »und es gibt nur noch zwei Leute ein Ehepaar, das im Haus wohnt und für meine schlichten Bedürfnisse sorgt. Es sind natürlich Schweden«, fügte er hinzu, so als sei die schwedische Nationalität bei Hauspersonal einfach Pflicht. »Und ich habe gerade mit ihnen gesprochen, so daß beide nicht geschrien haben können. Aber wir müssen jetzt wirklich zur Sache kommen. Wo ist der Kopf, den Sie mir bringen wollten? Ich habe darauf gewartet, um ihn aufzusägen und wir sollten hoffen, daß er zu dem Rumpf paßt, den ich habe.«

Ling gab auf. Zu Widger sagte er: »Holen Sie den Sack aus dem Wagen, Charles, ja?«

Widger hastete davon, ging um die Garage herum, indem er mit den Fingern an der Holzwand entlangstreifte, sah die Parkleuchten des Cortina, erreichte das Fahrzeug, nahm den Sack vom Rücksitz, schaltete die Parkbeleuchtung ab und ging mit beträchtlicher Vorsicht da er für den ersten Teil der Strecke keinerlei Beleuchtung hatte wieder hinter das Haus. Die Hintertür stand noch offen, aber Ling und Sir John und der unbekannte Kobold erwarteten ihn in einer kleinen Diele ohne Einrichtung.

»Aha!« sagte Sir John, den Sack betrachtend. »Wir gehen wohl besser zu den Labors.« Er führte sie durch eine verwirrende Vielzahl von Räumen in den Bogengang.

»Ich bin säumig gewesen«, sagte er unterwegs. »Säumig, weil ich Sie nicht früher mit Mr. Morehen hier bekannt gemacht habe. Superintendent Ling, Inspektor Widger, Mr. Morehen. Ich nenne Mr. Morehen mein kleines Wasserhuhn.«

Mr. Morehen ergriff zum erstenmal das Wort.

»Hol Sie der Teufel!« sagte er.

»Mr. Morehen«, fuhr Sir John gleichmütig fort, »ist mein Assistent. Mein Assistent in Ausbildung, hätte ich sagen sollen. Aus irgendeinem Grund, den er selbst am besten kennt, möchte Mr. Morehen Pathologe werden, obwohl er eigentlich keine Begabung dazu hat; überhaupt keine.«

»Schnauze«, sagte Mr. Morehen.

»Mr. Morehen ist nämlich vom Gemüt her kein Pathologe. Er ist ein Mengenanalytiker. Vor allem mißt er gern. Geben Sie Mr. Morehen etwas irgend etwas und er wird es sofort für Sie messen. Nehmen Sie Alkohol.«

Da sie in diesem Augenblick an einem Sideboard mit vielen Flaschen vorbeigingen, glaubte Widger einen Augenblick lang, sie bekämen zu trinken angeboten. Aber das war offenbar nicht der Fall.

»Nur gut, daß Sie mich haben, wenn Sie mich fragen«, sagte Mr. Morehen.

»Nehmen Sie Alkohol«, wiederholte Sir John. »Wir wollen Blut auf seinen Alkoholgehalt untersuchen, was tun wir also? Wir besorgen uns einen Milliliter Blut und einen Milliliter gesättigte Kaliumkarbonatlösung, und wir tun sie in ein Fach eines Diffusionsgerätes, ohne sie zu vermischen. Dann nehmen wir eine Kaliumdichromatlösung in Schwefelsäure und tun sie in das andere Fach. Wir ergreifen das verschlossene Glas und vermischen die beiden Lösungen durch Kippen und wenn Alkohol vorhanden ist, wird das Dichromat hübsch grün werden. Was könnte befriedigender sein? Was könnte erfreulicher sein? Aber Mr. Morehen genügt das nicht.«

»Möchte ich meinen«, sagte Mr. Morehen.

»Mr. Morehen möchte wissen, wieviel Alkohol. Während Sie das Grün bewundern, Superintendent, bleibt Mr. Morehen gleichgültig. Er denkt 115 xy~z(x Icc) = Milligramm Alkohol auf 100 Gramm Blut.<«

»Wußte gar nicht, daß Sie das wissen«, sagte Mr. Morehen.

»Nun, diese Dinge müssen leider getan werden«, sagte Sir John. »In diesem Sinne könnte man also behaupten, Mr. Morehen bei sich zu haben, sei ganz nützlich: eine Art engstirniger menschlicher Computer. Sein Nutzen endet damit glücklicherweise auch nicht. Denn Mr. Morehen, Superintendent, ist Internationaler Sozialist, was immer das sein mag, und glaubt an die Würde körperlicher Arbeit. Bei ihm nimmt, was noch günstiger ist, die körperliche Arbeit die Form unliebsamer Hausarbeit an, und seine Bemühungen nehmen den armen Hetmans alle möglichen unerfreulichen Tätigkeiten ab und gestatten es mir, bei den Löhnen zu sparen. Ich sage nicht, daß Mr. Morehen nicht sehr enge Grenzen hat, aber innerhalb dieser Grenzen ist er ein Musterbild.«

»Wenn die Revolution kommt, ist eine Laterne für Sie schon reserviert«, sagte Mr. Morehen, und mit dieser freundlichen Bemerkung erreichten sie das Ende des Bogengangs, und Sir John führte sie in das größte der drei Laboratorien, in dem blendendhelle Leuchtröhren brannten. Inmitten zahlreicher Geräte und Apparaturen stand ein Operationstisch mit Abflußrinnen und Röhren, auf dem die zugedeckte Leiche lag.

Sir John ging darauf zu und riß das Laken herunter.

»Nun, da ist er«, sagte er heiter. »Inzwischen natürlich ein wenig fleckig, aber, abgesehen von seinem Bauch, eine schöne Gestalt. Ich weiß nicht, ob Sie seine Organe sehen möchten? Sie sind dort drüben in den Gläsern.«

»Nein, danke, Sir«, sagte Ling. Er näherte sich vorsichtig der Leiche, tat so, als betrachte er sie, rang ein wenig nach Luft, wich zurück und ließ sich schwerfällig auf einen kleinen Hocker sinken.

Mr. Morehen besichtigte den Bauchschnitt aus nächster Nähe; er steckte beinahe die Nase hinein.

»Die Naht sieht ja mies aus«, tadelte er.

»Die haben Sie selbst gemacht«, sagte Sir John.

»Ich habe nichts anderes behauptet, oder? Na ja, spielt ja jetzt keine Rolle mehr.« Und damit schien Mr. Morehen das Interesse an den Vorgängen zu verlieren.

Sir John ging zu einem Tisch und räumte mit einer Handbewegung eine Reihe von Gläsern weg.

»Kommen Sie, Inspektor«, sagte er zu Widger. »Sie können ihn hierher legen.« Widger ging mit dem Sack hinüber, legte ihn hin und zog sich wieder zu Ling zurück. »Nun, meine Herren«, sagte Sir John, »entschuldigen Sie mich bitte, ich fange gleich an. Ich nehme an, Sie finden alleine hinaus, und wenn nicht, kann Mr. Morehen Sie führen.«

»Aber, Sir«, stieß Ling hervor.

»Ja, Inspektor?«

»Ich muß Ihnen einige Fragen stellen. Ich weiß, Sie haben mir am Telefon ein paar Hinweise gegeben, aber – «

»Na, na, Superintendent«, sagte Sir John, als beruhige er ein widerspenstiges Kind. »Ich lege alles in meinem schriftlichen Bericht nieder. Sie haben ihn spätestens morgen abend auf dem Schreibtisch. Und jetzt möchte ich mich mit dem Kopf befassen.«

»Es tut mir sehr leid«, sagte Ling mit unerwarteter Entschlossenheit, »aber es gibt ein paar Dinge, die einfach nicht warten können.«

Sir John sah den Sack sehnsüchtig an, dann drehte er sich mit einem tiefen Seufzer um.

»Nun gut, Superintendent«, sagte er. »Aber, bitte, machen Sie es kurz, denn ich möchte – «

»Gewiß, Sir, gewiß. Also, wie alt war er?«

»Ungefähr fünfundvierzig.«

»In guter körperlicher Verfassung?«

»Abgesehen von etwas Übergewicht in sehr guter Verfassung. Muskulös. Und der Zustand der inneren Organe ist ausgezeichnet.«

»Irgendwelche Brüche?«

»Keine.«

»Welche Blutgruppe?«

»A, Rhesus negativ.«

»Dieselbe, die wir im Gras gefunden haben.«

»Das ist gut.«

»Hat er viel geblutet?«

»Das hängt zum Teil davon ab, wie er getötet wurde.«

»Nun, Sir, wie ist er getötet worden?«

»Guter Gott, Mann, das weiß ich doch nicht. Wenn Sie mir einen Blick auf den Kopf gestatten würden – «

»Wir glauben, er könnte erschlagen worden sein. Mit irgendeinem stumpfen Gegenstand.«

»Glauben Sie, wie? Nun, ich fürchte, ich bin nicht in der Lage, das zu bestätigen. Oder zu widerlegen. Wenn Sie mir nur – «

»Hätte er stark geblutet, wenn er erschlagen worden wäre?«

»Vermutlich. Kopfwunden bluten meistens sehr stark. Es gibt jedoch Ausnahmen. Da war, zum Beispiel, dieser Bauer Routh. Soviel ich weiß, hat er nicht stark geblutet.«

»Hätte er stark geblutet, als ihm der Kopf abgeschnitten wurde?«

»Da das so bald nach dem Tod geschah, fast mit Sicherheit ja.«

»Und Sie sind sicher, daß es bald nach dem Tod geschehen ist?«

»Ganz sicher.«

»Hat er viel geblutet, als ihm der Arm abgetrennt wurde und die Einschnitte in den Oberschenkeln entstanden?«

»Vermutlich nicht.«

»Und wann ist der Tod eingetreten? Wir vermuten«, sagte Ling hilfreich, »daß es gegen halb ein Uhr Freitag nachts gewesen sein könnte.«

»Was Sie denken, stimmt mit den medizinischen Feststellungen überein.«

»Wann ist der Arm abgetrennt worden?«

»Am darauffolgenden Nachmittag zwischen zwei und vier Uhr.«

Nun seufzte Ling.

»Und daran gibt es überhaupt keinen Zweifel, Sir?«

»Keinen. Die degenerativen Veränderungen im Blut können zeitlich genau festgelegt werden, Superintendent.«

»Welches Instrument ist verwendet worden, um den Kopf abzutrennen?«

»Ich meine, eine Bügelsäge.«

»Ah!« sagte Ling. »Wir haben eine Bügelsäge gefunden.«

»Mit Blut daran?«

»Nur Spuren. Aber genug.«

»Gut«, sagte Sir John. »Superintendent, Sie haben es geschafft. Und jetzt glaube ich wirklich, daß ich – «

»Vorher haben Sie von Alkohol gesprochen, Sir. Hatte er getrunken?«

»Nein. Und nach dem Zustand von Leber und Nieren trank er überhaupt sehr selten… Das Skrotum«, steuerte Sir John bei, »war nicht geschrumpft.«

»Wie bitte, Sir?«

»Ich meine, Superintendent, daß er nicht kürzlich eine Frau geliebt hatte.«

»Hört sich an wie ein Hundeleben«, sagte Mr. Morehen in einer fernen Ecke. »Kein Schnaps, keine Weiber. Und dann muß man sich ansehen, was er gegessen hat!«

»Ah ja, Sir«, sagte Ling. »Das wollte ich eben fragen. Wann hat er das letztemal gegessen, und was?«

»Die letzte Mahlzeit hatte er ungefähr drei Stunden vor dem Tod eingenommen, Superintendent«, sagte Sir John, »und zwar Fisch und Chips. Ich bin sicher, daß Mr. Morehen Ihnen die Größe des Fischfilets angeben könnte, wenn Sie ihn fragen«, fügte er hinzu.

Mr. Morehen gab eine Beschimpfung von sich.

»Und nun kommen wir zur Crux«, sagte Ling. »Wir müssen den Mann unbedingt identifizieren, und bis jetzt ist sein Kopf die einzige Hoffnung. Aber er ist arg malträtiert worden. Ich habe mich gefragt, ob irgendeine Aussicht besteht, daß Sie ihn sozusagen wiederherstellen, mit Wachs oder dergleichen, damit wir der Presse ein Foto zur Verfügung stellen könnten.«

Sir John überlegte.

»Diese Möglichkeit besteht«, sagte er vorsichtig. »Aber das hängt alles davon ab, wie schwer die Schäden sind. Und es wird natürlich, wenn es sich machen lassen sollte, viel Zeit erfordern.«

»Versteht sich, Sir.«

»Lassen Sie ihn mich also am besten ansehen, ja?«

»Ja, Sir.«

Widger sank auf einen Hocker neben Ling, als Sir John sich die Hände rieb und auf den Tisch zuging, wo der Sack lag. Er stand zwischen den Polizisten und dem Sack, so daß sie nichts sehen konnten, als er die Schnur aufknüpfte und den Inhalt heraushob, aber sie hörten die Zeitungen rascheln, als er ihn auswickelte.

Es gab eine lange Pause.

Danach sagte Sir John mit merkwürdiger Stimme: »Ich habe mich unterschätzt, Superintendent. Die Antwort ist: Ja, ich kann Ihren Kopf leicht für Sie wiederherstellen. Und danach kann ich ihn vielleicht auf meinen Abendtisch bringen.«

Widger erstarrte.

»Auf Ihren – «

Aber zur Abwechslung war Ling einmal schneller von Begriff. Mit sechs Riesenschritten war er bei Sir John, während Widger ihm betroffen nacheilte.

Auf dem Tisch lag säuberlich in der Mitte gespalten, die Augen im großen Schlaf geschlossen der Kopf eines kleinen Schweines.

Die Rückfahrt nach Glazebridge war zum größten Teil durch ein tödliches Schweigen gekennzeichnet. Erst als sie sich auf der Ringstraße der Polizeistation näherten, ergriff Ling endlich das Wort.

»Wir sind hereingelegt worden«, sagte er.

»Ja.«

»Der Täter hat die Säcke vertauscht.«

»Ja.«

»Wann?«

»Nun, nicht, bevor wir die Station verlassen haben«, sagte Widger. »Denn als ich den Sack aus meinem Büro holte, schaute ich nach.«

»Dann muß es bei Sir Johns Haus gewesen sein.«

»Ja.«

»Der Schrei war kein echter Schrei. Er war ein Ablenkungsmanöver, um uns vom Auto fortzulocken.«

»Ich dachte, es wäre ein richtiger Schrei«, sagte Widger. »Sie übrigens auch. Wer ihn ausgestoßen hat, muß ein hervorragender Schauspieler sein.«

»Wir hätten das Auto nicht unabgesperrt stehenlassen sollen.«

Da es darauf nichts zu sagen gab, sagte Widger nichts.

»Der Kerl hat auf uns gewartet«, erklärte Ling. »Er muß irgendwo abseits sein Auto abgestellt haben und -. Haben Sie ein Auto wegfahren hören? Danach, meine ich?«

»Nein, Sie?«

»Nein. Er stellte jedenfalls seinen Wagen ab. Dann versteckte er den Sack mit dem Schweinskopf irgendwo im Gebüsch vor dem Haus. Er schlich nach hinten, und als er uns kommen hörte, stieß er seinen Schrei aus. Als wir um die Garage herumgelaufen waren, ging er beim Labor nach vorn, tauschte die Säcke aus und lief zu seinem Auto. Dazu hatte er Zeit genug.«

»Warum hat er das getan?«

»Es ist ihm wohl verspätet klargeworden, daß Sir John fähig sein könnte, den Kopf wieder erkennbar zu machen. Und das gedachte er nicht zu riskieren: lieber das Ding zurückholen und es irgendwo vergraben. Uns dafür den Schweinskopf unterzuschieben, war aber reine Bösartigkeit. Er hat uns verhöhnt«, sagte Ling bitter. »Sehr selbstsicher, unser Freund.«

Der Wagen bog von der Ringstraße auf den jetzt leeren Parkplatz ein.

»Es wird Ihnen klar sein, daß ich den Chef anrufen und ihm sagen muß, was geschehen ist?« sagte Ling.

»Ja.«

»Er wohnt nur zwanzig Meilen von hier. Er wird sich sofort in seinen Alfa setzen und herfahren.«

»Vermutlich.«

»Und dann – und dann – um Himmels willen, Charles, was wird er sagen?«

 

 

4

 

»SIE WOLLEN MIR SAGEN, SIE HATTEN DEN KOPF DIESES UNGLÜCKLICHEN SCHON IN IHREM BESITZ UND HABEN IHN WIEDER VERLOREN?

»Er ist uns gestohlen worden, Sir.«

»GESTOHLEN. UND ICH NEHME AN, DASS MAN IHNEN GLEICHZEITIG DIE UHREN VON DEN HANDGELENKEN GESTOHLEN HAT.«

»Nein, Sir.«

»ALLES, WAS SIE JETZT ALSO NOCH HABEN, IST EIN SCHWEINSKOPF.«

»Wir bekommen ihn, Sir, davon dürfen Sie überzeugt sein.«

»DAS DARF ICH, WIE? SUPERINTENDENT, SIE BERUHIGEN MICH UNGEMEIN. IM AUGENBLICK KANN ICH NUR SAGEN, DASS ICH ZU MEINER ZEIT ZWAR GENUG SCHWACHKÖPFIGE POLIZISTEN GEKANNT HABE, DASS ABER NICHT EINER DEN VERGLEICH MIT IHNEN BEIDEN AUSHÄLT.«

»Wenn Sie nur ein wenig leiser sprechen würden, Sir…«

»ICH WERDE NICHT LEISER Doch, das werde ich schon«, sagte der Chief Constable widerstrebend. »Wir wollen nicht, daß alle in der Station es erfahren. Und Sie beide halten den Mund über das, was geschehen ist, hören Sie? Wenn das bekannt wird, lacht uns ganz Devon aus.«

»Sir, wir – «

»Und nur noch eines, bevor ich gehe. Ich gebe Ihnen eine Woche Zeit genau eine Woche – , diese Schweinerei zu meiner Zufriedenheit zu bereinigen.« Der Chief Constable stürmte zur Tür von Widgers kleinem Büro. »Danach kommt Scotland Yard und ich werde großen Dank dafür ernten, daß ich die so spät beiziehe. Was Sie beide angeht«, zischte er über die Schulter, »werden Sie entlassen sein und sich um eine Anstellung als Bankwächter bemühen. Und jetzt GUTE NACHT.« Er ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Widger und Ling standen da wie Wachsfiguren, bis sie einen Wagen vom Parkplatz davonschießen hörten. Dann bewegte sich Ling.

»Kommen Sie«, sagte er.

Sie fuhren zu Mrs. Clotworthys Haus in der Chapel Lane von Burraford. Aber ja, sagte Mrs. Clotworthy, sie habe ihre Großnichte ein zweites Mal besucht; gerade an diesem Morgen, nur um sich zu vergewissern, daß es Mutter und Kind gutgehe. Und diesmal, ja, hätte sie an Fens Schweinskopf gedacht. Wie sie ihn am Tag vorher habe vergessen können, sei ihr selbst ein Rätsel. Sie habe den Sack sofort in den Eingang gestellt, das Haus abgesperrt und sei zu ihrer Großnichte gefahren. Bei ihrer Rückkehr sei der Sack verschwunden gewesen. Den Sack habe sie bei einem Mann gekauft, der mit einem Lieferwagen durch die Gegend gefahren sei, und fast jeder in der Umgebung hätte bei ihm eingekauft.

»So ist das Leben«, sagte Widger grimmig, als sie wieder ins Auto stiegen. »Der ganze Bezirk überschwemmt mit Harris’ Bacon-Säcken. Das wird uns sehr weiterhelfen, wird uns das.«

Von Mrs. Clotworthy fuhren sie zum Haus der Dickinsons, um mit Fen zu sprechen. Nein, sagte Fen, er fürchte, daß er heute dem Schweinskopf keinen Gedanken gewidmet habe. Mrs. Clotworthy habe ihm mitgeteilt, daß sie ihn heute für ihn zurechtgelegt hätte, aber in all der Aufregung sei ihm das entfallen und er sei nicht in die Nähe von Mrs. Clotworthys Haus gekommen, nicht heute, nicht ein zweites Mal.

»Wo ist er überhaupt?« fragte Fen.

»Wo ist was, Sir?«

»Mein Schweinskopf.«

Ling erlag einem Stotteranfall.

»Ich ich er – «, stammelte er. »Mrs. Clotworthy hat ihn heute früh in ihren Eingang gelegt, Sir, aber es muß ihn jemand anderer mitgenommen haben.«

»So, hat einer das?« sagte Fen. »Wie schade. Ich habe mich darauf gefreut, die Sülze zu machen. Trinken Sie einen Schluck, bevor Sie gehen?«

Das lehnten sie jedoch ab. Als Widger den Cortina die schmalen Straßen zurück nach Glazebridge entlang lenkte, sagte er schwach: »Nun, wenigstens war es nicht der Pfarrer.«

»Warum nicht?«

»Er ist in der Kirche von Burraford gewesen, bei der Vesper. Die Bale-Schwestern wollten auch in die Kirche.«

»Wir erkundigen uns bei allen. Wir setzen Leute ein«, sagte Ling abwesend. »Eine Woche… Alter Freund, ich glaube, das ist so ungefähr alles, was wir heute tun können. Wir essen am besten eine Kleinigkeit und legen uns schlafen. Morgen«, sagte er mit einem phantomhaften Wiederaufflackern seines gewohnten Optimismus, »werden wir frisch sein und uns richtig ans Werk machen können. Es war eine Katastrophe, den Kopf zu verlieren, aber wir kommen auch ohne ihn aus. Mal sehen, wer weiß von dem Kopf? Wir beide; der Chef aber er ist viel zu stolz, um zu plaudern; und Sir John und dieser Morehen. Nun, die werden auch nicht reden, weil ich ihnen eingeschärft habe, wie wichtig es ist, nichts verlauten zu lassen, und sie mir zugestimmt haben. Ich glaube, am Ende haben wir ihnen richtig leid getan«, sagte er armselig. »Ich denke zwar nicht, daß sich das auf unbestimmte Zeit geheimhalten läßt, mindestens eine Woche lang sollte aber nichts darüber bekannt werden.«

Er hatte jedoch nicht mit Kriminal-Sergeant Crumb gerechnet.

Crumb hatte den Vormittag damit verbracht, mühsam einen Bericht über ein eingeschlagenes Ladenschaufenster zu tippen, aber auch das nur, weil Rankine mit im Zimmer gewesen war. Als Rankine gegangen war, hatte Crumb die Arbeit eingestellt, die Füße auf den Schreibtisch gelegt und sich in ein Mickey Spillane-Taschenbuch vertieft. Das und die Mittagszeit hatten ihn bis drei Uhr angenehm beschäftigt. Drei Uhr war der Zeitpunkt, an dem er nach Hause zu gehen pflegte.

Leider hatte er vergessen, den Spillane mitzunehmen, und als der Abend kam und er behaglich vor einem lodernden Feuer saß, fand er sich ohne Ablenkung. Er hätte fernsehen können, war aber zu geizig, um sich ein Gerät zu kaufen, obwohl er sich durchaus eines hätte leisten können, und auf die Reden seiner Frau achtete er schon lange nicht mehr. Nur Spillane kam in Frage. Murrend stemmte Crumb sich aus seinem Sessel hoch und kehrte zur Polizeistation zurück, wo er kurz vor dem Chief Constable eintraf.

Es dauerte eine Weile, bis er das Buch fand, und er wollte gerade damit wieder gehen, als er in Widgers Büro laute Stimmen hörte. Neugierig ging er auf Zehenspitzen zur Verbindungstür und klebte sein Ohr daran. Und was er hörte, verstand er vollkommen.

Crumb war hoch erfreut. Er nährte einen verzehrenden Haß gegen alle seine Vorgesetzten, vor allem gegen Widger, und es war wunderbar, zu wissen, daß sie so demütigend niedergestreckt worden waren. Er wartete nur noch, bis Widgers Büro endlich leer war, dann eilte er nach Hause und erzählte unter häufigem Schmatzen und Schenkelschlagen seiner Frau die Sache. Dann widmete er sich seiner Kost von Sex und Sadismus, noch immer in Abständen glucksend, und seine Frau, die wußte, daß vor dem Zubettgehen nichts mehr aus ihm herauszuholen sein würde, verließ die Wohnung, um bei einer Nachbarin eine Tasse Tee zu trinken.

Mrs. Crumb war eine eingefleischte Klatschbase, und es wäre zuviel verlangt gewesen, zu erwarten, daß sie der Nachbarin nicht anvertrauen würde, was sie gehört hatte. Die Nachbarin erzählte es einer anderen Nachbarin, und diese wieder einer anderen. Die Neuigkeit verbreitete sich wie Feuer in ausgedörrtem Farn.

Bis zur Wochenmitte wußte praktisch jedermann in Glazebridge und Landkreis, daß Widger und Ling den Kopf verloren hatten.