7. Kapitel

Omnium-Versammlium

 

Tatsachen, die, wie Mr. Budgell irgendwo erklärt,

etwas sehr Störrisches sind.

Matthew Tindal, >Will of Matthew Tindal<

 

 

1

 

»Wir haben also drei Möglichkeiten.«

»Gewiß doch nur zwei.«

»Ich hätte sagen sollen, vier.« Kriminal-Superintendent Ling vom County Headquarters nahm mit allen Anzeichen der Selbstzufriedenheit seine Pfeife aus dem Mund, drehte sie herum und machte sich daran, sie geräuschvoll an einem großen stahlblauen Zinnaschenbecher auszuklopfen. Kriminalinspektor Widger, selbst Nichtraucher, sah kritisch zu und sann nicht zum erstenmal über die Unhöflichkeit von Pfeifenrauchern nach, die gewöhnlich erwarten, daß jede gesellschaftliche und geschäftliche Verständigung unterbrochen wird, während sie mit ihren ausgehöhlten Bruyere-Klötzen hantieren.

»Zum Theoretisieren ist es aber noch zu früh«, sagte Ling, so als sei es Widger gewesen und nicht er selbst, der sich dialektischer Voreiligkeit schuldig gemacht hatte. »Zuerst die Fakten, dann die Theorien, Induktion, nicht Deduktion.« Er hatte von dieser Unterscheidung vor Jahren in einem Pelican-Buch gelesen und wurde nie müde, sie zu wiederholen.

Widgers Erbitterung wuchs.

»Der Kopf, Eddie«, hielt er ihm vor. »Jetzt, nachdem Sie ihn gesehen haben, sollte er da nicht sofort zu Sir John geschickt werden?«

»Ah, ja, der Kopf«, sagte Ling gewichtig. »Das ist – es – es ist ein – « Aber an diesem Punkt versickerte trotz Widgers eisigem Blick seine Rede: Er begann, frischen Tabak in seinen Pfeifenkopf zu stopfen und hinderte sie dadurch erneut vorübergehend daran, weitersprechen zu können. Und nun blickte Widger entschieden finster. Er funkelte zuerst Ling an; als das seinen Reiz verlor, was sehr schnell der Fall war, funkelte er den Sack mit seinem grausigen Inhalt an, den Ling gerade in eine Ecke des kleinen Büros gegenüber der Tür gelegt hatte; schließlich schaute er erbost zum Fenster hinaus auf die Ringstraße, an der die Polizeistation lag, und betrachtete das etwas fernere Weichbild von Glazebridge selbst, dessen Türme und Gebäude im herbstlichen SonntagnachmittagSonnenschein dunstig erschienen.

»Ein Schlamassel«, sagte Ling. Er hatte seine Pfeife fertig gestopft, sich aber noch nicht damit befaßt, sie anzuzünden. »Hoffen wir, Sir John kann Sir John kann Sir John – « Er kippte im Schreibtischsessel seitwärts, in der Jackentasche nach Streichhölzern suchend. »Hoffen wir, Sir John kann etwas damit anfangen, um ihn identifizierbar zu machen«, schloß er endlich.

»Haben Sie etwas damit anfangen können?« fragte Widger. Lings Untersuchung des Kopfes hatte wegen seines späten Eintreffens bis nach dem Mittagessen abgewartet werden müssen und war gerade jetzt erst abgeschlossen worden.

»Könnte nicht behaupten, daß es viel war. Was den Sack betrifft, so muß es Zehntausende davon geben. Die Schnur ist grobes, alltägliches Zeug. Das Papier bestand aus zwei Exemplaren der >Daily Mail< vom Freitag und Samstag vorletzter Woche, auf den ersten Seiten jeweils mit >Cobbledick< bekritzelt. Wer ist Cobbledick?«

»Ein Gärtnermeister. Wohnt ein, zwei Meilen außerhalb von Burraford.«

Ling starrte zuerst die Streichholzschachtel in seiner rechten Hand, dann die Pfeife in seiner linken ausdruckslos an, als versuche er, in seinen Gedanken eine rationale Verbindung zwischen ihnen herzustellen. Er sagte: »Dieser Stapel alter Zeitungen unter dem ganzen Gerümpel im… im Botticelli-Zelt: Wo zu diente er?«

»Cobbledick brachte sie mit, weil er dachte, sie könnten zum Einwickeln von Ware an den Garten- und Gemüseständen nützlich sein.«

»Aha. Und warum sind sie dann nicht verwendet worden?«

»Das weiß ich nicht. Ich nehme an, die Standbesitzer brachten selbst ihr Papier mit.«

»Haben Sie Gelegenheit gehabt, festzustellen, wann Cobbledick sie mitbrachte?«

»Ja. Am Freitag nachmittag.«

Ling seufzte.

»Sie waren also ganz zufällig da und kamen zufällig gerade recht. Nicht sehr aufschlußreich.«

»Sie nehmen an, daß der Mord Freitag Nacht geschehen ist?«

»Nun, es sieht so aus, nicht? Und der Kopf unmittelbar danach abgetrennt und dann… auf diese schreckliche Weise zugerichtet.« Ling strich ein Zündholz an und hielt es über die Löschunterlage diesmal seinen Äußerungen den Vorrang gewährend bis die Flamme zu seinen Fingern hinunterbrannte und ausgewedelt werden mußte. »Schade, daß die Leiche weggebracht worden ist, bevor ich sie sehen konnte«, meinte er.

Widger unterdrückte mühsam eine neue Aufwallung des Grolls und sagte: »Anordnung vom C. C. Eddie. Ich hatte keine Wahl.«

»Oh, ich werfe Ihnen nichts vor, alter Knabe. Wie Sie schon sagten, keine andere Wahl.«

»Ich hätte den Kopf wohl auch zu Sir John bringen sollen, als er gefunden wurde. Ich war gerade im Begriff, damit wegzugehen, als mich Ihr Anruf erreichte.«

»Es war schwierig für Sie, das ist mir klar«, sagte Ling beschwichtigend. »Ich war nur der Meinung, daß ich nachsehen sollte, das ist alles. Was Ihren Bericht angeht« er tippte auf die Akte vor sich –, »ist er erstklassig.« Er zündete ein zweites Streichholz an. »Ich glaube nicht, daß ich je je – « Diesmal hatte er die Flamme an seinen Pfeifenkopf geführt und sog mit einem knisternden Geräusch den Rauch in seine Lunge, als würden kleine Blasen angestochen.

»Ich mußte ihn ziemlich herunterhauen«, sagte Widger. In Wirklichkeit hatte er Stunden gebraucht. »Er ist etwas lückenhaft.«

»Oh, pf-t, pf-t«, sagte Ling. »Ah, pf-t, pf-t, pf-t.«

»Aber das Wesentliche enthält er.«

»… pf-t, pf-t, pf.« Ling nahm die Pfeife aus dem Mund, feixte sie an und legte sie in den Aschenbecher, wo sie kurz qualmte und dann ausging. Er sagte: »Sie sind sehr umfassend gewesen, alter Knabe. Obwohl ich natürlich noch einmal alles durchgehen muß.«

»Ja, ja, natürlich.«

»Dabei könnte sich etwas Neues ergeben.«

»Ja.«

»Und so, wie ich es sehe, gab es ein, zwei Leute, die Sie nicht haben erreichen können. Diesen jungen Scorer, zum Beispiel. Wenn das, was ihm beim Pfarrer und, ähm, Fen herausgerutscht ist, etwas zu bedeuten hat, könnte seine Aussage entscheidend sein. Sie haben ihn jetzt in sicheren Händen, nehme ich an.«

»Ja, in ganz sicheren. Er ist unten bei den anderen und sie behalten ihn scharf im Auge. Er wird keine Gelegenheit haben, noch einmal zu verschwinden.«

»Was war eigentlich aus ihm geworden?«

Widger schilderte es kurz. Der junge Scorer hatte sich zu Hause eine Decke, etwas Corned beef und Cola geholt und sich für die Nacht in der Glockenkammer der Kirche von Burraford eingerichtet, dabei aber vergessen, daß der folgende Tag ein Sonntag war. Die Glockenläuter, die den Frühgottesdienst einzuläuten hatten, entdeckten ihn daher an diesem Vormittag um halb elf fest schlafend am staubigen Boden. Sie hatten ihn sofort dem Pfarrer übergeben, der ihn für die Dauer des Gottesdienstes in der Sakristei eingeschlossen und dann zur Polizei nach Glazebridge gefahren hatte, wo er Lings Ankunft und die erste Einvernahme aller denkbaren Zeugen erwarten sollte, die vorgesehen war für diesen Nachmittag von Widgers beiden Untergebenen (Kriminal-Constable Rankine und Kriminal-Sergeant Crumb, ein träger, älterer Mann, der nur für Schreibtischarbeit zu gebrauchen war).

»Dieser Scorer hört sich für mich schwachköpfig an«, sagte Ling.

»Schwachköpfig und unehrlich.«

»Ein schwieriger Zeuge.« Ling griff nach seiner Pfeife, sog daran und schnitt eine erstaunte Grimasse, als sie nicht mehr brannte. Er griff wieder nach den Streichhölzern. »Na ja, wir werden ihn ein bißchen erschrecken müssen.«

»Das wird nicht schwer sein.«

»Noch etwas: Ich weiß nicht mehr, ob Sie jemanden haben, der stenografieren kann.«

»Rankine.«

»Nein«, sagte Ling. Er hatte Rankine von den Ermittlungen in Sachen Routh-Hagberd noch deutlich in Erinnerung. »Nein, ich glaube, wir – «

»Wenn er mitschreibt, redet er nicht«, sagte Widger. »Oder er redet jedenfalls nicht so viel.«.

»Im Augenblick mache ich mir nur ein paar Notizen. Rankine kann richtige Protokolle, ähm, später anfertigen. Wo stehen wir jetzt?« Er schaute auf die Uhr. »Fünf vor halb drei«, sagte er. »Wir sollten gleich anfangen können.« Er führte die Flamme an seinen Tabak und begann wieder zu knistern. Widger, durch Mangel an Schlaf immer noch gereizt, schaute zu dem einen Fenster des kleinen Büros hinaus.

Der Parkplatz vor dem Gebäude war dank der zahlreichen Zeugen, die unten warteten, und einer kleinen Armee von Journalisten fast überfüllt. In der Mitte stand ein Übertragungswagen des Fernsehens, angeschlossen war eine Kamera mit summendem Generator; vor der Kamera befand sich ein junger Mann mit den Haaren einer Frau, der mit unnatürlicher Schnelligkeit in ein Mikrofon sprach.

Ein Constable, der Neugierige weiterscheuchte, winkte einen Wagen von der Ringstraße heran: einen glänzenden, weißen Saab, aus dem, als er einen Platz gefunden hatte, die breitgebaute Gestalt von P. C. Luckraft in Zivilkleidung stieg. Widger runzelte die Stirn. Luckraft hatte jedoch, technisch gesprochen, dienstfrei, soweit das unter den obwaltenden Umständen überhaupt für jemanden von ihnen gelten konnte; und was das Auto anging, so hatte Luckrafts Frau ein wenig Vermögen, erinnerte Widger sich undeutlich, und sie war damit nicht knauserig… Der Constable hielt nun einen schwarzen Mercedes an, der von einem Schwarzen gesteuert wurde, und winkte ihn dann weiter: Dermot McCartney, der Science-Fiction-Schriftsteller, der am Vortag das Fest eröffnet hatte. Als einer der Besucher im Botticelli-Zelt mochte auch er etwas zur Sache äußern können…

Widgers Augen brannten. Er stellte fest, daß eine Rauchwolke sein Gesicht einhüllte. Das Knistern hatte aufgehört.

»Der Kopf, Eddie«, sagte Widger zum zweitenmal.

Ling nickte mit Entschiedenheit, so daß seine Pfeife zwischen den Zähnen auf- und abwippte, und streckte die Hand nach dem Telefon aus.

Es läutete.

 

 

2

 

»Sir John Honeybourne? Ja, natürlich, verbinden Sie sofort… Sir John? Hier Superintendent Ling.«

» «

»Wirklich, Sir? Das tut mir leid. Es – «

» «

»Ja, Sir. Verstehe völlig. Nun zum Kopf des Bedauernswerten. Er ist geborgen worden, wie Sie wohl gehört haben, er ist hier, und wir können ihn Ihnen sofort schicken, in – «

»…«

»Können wir nicht, Sir? Aber warum nicht?«

»…….«

»Verstehe. Aber – «

»……….«

»Oh. «

»……….«

»Um sieben Uhr heute abend. Gewiß Sir, wenn Sie das wünschen. Aber geht das in Ordnung? Ich meine, sollten wir ihn vielleicht, ähm, kühlen oder dergleichen? «

»…………………………….«

»Gut, Sir. Ich bin um sieben bei Ihnen. Hat sich inzwischen schon etwas über die Todesursache ergeben? «

»….«

»Gar nichts?«

»…….«

»Vermutlich nicht Gift.«

»…………………………………….«

»Es sei denn, eines der flüchtigen Gifte wie Chloroform«, sagte Ling, hypnotisiert zur Wiederholung. »Sie werden sich das Gehirn ansehen müssen, bevor Sie da sicher sein können… Und die Identität, Sir. Irgendwelche besonderen Merkmale?

«

»……«

»Nichts?«

»……………«

»Eine kleine Warze.«

»«

»Unter dem linken Schlüsselbein. Keine Operationsnarben, keine Brüche?«

»…«

»Der Kopf ist ziemlich stark beschädigt, Sir, aber glauben Sie, Sie könnten ihn bis zu einem gewissen Grad, äh, wiederherstellen, damit wir uns eine Vorstellung über das Aussehen machen können?«

»…«

»Oh, gut. Irgend etwas über Alter, Größe und dergleichen?«

» «

Ling machte sich Notizen auf einem Block. »Ein gut ernährter Mann«, murmelte er, »etwas fettleibig, Alter um Vierzig, Größe etwa einssiebenundachtzig… Sir?«

»…?«

»Was ist mit seinen Händen – der Hand, meine ich?«

Er bedeckte die Muschel mit der Hand und zischte Widger zu: »Früher körperliche Arbeit geleistet, aber nicht in letzter Zeit. Nicht in den letzten Jahren.« Er nahm das Gespräch mit Sir John wieder auf. »Nun, das ist sehr hilfreich, Sir«, erklärte er jovial.

»…«

»Also bis sieben.«

»…«

»Adieu.«

Ling legte auf, sank im Sessel wie erschöpft zurück und sagte zu Widger: »In Wirklichkeit ist es überhaupt nicht hilfreich. Keine Todesursache, keine Hinweise auf die Identität, nichts. Nun ja, vielleicht bringt es uns etwas, wenn er den Kopf sieht.«

»Was hat er über den Kopf gesagt?«

»Er sagte, wenn wir uns nicht darauf setzen oder Fußball damit spielen, würde er von jetzt bis sieben Uhr nicht zu Schaden kommen. Er ist wohl ein wenig exzentrisch.«

»Das kann man wohl sagen«, meinte Widger. »Man wird vermutlich ein bißchen exzentrisch, wenn man sein ganzes Leben lang Leichen aufgeschnitten hat.«

»Wie ist er denn?«

»Sieht selbst wie eine Leiche aus.«

»Das erwartet man eigentlich nicht«, sagte Ling, »nicht bei einem solch warmen, behaglichen Namen.«

»Warum können wir ihm den Kopf nicht vor sieben Uhr bringen?«

»Weil er zu Bett geht.«

»Zu Bett?«

»Ja. Anscheinend hat er sich die ganze Nacht mit dem, ähm, Rumpf beschäftigt. Das ist also nur gerecht«, sagte Ling großzügig. Er setzte eine Brille mit halber Hornfassung auf als wäre plötzlich das Geld ausgegangen und blickte wieder auf die Uhr. »Jetzt können wir also – «

Ein lautes Klopfen unterbrach ihn. Sergeant Connabeer, der diensthabende Beamte von unten, kam herein. Er schwenkte eine mit Schreibmaschine geschriebene Namensliste, die abgehakt war mit Bleistift.

»Sie sind jetzt alle da, Sir«, sagte er. »Der Neger war der letzte.«

»Brav«, nickte Ling. »Alles unter Kontrolle?«

»Ziemlich, Sir obwohl es natürlich ein Gedränge gibt und ich mehr Stühle holen lassen mußte… Die Reporter sind eine Plage. Wir könnten auf sie verzichten.«

»Dann schicken Sie sie fort.«

»Sie reden mit den Zeugen.«

»Dann werfen Sie sie hinaus höflich, versteht sich. Sie haben kein göttliches Recht, hierzusein. Sagen Sie ihnen, ich werde vor Abend nichts bekanntgeben können.«

»Sie sagen, sie hätten Redaktionsschluß.«

»Das geht mich nichts an«, erklärte Ling. »Im Augenblick gibt es keine weiteren Informationen. Ich habe selbst keine«, fügte er wahrheitsgemäß hinzu.

Connabeer dachte nach und fand einen Hoffnungsstrahl.

»Mr. Ticehurst ist jetzt übrigens da«, sagte er. »Sie sind also über ihn hergefallen. Ach ja, und er läßt fragen, ob Sie fünf Minuten für ihn Zeit hätten, bevor Sie anfangen.«

Und Ling seufzte.

»Ich denke schon«, sagte er. »Ja, ich denke schon. Schicken Sie ihn gleich herauf.«

Ticehurst, der vor zwei Jahren im Rang eines Chefinspektors aus dem uniformierten Zweig in den Ruhestand getreten war, diente jetzt dem County als Pressesprecher, wofür er besonderes Talent mitbrachte.

Glatzköpfig, dick und strahlend, watschelte Ticehurst mit einer Ausgabe der >Sunday Gazette< in Widgers Büro. Dank Padmore hatte die >Gazette< einen Knüller bringen können. Während die anderen Sonntagszeitungen von der Leiche im Botticelli-Zelt zu spät erfahren hatten, um noch reagieren zu können, war die >Gazette< in der Lage gewesen, fast die ganze erste Seite neu zu umbrechen. Dort war Padmores Bericht stark verändert erschienen. Er war ausgeschmückt worden mit sieben Druckfehlern, einem verschwommenen Bild von Fen (dem Anschein nach im Alter von fünfzehn Jahren aufgenommen) und einem Tribut an den Verfasser in Form der Autorenzeile >J. G. Podmote<.

»Eddie«, sagte Ticehurst. »Widger. Nun, da scheint ihr wieder mal ein wunderhübsches Verbrechen zu haben«, fuhr er fort. »Wieder ein wirklich wunderhübsches Verbrechen.« Mit Vorsicht ließ er seine massige Gestalt auf einen der wackligen Stühle nieder.

»Wo sind Sie gewesen?«

»Urlaub, mein lieber Junge, Urlaub.« Er wedelte mit der >Gazette< wie mit einem Fächer und wand sich, um einen Flamencotanz anzudeuten. »Im sonnigen Spanien, für meine Wenigkeit ein bißchen zu sonnig. Mag die Hitze nicht. Bin froh, wieder da zu sein. Wo sind Sie übrigens gewesen, Eddie? Wie ich höre, sind Sie erst heute vormittag hier aufgetaucht.«

»London.« Lings Pfeife war wieder ausgegangen, und er drehte sie nun langsam zwischen den Händen wie ein Hühnchen am Bratspieß; bei jeder Drehung fiel Asche auf den Schreibtisch. »Der Met ausgeholfen, im Fall Harding.«

»Ah, das, ja. Gibt es genug Indizien, um ihn festzunehmen?«

»Der Kronanwalt glaubt, nicht. Also versuchen es alle noch einmal.«

»Das hat Sie also aufgehalten.«

»Ja«, sagte Ling. »Der Chef wollte mich hier dabeihaben, weil ein Zusammenhang mit Routh und Hagberd möglich erschien, also machte es ihm nichts aus, zu warten, bis ich heute früh zurückkam. Charles hier war durchaus kompetent, die vorbereitende Arbeit zu leisten.«

Zu seinem Schrecken entdeckte Widger, daß die Müdigkeit ihn zu einem einfältigen Lächeln veranlaßte. Er zog mürrisch die Mundwinkel nach unten, drückte dadurch auf irgendeine Weise Speicheltröpfchen in seine Luftröhre und bekam einen Erstickungsanfall. Durch seine Hustenkrämpfe nahm er Ticehursts flüchtige Verwunderung über diese vielfältige Reaktion auf Lings Worte wahr.

»Ja, nun, versteht sich, natürlich«, sagte Ticehurst, als Widger sich ein wenig beruhigt hatte. »Wann sind Sie hergekommen?«

»Fünf vor zwölf. Charles holte mich am Bahnhof ab, und wir fuhren sofort zu dem, ahm, Jahrmarkt. Dort befindet sich immer noch ein mobiler Einsatzraum, aber er bringt nicht mehr viel. Die Labors haben alles, was relevant erscheint die Zeltleinwand über der Leiche, die Bügelsäge und so weiter… Ich selbst habe bis jetzt, abgesehen vom Kopf, kaum etwas gesehen.« Und hier deutete Ling auf den Sack in der Ecke.

Ticehursts ohnehin schon weit vorstehende Augen quollen noch stärker heraus.

»Mein Gott«, sagte er, »das ist er doch nicht, oder?«

»Aber sicher. Wollen Sie ihn sehen?«

»Nein, danke, wirklich nicht. Halten Sie mich nicht für unverschämt, aber warum hat Easton ihn nicht?« Easton war der County-Pathologe.

»Er hat ihn nicht«, antwortete Ling, »weil ich ihn mir ansehen wollte. Der Chef rief mich gestern abend in London an, ich rief Charles an und bat ihn, den Kopf hierzubehalten, bis ich eingetroffen sei. Und außerdem ist es nicht Easton. Easton hat Urlaub.«

»Oh«, sagte Ticehurst. »Na ja, aber er hat doch Assistenten, oder?«

»Sie sind es auch nicht. Es ist Honeybourne.«

»Honeybourne? Nun, das ist natürlich fein und vornehm, und ich wußte, daß er hier lebt, aber ich dachte, er wäre im Ruhestand.«

»Das ist er theoretisch auch obwohl ich glaube, daß er immer noch Forschungsarbeit betreibt. Aber er ist ein persönlicher Freund des Chefs, sehen Sie, so daß dieser ihn, da Easton nicht da ist, bat, das zu übernehmen.«

»Finde ich recht irregulär«, meinte Ticehurst. »Die Presse wird natürlich begeistert sein. Honeybourne, der größte Gerichtsmediziner seit Spilsbury. Kann ich das den Leuten sagen?«

»Lieber nicht, jedenfalls noch nicht gleich. Ich möchte nicht, daß er belästigt wird, bevor ich Gelegenheit habe, selbst ausführlich mit ihm zu reden.«

»Sie sind der Boss.« Ticehurst schob sich hoch. »Und ich darf Sie nicht länger aufhalten. Aber Sie geben natürlich eine Pressekonferenz.«

»Ja, das wird wohl besser sein. Aber nicht bevor ich mit den Zeugen gesprochen habe.«

»Wie lange wird das dauern?«

»Das kann ich wirklich nicht sagen. Vielleicht bis sechs Uhr.«

»Kann ich die Konferenz also auf sechs Uhr festsetzen?«

»Ja, gut. Um sieben Uhr muß ich bei Honeybourne sein, werde also ohnehin abbrechen müssen, ob ich fertig bin oder nicht.«

»Also um sechs«, sagte Ticehurst an der Tür. »Bis dann.«

Ling murmelte etwas, das für Widger verdächtig wie »Stufenweise« klang.

»Und viel Glück.« Ticehurst watschelte hinaus.

»Und jetzt«, sagte Ling, »fangen wir an.«

 

 

3

 

»Was ich möchte«, fügte er hinzu, »ist, das Ganze chronologisch anpacken. Das bedeutet, mit Mavis Trent zu beginnen. Irgend etwas Neues, seit der gerichtlichen Voruntersuchung?«

Widger schüttelte den Kopf.

»Nichts. Sie ist von der Hole Bridge gestürzt oder gestoßen worden. Der Coroner glaubte, sie sei von selber abgestürzt. Ich glaubte, sie sei gestoßen worden. Ich muß aber zugeben, daß meine Indizien nicht sehr stark sind. Ein billiges Herrentaschentuch in ihrer Hand, einige Spuren am Flußufer, die Unwahrscheinlichkeit, daß sie zu dieser Nachtzeit weggefahren wäre, ohne jemanden zu treffen – ich gebe zu, es ist nicht viel.«

»Aber jetzt gibt es Scorer.«

»Ja, jetzt gibt es Scorer.«

»Scorer, der offenbar jemanden drohen gehört hat, wegen Mavis Trent zur Polizei zu gehen.«

»Ja.«

»Wann hat er das gehört?«

»Der Pfarrer hat das aus ihm herausbekommen. Vor dem Fest.«

»Um genau zu sein, irgendwann zur Zeit des Mordes. Des dritten Mordes.«

»Hm, ja, das nehmen wir an.«

»Ist es möglich, daß Scorer tatsächlich Zeuge des Mordes geworden ist?«

»Durchaus möglich, meine ich.«

»Unverständlich«, murmelte Ling. »Einfach unverständlich. Ist Scorer ein Schwachkopf oder was?«

»Nicht direkt. Er ist lediglich verschlossen. Und natürlich in Panik.«

Ling zog ein kleines dreiteiliges Metallgerät aus der Tasche und begann damit in seinem Pfeifenkopf herumzuschaben.

»Ich werde ihn noch mehr in Panik versetzen«, sagte er. »Entscheidende Beweismittel vorenthalten guter Gott, was denn noch? Ja, den werde ich bestimmt in Panik versetzen.«

»Es könnte natürlich auch sein, daß er jemanden deckt«, sagte Widger. »Oder daß er, da es dunkel war, nicht sehen konnte, wer es gewesen ist… Lassen wir ihn gleich heraufkommen?«

»Routh und Hagberd kommen in Wahrheit zuerst. Aber soviel ich weiß, gibt es auch da nichts Neues, so wenig wie bei Mavis Trent. Wir sind immer noch ziemlich sicher, nicht wahr, daß es Hagberd war, der Routh zerlegt hat? Und für den ganzen Unfug mit dem Kopf und mit der Büste verantwortlich war?«

»Ja, ich glaube, da können wir ziemlich sicher sein.«

»Sind wir sicher, daß er Rouths Mörder war?«

Widger zögerte und sagte dann: »In der Gegend meint man, daß er es vermutlich nicht war.«

»Ja, ich weiß«, meinte Ling düster. »Aber wir mußten ihn einfach verhaften, und danach hatten wir praktisch keinen Einfluß mehr.«

»Richtig.«

»Nicht sehr zufriedenstellend… Aber warten Sie, da ist etwas Neues.« Ling blätterte in Widgers Bericht. »Da, die Notiz hier am Ende. Über Gosprey.«

»Ja, Gobbo. Alle nennen ihn Gobbo.«

»Gosprey steht hier.«

»Ich glaube nicht, daß es mit dem jetzigen Fall in irgendeiner Weise zusammenhängt«, sagte Widger. »Aber Fen hat das von sich aus mitgeteilt, so daß ich – «

»Fen? Fen?«

»Der Professor, der das Haus der Dickinsons in Aller gemietet hat.«

»Ah, ja, ich entsinne mich… Nun, dieser Gosprey sagt also, er hätte zu der Zeit, als Routh in Bawdeys Meadow eins auf den Kopf bekam, zwei Meilen entfernt vor >The Stanbury Arms< mit Hagberd gesprochen. Ist Gosprey jetzt hier?«

»Gobbo. Nein, ist er nicht. Er ist ein sehr alter Mann und, wie gesagt, mit der neuen Sache hat es nichts zu tun, so daß ich ihn nicht habe holen lassen.«

»Alt, sagen Sie. Verkalkt?«

»Hm, ja, bis zu einem gewissen Grad.«

»Er könnte Zeiten und Daten durcheinanderbringen?«

»Ja, das wäre möglich. Und außerdem ist Youings da, der behauptet, daß er sich irrt.«

»Youings? Youings?«

»Der Schweinezüchter mit der deutschen Frau.«

»Ja, jetzt erinnere ich mich. Youings wäre verläßlicher als GobGosprey?«

»Vermutlich. Ich vermute, daß Gos-, Gobbo sich in dem Tag täuscht.«

»Das ist ja wenigstens eine Erleichterung«, sagte Ling. »Wäre schlecht für uns, wenn sich herausstellen würde, daß Hagberd ein Alibi hatte. Sie glauben also, daß wir es uns leisten können, Gosprey unbeachtet zu lassen, zumindest vorerst?«

»Ja. Ich glaube, daß wir im Augenblick schon genug zu tun haben. Ich habe die Notiz nur der Vollständigkeit halber hinzugefügt.«

Unten auf dem Parkplatz wurden Autotüren zugeworfen, und Motoren sprangen an, als Reporter der Medien, bis zur Pressekonferenz um sechs Uhr zur Untätigkeit verdammt, sich aufmachten, herauszufinden, was die kleine Marktstadt Glazebridge, wenn überhaupt etwas, an einem Sonntagnachmittag an Unterhaltung anbieten konnte.

»Dann also jetzt Scorer?« sagte Widger.

»Jetzt Scorer.«

Zerzaust nach seiner Nacht in der Glockenkammer, eröffnete der junge Scorer das Verfahren, indem er die Beiziehung seines Anwalts verlangte. Als Ling ihm mitteilte, daß ihm vorerst nichts vorgeworfen werde und er somit keinen Anwalt nötig habe, wiederholte er zunächst seine Forderung und sank dann plötzlich zu Boden.

»Mein Gott, er hat einen Anfall«, sagte Ling.

»Nein, hat er nicht«, widersprach Widger. »Es sind seine Beine. Sie sind zu zittrig, um ihn zu tragen.«

Sie faßten Scorer, einer auf jeder Seite, unter die Achselhöhlen und hoben ihn auf den Stuhl, den Ticehurst vorher frei gemacht hatte. Dort saß er, in Abständen zitternd und sich durch das Gewirr schmutziger Locken anstarrend wie einer der kleineren Hunde mit einem durch ihre Haare eingeschränkten Sehbereich: ein Cairn Terrier, ein Sealyham, ein Skye. Ling kehrte zu seinem Sessel hinter dem Schreibtisch zurück, Widger zog es vor, stehenzubleiben.

»Es besteht kein Grund zur Angst«, sagte Ling. »Sie brauchen uns nur die Wahrheit zu sagen die ganze Wahrheit, wohlgemerkt! –, dann haben Sie gar nichts zu befürchten.«

»Gar nichts«, sagte Widger mit Nachdruck. »Also nehmen Sie sich zusammen.«

Scorer befeuchtete trockene Lippen.

»Als erstes Ihren Namen«, sagte Ling. »Ihren vollen Namen, meine ich. Ihren Taufnamen.«

»Scorer«, sagte Scorer stockend.

»Ihren Taufnamen.«

Scorer sagte, er werde Clyde genannt, nach einem berühmten Kriminellen.

»Ihren richtigen Taufnamen.«

Mit dem größten Widerstreben räumte Scorer ein, daß sein richtiger Taufname Cecil sei.

»Also, Cecil, was soll das alles mit Mavis Trent?«

»Ich sag’ Ihn’ überhaupt nichts«, antwortete Scorer beinahe unhörbar.

»Doch. Sie werden uns alles sagen.«

»Nie von gehört.«

»Ach, Unsinn. Natürlich haben Sie von Mavis Trent gehört. Sie haben von ihr zu Professor Fen und dem Pfarrer gesprochen, als Sie von Ihrem Motorrad stürzten.«

»Hab’ ich nich.«

»Aber gewiß haben Sie das.«

»Nein, hab’ ich nich.«

»Jetzt hören Sie mir einmal zu, Scorer«, sagte Widger. »Sie sind in Gefahr, wissen Sie das?«

Daraufhin wurde Scorer von neuerlichem Zittern erfaßt.

»Gefahr?« flüsterte er.

»Richtig, Gefahr. Sie wissen etwas.«

»Und ob«, sagte Ling.

Er hielt seine Pfeife am Kopf und richtete den Stiel wie eine Pistole auf Scorer, ging sogar so weit, ihn damit anzuvisieren. »Sie wissen was.«

»Etwas von Erpressung«, fiel Widger ein, »und auch etwas über diesen Mord, da bin ich sicher.«

»Ich sag’ Ihn’ nichts – «

»Seien Sie still und hören Sie zu. Etwas zu wissen, bringt Sie in Gefahr.«

»Ich sag’ – «

»Sie sind eine Bedrohung für diesen Erpresser, diesen Mörder. Er mag durchaus versuchen, Sie aus dem Weg zu räumen – «

»Mich – «

»Sie zu töten.«

Scorer starrte sie mit rollenden Augen an.

»O mein Gott«, stieß er hervor. »Töten töten…« Seine Stimme wurde gellend. »Nein! Nein!«

»Doch! Doch!«

»Sie müss’n mich schütz’n!«

»Wir können Sie nicht schützen, Cecil«, sagte Ling.

»Nein, das können wir nicht«, sagte Widger. »Schützen Sie sich selbst, Scorer!«

»Retten Sie mich!«

»Aber wenn Sie uns alles erzählt haben, was Sie wissen, wird es keinen Sinn haben, Sie zu töten, und es kann Ihnen gar nichts passieren.«

Scorer unternahm einen sichtbaren Versuch, seine Angst zu bezähmen. Offensichtlich begann er über Widgers Vorschlag nachzudenken dessen Makel, daß der Mörder nichts davon wissen mochte, daß Scorer seine Kenntnisse weitergegeben hatte, wie Widger hoffte, unbemerkt bleiben würde. Und es funktionierte. Plötzlich funktionierte es. Scorer hörte schlagartig auf, herumzuwackeln, als wolle er ohnmächtig werden; es gelang ihm sogar, sich halbwegs gerade aufzurichten.

»Ich sag’s Ihn’«, sagte er. »Ich sag’ Ihn’ alles. Un’ dann beschütz’n Se mich.«

»Richtig, dann beschützen wir Sie.«

Scorer atmete tief ein.

»Also…«, sagte er. »Das war so…«

 

 

4

 

Am Freitag abend, dem Abend vor dem Fest, war Scorer zu einem mitternächtlichen Spaziergang aufgebrochen. Und es fiel ihm schwer, diesen Ausflug zu rechtfertigen. Zuerst sagte er, er habe die Naturschönheiten bewundern wollen. Dann sagte er, er habe nicht schlafen können und gehofft, die Nachtluft werde ihn schläfrig machen. Schließlich behauptete er mit unverminderter Unwahrscheinlichkeit, daß er Mottensammler sei.

»‘s gibt ganz schöne«, sagte er, offenbar in der Hoffnung, dieser Nachweis ästhetischer Empfindsamkeit verleihe seiner Behauptung Glaubwürdigkeit.

»Lassen Sie die Motten, Cecil«, erklärte Ling. »Wir haben Sie nicht hergeholt, um über Motten zu sprechen.«

»‘s gibt echt schöne – «

»Ich sagte, lassen Sie die Motten. Erzählen Sie uns nur, was Sie gesehen und gehört haben.«

Dazu konnte er endlich überredet werden. Der Abschweifungen und Zitteranfälle entkleidet, lautete sein Bericht etwa so:

Er habe sich gegen zwölf Uhr, ausgerüstet mit einer Taschenlampe, vom Haus seiner Familie in Burraford auf den Weg gemacht. In dieser Nacht schien kein Mond, und das Sternenlicht war zu schwach, als daß man mehr hätte erkennen können als dunkle Massen und verschwommene Umrisse. Offenbar war er direkt zum Gelände von Aller House gegangen (zum Klauen, dachte Widger verärgert: Motten, ausgerechnet!) und dort zwischen den halb aufgebauten Ständen und Überdächern herumgelaufen (wobei er seine Lampe löschte, damit der Major, falls er zufällig aus dem Fenster sah, ihn nicht bemerke).

Eines der schon fertigen Bauwerke war das Botticelli-Zelt, und während er dorthin schlich, nahm er wahr, daß er den Park von Aller House nicht ganz für sich allein hatte. Als er um eine Ecke der Schießbude blickte, sah und bis zu einem gewissen Grade hörte er zwei undeutliche Gestalten vor dem Eingang zum Botticelli-Zelt.

»Geschlecht?« fragte Ling.

Aber hier, wie in anderen Punkten, war Scorer nicht dienlich. Die Sicht war gleich Null gewesen, die Gestalten bloße Schatten. Was er sagen konnte, war, daß einer der Schatten ungewöhnlich groß gewesen sei, wenn also eine Frau, dann eine Riesin. Dann die Stimmen: Eine davon flüsterte stets, die andere war normal (wenngleich >vornehm<), aber leise; Scorer hatte nicht erkennen können, welche von den Gestalten flüsterte, und auf keinen Fall von dem Geflüsterten etwas zu verstehen vermocht. Bei der anderen Stimme hatte er jedoch hier und dort das eine oder andere Wort auffangen können >Mavis Trents >ein Brief<, >die Polizei<.

Diese verlockenden Andeutungen brachten Ling fast zur Verzweiflung, und er verlor ziemlich viel Zeit damit, Scorer zu größerer Ausführlichkeit zu veranlassen. Aber als der Staub sich verzogen hatte, stellte sich heraus, daß nichts weiter zutage getreten war.

»Nun gut«, sagte Ling verstimmt. »Was geschah dann?«

Und was dann geschah, war gewiß sensationell genug. Es hatte plötzlich eine heftige Bewegung und einen lauten Knacks gegeben, und die hochgewachsene Gestalt war zusammengebrochen.

»Knacks!« rief Scorer bebend und fiel bei der Erinnerung fast vom Stuhl. »Un’ da lag er!«

»Knacks? Meinen Sie einen Schuß?«

»Nee. Eher ein’ dumpf’n Schlag.«

»Warum sagten Sie dann nein, lassen Sie. Eher ein dumpfer Schlag. Und dann?«

Dann war die kleinere Gestalt offenbar eine kurze Zeit stehengeblieben (und hatte sich umgeschaut, nahm Widger an, um festzustellen, ob jemand die Tat beobachtet hatte). Sie hatte sich dann über die größere Gestalt am Boden gebückt und offenbar deren Kopf untersucht. Schließlich hatte sie sie unter den Armen gepackt und in das Botticelli-Zelt gezerrt.

Scorer war vorsorglich geblieben, wo er war; nicht einmal wilde Pferde hätten ihn näher dorthin schleppen können. Es folgte eine Pause, während der nicht viel vorzufallen schien. Dann wurde im rückwärtigen Teil des Zeltes, wo das ganze Gerümpel lag, trübes Taschenlampenlicht eingeschaltet und hin und her bewegt, als suche der Besitzer der Lampe etwas. Was immer das auch gewesen sein mochte, es wurde bald gefunden. Das Licht blieb ruhig, kurze Zeit herrschte Stille, dann wurde ein Sägegeräusch hörbar.

An diesem Punkt war Scorer offenbar ohnmächtig geworden.

Das erste, was er bemerkte, als er wieder zu sich kam, war, daß das Licht im Zelt zwar noch brannte, das Sägen aber aufgehört hatte; das zweite, daß ein Fenster der Wohnung des Majors hell geworden war. Eine Tür klapperte, lautes Gebell drang heraus; das Licht im Botticelli-Zelt erlosch. Das Bellen näherte sich in gleichmäßigem Tempo und deutete an, daß der Verursacher an der Leine geführt wurde.

»‘s war der Major«, erklärte Scorer, »der mit sein’ blöd’n Spaniel spazier’nging.«

Major und Hund waren jedoch noch ziemlich weit entfernt, als der Mann im Zelt beschloß, das Weite zu suchen. Scorer sah ihn heraustreten – aber diesmal war sein Umriß sonderbar geformt, gewölbt und mißgestaltet (Er wird den Kopf getragen haben, dachte Widger, und die Kleidung wohl auch). Scorer duckte sich. Der Schatten jedoch, der ihn nicht wahrnahm, konzentrierte sich auf den Major, der jetzt seine eigene Taschenlampe angeknipst hatte und erkennbar in seine Richtung ging. Das Bellen wurde lauter; der unförmige Schatten verschwand in der Dunkelheit. Und Scorer tat desgleichen: Er wollte vom Major nicht entdeckt werden. Davonschleichend atmete er ein wenig auf, als er ein Auto starten hörte; das mußte der Schatten sein, dachte er. Aber er litt noch immer an heftigem Zittern, als er nach Hause eilte, den Major, seine Cockerhündin Sal und das, was im Botticelli-Zelt lag, allein unter dem schwachen Sternenlicht zurücklassend.

»Mein Gott, was für ein Zeuge!« sagte Ling, als Scorer, noch immer lautstark nach Polizeischutz rufend, von einem herbeigeholten Constable hinuntergeführt worden war. »Charles, ich nehme an, das war alles wahr.«

»Oh, das glaube ich auch, ja.«

»Ich meine, er hat das nicht einfach alles gesagt, um sich wichtig zu machen?«

»Nein, nein, Eddie. Er hätte zuviel Angst vor den Folgen.«

»Er hat den Mord also tatsächlich miterlebt. Das heißt, wenn der große Mann nicht vor dem Zelt nur bewußtlos geschlagen und im Zelt getötet worden ist.«

»Das spielt aber kaum eine Rolle, oder?«

»Es könnte eine Rolle bei der Mordmethode spielen.«

»Hat Sir John darüber nichts gesagt?«

»Nein.«

»Nun, ich bin der Meinung, daß das Opfer vor dem Zelt getötet wurde, vermutlich wie Routh.«

»Derselbe Mörder?«

»Anzunehmen.«

»Oder eine Anschlußtat.«

»Möglich… Auf jeden Fall müssen wir versuchen, noch mehr aus Scorer herauszuholen.«

»Glauben Sie, daß uns das gelingen wird?«

»Nein.«

Ling seufzte. Er steckte die Pfeife in die rechte Jackentasche, griff in die linke und holte eine andere heraus.

»Der Major scheint unbelastet zu sein«, meinte er. »Wenn Scorer die Wahrheit sagt.«

Widger starrte ihn an.

»Guter Gott«, sagte er, »Sie haben doch den Major nicht verdächtigt?«

»In diesem Stadium müssen wir jeden verdächtigen. Jedenfalls sprechen wir gleich mit dem Major und stellen fest, was er getrieben hat.«

»Er ging mit seinem Hund spazieren.«

»Ich dachte, daß er das Sägegeräusch vielleicht gehört hat.«

»Wir fragen ihn.«