3. Kapitel
Verschieden des Lebens Wege, in
einem sie enden, den wir wandern
ganz einsam; und >Ist er dahin?<
sagen auch beste Freunde nur zu den andern.
Walter Savage Landor
>Wisdom of Life and Death<
1
Als er den Weg hinaufging, zu Youings’ Schweinefarm und seinem eigenen Haus, hörte Fen wieder Musik.
Um genau zu sein, das, was er hörte, war nicht so sehr Musik als Geräusche. Die Geräusche wurden erzeugt von Broderick Thouless auf dem Klavier in seinem Gartenhaus, wo er arbeitete.
Komponisten von Filmmusik werden nicht weniger auf Rollen festgelegt als Schauspieler und Schauspielerinnen. Der Zufall wirft sie in die Arbeit an einem Film, der besonderen Erfolg hat, und in der Folge ziehen Produzenten sie Jahr für Jahr mechanisch für weitere Filme derselben Art heran, ohne Rücksicht darauf, ob sie etwas Erwägenswertes zum Erfolg des Streifens beigetragen haben oder nicht. Das hat das Ergebnis, daß einer sein Arbeitsleben in einem ewigen Seestück verbringt, ein anderer Trompetengewimmer für Leute schreibt, die aus Schlammbädern auftauchen, in die sie in komischer Weise hineingefallen sind, ein dritter elektronische Piepslaute produziert für nackte Liebesszenen, und so weiter.
Seit über einem Jahrzehnt hatte sich Broderick Thouless nun schon grollend auf Monster spezialisiert.
Für ihn hatte die Rollenfestlegung mit einem intellektuellen Horrorfilm des Namens >Knochengarten< begonnen, einer Prestige-Produktion, die gegen jede Wahrscheinlichkeit einen Gewinn von über einer Viertelmillion Pfund eingespielt hatte. Von Natur und Neigung her ein sanfter romantischer Komponist, dessen persönlicher Stil von Saint-Saens oder Chaminade als mäßig progressiv bewertet worden wäre, hatte Thouless sich auf die Aufgabe, die >Knochengarten<-Partitur herzustellen, wie ein Berserker-Kaninchen gestürzt, das einen Tiger umzustoßen versucht. Durch die Überkompensation seiner instinktiven Lieblichkeit hatte er seinem Orchester derart grauenhafte Töne zu entlocken vermocht, daß man ihm sofort unterstellte, er besitze eine besondere Begabung für Dissonanzen, wenn er sie nicht gar heftig liebe. Seither hatte er sich demzufolge drei- oder viermal im Jahr mit durch Herzen getriebenen Holzpflöcken beschäftigt gefunden, mit wandernden Mumien, riesigen Tausendfüßlern, die sich im Westminster herumtrieben, und ähnlichen düsteren Dingen. Das hatte ihm ziemlich viel Geld eingebracht, ohne jedoch sein schon etwas grämliches, zum Jammern neigendes Naturell zu beleben. Ein Junggeselle von sechsundvierzig Jahren, existierte er in einer Atmosphäre chronischer Verzagtheit. Er beklagte sein vergeudetes Leben, verschiedene wirkliche oder eingebildete Defekte in dem luxuriösen großen Bungalow, den er sich gebaut hatte, die Schnecken in seinen Erbsen, seine beginnende Stirnglatze, die Steuern, die Unmöglichkeit, ordentliches Brot geliefert zu bekommen, den Pfarrer, Düsenflugzeuge, die Verschlechterung des Geschmacks von Plymouth Gin (»Das ist jetzt ein Kornschnaps, wissen Sie«) und eine ganze Reihe von Schmerzen und Beschwerden, die zum Teil eingebildet, zum Teil die unausweichliche Folge von übermäßigem Rauchen, einer sitzenden Lebensweise, leichter Fettleibigkeit, des Nicht-mehr-Jungseins waren. Trotz seiner Wehklagen war er in der Umgebung recht beliebt, vielleicht, weil seine depressiven Phasen gelegentlich von manischen abgelöst wurden, in denen er ein amüsanter Gesellschafter sein konnte. Die Tatsache, daß er ledig war, wurde in der Gegend durch die Theorie erklärt, daß er bei seinen Besuchen in Filmstudios Nachwuchsstars verführte, eine Gattung, von der niemand ahnte, daß es sie gar nicht mehr gab.
Die Monster-Musik verwandelte sich plötzlich in die letzten beiden Takte von >Pop Goes the Weasel< und hörte ganz auf. Thouless erschien in der Tür seines Gartenhauses, entdeckte Fen hinter der Hecke und winkte.
»Kommen Sie rein und trinken Sie was!« rief er. »Die Aufnahmen sind erst am Montag in einer Woche, und der einzige Abschnitt, den ich noch machen muß, ist der, wo sie es mit einer Wasserstoffbombe nicht töten können.
Obwohl nur der Himmel weiß, warum sie dazu Musik haben wollen«, fuhr er fort und trat an die Hecke. Er war klein und beleibt, mit zerzausten Haaren und Bifokal-Hornbrille, und wie die meisten Männer, die sich die Belastung erspart haben, Frau und Familie ernähren zu müssen, sah er jünger aus als seine Jahre. »Die Spur mit den Toneffekten wird so laut sein, daß von diesem Teil keiner einen Ton hören wird, das kann ich Ihnen sagen. Immerhin, gut für die Aufführungsrechte, nehme ich an, das heißt, wenn sie das drinlassen, was sie vermutlich nicht tun werden. Und die Aufführungsrechte sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Wissen sie, wie viele Kinos jedes Jahr in diesem Land zumachen? Es sind Hunderte. Ich bin bei einer sterbenden Industrie tätig, abgesehen vom Zeug für das Fernsehen, und die Pop-Jungs haben das alles übernommen, Granier und Konsorten. Ich sollte versuchen, etwas Neues zu machen, aber ich bin nicht mehr jung genug, ich habe die Anpassungsfähigkeit nicht mehr. Am Ende werde ich den Bungalow wohl verkaufen müssen, und selbst dann werde ich nur annähernd das für ihn bekommen, was er mich gekostet hat, vor allem, wenn man die irren Honorare bedenkt, die mir Architekt und Bauaufsicht abgenommen haben, und das Geld, das ich für den Garten ausgeben mußte.«
Fen sagte, es tue ihm leid, er könne im Augenblick nicht auf einen Drink hereinkommen.
Thouless nickte düster, ein vollgestopftes Nadelkissen für die Pfeile des Lebens, in das soeben unfassbarer weise noch eine Nadel erfolgreich hineingestoßen worden war. Er starrte Fens Sack an.
»Ist das Ihr Schweinskopf?« fragte er, und als Fen es zugegeben hatte: »Sülze, ich habe Sülze nie gemocht. Versuchen Sie, sie nicht zu stark zu salzen, sonst ist das wie eine Welle im Mund, wenn man schwimmt. Ich muß gehen und mir etwas zu essen suchen, wenn im Haus etwas ist, das man hinunterbringt. Schauen Sie doch mal bei mir vorbei, es scheint mich kein Mensch mehr zu besuchen. Gehen Sie heute nachmittag zum Fest?«
»O ja, ich denke schon.«
»Radio Drei hat Regen gemeldet«, sagte Thouless. Plötzlich zog er aus der Hosentasche eine Handvoll zerknüllter Pfundnoten, die er Fen über die Hecke hinhielt. »Könnten Sie vielleicht für mich etwas kaufen? Beim Fest, meine ich.«
»Gehen Sie denn nicht selbst hin?«
»Ja, aber das kann ich einfach nicht kaufen. Es ist meine Partitur für >Die Fleischwolf-Menschen<. Ich habe sie mit einer Menge anderen Gerümpels für den Verkauf am Pfarrstand hergegeben.«
»Und jetzt wollen Sie sie wiederhaben?«
»Guter Gott. nein. Es ist nur so, daß niemand, der bei Verstand ist, einen Penny dafür bieten wird, und wenn sie übrigbleibt, wird sie eine Peinlichkeit darstellen, so nehme ich jedenfalls an.«
»Aber doch nicht für den Pfarrer.«
»Nein, zugegeben, für den Pfarrer nicht, aber es wird nicht er sein, sondern die arme alte Miß Andacht, die so menschenscheu ist; sie fällt beinahe in Ohnmacht, sobald sie irgend jemanden sieht. Ich bin sicher, sie würde sich lieber aufhängen, als sich mit dem Gedanken abzufinden, mir die Partitur zurückzubringen, also muß sie auf irgendeine Weise weg.«
»Es würde mir nichts ausmachen, sie selbst zu kaufen«, sagte Fen.
»Doch, doch, glauben Sie mir«, beteuerte Thouless, auf einmal ganz fröhlich. »Furchtbares Zeug, Sie haben solchen Lärm noch nie gehört. Wie durch ein Wunder gab es etwas Musik zum Küssen, aber bis ich soweit kam, hatte ich so viele Morde hinter mir, daß sie dann genauso klang. Döh-anngU rief er durch die Nase, gestopfte Sforzato-Hörner nachahmend. »Und dann örg, skörg«, fuhr er fort, möglicherweise bemüht, Ponticello-Saiten zu vermitteln. »Und dann kam eine Stelle, wo ich Jimmy dazu brachte, das Xylophon auf die Seite zu legen und auf den Resonanzkörpern Tremolos zu spielen unaussprechlich war das. Ich kann mich nicht erinnern, je etwas Scheußlicheres gemacht zu haben, außer den grauenhaften jammernden Geigenflageoletts in >Das Ding<.«
»Also gut, dann erwerbe ich für Sie die Partitur«, sagte Fen nachgiebig.
»Danke. Und jetzt gehe ich wohl besser ins Haus und schreibe eine kleine Trostmusik, bevor ich esse«, sagte Thouless. Trostmusik war sein Gegenmittel für die Filme; das derzeitige Beispiel war die Vertonung von Gedichten aus >A Child’s Garden of Verses<. »Was macht Ihre Gesundheit zur Zeit?« fügte er hinzu, als hätte Fen bei ihm eine Lebensversicherung beantragt. »Gut?«
»Ja, sehr gut, danke. Und die Ihre?«
»Mittelmäßig«, sagte Thouless. »Aber es ist mir wohl schon schlechter gegangen, wenn ich mich auch nicht erinnern kann, wann. Dann sehen wir uns am Nachmittag.«
»Wir sehen uns am Nachmittag«, bestätigte Fen und ging die Straße hinauf, bis er Youings’ gut geführte Schweinefarm erreichte.
2
Im Hof vor dem Haus unterhielt Youings sich mit einer riesenhaften Zuchtsau. Er war ein schwerer, großer blonder Mann, ungefähr vierzig Jahre alt, mit frischem Gesicht. Er hatte sich zusammengekauert und sprach mit der Sau fast Nase an Nase.
»‘allo, Kleine«, sagte er mit seinem milden Devon-Akzent zärtlich zu ihr. »Wie geht’s dir denn WILF? Du komisches kleines Ding, du.«
Das gewaltige Wesen grunzte und schwankte zufrieden, während seine Zitzen wie fleckige Puddings schwabbelten.
»Wilfreda, nicht?« sagte Fen. Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, daß die Zuchtsäue im West Country oft dieselben Namen wie die hochgeborenen Damen in Thomas Hardys Werken trugen; zum Beispiel besaß Youings noch eine, die Eusalie gerufen wurde. »Hübsches Tier«, fügte Fen mit vorgetäuschter Kennerschaft hinzu.
»Ah, Morgen, Professor«, sagte Youings und richtete sich auf. »Ja, ein richtiger kleiner Wildfang ist das.« Er wies mit dem Kinn auf Fens Sack. »Und das ist Mutter Clotworthys Kopf?«
Fen nickte und dachte sich, daß sein Sülze-Unternehmen in Burraford und Umgebung als eine Art Großereignis bekannt geworden zu sein schien, auf gleicher Stufe wie das Jagdtreffen am nächsten Samstag bei >The Stanbury Arms< oder die Amateur-Theatervorstellung im Kirchensaal am Samstag darauf. Gewiß, die Umstände, die dazu geführt hatten, waren selbst für das breite Land ein wenig ungewöhnlich. Da Mrs. Clotworthy bei ihren Freunden und Nachbarn beliebt war, hatte man sich zusammengetan, um ihr zum fünfundsiebzigsten Geburtstag etwas Besonderes zu bieten, wobei man sich etwas im Rahmen eines Tagesausflugs mit dem Schiff nach Guernsey vorstellte; auf Rückfrage hatte Mrs. Clotworthy jedoch ohne Zögern erklärt, was ihr am liebsten wäre, nämlich ein schönes Schwein schlachten zu lassen, und das gesammelte Geld war deshalb dazu verwendet worden, ihr eines zu kaufen. Mrs. Clotworthys verstorbener Ehemann, der Fleischer, hatte oft zu ihr davon gesprochen, wie sehr er es bedauere, kein Magister zu sein, und als Mrs. Clotworthy hörte, daß Fen einer sei und daß er sich über die Qualität der beim Schweinemetzger in Glazebridge erstandenen Sülze beklagt habe, bestand sie darauf, ihn nicht nur mit einem Rezept für hausgemachte Sülze zu bedenken, sondern auch mit dem Kopf ihres Geburtstagsschweines, um die Sülze daraus zu machen.
»Nicht vergessen, gut salzen«, riet Youings.
Fen sagte, er werde sich gewiß daran halten.
»Ist eines von meinen gewesen«, sagte Youings. Er blickte gerührt auf den Sack. »Hübsches kleines Ding war sie, Tabitha, rosig wie eine Rose.«
Fen ging über diese Abschiedsrede hinweg und begann mit einer Schilderung von Gobbos und Jack Jones’ und des Pfarrers Erinnerungen. Gegen das Ende zu erschien Youings’ Frau Ortrud in der Seitentür des Hauses mit einer Papiertüte. Eine amazonenhafte Frau, fast so groß wie ihr Mann, besaß sie große körperliche Kraft und eine ausdrucksvolle, junonische Figur. (»Dieser Busen, nicht wahr«, hatte der Major einmal gesagt, eher fassungslos als bewundernd. »Wundersam verwirrend Fleischkolben.«) Ihr ausdrucksloser nordischer Kopf kombinierte schwarze Brauen mit käsefarbenem Haar, das am Hinterkopf zu einem komplizierten Knoten zusammengebunden war (wie blasse Würmer, mitten in einer Orgie erstarrt).
»Komm zu mir, Liebchen«, sagte sie, offenbar Wilfreda ansprechend. »Süße Sachen.« Sie beachtete Fen nicht; die gewöhnlichen Höflichkeiten des Lebens waren ihr fremd.
Wilfreda hörte auf, hin- und herzuschwanken und schwankte statt dessen vor und zurück. Auf diese Weise erlangte sie genug Vorwärtsschwung, um ihre Füße in Bewegung zu setzen. Sie wankte auf Ortrud zu und wurde aus der Papiertüte mit einer Handvoll Zuckersachen nach der anderen gefüttert. Vor der sich daraus ergebenden Geräuschkulisse von Schnauben und Knirschen beendete Fen seinen Vortrag, während Youings dastand und konzentriert die Stirn runzelte.
Dann begann Youings zu sprechen. Er tat es leise, vermutlich, um zu vermeiden, daß die Empfindsamkeit seiner Frau durch Bezugnahme auf die makabren Ereignisse von vor acht Wochen behelligt wurde. Da Wilfredas Malmen eine ideale akustische Ablenkung darstellte und Ortrud ohnehin praktisch außer Hörweite war, stellte das eine unnötige Vorsichtsmaßnahme dar. Aus diesem Grund jedoch, und weil er in der neunten Glückseligkeit, nichts zu erwarten, versunken war, begriff Fen zunächst nicht, was zu ihm gesagt wurde, und mußte deshalb um Wiederholung bitten. Als er sie geliefert bekam, wurde er aufmerksam, denn was Youings behauptete, lief auf eine uneingeschränkte Widerlegung all dessen hinaus, was Gobbo erklärt hatte. Kurz, wo immer sonst Hagberd zu der Zeit gewesen sein mochte, in der Routh in dem Wäldchen bei Bawdeys Meadow den Schädel eingeschlagen bekam, er hatte, so versicherte Youings, nicht vor >The Stanbury Arms< mit Gobbo gesprochen.
Es war so: Die Abkürzung durch Mrs. Clotworthys Garten von der Chapel Lane aus nehmend, wo er im Laden des Ortes einen hausgeräucherten Schinken abgeliefert hatte, hatte Youings den Pfarrer auf der Straße zum Gasthof vorbeigehen sehen und war ihm in einer Entfernung von etwa dreißig Metern gefolgt, um bei Gobbo, der Ulme und der Pferdebox gerade in dem Augenblick anzukommen, als der Pfarrer um die erste Wegbiegung verschwand. Inzwischen war Gobbo mühsam aufgestanden und machte sich auf den Heimweg zu seinem Abendessen, unwirsch murmelnd und sich das Hinterteil kratzend, als >hätte er einen Haufen Flöhe<, sagte Youings. Und Hagberd sei ganz entschieden nicht dort gewesen. Youings wußte das, weil er stehenblieb, um die Pferdebox zu betrachten, einen neuen Zweiachser, den Clarence Tully eben erst gekauft hatte; und Hagberd könne weder darin noch dahinter, noch hinter der Ulme, noch sonstwo auf dem Parkplatz gewesen sein. Er könne auch nicht unbeobachtet in das Lokal geschlüpft sein, weil dort drei Leute gesessen hätten, während Isobel Jones bedient hätte. Er könne nicht unbeobachtet die Straße überquert haben, selbst wenn dort nichts gewesen sei als eine nackte Mauer. Und schließlich könne er nicht auf die Seite oder hinter den Gasthof gelangt sein, ohne eine andere Mauer hinaufzuklettern oder eine abgesperrte Tür dort aufzubrechen, was ungefähr so wahrscheinlich war, gab Youings Fen zu verstehen, als wäre er in die Luft hinaufgeflogen und hätte sich auf einen Zweig gesetzt. Außerdem, so sagte Youings vernünftig, weshalb hätte Hagberd irgend etwas von dieser Art tun sollen? Zugegeben, er sei im Oberstübchen nicht ganz richtig gewesen, aber wenn man es genau nehme, nur was die Arbeit und Tiere und Routh und Mrs. Leeper-Foxe anging. Und außerdem sei er kein Heimlichtuer gewesen ganz im Gegenteil.
Fen wies darauf hin, daß, wenn Hagberd Routh ermordet habe, er, was die kleine Bust anging, Verstohlenheit an den Tag gelegt hätte.
»Wollte sie eben nicht erschrecken«, meinte Youings.
All das schien im Zusammenhang mit den Angaben der anderen maßgeblich genug zu sein, und Fen fragte sich, warum er nun zum erstenmal widernatürlich dazu neigte, zu glauben, an dem, was Gobbo sagte, sei wirklich etwas dran. Er behielt den Gedanken aber für sich und dankte Youings in der Art eines Menschen, dessen Wollstrang durch einen Vorbeikommenden mit geschickteren Händen freundlicherweise entwirrt worden war. Gleichzeitig schaufelte Ortrud Youings die letzten Zuckersachen in Wilfreda hinein, warf die leere Tüte auf den Boden und drehte sich herum, um ins Haus zu gehen.
»Gleich Mittagessen!« rief sie Youings über die Schulter zu. Obwohl sie schon seit fünfzehn Jahren in England lebte, sprach sie nie Englisch, wenn Deutsch genügte, oder auch wenn das nicht der Fall war.
»Dinner, meint sie«, übersetzte Youings. »Flotte kleine Köchin, meine Ortrud.« Er sah ihr sehnsüchtig nach, als ihr Knoten, der breite Rücken, das kräftige Gesäß und die langen Beine im Haus verschwanden.
Und abgesehen davon, daß sie die Schweine gern hatte, schien Ortrud Youings’ Kochkunst dachte Fen, als er die Straße hinaufging eigentlich das Beste zu sein, was irgend jemand über sie zu sagen vermochte. »Ach du liebe Seele! Diese Ortrud, die führt ihm vielleicht einen schrecklichen Tanz auf!« hatte Mrs. Clotworthy Fen anvertraut, als die Besprechung über Sülze vorübergehend erlahmt war – eine Feststellung, die, mit Ausschmückungen, von allen bestätigt worden war, mit denen Fen über das Thema gesprochen hatte, außer von Thouless, dessen Beschäftigung mit seinen eigenen Problemen es ihm erschwerte, auf die Angelegenheiten anderer Leute zu achten. Youings hatte Ortrud kennengelernt, als er seinen Militärdienst bei der britischen Rheinarmee geleistet hatte. Wie ein williges Pferd war er den Ehe-Reitweg hinaufgeführt worden, nur um festzustellen, daß er nicht nur seines Geldes wegen geheiratet worden war (er besaß außer der Schweinezucht noch ein kleines Kapital), sondern sich auch mit einer Nymphomanin von besonders ärgerlicher Art belastet hatte. Es war schlimm genug, daß Ortrud ständig Affären hatte. Was dem Ganzen die Krone aufsetzte, war, daß sie, statt mit dem jeweiligen Favoriten fortzugehen, wie jede andere Ehefrau es getan hätte, ihn einlud, falls er ledig war, in Youings’ Haus zu wohnen, und Youings es war, der fortging und wochenlang in einer kleinen Wohnung über Clarence Tullys Stallungen hauste, um täglich nach den Schweinen zu sehen. Aber während all dieser häufigen peinlichen Zwischenspiele war Youings’ Anhänglichkeit unerschüttert geblieben. Sie war sogar noch gewachsen. Trauernd vernarrte er sich immer mehr in sie. Die Frauen in der Umgebung, empört über die Vergeudung eines absolut brauchbaren Ehemannes, neigten dazu, Youings’ anscheinend grenzenlose Duldsamkeit zu rügen, aber die Männer waren (zwischen Bemerkungen, daß Ortrud, wenn nicht fortgejagt, so doch auf jeden Fall verprügelt werden sollte ein Unternehmen, das nur wenige von ihnen selbst gewagt hätten) sentimentaler, wobei der Major eine Ausnahme darstellte.
»Der arme dumme Kerl ist nichts als ein Weichling«, sagte der Major streng über Youings.
Der unglückliche Gobbo, von einem Weichling Lügen gestraft.
Trotzdem begann Fen sich jetzt zu fragen, ob an Rouths Ermordung nicht doch mehr war als die bizarren Einzelheiten, die ins Auge gefallen waren.
3
Das Haus der Dickinsons, das Fen gemietet hatte, war aus zwei Reihenhäusern aus dem achtzehnten Jahrhundert gebildet worden, in denen Landarbeiter untergebracht gewesen waren. Vor kurzer Zeit hatte man ein Gebäude daraus gemacht; oben an einer der beiden engen, steilen Treppen waren ein Badezimmer und an der Rückseite eine Spülküche eingebaut worden, so daß dort, wo die Landleute sich einst die Köpfe angerannt hatten, wenn sie hinausstürzten, um zum Plumpsklo zu gelangen, es jetzt die höheren Berufsstände taten, wenn sie zum Abspülen eilten. (Nach zwei solchen Erfahrungen hatte Fen es sich angewöhnt, den Kopf zu senken, sobald er durch irgendeine Tür ging, obwohl alle, bis auf jene zwischen Küche und Spülküche, durchaus hoch genug waren, um ihn aufrecht hindurchzulassen.) An der seitlichen Außenwand des Hauses, neben der modernen Garage, hing eine Gartentelefonglocke ein Klöppel zwischen zwei riesigen brustförmigen Metallkuppeln, deren Gesamteindruck infolge Verwitterung an eine Fruchtbarkeitsgöttin, ausgegraben bei Benin, denken ließ (wegen des schwarzen Bakelitkastens, der aus unerforschlichen Gründen genau über dem Nabel angebracht war, als wertlos verworfen). Das Erdgeschoß bestand aus der Spülküche, der großen Küche mit ihrem Rayburn-Herd, und einem behaglich eingerichteten Wohnzimmer mit Klavier, auf dem Fen Hymnen, Stellen aus >Don Giovanni< und >A Little Sea Picture< von Alex Rowley zu spielen pflegte. Diese Stücke hatte er mit acht Jahren spielen gelernt und aus keinem leicht zu analysierenden Grund nie vergessen; oben gab es neben dem Badezimmer drei Schlafzimmer. Ein schöner, kleiner Garten umgab drei Seiten des Hauses und lief dahinter aus in einen vernachlässigten halben Morgen Gras, Gebüsch, Bäume und, dem Anschein nach, Hasenspuren. Dieser Teil (hatten die Dickinsons Fen aufmunternd erzählt, bevor sie nach Kanada entschwunden waren, wo sie jetzt umherfuhren und für das Associated Board Musikprüfungen vornahmen) dieser Teil des Besitzes bot einen ausgezeichneten Zugang für Einbrecher, die überdies dadurch begünstigt wurden, daß jedes Fenster im Erdgeschoß sofort aufging, wenn eine Mücke es auch nur streifte.
Saubergemacht wurde für Fen dreimal in der Woche vormittags von Mrs. Bragg, einer großen Frau mit karottenrot gefärbten Haaren, die ständig schreiend vor glücklichem Lachen herumlief. Er kochte, wenn man das so nennen konnte, selbst.
Als er die Einfahrt hinaufstapfte (ein Zugang, bestehend aus scharfen, knöchelkippenden Steinen, leicht mit Schlammfiligran überzogen), sah er mißvergnügt, daß Ellis, die Schildkröte, die vor zehn Tagen in den Winterschlaf verfallen war, sich eines anderen besonnen hatte und wieder herausgekommen war, vermutlich des anhaltend sommerlichen Wetters wegen. Außerdem war sie von einem Hund umgeworfen worden, oder aber sie hatte es, was durchaus vorstellbar war, wenn man sie auch nur ein wenig kannte, fertiggebracht, sich ohne Hilfe selbst umzukippen. Jedenfalls lag sie im Rasen auf dem Rücken, den Kopf eingezogen, die Füße langsam in der Luft wedelnd in, wie es Fen erschien, äußerster Erregung. Fen drehte sie in die normale Lage zurück und ging auf dem Rasen herum, um die Blätter von verwelkten Stiefmütterchen zu zupfen und die Schildkröte damit zu füttern. Ellis liebte Stiefmütterchen besonders, aber wie jede andere Nahrung mußten sie ihm leider vorgekaut werden. Er hatte einen Unterbiß, seine Beißflächen paßten nirgends aufeinander; wenn man ihn sich selbst überließ, schlang er und wurde, den Dickinsons zufolge, krank. Fen schätzte Stiefmütterchen nicht besonders. Gleichgültig, welche Farbe sie zuvor hatten, aus seinem Mund kamen sie in Form ordentlicher, zerfranster Kügelchen schwarz heraus, und es dünkte ihn danach stets so, als wären seine Zähne mit einem besonders unangenehm riechenden billigen Gesichtspuder besprüht worden.
Mit zusammengezogenen Brauen malmte Fen gewissenhaft Stiefmütterchen zwischen Zunge und weichem Gaumen, bis Ellis Anzeichen von Sättigung erkennen ließ. Dann ging er hinein, um sich den Mund zu spülen, während Ellis sich auf eine seiner Reisen zur Mauer am Ende des Rasens machte, ein Lieblingsziel von ihm, das ihn durch seine Undurchdringlichkeit aber stets aufs neue erstaunte und erschreckte, sobald er es erreichte.
Fen wollte noch an diesem Abend an die Herstellung der Sülze gehen, entschied er. Inzwischen ließ er, da der kleine Kühlschrank fast ganz mit Rinderkeule gefüllt war, den Schweinskopf-Sack daneben liegen, nahm seine Quasimodo-Haltung an und duckte sich erfolgreich hinein in die Küche. Professor Gervase Fen blieb am Spiegel stehen, aus dem ihm nicht unerwartet sein eigenes Gesicht entgegenblickte. In den fünfzehn Jahren seit seinem letzten Auftreten schien er sich wenig verändert zu haben. Er sah denselben hochgewachsenen, schlanken Körper, dasselbe gerötete, geschrubbt aussehende glattrasierte Gesicht, dieselben blauen Augen, dasselbe braune Haar, mit Wasser unzulänglich hingeklebt, so daß es oben auf dem Kopf stachelartig emporragte. Irgendwo mußte er noch seinen ausgefallenen Hut haben. Gut. Vielleicht dachte er, mochte er sogar den Tag erleben, an dem Romanschriftsteller imstande waren, ihre Figuren mit Hilfe eines anderen Einfalls zu beschreiben, als sie dazu zu bringen, sich in einem Spiegel zu betrachten.
Sein Eintreten in das Wohnzimmer erschütterte die alten Dielenbretter und einen gemischten Stapel von Duffy, Powell und Naipaul, die in verschiedene Richtungen gleichzeitig auseinanderrutschten. Andere britische Nachkriegs-Romanciers, in anderen Stapeln, hielten stand. Auf dem Sofa lag der zweite tierische Schutzbefohlene Fens, ein roter Kater namens Stripey, in tiefem Schlaf. Stripey war am frühen Vormittag erschöpft von einem seiner dreitägigen Streifzüge unter den Katzendamen des Bezirks zurückgekehrt, Expeditionen, die er, so schien es Fen, weniger aus Vergnügen als aus einem vagen, bedrückenden Gefühl sozialer Verantwortung zu unternehmen schien, wie ein reuiger Zuchthäusler, der sich freiwillig medizinischen Forschungszwecken zur Verfügung stellt. Er war der Archetyp des Männlichen, gleichzeitig plump, anmaßend und rührend.
Fen setzte sich zu ihm und ließ seinen Blick über Snow, Mortimer, Manning, Fielding, Murdoch, Golding, Mittelholzer wandern. Er ließ ihn wieder davonwandern. Statt anderer Leute Romane zu kritisieren, wollte er selbst einen schreiben. Er sollte den Titel tragen >Eine Man-Ka<.
Alles, was nun noch blieb, war, einen Einfall für die Handlung zu finden.
Die Kalbfleisch-Schinken-Pastete in >The Stanbury Arms< war der Ersatz für das ausgefallene Frühstück gewesen. Da sie noch nicht verdaut war, hielt sie Fen vom Mittagessen ab. Er beschloß, auf dieses zu verzichten, etwas, das er im Lauf des Nachmittags bereuen würde. Er kam sich vor wie ein Held, der fortwährend viel zu spät auftritt, um eine Reihe von bedrängten Frauen zu retten.
Das Fest begann nicht vor 14.30 Uhr.
Stripey schlummerte weiter, seinen Keimdrüsen Rast gönnend, um bei Anbruch der Dunkelheit wieder für eine neue Runde gemeinsinniger Fortpflanzung gerüstet zu sein. Fen griff seufzend über die Armlehne des Sofas nach einem Stapel >The Western Morning News<, die Ausgaben von zehn Tagen, ausgeliehen vom Major, bislang aber ungelesen. Rouths Ermordung hatte Fens Interesse nicht wecken können, im Gegensatz zu dem des Majors. Als Fen in das Haus der Dickinsons eingezogen war, hatte der Major, eine frühe Bekanntschaft Fens, oft und ausführlich über den Mord gesprochen und viele kleinste Details aufgeführt, von denen Kenntnis zu nehmen offenkundig nicht einmal so eine gute Zeitung wie >The Western Morning News< den Platz gehabt hatte. Obwohl aber das umfassende Lokalkolorit des Majors sich Fens gutem Gedächtnis eingeprägt hatte, war es ihm bisher nicht in den Sinn gekommen, es auszugraben und durchzugehen. Bis jetzt war ihm Rouths Ermordung einfach nicht rätselhaft genug erschienen, um wirklich interessant zu sein.
War sie selbst nach Gobbo rätselhaft?
Das mußte herausgefunden werden.
Während Stripey im Schlaf zuckte und Ellis auf den steinernen Rand der Welt zukroch, machte Fen es sich bequem. Er begann zu lesen, was >The Western Morning News< ihm zu sagen hatte, um deren Tatsachen mit den vom Major geschilderten Einzelheiten zu ergänzen.