6. Kapitel

Schicksal, Zeit, Gelegenheit, Zufall und Wandel

 

Ab mit seinem Kopf soviel für Buckingham.

Colley Cibber,

Shakespeares >Richard III.<, verbessert

 

 

1

 

Wiewohl nicht groß, war das Wahrsagerzelt verhältnismäßig reich geschmückt; die Verwendung von Bogenlinien an Dach und Klappe und die kompliziert dornige Kreuzblume ließ an Heidnisches während der Kreuzzüge denken. Es trug die Bezeichnung MADAME SOSOSTRIS, BERÜHMTE WAHRSAGERIN. Ein zweites Schild teilte lakonisch mit: FREI. Fen drehte es um, so daß es BESETZT! NICHT EINTRETEN! DAS GILT AUCH FÜR SIE! lautete.

Er ging hinein.

Das Innere war düster beleuchtet von einer uralten Sturmlaterne auf einer alten Trittleiter in der hinteren rechten Ecke. Der Schirm der Laterne mußte defekt sein, da sie stark flackerte und erschreckende Schatten an die Zeltwände warf. Auf einem wackligen ovalen Tisch mit Sengspuren von Zigaretten und Bierglasringen lagen Spielkarten, ein Totenschädel, eine Kristallkugel, eine auseinanderfallende, ausgestopfte Eidechse und eine Packung von zehn >Guards<. Hinter dem Tisch saß der Pfarrer; sein Bombasinkleid hatte er durch eine Perücke und einen seltsamen Hut mit undurchdringlichem Schleier ergänzt. Vor dem Tisch stand ein Stuhl für Kunden. In der Ecke gegenüber der Sturmlaterne erzeugte ein verfärbtes Rokoko-Weihrauchfaß, offenbar aus Silber, Mengen von Weihrauch und dickem, schwarzem Rauch.

Fen stolperte über die Krickettasche des Pfarrers, die ein gedämpft klirrendes Geräusch von sich gab.

»Vorsicht, verdammt!« sagte der Pfarrer. Dann kippte seine Stimme plötzlich ins Falsett über. »Ich meine, Vorsicht, verdammt«, sagte er in Soprantönen.

»Guter Gott«, murmelte Fen.

»Nimm Platz, Fremder«, sagte der Pfarrer, immer noch im Falsett. »Bei Sebek, Tagd, Ler und Sokk-mini« heulte er, »bei Bile, Zerpanitu, Muul-lil, Ubargisi, Ubilulu, sag, Fremder, was führt dich hierher?«

»Ich bin gekommen, um Hilfe zu erbitten«, gab Fen zurück.

»Bei Astarte, Gasan-abzu… Hören Sie, wenn Sie nicht ernst bleiben, hat es gar keinen Sinn, daß ich weitermache«, sagte der Pfarrer im normalen Ton gereizt.

»Sind diese Namen echt?«

»Natürlich sind sie echt. Als ich an der Sorbonne war, habe ich vergleichende Religionsgeschichte studiert. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich die Stimme senke?«

»Wäre froh darüber.«

»Es ist für die Kehle schmerzhaft.«

»Kann ich mir denken«, sagte Fen. »Und hätten Sie etwas dagegen, sich auch zu entschleiern?«

»Wenn ich Ihnen damit einen Gefallen erweise«, sagte der Pfarrer und erwies ihn. »Scheußliches Zeug, Schleier. Man bekommt kaum Luft. Und wenn man gähnt, zieht er sich durch die Saugwirkung in den Mund. Also, was möchten Sie wissen?«

»Die Zukunft.«

»Sehr wohl.« Der Pfarrer streckte seine große braune Hand aus. »Rücken Sie mit einem Obolus heraus.« Fen gab ihm ein FünfzigPence-Stück. »Das ist nicht viel«, sagte der Pfarrer.

»Ich zahle Erfolgshonorar.«

»Tun Sie das? Nun, also…« Der Pfarrer legte der Reihe nach ein paar Karten auf den Tisch und starrte zuerst sie, dann die Kristallkugel an. »Ich sehe Sie ein Buch schreiben«, sagte er.

»Richtig.«

»Ich sehe Sie ein seltsames Gericht aus Schweinehirn, Rindfleisch, Kräutern und Gewürzen machen.«

»Auch richtig.«

»Ich sehe Sie eine lange Reise in ein heißes Land machen«, erklärte der Pfarrer orakelhaft. »Hüten Sie sich vor einer unerwarteten Arbeit. Hüten Sie sich vor einem alten Mann.«

»Klingt eher nach Padmore«, sagte Fen. »Was glauben Sie, wer Routh umgebracht hat?«

»Irgendein Wohltäter.«

»Hagberd?«

»Hier, nehmen Sie eine Guards.« Der Pfarrer schob ihm die Packung hin. Sie zündeten sich beide Zigaretten an. »Hagberd? Nein. Ich meine, vermutlich nicht.«

»Wer dann?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und wer ist Mavis Trent?«

»Ah, Mavis Trent.« Der Pfarrer begann bedächtig ein Kartenhaus zu bauen. »Mavis Trent ist tot.«

Fen wartete.

»Vor sechs Monaten gestorben«, sagte der Pfarrer.

Fen wartete weiter.

»Stürzte«, sagte der Pfarrer. »Oder wurde möglicherweise gestoßen.«

Es blieb still, während er das zweite Stockwerk des Kartenhauses errichtete.

»Noch ein Verbrechen?« fragte Fen schließlich.

»Könnte sein.« Während die Zigarette mitten aus seinem Mandrillgesicht ragte, begann der Pfarrer mit schnellen Bewegungen an der dritten Etage des Kartenhauses zu bauen. Das Weihrauchfaß dampfte, die Laternenflamme flackerte, die Kristallkugel leuchtete in Abständen auf. »Könnte sein«, sagte der Pfarrer noch einmal. »Wie ich erfuhr, hat die Polizei sich schließlich für einen Unfall entschieden was auch das Urteil bei der gerichtlichen Voruntersuchung war. Aber man hatte seine Zweifel.«

»Wovon sprach der Junge? Haben Sie eine Ahnung?«

»Scorer? Ja, ich werde Scorer ausquetschen müssen, wenn die Sache hier vorbei ist«, sagte der Pfarrer. »Er läßt sich zum Glück leicht erschrecken. Möchte wissen, ob er Doc Mason gefunden hat.«

»Ja, ich glaube, das hat er.«

»Im Grunde fehlt ihm gar nichts… Nein, um auf das zu kommen, was er gemeint hat: Ich habe keine Ahnung.« Er hatte genug von dem Kartenhaus, ließ die Hand herabfallen und drückte es platt. »Erpressung, auch das noch… Aber er hat offenkundig nicht phantasiert.«

»Nein.«

»Das war etwas, das ihm wirklich zugestoßen ist.«

»Ja… Sagen Sie, warum nennen Sie sich Madame Sosostris, berühmte Wahrsagerin?«

»Das war der Major. Er hat das vorgeschlagen.«

»Aha.«

»Früher war ich Gypsy Rose Lee, aber eine Änderung erschien mir schließlich angebracht. Wieso?« fragte der Pfarrer argwöhnisch. »Was stimmt denn nicht an Madame Sosostris, berühmte Wahrsagerin?«

»Alles stimmt. Es ist nur aus einem Gedicht, das ist alles.«

»Aus einem Gedicht?« Der Pfarrer verriet stärksten Abscheu. »Gedicht! Erst neulich«, vertraute er Fen an, »hat der Major mich dazu gebracht, irgendein Gedicht zu lesen, über jemanden, der in eine Kirche geht und irische Sixpence spendet. Als wären nicht schon genug ausländische Münzen in den Opferstöcken. Lassen Sie mich nur den Hals dieses Dichters zwischen die Finger bekommen«, sagte er düster, »und ich werde ihm was six-pencen.«

»Die nicht anerkannten Gesetzgeber der Welt«, sagte Fen.

»Nicht anerkannte Gesetzgeber, die nicht anerkannte Gesetze am laufenden Band produzieren«, sagte der Pfarrer. »Wollen Sie noch mehr über Ihre Zukunft wissen?«

»Nein. Ich will etwas über Mavis Trent wissen.«

»Kein Grund, warum Sie das nicht erfahren sollten. Aber Sie werden noch einen Obolus entrichten müssen.«

»In den Zeitungsarchiven erfahre ich das umsonst.«

»Kommen Sie, kommen Sie, Sie sind doch kein Geizhals, oder?« Mit einigem Widerstreben überreichte Fen ihm noch ein FünfzigPence-Stück. »Sie dürfen aber meine Zeit nicht zu lange in Anspruch nehmen«, mahnte der Pfarrer. »Sehen Sie nach, wie viele schon anstehen ja?«

Fen stand gehorsam auf, ging zur Zeltklappe und schaute hinaus.

»Niemand ist da«, meldete er bei der Rückkehr.

»Meine Pfarrkinder sind ein Haufen alter Knicker«, sagte der Pfarrer grollend. »Also, nun, Mavis Trent. Eine Witwe. Um die Vierzig, sah aber jünger aus. Sehr blondes Haar gefärbt und eines von diesen attraktiven schelmischen Gesichtern, nicht eigentlich hübsch, geschweige denn schön, aber auf irgendeine Weise sehr anziehend; es heiterte einen schon auf, wenn man sie nur sah. Hübsche Figur und gut gekleidet einfache, gutgeschnittene Sachen, nichts Knalliges. Ihr Mann starb ziemlich jung an Leukämie, aber zum Glück war er einer von den Leuten mit Versicherungsmanie, und Mavis bekam so viel Geld, daß sie nicht zu arbeiten brauchte, obwohl sie tatsächlich ziemlich viel machte vorübergehend oder halbtags –, zum Teil, weil sie unter Leuten sein wollte, und zum Teil, weil sie nicht der Typ war, der den ganzen Tag mit den Händen im Schoß herumsaß. Sie leistete auch viel unbezahlte Arbeit, kochte Essen für Pensionäre und half bei Kindern mit, und so weiter.«

»Hört sich an wie ein Muster an Vollkommenheit«, meinte Fen.

»Sie war eine durch und durch nette Frau«, sagte der Pfarrer. »Alle mochten sie. Und die meisten Leute mochten sie auch dann noch, als ihr Mann gestorben war.«

»Was trieb sie denn dann?«

»Männer«, sagte der Pfarrer. »Sie fing plötzlich an, auf Männerjagd zu gehen. So etwas hatte es nicht gegeben, als ihr Mann noch am Leben gewesen war, jedenfalls wußte niemand etwas davon, aber ein paar Monate nach seinem Tod ging es los, und zwar mit Gewalt.«

»Alles gewandelt, völlig gewandelt«, meinte Fen. »Verworfen ein Ding nun entsteht.«

»Wieder ein Gedicht, nehme ich an. Mavis war wohl eine Nymphomanin, aber sie so zu nennen, erweckt einen falschen Eindruck. Sie schien nie zu flirten oder zu liebäugeln und dergleichen. Aber das brauchte sie auch nicht, oder jedenfalls nicht auffällig: sie war einfach von Natur aus fröhlich sexy, mit einer Art angeborener, spontaner Verlockung, die einem sehr stark das Gefühl verlieh, mit ihr Liebe zu machen würde ein reines Vergnügen ganz ohne Komplikationen sein. So war es auch vermute ich jedenfalls. Verdammt, ich war von dem Mädchen selbst ganz eingenommen. Nicht, daß ich sie geheiratet hätte, versteht sich (sie schien übrigens an einer zweiten Ehe nicht interessiert zu sein), und da ich Geistlicher bin und diesen häufigen Partnerwechsel ohnehin gar nicht billige, kam eine Affäre nicht in Frage (außerdem kann man nicht richtig fit bleiben, wenn man dauernd in der Gegend herumliebt). Trotzdem hatte ich den Eindruck, daß es ihr nichts ausgemacht hätte, mich zeitweise zu schnappen«, sagte der Pfarrer mit offenkundiger Befriedigung. »Sie sehen also, daß sie nicht gerade das war, was man wählerisch nennt.

Und das war eigentlich das Hauptproblem. Natürlich gab es Aufregungen wegen Ehemännern, wenn auch nicht so viele, wie man erwartet hätte, und auch nicht so schlimme, wie man befürchten mußte. Wo Mavis beteiligt war, schienen die betroffenen Frauen auf irgendeine Weise halb gelähmt zu sein; sie waren wütend, aber, aus rätselhaften Gründen, nicht auf Mavis; sie war so gerade und offen in allem, daß das die Leute einfach zu hypnotisieren schien. Abgesehen davon überdauerte kein einziger Mann bei Mavis mehr als eine oder zwei Wochen; und darüber hinaus schien es Mavis’ Männern nie etwas auszumachen, daß sie abserviert wurden; sie akzeptierten das einfach so, wie man akzeptiert, daß man nichts mehr essen will, wenn man eben zu Tisch war.« Der Pfarrer rieb sich versonnen die Nase. »Mavis sah wirklich sexy aus«, fügte er hinzu. »Aber ich habe mich manchmal gefragt, ob das arme Mädel im Bett vielleicht nicht sehr gut war. Das würde erklären, warum ihre Männer nicht sehr erbost waren, wenn sie sie fallenließ, und es würde auch verständlich machen, warum sie von einem Mann zum nächsten und zum übernächsten wechselte.«

»Auf der Suche nach einem, der sie erwecken konnte, meinen Sie?«

»So ist es. Oberflächlich erschien sie völlig normal und… und erfüllt unbeschwert und glücklich und zufrieden, obwohl sie so aktiv war. Nichts Neurotisches jedenfalls. Aber das könnte eine Täuschung gewesen sein.

Im übrigen ist das jetzt alles eine akademische Frage. Was ich sagen wollte, ist: Es war nicht die gelegentliche Aufregung über anderer Frauen Ehemänner, die manche Leute bei Mavis beunruhigte, als vielmehr die Tatsache, daß sie so hoffnungslos unwählerisch war. Manche ihrer Männer waren in Ordnung, aber es gab andere, die wirklich schreckliche Kerle waren, Lümmel, bei denen man nicht geglaubt hätte, daß Mavis sich tot mit ihnen sehen lassen wollte. Und wie gesagt, es waren ganze Scharen; es war, als wollte Mavis sich für das »Guinness Buch der Rekorde< qualifizieren; und nicht nur Männer aus der Gegend von überall her, sogar bis aus Plymouth und Exeter und London.

Der Grund, warum ich das alles weiß, ist der, daß Mavis nicht im mindesten verschlossen war, was ihr Verhalten anging. Vor allem war da eine Freundin namens Ella Hamilton sie lebt jetzt in Walsall; an sich ein lästiges Wesen, aber Mavis schien sie zu mögen. Jedenfalls erzählte Mavis Ella praktisch alles, nicht immer mit Namen, aber ohne sonst viel für sich zu behalten. Die beiden hielten zusammen wie Pech und Schwefel aber dann machte Mavis Ellas Freund Avancen, Ella nahm Anstoß, und unter anderem kam sie zu mir und kippte einen Eimer Klatsch über Mavis aus. Ich versuchte, das alberne Geschwätz zu unterbinden, doch sie war halb hysterisch, und es gelang mir nicht. Sie stellte sich vor, daß ich gegen Mavis etwas unternehmen, ihr eine Predigt halten sollte, vermute ich.«

»Was Sie nicht taten«, sagte Fen.

»Was ich nicht tat. Hätte auch nichts genützt. Niemand hört heutzutage auf die Geistlichkeit, außer Humanisten, die Bischöfe vom Süd-Ufer willkommen heißen wollen… sagen Sie«, meinte der Pfarrer, »finden Sie es hier nicht ein bißchen stickig?«

»Nicht direkt stickig. Rauchig.«

»Das ist das Weihrauchfaß«, nickte der Pfarrer. »Es hat die Produktion erhöht. Ich unternehme lieber etwas dagegen, sonst ersticken wir alle beide.« Er zog unter seinem Stuhl eine große Ton-Teekanne heraus, ging zum Weihrauchfaß und goß den Inhalt der Kanne hinein. Es gab ein Zischen, der Rauch quoll zunächst stärker, dann schwächer und hörte schließlich ganz auf.

»Interessantes Ding, dieses Rauchfaß«, sagte der Pfarrer, als er die Kanne wegstellte und sich wieder setzte. »Gehörte diesem Esel Dashwood. Ein Verwandter von mir kaufte es, als die Mönche von Medmenham aufgaben. Ich nehme an, sie benutzten es für ihre schwarzen Messen und so weiter, verbrannten Ziegeldung darin oder was weiß ich… Übrigens nehme ich Hut und Perücke ab, wenn es Ihnen nichts ausmacht, mir wird es zu heiß damit. Wo war ich?«

»Bei Ella Hamilton.«

»Ah ja. Nun, Ella hat nichts mehr mit der Sache zu tun sie und Mavis gingen nach dem Zwischenfall mit dem jungen Mann im Bösen auseinander. Ergebnis: Nach dem Streit wußte einen oder zwei Monate lang, bevor sie starb oder umgebracht wurde, niemand so recht, was unsere Mavis trieb. Ella hatte viel über Mavis geplaudert, wissen Sie, und da diese Informationsquelle durch das Zerwürfnis verstopft war, stellten die örtlichen Klatschbasen fest, daß sie nicht mehr viel zum Beißen hatten. Mavis selbst war ganz offen, wie gesagt, aber auf der anderen Seite ist sie nicht bewußt indiskret gewesen, so daß niemand eine Vorstellung davon hatte, mit welchem Mann oder welchen Männern sie in den letzten Wochen ihres Lebens zusammen war. Es gab natürlich die üblichen Gerüchte, aber alle waren sehr vage, sehr widersprüchlich. Die Polizei vernahm buchstäblich Dutzende von Personen, als die gerichtliche Voruntersuchung vorbereitet wurde, doch alles, was sie erntete, waren Wind und Dunst. Bei dem, was sie herausfinden konnte, hätte Mavis ebensogut die Männer ganz aufgegeben haben können.

Nun, es war Mitte März, als es passierte an den genauen Tag kann ich mich nicht erinnern, aber darauf kommt es nicht an. Kennen Sie Hole Bridge?«

Fen kannte sie. Über Hole Bridge bewältigte die Straße von Burraford und Aller nach Glazebridge den Burr. 1572 aus Graugranit erbaut, besaß die Brücke eine einspurige, auf beiden Seiten mit V-förmigen Buchten ausgestattete Fahrbahn. In den Buchten konnten Fußgänger Zuflucht suchen, wenn rollender Verkehr sich näherte. Der Burr war hier breit: breit, seicht und schnellfließend, mit einem Gewirr von großen Steinen unter der Oberfläche.

»Ja, ich kenne sie«, sagte Fen.

»Nun, da hat man sie gefunden«, erklärte der Pfarrer. »Ein alter Narr namens Meiklejohn, ein pensionierter Buchhalter, lebt in Hole in dem rosaroten Häuschen mit der Bushaltestelle vor der Tür. Er machte einen Morgenspaziergang. Als erstes sah er Mavis’ kleinen weißen Sprite, auf dem alten Abstellgleis geparkt. Er achtete nicht darauf, ging aber weiter zur Brücke, schaute hinunter, und da lag sie, die arme Seele, auf dem Rücken ausgestreckt auf einem Felsen unmittelbar unter dem V beim Ufer auf der Seite von Glazebridge, wie ein umgekippter Ballen dunklen Stoffs, über den das Wasser hinweggurgelte. Meiklejohn ist ein Feigling oder ein Schwachkopf oder beides er versuchte nicht, zu Mavis hinunterzugelangen und nachzusehen, ob er für sie noch etwas tun konnte, sondern wankte einfach davon und rief die Polizei an. Wie sich herausstellte, hätte er aber gar nichts für sie tun können. Sie war seit Stunden tot.

Ein Nachbar hatte den Sprite am vergangenen Abend gegen elf Uhr von Mavis’ Haus wegfahren hören, man konnte also durchaus annehmen, daß sie ein Stelldichein an der Brücke hatte; das war der Grund, weshalb die Polizei so viel Wert darauf legte, zu erfahren, wer ihr damaliger Freund war. Aber was geschah, nachdem sie die Brücke erreicht hatte? War es ein Unfall? Sie wissen, wie niedrig die Brüstung ist; sie reicht einem kaum bis zum Zwickel; wenn Sie mit dem Rücken dort stehen und aus irgendeinem Grund das Gleichgewicht verlieren, könnten Sie im Nu hinunterkippen. Es ist ein langer Sturz, und das Wasser ist über dem Felsen zu seicht, um den Sturz abzufangen, Sie würden mit voller Wucht auf den Felsen krachen.

Die harmloseste Möglichkeit war also die, daß Mavis die Brücke vor ihrem Freund erreichte und aus irgendeinem Anlaß hinunterfiel. Dann kommt der Freund, bemerkt sie unter der Brücke nicht in dieser Nacht war Vollmond, aber auf der anderen Seite herrschte auch starke Bewölkung –, kommt endlich zu dem Schluß, daß sie ihn versetzt hat, und fährt davon, ohne eine Ahnung zu haben, daß etwas nicht in Ordnung ist.«

»Hätte er nicht Mavis Trents abgestelltes Auto gesehen?«

»Nicht, wenn er aus Glazebridge kam und auf der Brücke geblieben war, ohne weiter auf der Straße nach Hole und Aller und Burraford zu fahren. Das Abstellgleis ist von der Brücke aus nicht zu sehen. Meiklejohn hat das Fahrzeug bemerkt, weil er aus der anderen Richtung kam.«

»Verstehe.«

»Das ist also das eine, was geschehen sein könnte«, sagte der Pfarrer. »Mavis war durchaus nicht der Typ, unvorsichtig oder schwindlig zu werden oder von einer Brücke zu stürzen, aber es könnte so gewesen sein. Allerdings gab es vier Dinge Hinweise, wenn Sie wollen die auf die Möglichkeit einer Gewalttat hindeuteten.

Erstens ist Mavis, nachdem sie abgestürzt oder hinuntergestoßen worden war, nicht sofort gestorben, wie die Ärzte sagen. Sie hat vermutlich noch eine halbe Stunde oder länger gelebt. Sie hätte ertrinken können über der Felsplatte, auf die sie stürzte, stehen gute sechzig Zentimeter Wasser – oder sie könnte sich den Schädel eingeschlagen haben und so umgekommen sein; aber woran sie der Obduktion zufolge wirklich starb, waren innere Blutungen, und das nahm einige Zeit in Anspruch. Ihr rechter Arm war unverletzt, und man nahm an, daß sie sich damit hochgehoben und den Kopf über Wasser gehalten hat. Viel mehr kann sie nicht getan haben, um sich zu helfen, die arme Seele zu schwer verletzt; sie litt, wie sich ergab, an Osteoporose, Knochenerweichung, und es gab enorm viele Brüche, zu viele, als daß sie sich zum Ufer hätte schleppen können. Aber sie hätte rufen können; schwach, vielleicht, ihrer Verletzungen wegen, aber laut genug, um von jedem gehört zu werden, der auf der Brücke stand.«

»Gibt es Häuser in unmittelbarer Nähe der Brücke?« fragte Fen. »Ich kann mich auf Anhieb nicht erinnern.«

»Nein, ganz in der Nähe nichts und der Fluß rauscht natürlich ziemlich laut. Was die Häuser betrifft, so hätte das arme Ding sich die Lunge aus dem Leib schreien können, ohne daß jemand etwas gehört hätte. Aber auf der Brücke wäre es zu hören gewesen, was die Vorstellung eines unschuldigen Freundes, der dort wartete, ohne von einem Unfall etwas zu ahnen, praktisch ausschließt.

Das zweite war, daß die Polizei Spuren fand frisch geknickte Zweige und dergleichen –, die daraus schließen ließen, daß jemand sich durch das Gebüsch von der Brücke zum Wasser gezwängt hatte, auf der Seite, wo Mavis lag. Außerdem fand man am Ufer eine plattgedrückte Stelle im Gras, als hätte dort jemand im Schatten der Brücke gekauert oder gesessen. Man vermutete, daß jemand genau das getan und darauf gewartet haben könnte, bis Mavis starb vielleicht hat er sogar mit ihr gesprochen.«

»Guter Gott«, stieß Fen entsetzt hervor.

»Ja, ganz scheußlich. Die Spuren waren aber nicht sehr eindeutig, und außerdem müssen sie nicht unbedingt mit Mavis’ Tod zusammengehangen haben sie können am Tag vorher entstanden sein. Es war trockenes Wetter, wie jetzt, so daß es nichts so Konkretes wie einen Fußabdruck gab; und man fand keine Zigarettenkippen oder Stoffäden oder dergleichen.

Drittens: Mavis’ Handtasche«, fuhr der Pfarrer fort. »Die Strömung ist an den Ufern nicht stark, so daß man die Tasche nur ungefähr einen Meter von ihr entfernt im Wasser fand. So weit, so gut aber es gab eine Besonderheit. Wußten Sie, daß Fingerabdrücke unter Wasser bestehen bleiben können?«

»Ja.«

»Nun, nach aller Logik hätten also ein paar Fingerabdrücke auf der Tasche sein sollen. Man fand aber keine. Der Griff war eine Art farbige Kordel und hätte keine Abdrücke angenommen, aber es hätten einige auf der Tasche selbst sein müssen, weil die aus glattem Schweinsleder war.«

»Sie könnte das Ding abgeputzt haben, bevor sie zu Hause wegging, und dann nur noch die Kordel berührt haben.«

»Gewiß. Auf der anderen Seite kann es auch sein, daß sie die Tasche vor dem Sturz fallen ließ; dann kann jemand sie aufgehoben, geöffnet, in ihr herumgekramt, sie wieder zugeklappt und abgewischt haben, bevor er sie hinter ihr ins Wasser warf.«

»Ja… Sie hatte also keine Handschuhe bei sich.«

»Man fand keine. Und niemand sah einen Grund, warum ein Mörder sie ihr abgenommen und weggetragen haben sollte.«

»Ja«, sagte Fen noch einmal. Er überlegte, daß, wenn Mavis Trent wirklich ermordet worden war, der Indizienbeweis >Handtasche< besonders interessant war, nicht so sehr, weil der Mörder sie untersucht oder nicht vergessen hatte, sie abzuwischen, sondern aus einem anderen, einem ziemlich naheliegenden Grund, wenn man alles in Betracht zog. Es war so, daß Fen in diesem Augenblick seine erste dunkle Ahnung davon hatte, was sich später als die Wahrheit herausstellen sollte. »Ja, ich verstehe«, sagte er. »Aber mehrdeutig. Wenn Mavis Trent eine elegant gekleidete Frau war, wie Sie sagen, würde sie die Tasche ganz gewiß abgeputzt haben, bevor sie das Haus verließ.«

»Leider ist alles mehrdeutig«, sagte der Pfarrer. »Verdachtsgründe, ja, aber nie etwas Schlüssiges.«

»Sie sagten, es hätte vier Hinweise gegeben. Was war der vierte?«

»Ein Taschentuch. Von Mavis’ Hand fest umklammert. Ich weiß nicht, wie der technische Ausdruck dafür lautet, wenn Tote etwas fest umklammern, aber Sie werden ihn kennen.«

»Leichenstarre.«

»Ich glaube es Ihnen. Jedenfalls war dieses Taschentuch in Mavis’ Hand zusammengeknüllt. Und es war ein Männer-Taschentuch, keinesfalls eines von Mavis.«

»Können Sie sicher sein, daß es nicht ihr gehörte, selbst wenn es ein Männer-Taschentuch war? Frauen haben manchmal Taschentücher für Männer.«

»Ich bin ganz sicher, daß es nicht von ihr war.«

»Steckte ihr eigenes Taschentuch in ihrer Handtasche oder in ihrer Rocktasche?«

»Nein. Sie schien keines dabei zu haben.«

»Also.«

»Was ich mir vorstelle, ist, daß der Mörder, wenn es ihn gegeben hat, wußte, daß sein Taschentuch in Mavis’ Hand in den Fluß geraten war, und er ihr Taschentuch aus ihrer Handtasche nahm und es mitnahm, um den Eindruck zu erwecken, sein Taschentuch sei das ihre.«

»Das sind alles wilde Hypothesen«, betonte Fen.

»Ja, das weiß ich. Ich sage nur, daß Mavis zu gut angezogen war, um mit einem billigen, alten Baumwolltaschentuch eines Mannes zu einer Verabredung zu fahren. Daran hätte sie nie im Leben gedacht. Und wenn das so ist, dann ist ihr von dem Mann, den sie traf, aus irgendeinem Anlaß das Taschentuch gegeben worden.«

»Nicht unbedingt«, sagte Fen. »Frauen borgen sich manchmal von Männern Taschentücher, lassen sie anschließend waschen und geben sie zurück. Mavis Trent könnte das getan haben das Taschentuch mitgenommen haben, um es zurückzugeben, und sie könnte von selbst in den Fluß gestürzt sein, bevor der Besitzer kam.«

»Aber wo war in diesem Fall ihr eigenes Taschentuch? Außerdem war das Taschentuch in Mavis’ Hand ganz zerknittert, ganz zerknüllt, nicht sauber zusammengefaltet, wie es der Fall gewesen wäre, wenn Mavis es frisch gewaschen und gebügelt gehabt hätte.«

Fen seufzte.

»Ja, das ist ein Punkt«, bestätigte er. »Nicht gerade ein Beweis, der fürs Hängen reicht, aber ganz gewiß paßt es nicht zur Unfalltheorie, vor allem im Zusammenhang mit den drei anderen Hinweisen nicht, die Sie erwähnt haben. Die Polizei hat wohl versucht, herauszufinden, wem das Taschentuch gehörte?«

»Ja, aber ohne Erfolg. Sie konnte nicht einmal den Hersteller ermitteln, geschweige denn den Einzelhändler; wie gesagt, es war ein billiges, alltägliches Ding. Widger von der Polizei sagte bei der gerichtlichen Voruntersuchung, es stamme entweder aus dem Ausland, oder der Hersteller sei schon vor Jahren pleite gegangen.«

»Keine Initialen? Kein Wäschereietikett?«

»Weder noch. Alles, was die Fachleute sagen konnten, war, daß es schon ziemlich oft gewaschen worden war. Sie fanden keine bedeutsamen Flecken darauf, weder Blut noch Öl, noch sonst etwas.«

»Das ist natürlich sehr wenig. Trotzdem wundert es mich, daß die Jury bei der gerichtlichen Voruntersuchung auf Unfall entschied. Ich hätte gedacht, daß man sich das Urteil vorbehalten hätte.«

»Ich auch, aber der Coroner war anderer Meinung«, sagte der Pfarrer. »Er meinte, es sei überhaupt kein Mann beteiligt gewesen: Mavis hätte einfach beschlossen, eine Fahrt zu unternehmen und im Mondschein über die Brücke zu laufen; dann sei sie in der V-Bucht mit dem Rücken zur Brüstung stehengeblieben, hätte zum Mond hinaufgeblickt und das Gleichgewicht verloren und sei hinuntergefallen. Er deutete an, daß Mavis nach dem Streit mit Ella Hamilton einen Sinneswandel durchgemacht und beschlossen haben könnte, eine Weile auf Männer zu verzichten; das sah er dadurch bestätigt, daß der Klatsch über sie plötzlich keine Nahrung mehr bekommen hatte. Außerdem wies er darauf hin, daß es zwei Wochen oder länger ziemlich kalt gewesen sei und bei dieser Art von Wetter die Leute sich normalerweise nicht dazu verabredeten, al fresco zu schmusen, Mond hin, Mond her. Was das Taschentuch anging, so sagte er, es hätte fast mit Sicherheit Mavis gehört. Die Handtasche müsse Mavis selbst abgewischt haben. Bei den Spuren im Gebüsch und am Ufer gäbe es keine Veranlassung, sie mit der Tragödie in Zusammenhang zu bringen. Und was Mavis’ Fähigkeit anging, um Hilfe zu rufen, so sagte er, wenn niemand in Hörweite gewesen sei, komme es darauf nicht an. Es klang alles sehr überzeugend, muß ich zugeben.«

»Und die Geschworenen schlossen sich seiner Meinung an.«

»Eine Mehrheit von ihnen, ja. Aber nicht einstimmig. Und hinterher gewann ich den Eindruck, daß diejenigen, welche gegen einen Unfall gestimmt hatten, dieselben waren, die Mavis sehr gut gekannt hatten. Sie glaubten einfach nicht, daß sie die Männer aufgegeben hatte, und auch nicht, daß sie von selbst die Hole Bridge hinuntergestürzt war, und drittens nicht, daß sie mit einem billigen Herrentaschentuch fortgegangen war, selbst allein nicht.«

»Und wie hat die Polizei auf das Urteil reagiert?«

»Ich sprach hinterher mit Widger, und er sagte, er wundere sich. Er hatte mit einem Vorbehalt gerechnet, vielleicht sogar mit einem Mord-Verdikt. Die Akten würden aber nicht geschlossen werden, sagte er und mutmaßlich ist es dabei geblieben, wenngleich ich nichts davon gehört habe, daß inzwischen neue Fakten aufgetaucht sein sollen.«

Fen überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »War sie schwanger?«

»Nein.«

»Und noch etwas: Könnte es Routh gewesen sein, den sie an der Brücke treffen wollte?«

»Psychologisch, fürchte ich, ja.« Untypisch nachdenklich nach seinem langen Vortrag, machte der Pfarrer Fünf-Finger-Übungen auf der Kristallkugel. »Wie ich, glaube ich, erwähnt habe, ließ Mavis sich mit wirklich entsetzlichen Typen ein. Aber Routh war kein Schürzenjäger, wissen Sie. Er äußerte sich sogar verächtlich über die Frauen, und man hatte das Gefühl, das sei echt, nicht vorgetäuscht. Nein, ich würde eher sagen, daß Routh den Frauen feindselig gegenüberstand. Wie Ihnen vermutlich klargeworden ist, war er ein Pervertierter, ein Sadist, der arme, elende, furchtbare Mann. Seine ganze Lust bezog er aus dieser scheußlichen Tierquälerei.

Aber auf jeden Fall haben wir jetzt allen Grund, anzunehmen, daß es nicht Routh war, der Mavis umgebracht hat, ebenso wie allen Grund zu der Vermutung, daß Mavis keinen Unfall hatte, sondern ermordet wurde.«

»Scorer.«

»Genau: Scorer, der etwas davon faselte, jemand habe jemandem gedroht, wegen Mavis Trent zur Polizei zu gehen.«

»Begreift Scorer denn nicht die Bedeutung dessen, was er belauscht hat? Ist ihm nicht klar, daß er zur Polizei gehen müßte?«

»Ich bin ganz sicher, daß er sich darüber klar ist«, sagte der Pfarrer ohne Zögern. »Aber er ist ein Scorer, sehen Sie, das heißt, einer von einem Schwärm schwachköpfiger, unehrlicher, primitiver Leute; trotz großer Konkurrenz gelingt es den Scorers, hier in der Gegend durchaus die unerfreulichste Familie zu sein. Kein Scorer würde, egal, worum es sich handelt, freiwillig zur Polizei gehen. Ein Scorer würde für sich behalten, was er erfahren hat, und herauszufinden versuchen, wie er es zu seinem Vorteil verwenden kann.«

»Reichlich riskant in diesem Fall, würde ich sagen.«

»Außerordentlich riskant. Ich werde Scorer so schnell wie möglich nach Glazebridge zu Widger zerren müssen am besten noch heute abend. Ich hoffe, ich finde ihn. Nachdem er vor uns das alles ausgeplaudert hat, setzt er es sich vielleicht in seinen albernen Kopf, davonzuschleichen und sich zu verstecken. Eigentlich hätte ich ihn ja Luckraft übergeben sollen, aber mit dem ganzen Hin und Her – « Er verstummte plötzlich. »Was, zum Teufel, ist das?« fragte er.

Außerhalb des Zeltes, irgendwo in der Nähe, hatte eine Folge von Lauten den normalen Lärm des Festes übertönt, der bis dahin der unbeachtete Hintergrund ihres Gespräches gewesen war: zuerst das Läuten einer Glocke, dann ein Geräusch, als sause ein Schiffsmast herunter, dann ein Chor weiblicher Schreie, dann eine erregte männliche Stimme, die unverständliche Anweisungen gab, dann ein Krescendo von Stimmen in höchster Erregung, dann das Stampfen hastender Füße. Die Whirlybirds, die sich in den Rumpf von > Yellow Submarine< hineingehackt hatten, stockten, versuchten sich zu fassen, scheiterten und verstummten schließlich ganz; ihre Sprechstimmen, von ihren Singstimmen, außer in der Lautstärke, nicht wesentlich verschieden, konnten über die Verstärker frenetisch, aber unverständlich zirpend, im Zelt vernommen werden.

Der Pfarrer stand empört auf.

»Was, zum Teufel«, rief er dröhnend, »ist denn jetzt da draußen wieder los?«

 

 

2

 

Padmore gehörte zu denen, die es miterlebten. Sein Gespräch mit Clarence Tully hatte einiges zu wünschen übriggelassen, wobei das >einiges< durchaus auf Schwächen seiner Befragungstechnik zurückzuführen war. Jedenfalls hatte sich nichts Neues oder Auffallendes über Routh und Hagberd ergeben. Wie jeder andere außer Mrs. Leeper-Foxe hatte Tully Routh abstoßend gefunden und ihn gemieden. Was Hagberd anging, so schien er stets zu beschäftigt gewesen zu sein, um Zeit dazu zu haben, mit seinem Arbeitgeber mehr als eine oberflächliche Bekanntschaft zu schließen.

»Ich sehe Hagberd einfach nicht, das ist das Problem«, beklagte sich Padmore. »Oder vielmehr, ich sehe ihn schon, aber irgendwie scheine ich ihn nicht zu Papier bringen zu können.«

»Na so was«, sagte Clarence Tully; ob mitfühlend oder höflich überrascht, ließ sich nicht sagen.

Padmore verabschiedete sich von ihm und stürzte sich wieder in das Vergnügen. Nach einiger Zeit stand er mit Dermot McCartney, dem farbigen Eröffner des Festes, an der Schießbude. Sie ballerten beide einige Zeit erfolglos herum und begannen dann über Afrika zu diskutieren, unter besonderer Berücksichtigung der Republik Obervolta, aus der Dermot McCartney im Alter von drei Jahren nach England gekommen war und wo Padmore einmal sechs peinvolle Wochen verbracht hatte, um für seine Zeitung Material zu sammeln.

»Mein Volk besteht in der Hauptsache aus Tölpeln«, beruhigte ihn Dermot McCartney. »Aus Tölpeln oder Barbaren oder beiden zusammen.«

»Gehören Sie zu den Mossi?«

»Ja, wie ich leider sagen muß. Ein besonders abstoßender Stamm, die Mossi, selbst für Afrikaner.«

Broderick Thouless schlenderte heran, seine >Fleischwolf-Menschen<-Partitur in einer Hand, in der anderen diverse Erwerbungen, die zusammengebunden waren in einem Wollschal. Er befand sich in Begleitung des Majors, der jetzt den Whippet an einer Leine mitführte.

»Ich möchte die Kraftmaschine ausprobieren«, erklärte Thouless.

»Sind Sie dafür nicht etwas klein, mein Lieber?« sagte der Major, nicht ganz mit seinem gewohnten Takt. »Bei diesen Apparaten kommt es auf brutale Kraft an, nicht wahr.«

»Ich mag klein sein«, erwiderte Thouless, »aber ich habe Muskeln… Wohlgemerkt, diese Geräte werden auf irgendeine Weise präpariert«, fügte er hinzu, »damit der Kunde kaum je gewinnen kann. Wenn ich keinen Erfolg habe, wird also das der Grund sein. Wenn die Maschine präpariert ist, werde ich nicht gewinnen.«

»Pleonasmus«, sagte der Major.

»Ich bin wirklich zu klein«, lachte Dermot McCartney.

»Ich auch«, nickte der Major.

»Ich bin groß genug«, sagte Padmore, »aber schlaff. Die Nahrung in Afrika besteht fast ausschließlich aus Kohlehydraten, also ist das eigentlich kein Wunder.«

Sie entfernten sich zu viert von der Schießbude und gingen auf die östliche Seite der Wiese, wo sie zwischen umdrängten Ständen und vollen Zelten dahinschlenderten und endlich vor der Kraftmaschine stehenblieben.

Padmore, Dermot McCartney und der Major sahen jedoch, daß ihnen nicht beschieden sein würde, Thouless im Moment sich selbst übertreffen zu sehen. (Oder, wie sich herausstellen sollte, überhaupt jemals.) Die Maschine war gerade von Ortrud Youings mit Beschlag belegt worden.

Es war ein massives Gerät von konventioneller Ausführung. Man hieb mit einem langstieligen Hammer auf eine Metallplatte im Bodenkasten, betätigte damit ein Werk aus Federn, Zahnrädern und Hebeln, das ein Bleigewicht in einem mit einer Skala versehenen Schlitz in der hohen Mittelsäule hinauftrieb; wenn man Glück hatte, traf das Gewicht die Glocke ganz oben, und man erhielt einen Preis eine Stoffpuppe oder eine Teekanne aus Metall oder zwanzig Players oder einen psychedelischen Luftballon.

Die Maschine befand sich im Besitz eines dicken, in Jahren weit fortgeschrittenen Schaustellers namens Arthur, der danebenstand, wohlwollend hin und her schwankte und den Hals einer fast geleerten Whiskyflasche aus einer Tasche seines Regenmantels ragen ließ.

»Kommt und seht euch die kleine Dame an!« brüllte er heiser, ungeachtet der Tatsache, daß Ortrud so groß, wenn auch nicht so dick war, wie er selbst. »Anteil nehmen! Anteil nehmen! Kommt und seht die kleine Dame die Glocke treffen!«

Ortrud Youings hatte ihre Jacke ausgezogen und sie ihrem Mann gegeben, der mit einem liebeskranken Feixen auf seinem sonst nicht unintelligenten Gesicht danebenstand; die Zuschauer sahen die Muskeln an Ortruds glatten, weißen Armen sich wölben, als sie den Hammer wog. Sie packte ihn fest mit beiden Händen, schwang ihn langsam über ihre rechte Schulter und wieder nach vorn und blitzschnell und mit kolossaler Kraft auf die Metallplatte hinunter.

Die ganze Maschine schien bei dem Aufprall zu wanken. Die Platte krachte auf den Bodenkasten, die Zahnräder knirschten, und das Bleigewicht schoß im Schlitz hinauf wie ein Geschoß. Die Glocke wurde mit einem klirrenden Schlag getroffen, der für kurze Zeit sogar die Whirlybirds übertönte. Aber das war noch nicht alles. Obwohl zur Zeit der Jahrhundertwende solide aus Mahagoni gebaut, war das Gerät seither durch Jahrzehnte harten Gebrauches und fortschreitender Verwitterung geschwächt worden. In der Säule knapp unter dem Scheitelpunkt der Glocke hatte sich ein Querriß gebildet. Durch Ortrud Youings gewaltigen Schlag überfordert, weitete sich dieser Riß jetzt schnell, und mit einem knirschenden Splittern von Holz, unter einem Getöse von Kreischen, Ächzen und Warnschreien knickte die Spitze der Säule und brach ab. Samt Glocke stürzte sie abwärts, streifte den Besitzer Arthur am Kopf und schleuderte ihn zu Boden, wo er betäubt liegenblieb, aus einer Wunde in der Kopfhaut über dem rechten Ohr stark blutend.

Der augenblicklich entstehende Aufruhr hob eine einzelne, eher schreckliche Ungereimtheit hervor: Das Schicksal des bedauernswerten Arthur völlig mißachtend für das sie, wenn auch unabsichtlich, schließlich verantwortlich war –, ließ Ortrud Youings den Hammer fallen, verschränkte ihre Hände hoch über dem Kopf, schwenkte sie hin und her wie ein siegreicher Preisboxer und schrie: »Juchhe! Juchhe!«, während sie auf den Stand mit den Preisen zuging, wo sie eine Teekanne ergriff und diese zu schwenken begann. In seiner Zuneigung durch Ortruds gräßliches Verhalten vorübergehend beeinträchtigt, ergriff ihr Mann ohne Sanftheit seine Frau und zerrte sie von den zahlreichen Leuten fort, die sich inzwischen um den niedergestreckten Arthur drängten, um Hilfe anzubieten.

»Doc Mason!« schrie ein Mann. »Jemand soll Doc Mason suchen!«

»Ist schon fort!« brüllte ein anderer. »Hab’ ihn vor nich’ mal zehn Minuten wegfahren seh’n!«

»Dann holt den Sanitätskasten!«

Während zwei Jugendliche davonhasteten, hob Dermot McCartney, der sich auf ein Knie niedergelassen hatte, den Kopf des Verletzten ein paar Zentimeter hoch und betastete vorsichtig die Wunde. Arthur regte sich; er stöhnte; er versuchte sich aufzusetzen; er war auf jeden Fall nicht tot.

»Er wird wieder«, sagte Dermot McCartney zu den Umstehenden.

»Wir holen trotzdem besser den Arzt«, meinte der Major. »Wenn er direkt heimgefahren ist, müßte er schon erreichbar sein. Thouless, lieber Freund, würden Sie ihn von meiner Wohnung aus anrufen? Sie sind schneller als ich. Die Tür steht offen, und die Nummer finden Sie auf dem Block neben dem Telefon. Lassen Sie aber Sal nicht hinaus, sonst gibt es noch mehr Opfer.«

Thouless nickte gewichtig und schritt auf das Haus zu. Als er am Wahrsager-Zelt vorbeikam, trat der Pfarrer mit seiner Krickettasche heraus, gefolgt von Fen.

Die beiden jungen Männer waren inzwischen an ihrem Ziel angelangt, dem Botticelli-Zelt; unterwegs hatten sie den Neugierigen, die herbeiströmten, kurze Erläuterungen zugerufen. Das Schild am Botticelli-Zelt zeigte FREI. Titty Bale saß immer noch am Empfang, und Luckraft, der seinen Sturzhelm aufgesetzt hatte, saß ihr noch immer gegenüber.

»Sanitätskasten«, sagte einer der Hulland-Zwillinge keuchend.

»Unfall gewesen«, sagte der andere.

»Einer am Kopf getroffen«, sagte der erste.

»Blutet ganz stark ins Gras«, sagte der zweite.

»Du lieber Gott, du lieber Gott«, sagte Titty Bale stirnrunzelnd. Weder sie noch ihre Schwester Tatty (die mutmaßlich noch immer treue Wacht hinter dem Zelt hielt), hatten je so ganz die im Laufe der Jahre entstandene Gewohnheit gebilligt, hinter dem schwarzen Samt, an der das Gemälde hing, alles mögliche zu deponieren. »Zum Glück meditiert im Augenblick gerade niemand. Trotzdem werde ich mit dem lieben Herrn Pfarrer darüber reden müssen. Es ist ganz unsinnig, den Sanitätskasten hier aufzubewahren, und ich werde ihm das auch sagen… Nein, nein, ihr zwei bleibt draußen. Ich hole ihn.« Sie stand auf und ging in das Zelt, während die beiden Hullands Luckraft einweihten.

Es verging Zeit nur zwei Minuten, aber für die Hullands schien das (wie es auch wirklich war) unnötig lange zu sein. Dann kam Titty Bale aus dem Zelt heraus. Sie hatte keinen Verbandskasten bei sich. Mehr noch, sie ging ganz langsam und sah bleich aus.

Als man sie fragend anstarrte, sagte sie mühsam: »Luckraft, da ist ein Mann.«

»Ein Mann, Miß Bale?«

»Ja. Er ist tot.«

»Tot?«

»Ja, tot. Und, Luckraft, es ist wieder passiert«, sagte Titty Bale schwach. Sie ging zurück zu ihrem Stuhl und sank auf ihm zusammen. »Hagberd ist eingesperrt, aber es ist wieder passiert.«

Sie starrten sie wortlos an.

»Der Mann ist nicht nur tot«, sagte Titty Bale mit überaus großer Sorgfalt. »Er ist auch… verstümmelt worden. Das heißt, er das heißt, jemand hat ihm den Kopf abgetrennt.«

In ihrem Klappsessel zusammengebrochen, fügte sie hinzu: »Übrigens ist er vollkommen nackt. Auf der Suche nach dem Verbandskasten hob ich ein Segeltuch oder so etwas hoch und da lag er, so nackt wie bei seiner Geburt.«

Luckraft schoß erschrocken hoch.

»Das muß sehr schlimm für Sie gewesen sein, Miß Titania«, sagte er.

»Die Nacktheit? Pah!« Luckrafts Sorge um ihre altjüngferliche Empfindsamkeit erweckte Miß Bales Mut teilweise wieder zum Leben. »Unsinn, Luckraft, Unsinn! Lassen Sie sich von mir sagen, daß ich zu meiner Zeit sehr viele nackte Männer gesehen habe.«

»Oh, haben Sie das, Miß Titania?« erwiderte Luckraft schwach.

»Ja. Ich darf sagen, daß ich mehr nackte Männer gesehen habe als Sie warme Mahlzeiten.«

Luckraft verlagerte sein Gewicht vom linken auf den rechten Fuß.

»Du meine Güte«, war alles, was ihm einfiel.

»Es gibt nichts nichts, Luckraft – , was ich über nackte Männer nicht weiß.«

»Nein, sicher, Miß Titania. Ich wollte nur – «

»Krankendienst, Luckraft, Krankendienst. Fast zwanzig Jahre lang habe ich Menschen gepflegt, als ich noch jünger war, und das macht man nicht, ohne alles zu wissen, was es über nackte Männer zu wissen gibt. Verstehen Sie, Luckraft?«

»Ja, Miß Titania, gewiß.« Luckraft straffte seine Schultern. »Wenn Sie mich jetzt – «

»Ja, aber seien Sie vorsichtig, Luckraft.« Tittys kurze Belebung schien schon wieder zu erlahmen; sie begann nervös an ihren wirren grauen Haaren zu zupfen. »Dort ist das Böse.«

»Gewiß, Miß Titania. Und es ist meine Aufgabe – «

»Nein, nein, Luckraft, Sie verstehen mich falsch. Der Mord ist böse, ja. Die Verstümmelung ist böse, gewiß. Aber was noch schwerer wiegt, ist, daß beides in Gegenwart oder praktisch in Gegenwart des Botticelli geschehen ist.«

»Und Sie glauben, das – «

»Das halte ich für das Böseste von allem. Es ist Entweihung, Luckraft ENTWEIHUNG. Es ist die Sünde, die nicht vergeben wird.«

»Ich werde natürlich daran denken, Miss Titania. Und jetzt-«

»Ich glaube, es wird vielleicht sogar erforderlich sein, den lieben Herrn Bischof zu bitten, daß er das Gemälde neu weiht«, sagte Titty.

Luckraft verdrehte die Augen. Er erinnerte sich vielleicht daran, daß der hochwürdige Bischof zu dieser Aufgabe schon beim erstenmal wenig Neigung aufgebracht hatte und sich nun wohl kaum darüber freuen würde, erneut dazu aufgerufen zu werden. Luckraft bemerkte, aus diesen Überlegungen auftauchend, daß Titty Bale ihn erwartungsvoll ansah.

»Na, stehen Sie nicht herum wie ein Klotz, Luckraft«, sagte sie. »Gehen Sie hinein und ermitteln sie, oder was Sie da so tun.«

Ruckhaft, wie ein mechanisches Spielzeug, das zu stark aufgezogen worden ist, schnellte Luckraft auf die Zeltklappe zu und verschwand im Inneren.

 

 

3

 

Zwei Stunden später nach sechs Uhr kam Fen endlich nach Hause ins Heim der Dickinsons.

Nach einer kurzen persönlichen Besichtigung hatte Luckraft die Hulland-Zwillinge als Bewachung zurückgelassen, den Major gesucht und um Erlaubnis gebeten, das Telefon in dessen Wohnung benutzen zu dürfen. Dort war er Thouless begegnet, der Dr. Mason erreicht hatte. Luckraft hatte dann, sich die Cockerhündin des Majors mit wohlgezielten Tritten vom Leibe haltend, die Polizeistation in Glazebridge angerufen, ihr die neue, im Botticelli-Zelt verübte Ungeheuerlichkeit geschildert und um Anweisungen ersucht.

Diese lauteten, daß er sich am Tor aufzustellen habe, wo er Fragen abwehren und die Leute am Fortgehen hindern müsse; letztere Vorsichtsmaßnahme erschien allen, Luckraft eingeschlossen, als sinnlos, da man die Rasenfläche verlassen konnte, indem man sich einfach unter einem Drahtzaun aus zwei Strängen hindurchzwängte. Im allgemeinen zeigten die Besucher des Festes aber mehr Neigung, zu verweilen als das Weite zu suchen. Dank Titty Bale verbreitete sich die Nachricht von dem neuen Mord Burrafords zweitem in zwei Monaten wie Feuer an einem windigen Tag in trockenem Heidekraut, und fast alle wollten unbedingt bleiben und mehr erfahren. Inzwischen sahen sich, sehr zum Arger des Pfarrers, die Stände und Schaubuden verlassen, und selbst das Bierzelt hatte sich geleert. Was Arthur anging, so war sein Mißgeschick mit der Kraftmaschine völlig überschattet worden; nur noch von wenigen umstanden, blieb er fast unbeachtet im Gras liegen, atmete schwer und preßte ein Taschentuch an den Kopf, um die Blutung zu stillen.

Seine Verletzung sei, wie Dr. Mason nach seinem Eintreffen erklärte, kein Anlaß zur Sorge, wenn er nur möglichst bald nach Hause führe, sich hinlege und sich eine Weile von der Flasche fernhielte; beruhigt durch diese Mitteilung, stand Arthur schwankend auf und torkelte zu einem Stuhl, wo er blinzelnd und brummend in abklingender Verwirrung saß, während er abgetupft und verbunden wurde. Dann klappte Dr. Mason seine Tasche zu, wechselte ein paar Worte mit Luckraft und schlenderte gemächlich zum Botticelli-Zelt, um die Ankunft der polizeilichen Verstärkung aus Glazebridge zu erwarten.

Diese traf zehn Minuten später am Schauplatz ein; sie bestand aus Kriminalinspektor Widger, zwei Constables in Uniform und Kriminal-Constable Rankine, der die Fahrt mit einer Liste verschiedener Hypothesen über die zu erwartende Situation kurzweilig gestaltet hatte.

»Siebtens«, sagte er, als das Polizeiauto über die Wiese holperte, »ist das Verbrechen von Hagberd begangen worden, der aus Rampton entflohen ist. Aber bei dieser Theorie können wir Einwände erkennen. Sie sind dreifacher Art. Erstens ist Hagberd vermutlich nicht aus Rampton entflohen, sonst hätten wir davon gehört.«

Der Wagen hielt. Widger stand auf und ging zu Luckraft, um sich kurz mit ihm zu besprechen. Erfreut darüber, für Rankine eine gleichzeitig mühsame und nutzlose Tätigkeit zu finden, stellte er ihn und einen der uniformierten Beamten am Eingang auf, mit der Anweisung, die Namen und Adressen der sich entfernenden Leute aufzunehmen und nur solche anzuhalten, die blutbefleckt oder im erkennbaren Besitz von gefährlichen Waffen seien. Dann ging er mit Luckraft und dem anderen Constable über den Rasen zu Dr. Mason im Botticelli-Zelt.

Ihres Wachdienstes entbunden, trieben die Hulland-Zwillinge sich in der Zelthälfte herum, wo das Gemälde hing, und konnten dadurch einen Teil von Dr. Masons Vorbericht mithören. Die Leiche sei schon geraume Zeit tot, sagte Dr. Mason, mindestens zwölf Stunden, vermutlich sogar länger; der Kopf (der wie bei Routh fortgeschafft worden war) sei ziemlich bald nach dem Tode abgetrennt worden; der abgetrennte linke Arm dagegen (der offenbar auch fehlte), sei viel später abgeschnitten worden, vielleicht innerhalb der letzten ein, zwei Stunden, und das unvollkommene Abhacken des rechten Armes und des rechten Beines liege auch nur ebenso lange zurück. Erregt durch diese Mitteilungen, brachen die Hullands in Ausrufe von Befriedigung und Überraschung aus, woraufhin sie entdeckt und hinausgetrieben wurden zu der Menge, die draußen durcheinanderwogte. Ihre Nachrichten die sie rasch verbreiteten, um weit und breit neue frissons zu erzeugen erwiesen sich aber praktisch als die letzten konkreten Neuigkeiten, die der Nachmittag hervorbringen sollte. Nach einiger Zeit entfernte sich Dr. Mason, und das Telefon des Majors wurde erneut mit Beschlag belegt, diesmal von Widger, der, so ging das Gerücht, beschlossen hatte, vom County Headquarters Hilfe zu erbitten. Aber sonst ergab sich wenig, und nach etwa einer Stunde begannen die Leute sich zu langweilen und das Feld zu räumen. Manche harrten grimmig aus und vertrieben sich die Zeit in den Bier- und Teezelten, das Geschäft ging nur schlecht, und die Begierde, Hunde und Mädchenbeine zu zeigen oder zu betrachten, hatte so stark nachgelassen, daß am Ende beide Wettbewerbe abgesetzt werden mußten.

»Kleinmütiger Haufen«, sagte der Pfarrer, noch immer eine bizarre, wenn auch unnütze Gestalt der Bedrohung im schwarzen Bombasinkleid seiner Großmutter. Er schwang seine Krickettasche und rief bei Pater Hattrick einen kleinen Schreckensruf hervor, der zusammen mit Dermot McCartney gerade als Publikum für seine Empörung diente. »Pfunde entgehen uns, Pfunde.«

»Weiß schon jemand, wer der Unglückliche ist?« fragte Pater Hattrick.

»Offenbar nicht«, erwiderte der Pfarrer. »Die Hullands haben an ihm nichts gesehen, was sie erkennen konnten, ebensowenig Titty Bale. Luckraft übrigens auch nicht so viel konnte ich aus ihm herausbekommen. Möchte annehmen, daß er überhaupt nicht aus der Gegend ist. Heute nachmittag waren viele Fremde hier.« Fen schlenderte zusammen mit Padmore heran.

»Wir gehen«, sagte er.

»Schwach«, erklärte der Pfarrer. »Sie haben nicht zufällig irgendwo Scorer gesehen?«

»Nein.«

»Dann hat er sich wohl dünngemacht«, meinte der Pfarrer düster. »Noch mehr Arger. Und wo ist mein Bankmensch? Er sollte längst hier sein.«

»Es scheint jedenfalls nicht viel Sinn zu haben, wenn ich mich hier herumtreibe«, sagte Padmore. »Ich habe kurz mit Widger gesprochen, und die Polizei wird sich nicht äußern, bis die Leute vom County hiergewesen sind. Kann ich jemanden mitnehmen?«

»Ich hätte nichts dagegen«, sagte Fen, »bei dem ganzen Zeug, das ich zu schleppen habe.«

»Na gut. Gehen wir.«

»Enthauptung«, sagte Dermot McCartney. »Die Itsekeri in Nigeria sind einmal notorische Enthaupter gewesen. Heutzutage erdrosseln sie die Leute bloß noch.«

»Enthauptung«, sagte Pater Hattrick. »Eine barbarische Angelegenheit… >Ich gehe von einer vergänglichen zu einer unvergänglichen Krone<«, murmelte er, »>wo keine Unruhe sein kann, auf der ganzen Welt keine Unruhe.<«

»Sie und Ihr Kopf von König Karl«, sagte der Pfarrer.

Wieder zurück im Haus der Dickinsons, nach dem Getümmel beim Fest eingehüllt in Frieden, bedachte Fen ohne Vergnügen die nächste Aufgabe, die ihn erwartete; obschon gewöhnlich intuitiven Vorahnungen nicht ausgesetzt, war er jetzt gewiß davon belastet.

Ich kann aber ebensogut warten, dachte er, bis Padmore mit dem Telefonieren fertig ist.

Fen saß im Wohnzimmer. Padmore war in der großen Küche, seine Dose Erbsen auf dem Telefontisch vor sich. Er knabberte einen Abernethy-Keks, schlürfte Pink Gin und diktierte einem Redaktionsmitglied der >Gazette< in London einen Bericht über die Ereignisse des Tages.

Fen hatte das Gefühl, daß er reizbar wurde. Er starrte durch das Wohnzimmerfenster auf den Rasen, wo die Schildkröte Ellis in einer Reihe von immer enger werdenden Kreisen langsam dahinkroch; in der Nähe von Ellis lag Kater Stripey ausgestreckt auf der Seite und hieb gelegentlich mit seiner Pfote nach einem vorbeifliegenden Insekt; hinter dem schönen Paar waren eine Hecke, die steinige Einfahrt, ein alter Schuppen, der als Garage diente, eine Gruppe gemischter Bäume, ein Feld, eine Ecke von Thouless’ Haus, eine Kante des Pissers und seiner kreuz und quer verlaufenden Mastenreihen, eine Ecke von Aller House.

Eine Fliege lief mühsam an einer der kleinen Fensterscheiben hinauf, verlor den Halt und fiel tot auf das Fensterbrett.

Fen spielte leise ein paar wahllose Töne auf dem Klavier der Dickinsons. Er griff nach einem Band Angus Wilsons, starrte einige Sekunden auf den dicken, braunen Einband und legte ihn wieder weg.

»Spark, Muriel«, sagte er. Eine Idee begann am Grund seines Denkens schwach zu zischen wie Sprudelaspirin in einem Glas Wasser. »Die Verwendung der Ellipse in Mrs. Sparks Frühwerken«, intonierte er, »verleiht ihrer Erzählweise Muster, die über ihre innere Formgebung hinaus im Leser manchmal im Leser manchmal im Leser manchmal die Frage aufwerfen, ob ihn sein Verstand im Stich läßt.« Nein, das ging doch wohl kaum.

Die Telefonglocke klirrte leise, als Padmore auflegte. Seufzend nahm Fen seinen eigenen Pink Gin vom Chippendale-Stil-Tisch, schickte Muriel Spark mit dem Versprechen nach Hause, sich morgen um sie zu kümmern, und ging in die Küche.

»Das wäre das«, sagte Padmore. »Aber du meine Güte, ist das nicht alles zum Verzweifeln, ist das nicht alles einfach grauenhaft? Denn jetzt sieht es so aus, als hätte Hagberd Routh gar nicht ermordet.«

»Ach, ich weiß nicht, wissen Sie«, sagte Fen. »Es ist zu früh, solche Schlußfolgerungen zu ziehen.«

Padmores Miene hellte sich ein wenig auf.

»Sie meinen, es könnte eine Anschlusstat sein? Ja, das wäre möglich. Ah, nun, hoffen wir es, hoffen wir es inbrünstig… Übrigens habe ich ein R-Gespräch geführt, aber heutzutage muß man selbst dann zehn Pence zahlen, also hier sind zehn Pence.«

»O danke«, sagte Fen zerstreut. »Was ich mich eigentlich frage, ist, ob Sie nicht vielleicht Ihre Zeitung gleich noch einmal anrufen müssen?«

»Wieso denn das? Ist Ihnen noch etwas eingefallen?«

Und Fen seufzte wieder.

»Vielleicht«, sagte er und stellte sein Glas auf den Sims über dem Rayburn-Kamin. »Ja, das könnte durchaus sein. Warten Sie noch einen Augenblick, ja?« Er ging geduckt in die Spülküche, nahm seinen Schweinskopf-Sack vom Kühlschrank, löste die dicke Schnur und zog einen schweren, kugelförmigen Gegenstand heraus, der in viele Blätter >Daily Mail< eingewickelt war.

»Keine Schnauze«, sagte er resigniert.

»Was?« rief Padmore aus der Küche.

»Ich sagte: keine Schnauze.«

Unter Seufzen löste Fen die Zeitungsblätter ab, um zu entdecken, daß seine Intuition recht gehabt hatte. Die Haare waren größtenteils ausgerissen, die Augen fehlten, und die anderen Züge waren bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Aber was er hatte was er, so schien es, den halben Vormittag durch die Gegend getragen hatte war unzweifelhaft der Kopf eines Menschen, nicht eines Schweines.