5. Kapitel
Dies ist eine lärmende Versammlung von eleganten Leuten
beiderlei Geschlechts in einem privaten Haus,
bestehend aus einigen Hunderten,
nicht unpassend eine Trommel genannt, nach dem Lärm
und der Leere der Unterhaltung.
Tobias Smollet >Advice, a Satire<
1
»So, so«, sagte Fen.
Er faltete die letzte >The Western Morning News< zusammen, ordnete den Stapel und legte ihn auf den Boden zurück. Neben ihm auf dem Sofa hatte Stripey sich auf den Rücken gerollt und schlief mit erhobenen Pfoten, in Abständen leise Stöhnlaute der Freude oder Betroffenheit von sich gebend: Möglicherweise fühlte er im Traum die gemischten Empfindungen der Katzenweibchen nach, die er pflichtgemäß heimsuchte. Mit dem Duft später Rosen bewegte ein sanfter Wind die Wohnzimmervorhänge der Dickinsons. Ringsum stand britische Nachkriegs-Belletristik, unstabil aufgehäuft, vom Herbstsonnenschein schräg erfaßt.
»Mortimer, Penelope«, sagte Fen.
»Wieder anders«, erklärte er dem Kater, »wieder anders ist Penelope Mortimer, deren Leistung geschmälert wird, erhöht wird, verglichen wurde, zum Teil wurden sie weitergeführt.« Er streichelte den Bauch des Katers, machte den Stöhnlauten ein Ende und rief statt dessen ein ruckhaftes, metallisches Schnurren hervor, gleich kleinen Zahnrädern, die nicht genau ineinandergriffen.
»Rührt zum Teil von einer akuten Wahrnehmung dessen«, murmelte Fen.
Eine Flut von Licht war, wie er feststellte, durch seine Beschäftigung damit nicht auf den Fall Routh-Hagberd gelenkt worden. Lichtfluten würden offenbar warten müssen, bis (falls je) weitere Tatsachen an den Tag kamen. Lohnte es sich, auf die Haupt- und Nebenwege hinauszuwandern und weitere Fakten herauszufinden? Fen zögerte, das zu tun, und zwar nicht so sehr deshalb, weil er Hagberd des Mordes für schuldig hielt das war vielmehr eine entschieden zweifelhafte Sache –, sondern weil der Fall ihm nach wie vor eher bizarr als herausfordernd zu sein schien; seine Zweifelhaftigkeit war psychologisch, nicht indizienbedingt. Außerdem würde die Polizei, die selbst nicht allzusehr davon überzeugt war, daß es Hagberd gewesen war, der Routh erschlagen hatte, gewiß auch an andere Alternativen gedacht und nach Hinweisen geforscht haben. Wahllos herumzusuchen, in der Hoffnung, weitere zweifelhafte Informationen zu erlangen, würde deshalb fast mit Gewißheit ebenso überflüssig wie ermüdend sein.
Das Telefon läutete, und Fen meldete sich.
»Jo«, sagte eine Stimme, »wir woll’n ‘ne Kuh anmelden.« Fen nannte der Stimme die Rufnummer des Instituts für künstliche Rinderbesamung, die große Ähnlichkeit mit jener der Dickinsons hatte, legte auf, schaute auf die Uhr und sah, daß er sich auf den Weg machen mußte, wenn er rechtzeitig zur Eröffnung beim Fest sein wollte. Er erhob sich und tätschelte Stripey zum Abschied. Stripey wurde wach und begann sofort zornig den Bauch zu lecken, wo Fens Hand ihn berührt hatte.
»Eine akute Voraussicht der Alltagswirklichkeit«, sagte Fen, geduckt das Haus verlassend. Wem hatte der Satz gelten sollen? Egal, er paßte für fast jeden.
Er kam an Youings’ Farm und Thouless’ Bungalow vorbei und erreichte die Einmündung seines Weges in die Straße, die von Glazebridge über Aller nach Burraford führte; das brachte den Pisser wieder in Hörweite. Plötzlich tauchte um die Biegung eine Person auf, die sich ihm rasch näherte. Es war ein großer, O-beiniger Affe, der ein knöchellanges, schwarzes Bombasin-Frauenkleid trug und eine Krickettasche schleppte. Es war der Pfarrer.
»Wird denn maskiert gegangen?« fragte Fen, ihn aufhaltend.
»Nein. Das ist für das Wahrsagen«, sagte der Pfarrer. »Ich bin eine alte Zigeunerin und lege in einem Zelt die Karten. Das erspart mir, die ganze Zeit herumzulaufen und mit den Leuten reden zu müssen.«
»Ich dachte, die Kirche wäre gegen Hellseherei eingestellt.«
»Sie kommen zuviel mit dem Major zusammen«, sagte der Pfarrer ganz freundlich. »Wissen Sie, was er tut? Er schickt mir in neutralem Umschlag ökumenische Broschüren. Glaubt, ich weiß nicht, wer sie schickt. Aber trotzdem ein sehr ordentlicher Mann, der Major, in seiner beschränkten militärischen Art. Und was er meint, hat etwas für sich.«
»So? Was hat es für sich?«
»Er sagt, meine anti-papistische Einstellung bringt mich in sehr zweifelhafte Gesellschaft, wie zum Beispiel in die mit diesem schrecklichen Kerl in Nordirland, und mit Cooper.«
»Wer, um alles in der Welt, ist Cooper?«
»Anthony Ashley Cooper. Meine Familie stimmte seinen Gedanken über Religion zu, aber sie sagte immer, der Mann selbst stinke.«
»Sie sprechen«, sagte Fen mit Zurückhaltung, »von der Herrschaft Karls des Zweiten?«
»Tue ich das? Ja, ich glaube schon. Die Königin war eine Portugiesin papistisch, versteht sich –, und der Herzog von York war von morgens bis abends vom Weihrauch angesäuselt. Aber ein guter Seemann. Jedenfalls, wie ich schon sagte, meine Familie hielt diesen Cooper für einen schrecklich ordinären Kerl.«
»Dryden scheint derselben Meinung gewesen zu sein.«
»Dryden war auch ein schrecklich ordinärer Kerl«, sagte der Pfarrer, »und ich will Ihnen noch etwas sagen: Wenn wir hier weiter herumstehen wie zwei Wachsfiguren, kommen wir überhaupt nicht zum Fest.« Sie machten sich auf den Weg. »Nein, Gott sei mit Ihnen, ich schaue nicht in die Zukunft«, sagte der Pfarrer, auf das Wahrsagen zurückkommend. »Ich gebe nur den Klatsch weiter. Harmlosen Klatsch, versteht sich«, erläuterte er. »Hübsches Kleid, nicht? Es hat meiner Großmutter gehört.« Er zog den Rock zu den Knien hinauf und unterbrach seine Schritte, um ein paar chaotische Cancan-Beinwürfe vorzuführen.
Fen sah, daß das, was er zuerst für ein Fichu gehalten, in Wirklichkeit der Klerikerkragen des Pfarrers war.
»Wie machen sie das mit dem Busen?« fragte er.
»Zusammengerollte Rugbysocken.«
»Bleiben sie oben?«
»Zuerst nicht«, gab der Pfarrer zu. »Aber dann habe ich mir einen BH 42 gekauft, Schale C, und jetzt ist alles in Ordnung. Die Träger sind aber schmerzhaft und schneiden wie Messer in die Schultern. Kann nicht begreifen, wie die Frauen das ertragen. Aber heutzutage halten sie ihre Brüste ja mit Wachseinspritzungen oben, das liest man jedenfalls. Ich lege Hut und Schleier erst an, wenn ich beginne.«
»Sind sie in der Krickettasche?«
»Das und anderes«, sagte der Pfarrer. Er schien im Begriff zu stehen, sich darüber weiter auszulassen, verzichtete aber im letzten Augenblick darauf. »Der Major ist vorausgegangen, um sich umzuziehen«, sagte er statt dessen. »Er tritt bei solchen Gelegenheiten gern ein bißchen elegant auf.«
Sie näherten sich einer Biegung des Weges, wo ein großes, handgemaltes Schild verkündete >Achtung Schlamm Vieh Kinder*. Hinter der Biegung hörten sie das Geräusch eines herankommenden Motorrads.
»Aufpassen«, sagte der Pfarrer.
Das Motorrad tauchte nur wenige Meter vor ihnen auf. Es wurde mit durchaus mäßiger Geschwindigkeit von einem strohhaarigen, mageren Jugendlichen in brauner Kunstlederjacke und engen blauen Jeans gesteuert. Als er den Pfarrer erblickte, erfaßte ihn Panik. Er riß die Maschine herum, geriet ins Schleudern, verlor die Herrschaft über sein Fahrzeug und warf sich mit einem Schreckensschrei herunter, in Bankettnähe mit Wucht auf dem Hosenboden landend. Das Motorrad fuhr noch ein Stück weiter und kippte um. Der Motor erstarb in einer Reihe von Explosionen wie die einer dänischen Dogge, wenn sie einen Niesanfall meistert.
Der junge Mann stieß einen kläglichen Schrei aus.
Fen und der Pfarrer gingen zurück, um ihn zu untersuchen. Er lag auf dem Rücken und rieb sich den linken Arm, schien aber nicht ernsthaft verletzt zu sein. Er brach in Wehklagen aus.
»Ihnen fehlt nichts«, sagte Fen zu ihm.
Der Jugendliche hörte schlagartig zu jammern auf. Er starrte Fen entsetzt an.
»Sie sin’s!« kreischte er unerwartet. »Sie sin’s! Geschwoll’n geredet! Sie sin’s! Oh, Hilfe!«
»Wer bin ich?« fragte Fen und das hörte sich an, dachte er, als wäre er irgendeine Figur von Pirandello, die an der eigenen Identität zweifelt. »Wovon reden Sie?«
»Sie sin’s«, stöhnte der junge Mann. »Erpressung, das war’s. Da sin’ Sie gewes’n, mitt’n in der Nacht, Sie wollt’n den Brief der Polizei zeig’n, wenn Sie kein Geld bekomm’. Sie sin’s, Sie sin’s.«
»Muß sich am Kopf verletzt haben«, sagte der Pfarrer.
»Mavis Trent«, sagte der junge Mann. »Sie ha’m mir gedroht wegen Mavis Trent.«
Fen bückte sich, weil er es für gut hielt, den Jungen wenigstens teilweise aufzurichten.
»Z’rückhalten!« schrie der junge Mann den Pfarrer an. »Z’rückhalten, der erwürgt mich!«
»Unsinn, Scorer, natürlich wird er Sie nicht erwürgen«, sagte der Pfarrer scharf. »Die Leute laufen nicht herum und erwürgen am hellichten Tag andere Leute, wenn ein Geistlicher dabei ist. Und was soll das mit Mavis Trent? Nein, antworten Sie noch nicht. Zuerst wollen wir sehen, ob Ihnen etwas passiert ist. Bewegen Sie die Arme und Beine. Los, bewegen! Nein, nicht nur den linken Fuß, alles.«
Der junge Mann gehorchte, grau vor Angst.
»Kann nicht viel passiert sein«, meinte der Pfarrer knapp. »Becken noch ganz? Rückgrat? Rippen? Finger? Irgendwas am Schädel? Husten.«
Der Junge hüstelte schwach.
»Spüren Sie Blut im Mund? Ist der Bauch empfindlich? Zähne locker?«
Fen ging zum Motorrad und zerrte es an den Straßenrand. Er lehnte es an eine der hohen Begrenzungsmauern, die dort die Straße einfaßten. Als er zurückkam, lag der junge Mann noch immer ausgestreckt am Boden, wie aufgebahrt, bevor sein Sarg eintraf, während der Pfarrer Blutergüsse und einen möglichen, wenn auch nicht sehr wahrscheinlichen Steißbeinbruch diagnostizierte.
Überzeugt davon, daß diese Handreichungen vorerst ausreichten, fuhr der Pfarrer fort: »Also, was war das mit Mavis Trent? Heraus damit!«
»Nein«, sagte der junge Mann kompromißlos. »Mach’ ich nicht.« Mit Vorsicht schob er sich auf einen Ellenbogen, während er den zittrigen Versuch unternahm, von seiner Haarfülle etwas aus den Augen zu streichen. »Und er war’s auch nicht«, fügte er hinzu und zeigte auf Fen. »Das seh’ ich jetzt. Groß genug isser, aber nicht so fett.« Aber dann quollen seine Augen plötzlich in neuerlichem Schrecken hervor. »Horcht!« rief er erregt. »Horcht!«
Sie horchten. Das Geräusch, das hinter der Straßenbiegung rasch näher kam, war verworren, aber deutlich vernehmbar.
»‘s is Tully!« jammerte der Junge, »‘s is Farmer Tully un’ seine Kühe! Bringt mich weg! Bringt mich weg!« Der Lärm nahm zu: Glockengeläut, Geschrei, bellende Hunde, ein Motor, donnernde Hufe. »Bringt mich weg!« kreischte der junge Mann und wand sich in Krämpfen. »Oh, Hilfe!«
Fen und der Pfarrer packten ihn an beiden Enden und hievten ihn auf das Grasbankett, gerade als die Kavalkade auftauchte.
An der Spitze fuhr Clarence Tullys dritter Kuhknecht, dessen Pflicht es war, Viehzügen mit dem Fahrrad voranzurollen; er war ein fahriger Mensch, dessen Nervenkostüm, wie er glaubte, dauerhaft dadurch geschädigt worden sei, daß er vor einer Herde von Tieren mit größerer Ausdauer für Steigungen und besserer Eignung für Bergarbeit als er selbst mit seinen bescheidenen Qualitäten sich Steigungen hinaufquälen mußte. Dann kamen die Kühe, vierzehn Zentner schwere, einjährige South Devons. Als letzter tauchte Clarence Tully selbst auf, falstaffisch aufgedunsen hinter dem Lenkrad seines Land-Rover, umringt von aufgeregten, kläffenden Schäferhunden, während im Heck zwei seiner vielen riesenhaften Söhne standen, was sie aus irgendeinem Grunde stets taten.
Clarence Tully winkte. Die Söhne winkten. Sie winkten jeder mit dem ganzen Arm, wie Schiffbrüchige, die ein am Horizont auftauchendes Schiff auf sich aufmerksam machen wollen. Der dritte Kuhknecht strampelte verzweifelt. Die Kühe von denen jede einige Pfunde Gewicht verloren haben würde, bis die neue Weide erreicht war muhten zornig, als sie in ungelenkem Trab vorbeizogen. Clarence Tully grüßte. Seine Söhne jodelten. Der dritte Kuhknecht läutete mit seiner Glocke an der Einmündung von Fens Weg. Die Hunde bellten. Immer noch mit hochgerecktem Arm winkend, plärrte Clarence Tully: »Na, alles klar?«, als der Land-Rover an der Gruppe auf dem Bankett vorbeirollte. »Alles klar?« Der junge Mann wimmerte und bedeckte die Augen vor dem Staub. Der Pfarrer signalisierte Beschwichtigung. Fen beobachtete die glatte Haut der Kühe, die glänzend braun über den stampfenden Keulen hin- und herglitt.
Die Kolonne entfernte sich, erreichte die nächste Biegung, war verschwunden. Der junge Mann wimmerte wieder; er schien ein außerordentlich hasenherziger Bursche zu sein. Der Pfarrer ergriff ihn unter den Armen und zog ihn hoch.
»Von Mavis Trent hören wir später«, sagte er, »da gibt es nichts. Inzwischen können Sie mit uns zum Fest gehen und mit dem Arzt über Ihren Hintern reden.«
2
In all den zweihundertdreißig Jahren war Aller House entworfen von Hawksmoor, bestimmt zur Ausschmückung durch William Kent, wozu es nie kam nicht einmal eine einzige Nacht richtig bewohnt gewesen. Eine Reihe von Verhängnissen hatte es verfolgt: Schon seit dem ersten Sir George Stanbury während des Baues das Geld ausgegangen war, hatten seine Besitzer regelmäßig den Verstand verloren oder waren pleite oder in die Kolonien gegangen, und es hatte selbst während des 2. Weltkrieges, als Unterkünfte Mangelware waren, leer gestanden. Nun gehörte es Clarence Tully aber nicht zum Bewohnen; er hatte es wegen seines Ackerlandes gekauft, das, abgesehen vom antiquarischen oder ästhetischen Wert, seine einzige Empfehlung war. Tully hatte dann einen Teil dessen, was Küchenräume hätten werden sollen, in eine Erdgeschoßwohnung umgebaut und diese für eine ganz geringe Miete dem Major überlassen, und zwar unter dem fadenscheinigen Vorwand, daß das Haus eines Verwalters bedürfe, wenn auch nur, um die gelegentlichen Schaulustigen von Museumsgesellschaften und ähnlichen Einrichtungen im Auge zu behalten. Der Major, der nur seine Pension bezog, hatte diese Vereinbarung ohne falschen Stolz akzeptiert, wie überhaupt fast jeder in der Gegend nahezu alle die zahlreichen Vorkehrungen von Clarence Tully für seine Bequemlichkeit akzeptierte: Er war ein Mann, dessen ungekünstelte Gutwilligkeit eine mürrische Reaktion fast ausschloß.
Das Haus war im Grunde nichts Besonderes. Die Hauptmasse erhob sich in drei wohlproportionierten Stockwerken zu einem Walmdach und war umgeben von einer Balustrade; die beiden zweistöckigen Flügel (mit Flachdach) waren elegant, aber abgesehen von ihren Balustraden unverziert; die einzige ernsthafte Konzession an Ausgefallenheit lag in den beiden großen, runden Halbreliefs, die ein Gedränge von robusten, behelmten römischen Matronen zeigten. Sie waren auf beiden Seiten des Säuleneingangs in gleicher Entfernung angebracht. Obwohl zur Erhaltung wenig getan worden war, da Clarence Tully sich darauf beschränkt hatte, zwei oder drei zerbrochene Fenster zu ersetzen, hatte die Verwitterung gleichmäßig gewirkt, und der allgemeine Eindruck war durchaus nicht der von Verfall. Überdies war der Park an der Vorderseite ein wenig gepflegt worden, wenngleich er jetzt nur noch aus Bäumen, Gras und Sträuchern bestand. Sein Hauptmerkmal war der riesige Rasen, den die steinige, ungeteerte Einfahrt zweiteilte. Ungezügeltes Wuchern wurde teils durch Schafe, teils durch das gelegentliche Eingreifen eines Mannes mit einem Kreiselmäher verhindert. Clarence Tully war für Ordnung, und selbst auf diesem eher nutzlosen Teil seines Besitzes gedachte er nicht zuzulassen, daß die Natur die Oberhand gewann.
Zweimal im Jahr wurde auf dem Rasen von Aller House das Pfarrfest von Burraford abgehalten.
Der junge Scorer, um sein Steißbein fürchtend, schob sein Motorrad, statt aufzusitzen. Sein ursprüngliches Ziel hatte er ohne den Versuch eines Widerspruchs aufgegeben und schlurfte schwitzend hinter Fen und dem Pfarrer die Straße entlang. Schließlich gelangten sie dorthin, wo sich etwas tat. Und es tat sich erstaunlich viel für einen so kleinen Ort wie Burraford. Trotz seiner Größe war der Rasen von Aller House überfüllt, ebenso das angrenzende Feld, wo man Autos abstellen konnte.
»Die Leute kommen aus der ganzen Umgebung zu unseren Festen«, sagte der Pfarrer behaglich. »Und es sind auch nicht nur Frauen. Die Männer kommen, weil sie sich im Bierzelt betrinken und ihre Köter zur Hundeschau bringen und die schönsten Beine begaffen können, obwohl ich sagen muß, daß die Qualität der Mädchenbeine hierorts nicht gerade glänzend ist: Die meisten sehen eher aus wie ein Paar Kopfpolster. Der Jahrmarkt trägt auch zu der Besucherzahl bei; er ist eine Abwechslung gegenüber Ständen, die Deckchen und Konfitüre und Tulpenzwiebeln und muffige alte Exemplare von Blackmore und Annie S. Swan verkaufen. In gräßlichen kleinen Bungalows bei Glascombe lebt eine Art Gemeinde von Schaustellern im Ruhestand, und sobald wir ein Fest machen, veranlasse ich sie, ihre Sachen auszugraben und sie mitzubringen. Der Theorie nach sind sie begeistert, wieder arbeiten zu können. Sie stecken natürlich die Hälfte der Einnahmen in die eigene Tasche, wenn ich nicht aufpasse, aber sie füllen die Lücken aus und sind eine Art Anziehungspunkt. Es gibt einen, der eine tote Meerjungfrau ausstellt, aber die Motten sind über sie hergefallen, und sie fängt an, ein bißchen seltsam auszusehen. Er sollte sie mit Kunststoff überziehen, sage ich ihm dauernd, aber gemessen an der Notiz, die er davon nimmt, könnte ich ebensogut mit einem Steinhaufen reden.«
Zitternd vor Erschöpfung wankte der junge Scorer mit seiner Maschine auf den Parkplatz, während Fen und der Pfarrer auf dem zerfurchten Weg weiter zur Rasenfläche gingen. Vor ihnen bewegte sich ein massiger uniformierter Polizist mit weißem Sturzhelm unerwartet langsam, schwankte ein wenig und wackelte in Abständen vorsichtig mit dem Kopf.
»Was ist nur mit Luckraft los?« wunderte sich der Pfarrer. I »Scheint halb betrunken zu sein… An der Flasche gewesen, Luckraft?« fragte er, als sie ihn einholten. Luckraft stolperte verblüfft über einen Stein, erholte sich, sagte schwach: »Ach, Sie sind’s, Herr Pfarrer«, und versuchte ein Lächeln. Tatsächlich sah er nicht so sehr betrunken als vielmehr krank aus. Sie gingen an ihm vorbei und wurden ihrerseits von einem anderen, kleinen und drahtigen Geistlichen überholt, der im Laufschritt daherkam. Der Pfarrer brüllte ihm einen Gruß zu. »Das ist Pater Hattrick«, sagte er. »Ein römischer, wohlgemerkt, aber trotzdem ein brauchbarer Mann. Und heutzutage darf er Hosen tragen. Liberalisierung und der ganze Quatsch. Unter einem anderen Namen ist er eine Art männlicher C. V. Wedgwood«, fügte der Pfarrer verwirrend hinzu. »Läuft immer sagt, das sei besser als Gehen. Kommt wegen Mrs. de Freitas’ Stachelbeerkonfitüre.«
Sie traten auf den Rasen, wo ein Doppelpodium ominös abseits stand. Auf der hinteren Hälfte hantierten vier ungepflegt aussehende Mädchen mit Gitarren, Schlagzeugen und Mikrophon herum, bemüht, alles aufzubauen; die Beschriftung der großen Trommel wies sie als >The Whirlybirds< aus. Der vordere Teil, etwas niedriger und mit eigenem Mikrofon, war derzeit unbesetzt. Obwohl zwischen den Zelten und Ständen schon ziemlich viele Leute umhergingen, standen noch mehr erwartungsvoll vor dem Podium, und ihre Zahl nahm ständig zu. Der Pfarrer trennte sich von Fen und begann Hände zu schütteln. Pater Hattrick nahm an einem strategisch wichtigen Punkt Aufstellung. Der junge Scorer I erschien und blickte sich suchend nach dem Arzt um. P. C. Luckraft ergatterte einen hölzernen Klappstuhl, den jemand an einem nahen Zelt hatte stehenlassen, und sank mit offenkundiger Erleichterung auf ihn nieder. Vom Parkplatz her kündigte Motorengeräusch die Rückkehr von Clarence Tully in seinem Land-Rover an; der Viehtrieb war abgeschlossen; die beiden riesigen Söhne standen immer noch kerzengerade im Heck. Die Menge lärmte, die Sonne schien, in der Ferne tauschte der Pisser Kontinuität gegen unregelmäßige Anfälle, in den Sträuchern und Bäumen, die der erste Sir George Stanbury rund um den Rasen angepflanzt hatte, raschelte ein leichter Wind. Dem Podium diametral gegenüber, am Westflügel, bewachten die Misses Bale entschlossen den Botticelli, und die kleine Miß Endacott ordnete zum zehntenmal das wirre Durcheinander von Gegenständen auf dem Pfarrstand neu. Sollte sie, so fragte sie sich, »Kommt und kauft! Kommt und kauft!« rufen? Der bloße Gedanke daran brachte ihre Beine so zum Zittern, daß sie sich setzen mußte.
Der Pfarrer schaute auf seine Armbanduhr, murmelte ein kurzes Gebet, raffte seine Röcke, lief auf das Vorderpodium zu und sprang hinauf; sein Aufprall erschütterte das Gebilde mit solcher Heftigkeit, daß ein unaufmerksames Whirlybird das Gleichgewicht verlor, an das Pedalbecken prallte und es über die Kante kippte. Mühsamer oder mit größerer Umsicht folgten dem Pfarrer mehrere andere Männer und Frauen, unter ihnen der Bürgermeister von Glazebridge da Burraford in Glazebridges ausgedehntem Landkreis lag komplett mit Amtskette.
»Wir wollen jetzt keine stundenlangen Reden hören«, sagte der Pfarrer zu den anderen. Das tönte brüllend aus den auf maximale Lautstärke gestellten Lautsprechern. Ein alter Mann sagte: »Hört! Hört!«, und ein Kind, erschreckt von diesem plötzlichen Getöse, brach in ein unbeherrschtes Geheul von Entsetzen und Betroffenheit aus. »Die Leute kommen nicht her, um sich stundenlange Reden anzuhören«, sagte der Pfarrer. »Hört! Hört!« sagte der alte Mann wieder. »Also ran mit euch!« sagte der Pfarrer.
Eröffnet wurde das Fest von einem kleinen schlanken, freundlichen, redseligen, in Winchester und New College ausgebildeten Neger, der zwanzig Meilen entfernt lebte und unter dem Namen Dermot McCartney lukrative Science Fiction schrieb. »Countdown!« rief er schrill ins Mikrofon. »All systems >go<! Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, ZÜNDUNG! WRU-UMM! Ich erkläre das Fest für eröffnet!« Bei >Wru-umm< fuhr Pater Hattrick herum und rannte los, auf den Konfitürenstand zu. Hinter ihm setzten die Whirlybirds mit >Make the Scene, Do our Thing< ein. Die Frauen eilten zu den Ständen mit Markt- und Gartenprodukten, und ein beachtlicher Teil der Männer machte sich auf dem Weg zum Bierzelt. Die Gruppe stieg vom Podium, und Dermot McCartney schwenkte eine wohlgefüllte Brieftasche, um zu zeigen, daß er sich über die nächste Phase seiner Pflichten im klaren war. J. G. Padmore, der in der ersten Reihe der Menge gestanden und Dermot McCartney auf fachmännische Weise begutachtet hatte, näherte sich Fen. Der Pfarrer marschierte O-beinig zu seinem Wahrsagerzelt. Die Schausteller, allesamt weit über ihre Blütezeit hinaus, waren durch das verstärkte Geheul der Whirlybirds schwach vernehmbar, als sie ihre Angebote mit brüchigen Greisenstimmen anpriesen.
»Glück gehabt?« fragte Padmore eifrig.
»Glück?« Fen war vorübergehend verwirrt, dann erinnerte er sich. »Ach, Sie meinen Youings. Ja, ich habe kurz mit ihm gesprochen. Und er ist ganz sicher, daß Hagberd an jenem Abend um 19.30 Uhr nicht am >Arms< war.«
»Na bitte, ich wußte es doch.«
»Seine Aussage steht also gegen die von Gobbo.«
»Und kaum ein Zweifel, für welche man sich entscheidet«, sagte Padmore befriedigt, als ihm ein Stein vom Herzen fiel.
»Haben Sie Gobbo noch einmal gesprochen?«
»Nein. Als ich zum Lokal zurückkam, war er fort. Dann mußte ich das Rad an dem verflixten Wagen wechseln… Also Ende gut, alles gut.«
»Man möchte es meinen.«
»Was möchte man meinen, mein Lieber?« Es war der Major, der durch das grobe Gras herangekommen war. Er sah in wohlgebügeltem Karo und mit blauroter Krawatte flott aus.
»Gobbo«, erklärte Padmore. »Er hat Unsinn geredet. Herrgott noch mal, ich wußte, daß er Unsinn redet!«
»Hm«, sagte der Major neutral.
»Was machen Hintergrund und Lokalkolorit?« fragte Fen.
»Bis jetzt nicht viel«, räumte Padmore ein. »Aber schließlich bin ich erst gestern angekommen. Es ist noch reichlich Zeit.«
»Tja, wir sollten uns wohl in Bewegung setzen und etwas Geld ausgeben«, meinte der Major.
»Ich möchte die Meerjungfrau sehen«, erklärte Padmore. »Ich habe noch nie eine Meerjungfrau gesehen. Es ist ein Dugong, nehme ich an. Immerhin, einen Dugong habe ich auch noch nie gesehen.«
Da weder Fen noch der Major die Meerjungfrau unbedingt sehen wollten (der Major hatte sie sich bei früheren Festen schon mehrmals pflichtgemäß angesehen), ließen sie Padmore ziehen.
»Wir gehen herum«, sagte der Major.
Sie gingen herum: ein Bücherstand, ein Leinenstand, ein Kuchenstand, Münzen, die man auf schrägen, nummerierten Holzbahnen zu einem nummerierten Brett hinabrollen ließ. Fen kaufte Lord Garnet Wolseleys >Narrative of the War with China in 186o<, zwei Geschirrtücher mit dem aufgedruckten Parlament in Rot, ein Dutzend Krapfen; der Major kaufte ein Ouija-Brett, ein paar eher vergilbte Baumwoll-Taschentücher mit den Initialen A. K. G. einen Gewürzkuchen; beide hatten mit den Münzen keinen Erfolg, auch nicht zeitweilig. Am Glückstopf gewann der Major eine kleine Trillerpfeife, von der er annahm, sie könnte vielleicht seine Hunde belustigen, und Fen bekam einen Apfel. Als nächstes kamen sie dorthin, wo Broderick Thouless, der Komponist, mit drei Kugeln zu fünfundzwanzig Pence beharrlich um ein Schwein kegelte; nach dem, was sie von seiner Leistung sahen, sprach nicht viel dafür, daß er es gewinnen würde.
»Wo ist das Schwein überhaupt?« fragte Thouless, sich aufrichtend, von seinen Anstrengungen rot im Gesicht. »Mein Rücken… Das Schwein müßte doch eigentlich hier sein?«
Aber dann war es plötzlich da. Ein junges. Sauber und gesund traf es zappelnd und schnaubend in den Armen des großen, blonden Youings ein, aus dessen Zucht es mutmaßlich stammte. Youings entschuldigte sich bei der aufsichtsführenden Frau wegen seiner Verspätung und stellte das Schwein in seinen Verschlag, wo es seine Umgebung mit offenbar neuer Überraschung betrachtete.
»Benimm dich jetzt, Bathsheba«, sagte Youings.
Seine amazonenhafte Frau Ortrud schlenderte heran. Sie trug ein teures, aber schlecht sitzendes beiges Leinenkostüm, und ihr helles Haar glänzte im Sonnenschein. Der Major lüftete seinen grünen Schlapphut, aber sie starrte ihn nur an. »Komm mit!« befahl sie ihrem Mann. Youings lächelte Fen schwach an und schlurfte hinter ihr her.
»Ich nehme an, daß der Gewinner des Schweines es schlachten lassen wird«, sagte Fen. »Schade.«
»Nein, das geht schon in Ordnung«, sagte der Major. »Youings gelingt es immer, das Schwein zurückzukaufen. Die Leute wollen sich die Mühe nicht antun, nicht wahr. Die neue Nivea, glatte Feuchtigkeit«, sang er, »dringt tief in die Haut. Örgh.«
»Örgh?«
»Das ist so ein Geräusch, das sie am Ende machen. Ich weiß wirklich nicht, warum.«
»Ich werde das Schwein gewinnen«, sagte Thouless, in seiner Tasche nach Geld kramend. »Noch dreimal, bitte.« Sie ließen ihn allein, während er sich immer noch erfolglos bemühte, die Kugel in eines der kleinen Fächer zu bugsieren.
Eine Schatzsuche, der Konfitürenstand, eine Schießbude, das Podium für die Konkurrenz um die schönsten Beine, für 16.30 Uhr vorgesehen; am letzteren gab es eine Holzabdeckung zu dem Zweck, die Teilnehmerinnen von den Hüften an aufwärts zu verbergen. In der Nähe sprach der junge Scorer nervös mit einem älteren Mann – vermutlich dem Arzt der beruhigende Laute von sich gab; Scorer drehte dem älteren Mann immer wieder den Rücken zu und zeigte auf sein Gesäß. Der Gartenstand, eine Kokosnuß-Wurfbude, eine Reihe von Kindern, die auf Eselsritte warteten. Der Flaschenstand, wo sie den Pfarrer, immer noch als Transvestiten, beim Cola Trinken fanden.
»Geht das Geschäft schlecht?« fragt Fen.
»Im Gegenteil, die Leute stehen an«, sagte der Pfarrer und wischte sich mit dem Handrücken den Mund. »Ich muß aber ab und zu herauskommen, um ein Auge auf alles zu werfen.«
Fen bemerkte mit Interesse, daß der Pfarrer seine Krickettasche bei sich hatte.
Ihr Rundgang hatte sie jetzt in die Nähe vom Westflügel des Hauses geführt, wo das Botticelli-Zelt aufgestellt war; für ein Zelt, das nichts enthielt als ein Gemälde, war es unerwartet groß. An einer Seite des Zelteingangs saß, vor sich eine Geldkassette auf einem kleinen Tisch, eine dicke ältere Frau, vermutlich eine der Misses Bale. Ihr gegenüber, auf einem Klapphocker, saß P. C. Luckraft; er hatte seinen Sturzhelm abgenommen und auf die Knie gelegt; er trug einen Kopfverband. Eine zweite dicke ältere Frau, wohl die zweite Miß Bale, konnte man auf einem anderen Klapphocker hinter dem Zelt sitzen sehen.
»Was macht sie da?« fragte Fen.
»Gehört alles zu den Sicherheitsmaßnahmen, mein lieber Freund«, sagte der Major. »Sehr scharf in puncto Sicherheit, diese Misses Bale. Die hinter dem Zelt, Tatty, ist dort, damit niemand den Botticelli unter der Zeltleinwand durchschieben kann.«
»Aber sie können doch nicht wirklich glauben, er sei wertvoll.«
»Doch, das tun sie.«
»Und ist Luckraft deshalb dabei?«
»Ja, er hilft manchmal bei der Bewachung, wenn er gerade dienstfrei hat. Dann fühlen sie sich noch sicherer. Tüchtiger Mann, sehr geduldig. Möchte wissen, was er mit seinem Kopf gemacht hat.«
Fen begann seinen Apfel zu essen.
»Wollen Sie es bei den Kokosnüssen versuchen?« fragte er.
»Nein. Ich treffe sie schon, nicht wahr, aber ich erreiche nie, daß sie herunterfallen. Die Sache ist die: Sie werden eingeklemmt oder angeleimt. Gehen wir und sehen wir uns den Botticelli an, damit wir es hinter uns haben.«
»Sie können sich den Botticelli jetzt nicht ansehen, weil ich das tue«, sagte der Pfarrer.
»Also gut«, sagte der Major nachgiebig. »Sie dürfen zuerst.«
Sie schlenderten weiter und standen nach wenigen Schritten vor dem Botticelli-Zelt.
Der Major riß die Augen auf.
Mit erstickter Stimme sagte er: »Also nein! Das ist neu!«
Ein Schild Pappe auf einer Leiter verkündete: DER BOTTICELLI. Ein zweites, am Zelt befestigt: NICHTRAUCHER. Ein weiteres: ALLE TASCHEN, KÖRBE ETC. MÜSSEN ABGEGEBEN WERDEN. Noch ein weiteres teilte mit: EINTRITT FÜNFZIG P.
Aber es war das fünfte Schild, das die Reaktion des Majors ausgelöst hatte. Es bestand aus zwei übergroßen Pappkartonscheiben, die mit einer Messingklammer konzentrisch zusammengeheftet waren; in die äußere Scheibe war ein Fenster geschnitten worden, das an der inneren das Wort BESETZT zeigte.
»Also nein!» sagte der Major noch einmal.
Pater Hattrick kam aus dem Zelt, murmelte bei Miß Bale etwas Anerkennendes, nickte Luckraft zu, nahm seinen mit Konfitüren gefüllten Korb unter Miß Bales Tisch heraus und trabte hinüber zum Pfarrer.
»Jetzt?« sagte er.
Der Pfarrer erwiderte: »Lassen Sie mir fünf Minuten, Pater, ja?«
»Ja, gewiß. Ich bleibe hier irgendwo in der Nähe, damit Sie mich finden können.« Er lief über den Rasen und bremste vor dem Gartenstand.
Miß Bale stand auf. Für den Augenblick wie angewurzelt sahen Fen, der Major und der Pfarrer fasziniert zu, als sie zu dem neuen Schild ging und die Innenscheibe drehte, um das Wort BESETZT durch das Wort FREI zu ersetzen.
Der Major sagte zum drittenmal: »Also nein!« Dann ließ er seine gesamten Einkäufe plötzlich auf das Gras fallen und krümmte sich in einem Anfall hilflosen Gelächters. »BVM im Bauernhimmel«, stieß er hervor.
Der Pfarrer funkelte ihn an. »Ich schätze christlichen Mystizismus nicht«, sagte er, »aber auch keine Witze darüber.«
»Lavaterhafter Humor«, meinte Fen.
Der Major unternahm eine Anstrengung und beherrschte sich wieder. Er bückte sich, sammelte Pfeife, Buch, Kuchen, Taschentücher, Narzissenzwiebeln und Johannisbeergelee wieder ein. Der Pfarrer ging zu Miß Bale, die an ihren Platz zurückkehrte.
»Tag, Titty«, sagte er. »Ich bin der nächste.« Er gab Miß Bale fünf Zehnpenny-Stücke und ging zum Zelt.
»Oh, aber, Herr Pfarrer«, quiekte Miß Bale.
»Ja, Titty, was ist denn?«
»Ihre Krickettasche. Sie müssen sie hierlassen.«
»Unsinn, Titty, natürlich lasse ich sie nicht hier. Sie glauben doch nicht, daß ich den Botticelli stehle, wie? Außerdem ginge das gar nicht, er ist zu groß. Selbst wenn ich ihn aus dem Rahmen schneide und zusammenrolle und einmal knicke, würde er nicht in meine Tasche passen.«
»Oh, aber, Herr Pfarrer!«
»Setzen Sie sich hin, Titty, und führen Sie sich nicht auf wie eine alte Glucke«, sagte der Pfarrer und verschwand im Zelt.
»Das geht schon in Ordnung, Miß Bale«, sagte Luckraft, dessen solides Amtsgesicht Beruhigung ausstrahlte.
»Na, ich weiß wirklich nicht«, antwortete Miß Bale untröstlich.
Der Major sagte: »Ich gehe ins Haus, um das Zeug da loszuwerden und den alten Fred zu holen. Sal kann ich leider nicht mitbringen, ich muß sie bei diesen Gaudiveranstaltungen einsperren, weil sie sonst herumläuft und jeden beißt. Auf später.« Er hinkte davon und wand sich zwischen Ständen, Zelten und Schaustellerbuden hindurch, um den Ostflügel des Hauses zu erreichen, wo sich seine Wohnung befand. Fen ging zu Pater Hattrick an der Kokosnuß-Wurfbude.
Nach anstrengenden fünf Minuten, in denen es beiden nicht gelang, eine Kokosnuß herunterzuwerfen, sahen sie den Pfarrer aus dem Botticelli-Zelt kommen. Er schaute sich um, entdeckte Pater Hattrick, winkte bestätigend und verschwand hinter dem Obststand. Pater Hattrick winkte zurück, warf seinen letzten Ball aufs Geratewohl, ergriff seinen Korb, verabschiedete sich von Fen und rannte los.
Der Standinhaber, beeindruckt von Fens Beharrlichkeit, wenn auch nicht von seinem Geschick, griff nach einer abseits liegenden Kokosnuß und machte sie ihm zum Geschenk.
Fen ging zum Gartenstand und kaufte sich eine große braune Papier-Tragetüte von dem Stapel, der dort zum Verkauf angeboten wurde; in sie stopfte er die kaum mehr zu bewältigende Anhäufung von Gegenständen, die er erworben hatte. Dann beschloß er, sich den Botticelli anzusehen. Miß Bale nahm sein Geld und seine Tüte in Verwahrung und lud ihn freundlich ein, das Zelt zu betreten. Sie machte die Klappe hinter ihm zu.
Das Zelt war, wie er feststellte, der Breite nach zweigeteilt durch ein Riesenstück abgenutzten schwarzen Samts, das sich von einer Seite zur anderen und vom Dach bis zum Boden erstreckte. In seiner Mitte befand sich, an Ketten vom Dachträger hängend, der Botticelli, von elektrischen Lampen aus verschiedenen Winkeln angestrahlt; der Botticelli war, wie Fen sofort sah, ein beinahe übernatürlich talentloses Gemälde eine gigantische weibliche Gestalt, von Engeln getragen, mit fließenden Gewändern, einem Heiligenschein, einem leeren Lächeln und mit nach unten zeigenden nackten Füßen. Der Stil war zweidimensional, die Komposition eintönig symmetrisch; die Farben waren zumeist Pastellblau, -rosa und -gelb; der Heiligenschein war so blaß, daß es aussah, als hätte er einen Defekt erlitten und sei im Begriff, ganz zu erlöschen. Fen trat an das Ding nah heran, um festzustellen, ob es eine Signatur gab, fand aber keine; der reichverzierte goldene Rahmen dagegen deutete ziemlich schlüssig auf irgendeinen begüterten, größenwahnsinnigen Amateur um 1870 hin, der vernarrt in die Präraffaeliten gewesen war.
Das einzige andere Objekt in dieser Hälfte des Zeltes war ein spartanischer Holzstuhl ohne Armlehnen, der direkt vor dem Bild aufgestellt war.
Fen ließ sich darauf nieder, richtete den Blick auf die Stummelzehen der Jungfrau und meditierte da das schließlich von ihm erwartete wurde über Religion.
Als er das Zelt zehn Minuten später verließ, war er überrascht, draußen den Mann von Sweb vorzufinden klein, dicklich und adrett in seinem grauen Anzug, grauen Mantel und mit seinem exakt ausgerichteten kleinen grauen Hut; anscheinend wartete er darauf, eingelassen zu werden.
»Hallo«, sagte Fen.
»Ah«, sagte der Mann von Sweb schwach.
»Sie sind also doch gekommen.«
»Ja, hier bin ich.«
»Gefällt es Ihnen?«
»O ja.«
»Sind Sie schon bei der Wahrsagerin gewesen?«
»Nein. Nein, noch nicht.«
»Sie müssen aber unbedingt hingehen«, meinte Fen.
»Oh, das mache ich, das mache ich.« Der Mann von Sweb senkte die Stimme. »Was genau ist eigentlich der Botticelli?« murmelte er.
»Ein Gemälde.«
»Ein Gemälde? Ist das alles? Was für ein Gemälde?«
»Religiös.«
»Ach du meine Güte, und ich habe schon bezahlt.«
Fen ließ ihn allein und suchte den Stand des Pfarrers, wo es im Augenblick keine anderen Kunden gab.
»Kommen und kaufen Sie«, sagte die kleine Miß Endacott und wurde schrecklich rot.
»Gewiß komme und kaufe ich, Miß Endacott. Ich nehme den dunkelroten Lampenschirm.«
»O ja, tun Sie das, er ist so hübsch, nicht? Nur kostet er leider fünfzig Pence.«
»Macht nichts, ich nehme ihn trotzdem. Und haben Sie Notenblätter von Broderick Thouless, oder sind sie schon verkauft?«
»O nein, sie sind noch da«, sagte Miß Endacott. »Sie haben mir ja solche Sorgen gemacht.«
»So? Warum?«
»Nun, sehen Sie, ich bin überzeugt davon, daß sie sehr wertvoll sein müssen. Aber als ich den Pfarrer fragte, was ich dafür verlangen soll, sagte er: >Sixpence.< Ich glaube, er wollte einen Witz machen, finden Sie nicht?«
»Doch, ja. Sie sind viel mehr wert.«
»Ja, aber wieviel mehr? Ich weiß nicht, was ich zu Ihnen sagen soll, wirklich nicht«, erklärte Miß Endacott schwächlich. »Wäre… wäre ein Pfund zuviel, glauben Sie?«
»Nein, das wäre es nicht. Es wäre zuwenig.« Fen hatte in Thouless’ Handvoll zerknüllter Banknoten geblättert, die er getrennt von dem anderen Geld in der linken Hosentasche verwahrte, und entdeckt, daß es vierzehn waren. Thouless ging es finanziell gut, aber wünschte er wirklich, daß Fen alles ausgab? »Sieben Pfund, Miß Endacott«, sagte Fen. »Ich gebe Ihnen sieben Pfund dafür.«
»Na bitte, ich wußte, daß sie wertvoll sind.« Miß Endacott überreichte strahlend ein Bündel Notenblätter, eine voll orchestrierte Partitur, mit Bleistift geschrieben. Fen öffnete aufs Geratewohl eines der Doppelblätter und las, mit roter Tinte zwischen Schlagwerk und ersten Geigen geschrieben: >3’/, Sek. Ungeheuer beginnt Kind zu verschlingen«; und, einige Takte danach: >jV3 Sek. Ungeheuer hat Kind verschlungen.< Er gab Miß Endacott das Geld.
Beim Ringewerfen fand er Padmore. Die Whirlybirds hatten sich verausgabt und machten eine Pause, so daß man Padmore >Ta-ra-ra Boumedienne< singen hören konnte. Er schien bemüht zu sein, eine Dose Chivers feine Erbsen zu gewinnen.
Fen bezahlte für einige Ringe und sagte: »Sie glauben also, daß mit Youings’ Aussage der Fall erledigt ist?«
Padmore ließ Bestürzung erkennen.
»Ja, natürlich. Ich meine, Ihren Worten habe ich entnommen, daß Youings sich ganz entschieden darauf festgelegt hat, Hagberd sei nicht am Gasthof gewesen und hätte nicht mit Gobbo gesprochen, als Routh ermordet wurde. Er war seiner Sache doch ganz sicher, oder?«
»Ja.«
»Na also.«
»Er könnte gelogen haben«, sagte Fen ruhig.
»Mein Gott!« Padmore warf abgelenkt einen Ring und stieß eine Puppe um. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Die Möglichkeit besteht.«
»Gewiß besteht sie, aber warum sollte er lügen? Er kann den Mord nicht begangen haben, denn als dieser geschah, sah der Pfarrer ihn vier Meilen vom Tatort entfernt am Gasthof… Sie versuchen, mich zum Umschreiben zu zwingen«, sagte Padmore anklagend.
»Ich dachte, Sie würden ohnehin umschreiben müssen, damit Routh und Hagberd einen aus dem Buch anspringen.«
»Das ist nicht umschreiben, das ist nur eine Frage des Einfügens von kleinen Schlaglichtern. Kennen Sie Clarence Tully?«
»Ein bißchen. Warum?«
»Er ist einer, mit dem ich sprechen sollte. Er hat Hagberd eingestellt, nachdem er Routh verlassen hatte. Ich habe ihn nicht gesehen, als ich das erstemal hier war. Ist er da?«
»Ich habe ihn ankommen sehen, aber ich weiß nicht, ob…« Fen schaute sich um. »Ja, da ist er.« Er wies in die Richtung. »Der große Mann mit den Gamaschen und der grünen Jacke.«
»Ah«, sagte Padmore, als er ihn ausgemacht hatte. »Gut.« Er konzentrierte sich auf seinen letzten Wurf. »Wenn ich die Erbsen gewinne, irrt Youings sich nicht, und er lügt nicht«, meinte er auf kindliche Weise. Er warf. Der Ring fiel säuberlich über den Holzwürfel, auf dem die Erbsen standen. »Sehen Sie sich das an«, sagte Padmore triumphierend.
Thouless trat zu ihnen. Er kaufte Ringe, rückte seine Bifokalbrille zurecht und holte aus.
»Augenblick, Thouless«, sagte Fen. »Hier ist Ihre Partitur.«
»Du lieber Himmel, ich will sie doch nicht.«
»Kann ich mir denken, aber ich auch nicht.«
»Wenn ich es mir recht überlege, will ich sie vielleicht doch. Wenn mich schließlich die Eingebung im Stich läßt, was früher oder später der Fall sein wird, kann ich das eine oder andere für spätere Filme daraus abschreiben.«
»Fen, Sie möchten nicht vielleicht diese Erbsen, wie?« fragte Padmore gewinnend. »Ich kann wirklich nichts damit anfangen.«
»Nein, danke«, erwiderte Fen. »Ich habe schon genug zu tragen.« Padmore seufzte und entfernte sich, vermutlich, um Clarence Tully zu suchen. »Na, kommen Sie, nehmen Sie Ihre Partitur«, sagte Fen zu Thouless.
»Passen Sie auf, warum kommen Sie nicht einmal und trinken einen Schluck mit mir und bringen sie da mit?«
»Nein.«
»Na ja, also gut«, sagte Thouless resigniert. Er ließ sich die Partitur geben und warf sie auf den Boden.
»Ich habe sieben Pfund dafür bezahlt«, sagte Fen. »Hier sind die anderen sieben Pfund, die Sie mir gegeben haben.«
»Nur sieben Pfund?« sagte Thouless gekränkt. »Ich hätte gedacht, daß man den Preis ein wenig höher angesetzt hätte.«
»Um genau zu sein, ich habe den Preis selbst festgesetzt.«
»Nun, dann hätte ich geglaubt, daß Sie ihn ein wenig höher ansetzen würden.«
»Dann hätten Sie mehr dafür bezahlen müssen.«
»Ja, das ist wahr.« Thouless warf einen Ring und traf den Standinhaber leicht am Bauch. »Wenn ich es mir recht überlege, sind sieben Pfund durchaus genug. Exorbitant, sogar. Sind Sie sicher, daß Sie die Partitur vorerst nicht doch behalten wollen?«
»Ganz sicher.«
»Hören Sie mal, was haben Sie da für eine Mißbildung von Lampenschirm?« fragte Thouless. »Wo, um alles in der Welt, finden die Leute so etwas nur?«