4. Kapitel
So trenne ab nur Hand und Kopf
Ich glaube, die richtige Frage, die man stellen muß…
ist einfach diese: Ist es mit Vergnügen geschehen –
war der Künstler glücklich, während er arbeitete?
John Ruskin >The Seven Lamps of Architecture<
1
Da seine Eltern starben, als er drei Jahre alt war, wurde Hagberd in einem Waisenhaus in Kalgoorlie aufgezogen, das auch die Geldsumme verwaltete, die sein Vater ihm hinterlassen hatte. Dieses Geld gab er, als er einundzwanzig war, sofort für vierhundert Morgen Land, eine Herde Hereford-Rinder und, mehr oder weniger als Nachtrag, für eine Hütte aus Fertigteilen aus, in der er wohnte. Er war mit Tieren stets gut zurechtgekommen, und die Rindfleischerzeugung dort war damals unbeträchtlich.
Andere Faktoren gab es nicht. Da der Bewässerungsplan für West-Australien noch in der Zukunft lag, fiel es Hagberd verzweifelt schwer, sein Vieh mit genug Wasser zu versorgen, geschweige denn die Weiden, die sie ernährten. Ferner mangelt es Australien an Mistkäfern. Riesige Gebiete des Kontinents besitzen überhaupt keine. Die fleißigen Käfer, die anderswo Kuhfladen verschlingen, als wären es Sahnebaisers, müssen importiert werden und neigen selbst dann zum Verschmachten. Demgemäß vergiften die Kuhfladen nicht nur das Gras, auf dem sie liegen, sondern auch in erheblichem Ausmaß die Umgebung.
Mit mehr Geld hätte Hagberd überleben können Geld für Brunnen und Gräben und einen einfallsreichen, aber teuren mechanischen Ersatz für die Mistkäfer, genannt McGlashan’s chemische Abräumanlage. Mit mehr Geld hätte er auch einen oder zwei Gehilfen einstellen können, statt zu versuchen, alles selbst zu machen. Nach drei Jahren gab er den ungleichen Kampf auf, verkaufte das Land und die Herde für den Preis, der ihm geboten wurde, und arbeitete seine Passage nach England ab.
Es war verständlich, daß er vorübergehend von der Landwirtschaft genug hatte. Was nicht so begreiflich erschien, war, daß ein Mann, der harter Arbeit so zugetan war, sich in einer Dampfkesselfabrik in den Midlands verdingte. Bestürzt darüber, festzustellen, daß seine Kollegen jeden Tag dann die Arbeit niederlegten, wenn sein Appetit auf Plackerei noch gänzlich ungestillt war, hatte Hagberd zunächst Proteste erhoben und sich, als das unwirksam blieb, angewöhnt, nach der Arbeit zurückzubleiben, um im Hof Zigarettenkippen zusammenzukehren, den Drahtzaun am Parkplatz zu flicken, Toiletten zu reinigen, Türrahmen zu streichen und Fenster zu putzen. Einmal wurde er um 22.30 Uhr entdeckt, als er den Boden im Büro des Personalchefs bohnerte, das zufällig nicht abgeschlossen war. Fünf Wochen und sechs Streiks nach seiner Einstellung wurde er entlassen. Was die Betriebsräte anging, so hätte er länger bleiben können: Da seine Leidenschaft für Arbeit offensichtlich krankhaft war, nahmen sie ihm sein Verhalten nicht übel, und außerdem stellte er einen wertvollen, von der Gewerkschaft gebilligten Vorwand dar, die Arbeit niederzulegen. Die Geschäftsleitung sah die Dinge jedoch anders: Es gab bereits Vorwände genug zum Streiken, ohne auch noch Hagberd auf die Liste zu setzen. Der geschäftsführende Direktor sah vom Fenster seines Büros aus zu, als der das letztemal das Werk verließ, zuckte zurück, als Hagberd auf die Windschutzscheibe des Direktoren-Rolls-Royce spuckte (dies aber nur, um, wie sich herausstellte, Vogelkot abzuputzen), läutete verzweifelt seiner Sekretärin, als Hagberd vor dem Haupttor stehenblieb, um in einem großen Geranienbeet das Unkraut auszurupfen, und atmete schließlich erleichtert auf, als die hagere, schlaksige Gestalt im Verkehr und Industrienebel verschwand.
Vorübergehend wußte Hagberd nichts mit sich anzufangen und beschloß, eine Pietätsreise nach Plymouth zu unternehmen, wo 1809 ein Vorfahr, ein Matrose, am Devonport-Kai gehängt worden war, weil er versucht hatte, seinen Kapitän über Bord zu stoßen, statt sich an seine Kanone gegen die Franzosen zu stellen. Und so kam er nach Devonshire. Und so kam es, daß er, als seine Gedanken sich wieder der Landwirtschaft und all den wunderbaren Tieren zuwandten, in Burraford von Routh eingestellt wurde, mit Folgen, die sich für sie beide als katastrophal erweisen sollten.
Hagberd war nicht nur ein australischer Rinderzüchter, er sah auch wie ein solcher aus. Er war sehnig, schlaksig, langarmig, weit ausschreitend. Er trug breitkrempige Hüte. Sein wettergegerbtes Gesicht sah aus wie eine Elle schlammiges Pumpenwasser, seine Nase war ein Haken. Er hatte kleine, leuchtend blaue Augen. Seine Ohren standen ab wie Krughenkel. Routh war äußerlich sein Gegenpol klein, teigig und mit weißer Haut, einem zusammengedrückt aussehenden Gesicht, dessen kleine Ohren und Nase wie von unsichtbarem Klebeband festgehalten zu sein schienen.
Und Routh war Hagberds Gegenpol nicht nur im Äußerlichen.
Routh war ein sehr schlechter Landwirt. Und wenn er glaubte, es sich leisten zu können, war er bewußt grausam zu Tieren.
Routh hörte Tiere gern vor Schmerzen schreien.
Schon vor Tagesanbruch bis nach der Abenddämmerung auf Rouths Farm umherstapfend, die Arbeit von drei Männern leistend, merkte Hagberd davon zunächst nichts, und als sein Argwohn sich schließlich regte, fand er es praktisch unmöglich, ihm zu trauen. Wie konnte jemand einem Tier Schmerz zufügen wollen? Hagberd, kein sentimentaler Mensch, wußte, daß die Aufzucht von Tieren manchmal Schmerz unvermeidlich macht. Auch kein Vegetarier, wußte er, daß die letzten Minuten im Schlachthaus oft Todesfurcht hervorrufen. Aber solange Tiere lebendig waren, konnte im Rahmen des Vernünftigen nichts zu gut für sie sein, oder?
Der Wendepunkt trat ein, als Hagberd entdeckte, daß Rouths Besuche in Longhempston, zwanzig Meilen entfernt, nicht nur dem Zweck dienten, Hasenhetzjagden zu verfolgen, sondern daß er auch eine Haupttriebkraft gewesen war, dieses verderbte Vergnügen wiederzubeleben. Es hatte andere Dinge gegeben zum Beispiel ein Leghorn-Huhn mit zwei gebrochenen Beinen, ein frischmilchendes Mutterschaf, bei dem ein langer Streifen von Wolle und Haut ausgerissen war, ein verhungernder streunender Hund mit eingetretenen Rippen aber sie mochten schließlich auf Unfälle oder Raubtiere zurückzuführen gewesen sein. Die Hasenhetzjagd war etwas anderes. Als Hagberd davon erfuhr, begann er auf seinen leise sprechenden Arbeitgeber ein Auge zu werfen, und er kam so eines Tages dazu, als dieser sich privat mit einem zwei Monate alten Kätzchen vergnügte.
Hagberd verprügelte ihn gründlich, ließ ihn im Dreck liegen und entfernte sich, um den Tierschutzverein zu verständigen, wobei er das sterbende Kätzchen als Beweismittel mitnahm. Aber Routh hatte mit Vorsicht geschnitten und zerfleischt. Ein Fuchs, sagte er; unzweifelhaft sei das Kätzchen von einem Fuchs gerissen worden. Der Veterinär hatte widerwillig zugegeben, daß das möglicherweise zutreffen konnte, und der Tierschutzverein hatte ebenso widerstrebend entschieden, keine Anzeige zu erstatten.
Routh sagte, das wolle er auch hoffen. Er hätte das arme kleine Ding untersucht, um festzustellen, ob man noch etwas tun könne, und auf einmal sei da Hagberd gewesen und hätte wie ein Wahnsinniger gefaucht und mit den Fäusten zugeschlagen. Er, Routh, wolle wegen dieser Mißhandlung nichts unternehmen, erklärte er selbstlos, da Hagberd offensichtlich im Kopf nicht richtig sei. Nichts zu unternehmen, fügte er hinzu (aber nur vor sich selbst), würde außerdem dazu beitragen, zu verhindern, daß wirklich einmal gründlich untersucht wurde, in welch stimulierender Weise er einen Teil seiner Freizeit verbrachte.
Hagberd verließ Routh und begann, für Clarence Tully zu arbeiten.
An einem düsteren Morgen Anfang Februar sah der Major, als er spazierenging, Hagberd einem Lämmchen das Hüpfen beibringen. Sonderbare Antipoden-Rufe der Aufmunterung ausstoßend, sprang Hagberd wiederholt in die Luft, und seine mächtigen Stiefel klatschten wieder in den eisigen Matsch, während das Lamm ihn mit schüchterner Faszination beobachtete. Als der Major zehn Minuten später wieder zurückhumpelte, hatte das Lamm begriffen.
»Na, seht euch das an!« rief Hagberd triumphierend. »Bockt wie ein Wildpferd!« Und der Major mußte, obwohl er bei dieser geschmacklosen Erwähnung von Pferden kurz die Stirn runzelte, zugeben, daß es ein erfreulicher Anblick war.
»Mit Heinz-Spaghetti wird jede Mahlzeit wunderbar«, sang er, ein knappes, aber freundliches Nicken von Hagberd erntend, der, durch seine unablässige Arbeit daran gehindert, jemals fernzusehen, einfach annahm, daß der vertraute Nachbar ganz plötzlich auf harmlose Weise den Verstand verloren habe.
Obwohl Hagberd mit seiner Stelle bei Clarence Tully sehr zufrieden war, verringerte sich seine Feindseligkeit gegen Routh nicht. Eher wurde sie von der Tatsache genährt, daß er nicht mehr in der günstigen Lage war, zu erfahren, was Routh trieb, so daß er sich mehr Schrecknisse vorstellte, als tatsächlich vorkamen (da Rouths Perversion, wie die meisten solcher Art, völlig beherrschbar war, ließ er es sich angelegen sein, sie aus Selbsterhaltungsgründen vorübergehend zu mäßigen). Außerdem gab es Mrs. Leeper-Foxe. Sie, eine Witwe, war durch ihren verstorbenen Mann mit einem hohen Einkommen aus den Fließband-Farmen versehen worden, und obwohl zu mäkelig, um mit ihnen direkt selbst etwas zu tun haben zu wollen, weidete sie sich doch unbestreitbar an entschnabelten Hühnern, Kälbern mit künstlich erzeugter Blutarmut und gefesselten Hälsen, an Schweinen, die, weil sie sich nicht bewegen konnten, einander die Schwänze ausrissen, und an anderen solchen Märtyrern der britischen Gier nach immer größeren Mengen von immer geschmackloserem, nährwertschwachem, hormongespritztem Fleisch. Um ihrer Verruchtheit die Krone aufzusetzen, suchte Mrs. Leeper-Foxe die Gesellschaft von Routh. Tatsächlich wurden die beiden mehr oder weniger zusammengeführt, weil niemand sonst sich mit ihnen abgeben wollte.
»Ich billige es nicht, wenn schlecht von Menschen gesprochen wird«, sagte der Pfarrer. »Wenn man von Routh jedoch nicht schlecht spräche, würde er überhaupt nie erwähnt werden können.« Er fügte hinzu, daß Mrs. Leeper-Foxe vermutlich mehrere gute Eigenschaften besäße, wenngleich noch keine davon bisher seine Aufmerksamkeit erregt hätte.
Von Mrs. Leeper-Foxe eingeladen, den Sherry mit ihr zu nehmen, legte Routh seinen blauen Anzug an und zupfte an seiner Stirnlocke, um klarzumachen, wie geehrt er sich fühlte, daß sie sich dazu herabließ, zu einem niedrigen Wesen wie ihm huldvoll zu sein; seine finanzielle Lage war gefährdet, und er hegte wohl vage Hoffnungen, sie überreden zu können, ihm auf irgendeine Weise unter die Arme zu greifen. Was sie anging, so suhlte sie sich in Rouths Ehrerbietung wie ein Nilpferd in einer Schlammbank. Der Unaussprechliche der Unsäglichen schmeichelnd, saßen sie gemeinsam in dem Raum, den Mrs. Leeper-Foxe den Salon des alten Pfarrhauses nannte, das sie drei Jahre zuvor gekauft und mit beträchtlichen Kosten umgebaut hatte. Sie schlürften Oloroso aus winzigen Gläsern und beklagten im Wechselgesang den Niedergang der Klassenstruktur. Nicht, daß Mrs. Leeper-Foxe oft oder für längere Zeit in Burraford gewesen wäre. Sie besaß noch zwei andere Häuser, und außerdem wurde sie, auch noch träge wie ein Esel, von regelmäßigen Ausflügen durch den rätselhaften Mangel an zureichendem Hauspersonal abgehalten.
»Routh und Mrs. Leeper-Foxe sind verwandte Seelen«, sagte der Major.
»Quatsch.«
»Routh und Mrs. Leeper-Foxe sind Wahlverwandtschaften.«
»Sie sollten weniger Goethe und mehr die Bibel lesen, Major.«
»Ich lese die Vulgata«, sagte der Major, der dergleichen keineswegs tat.
»Der Langgeschwänzte wird Sie am Ende doch holen, Sie werden sehen. Und Sie werden nicht sagen können, daß ich Sie nicht gewarnt hätte, nicht?« erklärte der Pfarrer.
»Nein«, bestätigte der Major. »Das werde ich nicht sagen können, nicht wahr?«
Inzwischen wurde der unglückliche Hagberd immer aufgebrachter.
Das Gras wuchs und wurde geschnitten (nachdem Hagberd vorher alle zu entdeckenden Fasanen-Hennen herausgeholt und sie zusammen mit ihrer Brut in Booth’s Gin-Kartons, geborgt von Isobel Jones, in Sicherheit gebracht hatte). Das Getreide reifte, die Kühe muhten, in der einzigen bis dahin unberührten Talmulde sproß eine neue Reihe von Hochspannungsmasten, die Dickinsons begannen für Kanada zu packen, und drei Meilen von Rouths Farm entfernt wurde ein nach langem und interessantem Todeskampf in einem verschweißtem Kunststoffsack ein Hündchen erstickt aufgefunden. Am Montag, dem 22. August, ging die kleine Bust zum Tee zu einer Schulfreundin und blieb zu lange.
Das war schlecht, weil es gewiß zu energischen Schlägen auf Hände, Waden und Gesäß führen mußte.
Die Eltern der kleinen Bust boten das seltene Schauspiel eines weder sich ergänzenden noch in Extremen gegenüberstehenden, sondern identischen Ehepaares identisch, wie es heißt, in allem außer Geschlecht und äußerer Erscheinung. Im Gespräch äußerten sie sich oft sogar im Chor, ohne irgend etwas verabredet zu haben, und in Fragen der Disziplin waren sie ebenso einer Meinung. Die Bust-Kinder wurden jedoch weniger wegen der gleichzeitigen Prügelanfälle ihrer Eltern bedauert, die, wenn auch häufig, so doch kurzlebig waren, als mehr wegen des gemeinsamen Humors der Eltern, der in seiner Art von fast unfaßbarem Schwachsinn war. Nach dem Satz von Michael Innes waren die Busts keine Menschen, bei denen ein Witz bereitwillig seine erste Frische verliert. Vierzehn Jahre nach der Geburt ihrer Tochter Anna May konnten sie einander noch immer zu Tränen hilflosen Gelächters bringen, indem sie nur ihren vollen Namen aussprachen; und sie hielten es für ein Meisterstück, ihre erste Albernheit damit fortgesetzt zu haben, daß sie ihren Sohn John Will nannten.
»Ein Glück für sie, daß sie zur Taufe nicht zu mir gekommen sind«, erklärte der Pfarrer, »sonst hätte ich sie mit ihren dummen Köpfen in das Taufbecken gesteckt, bis sie ertrunken wären.«
Es war aber natürlich eher der strafende als der humorvolle Aspekt von Anna Mays Eltern, der sie in erster Linie beschäftigte, als sie an jenem Montag gegen 19.30 Uhr auf dem wenig benutzten Weg nördlich von Bawdeys Measow dahinhastete. Wie sie der Polizei später erklärte, sei sie, was die Zeit angehe, ihrer Sache ganz sicher, weil ihre Uhr eine gute sei und sie Grund genug gehabt habe (so fügte sie dumpf hinzu), immer wieder auf sie zu blicken.
Fast ganz Bawdeys Meadow ist offenes Weideland; an einer Ecke ist jedoch ein altes, häßliches Wäldchen übriggeblieben, Rest einer der irrsinnig komplizierten Grundstücksverträge, die von altersher den Zeitvertreib von Landwirten bilden. Die Bäume wachsen dort dicht; wenngleich nicht tot, sehen sie tot aus. Auf dem schwammigen Boden ist Abfall verstreut nicht der Abfall von Spaziergängern, sondern von Leuten, die widerliche Dinge loswerden wollen und eine entsprechend widerliche Stelle gefunden haben, sie abzuladen. Das Licht dringt nur spärlich durch das Gewirr der krummen, bemoosten Äste. Eine hohe, ungepflegte Hecke verbirgt das Wäldchen von der Straße, außer an einer Stelle, wo ein schiefhängendes Gatter Zugang gewährt.
Jener Montagabend war kühl und bedeckt; das Wetter hatte zwei Stunden vor der richtigen Dämmerung eine falsche angekündigt. Ihrem Heim und der Vergeltung entgegeneilend, während ihre Waden schon vorzeitig prickelten, nahm Anna May die beiden Stimmen, die irgendwo auf der anderen Seite der Hecke miteinander murmelten, nur ganz undeutlich wahr. Sie hatte an andere, wichtigere Dinge zu denken.
Aber dann gellte eine der Stimmen plötzlich mit erschreckender Plötzlichkeit zu einem ungezügelten Schrei reiner Furcht empor.
Dem Geräusch des Schlages folgte ein Krachen im Unterholz, das sich rasch näherte. Anna May, die automatisch weiterlief, erreichte das Waldgatter gerade in dem Augenblick, als Routh aus den Bäumen heraustaumelte.
Seine zerschmetterte rechte Schläfe, durch Blut noch kaum getarnt, zeigte sich wie ein in einen Ball aus weißem Zelluloid hineingeschlagenes Loch. Blind nach einem Halt tastend, torkelte er und stürzte; Anna May hörte das Krachen, als sein Arm unter ihm brach. Schlagartig quoll das Blut, zuerst aus seinem Mund, dann aus seinem zerstörten Schädel. Er zuckte dreimal sehr heftig, bevor er endlich erschlaffte.
Danach erinnerte sich Anna May, daß Geräusche von einer anderen Person, die in Bewegung war, hörbar wurden und daß die Geräusche aufhörten, als die Person mit dem Schuh in den Kies am Straßenrand stieß. Aber zu diesem Zeitpunkt dachte Anna May an Unfall, nicht an Gewalttat, und außerdem hatte der Anblick Rouths sie so schockiert, daß sie vorübergehend nichts anderes wahrnahm. Mit beträchtlichem Mut trat sie vor und blieb bei ihm stehen. Sie hatte in der Schule bei Erster Hilfe gut aufgepaßt, und schließlich war das hier etwas, wo Erste Hilfe gebraucht wurde, also -
Sie bückte sich, um seinen Puls zu fühlen: nichts. Achtete auf seine Atmung: und nichts. Wilde Gedanken an Mund-zu-MundBeatmung zuckten durch ihr Gehirn. Aber wenn eine schwere Gehirnschädigung vorlag, nutzte diese Beatmungsmethode nichts, oder? Außerdem glaubte sie nicht, daß sie sich dazu überwinden konnte, es zu versuchen. Auf keinen Fall. Das würde bedeuten, daß sie ihr Haar auf diese gerinnende Schrecklichkeit würde fallen lassen und diese breite, weiße Nase zudrücken müssen; außerdem hätte sie auch noch in dem Mund herumtasten müssen, um sich zu vergewissern, daß die Zunge nicht zurückfiel und die Luftröhre blockierte. Nein, ausgeschlossen.
Hinter der Abschirmung verkrüppelter Bäume kicherte jemand, der zusah, plötzlich unbeherrscht.
Als die neue Konstellation klar und komplett sich ihrem Verständnis erschloß, wie ein neues Dia in einem Projektor, fuhr Anna May herum und rannte los, mit rasendem Herzen, trockener Kehle. Ihre Gummisohlen wirbelten kleine Staubwölkchen hoch, als sie verzweifelt auf dem Teer dahinklatschten, der vor alter Zeit glatt und schlüpfrig geworden war. Am nächsten lag, wie der Zufall es wollte, ihr eigenes Zuhause, und als es auftauchte, lief sie ein wenig langsamer und schaute sich um.
Niemand.
Anna May keuchte den Weg hinauf und durch die Tür und sah sich augenblicklich mitten in einem Tornado klatschender Hände; ihre Eltern waren an diesem Abend besonders wütend auf sie ihre so späte Heimkehr verzögerte den Aufbruch zu eigenem Ausgang –, und die wenigen abgerissenen Worte, die sie in dem Durcheinander herauszustoßen vermochte, wurden von ihnen als unbedachter Versuch gewertet, ihnen etwas zu erzählen, das sie im Fernsehen verfolgt hatte. Gemeinschaftlich plärrend, verurteilten sie Anna May dazu, ohne Essen ins Bett zu gehen. Und zunächst beharrte Anna May nicht auf ihren Einwänden. In ihrem gegenwärtigen verwirrten Zustand hatte sie das dumpfe Gefühl, es könnte sicherer sein, den Mund zu halten. Mr. Routh war unzweifelhaft tot niemand konnte noch etwas für ihn tun. Außerdem war es nicht schade um ihn. Mochte er liegenbleiben, während sie ihr Schlafzimmerfenster verriegelte und die Tür abschloß und sich hinsetzte, um in aller Ruhe nachzudenken.
Bis am folgenden Morgen war sie damit fertig und wichtiger noch, ihre Eltern waren bis dahin wieder einigermaßen ansprechbar. Mit weiteren Schlägen rechnend, als sie ihren Bericht wiederholte, sah Anna May sich statt dessen von lauten Beteuerungen zärtlicher Sorge überfallen. Sie müsse zu einem Arzt, zur Polizei, noch eine Scheibe Toast mit Marmelade essen, ein Fahrrad bekommen. Die Eltern Bust eilten hierauf davon zu Bawdeys Meadow.
Aber die Leiche war schon vorher gefunden worden.
Als sie sahen, was man damit angestellt hatte, fielen beide Busts in Ohnmacht.
Die Leiche war gegen 6.30 Uhr gefunden worden, elf Stunden nach dem Eintritt des Todes, und zwar von einem Landarbeiter namens Prance, der auf dem Weg zur Arbeit an Bawdeys Meadow vorbeikam. Sie war vom Wäldchen auf die Wiese geschleift worden, und Prance, der sie durch eine Loch in der Hecke erspähte, war auf die Böschung hinaufgestiegen, um sie besser sehen zu können.
Zum Glück war Prance ein außerordentlich phlegmatischer Mann.
Die Wiese fiel hier bis zur Hecke ziemlich steil ab, so daß die Wirkung dessen, was Prance sah, die eines fünfteiligen KleinkindPuzzles war, auf einem schrägen, mit grünem Filz bespannten Tisch mit der üblichen Ungeschicklichkeit eines Kleinkindes zusammengesetzt. Im Tod war Routh geteilt. Überdies waren wenngleich im Tod wie im Leben sein Rumpf Mittelpunkt seiner Anatomie blieb andere Teile von ihm umverteilt. Kurz, seine beiden Beine und Arme waren zuerst abgetrennt und dann im Verhältnis zu seinem Restkörper vertauscht worden: Seine Ober-Schenkel ragten jetzt aus den Schultern (wobei die Schuhspitzen bergauf wiesen), während seine Arme säuberlich parallel angeordnet, die Handflächen flach auf dem Gras auf beiden Lendenseiten angebracht zu sein schienen.
Nachdem Prance diese Komposition einige Sekunden lang ausdruckslos betrachtet hatte, nahm er anhand der Kleidung eine provisorische Identifizierung vor und ging dann zur nächsten Telefonzelle, um Constable Luckrafts Haus in Burraford anzurufen. Die Identifizierung mußte eine vorläufige sein, da der Kopf nirgends zu sehen war.
Luckraft holte sein Motorrad heraus und erschien sofort. Er hielt Wache, während Prance erneut zur Telefonzelle stapfte, diesmal um die Polizeistation in Glazebridge zu verständigen. Luckraft beschäftigte sich mit den Busts, hörte sich ihre Geschichte an, versprach ihnen, daß Anna Mays Aussage bei nächster Gelegenheit gehört werden würde, und schickte sie nach Hause. Er lief ein bißchen herum und stieß einige Meter innerhalb des Wäldchens auf die Waffe, mit welcher der Mord ausgeführt worden war.
Kriminalinspektor Widger und Kriminal-Constable Rankine erschienen mit dem Auto. Sie selbst hatten sich nicht beeilt: Prance hatte in einem Anfall rustikalen Mutwillens dem diensthabenden Sergeanten in Glazebridge die vollständigen Einzelheiten seiner Entdeckung aufgezählt und damit dafür gesorgt, daß sein Anruf als unerhört unreifer Dummerjungenstreich angesehen wurde. Nun starrte Widger betäubt auf die sterblichen Überreste, während er Luckraft befragte, der schließlich vorausging in das Wäldchen, damit die anderen den schweren Schraubenschlüssel betrachten konnten, der dort lag. Das eine Ende war leicht befleckt mit dem, was mutmaßlich Rouths Blut war.
»Der hat hier nicht wochenlang gelegen«, sagte Kriminal-Constable Rankine. »Man kann das erkennen, wenn man ihn nur ansieht.« Für Rankine existierten kein Faktum und keine Schlußfolgerung, so naheliegend sie auch sein mochten, solange er sie nicht in Worte gekleidet hatte.
»Hoffen wir, daß wir den Eigentümer ausfindig machen können«, sagte Widger.
»Und das Ding ist schwer genug, um diese Wirkung erzielt zu haben. Ein fester Schlag damit, nur einer, und pfft, du bist tot.«
Luckraft sagte, er glaube, der Eigentümer des Schraubenschlüssels sei wahrscheinlich er, Luckraft.
»Das ist Ihrer, Luckraft?« stieß Widger verwirrt hervor. »Wie, um alles in der Welt, kommen Sie denn darauf?«
»Er ist aus dem Werkzeugkasten an meinem Motorrad verschwunden, Sir. Ich habe eben nachgesehen.«
»Guter Gott, Mann, sperren Sie Ihren Werkzeugkasten denn nicht ab?«
Luckraft wies darauf hin, daß die Werkzeugkästen an PolizeiMotorrädern nicht mit Schlössern ausgestattet seien.
Luckraft sagte, der Schraubenschlüssel könne schon seit acht Tagen verschwunden sein; jedenfalls sei es acht Tage her, daß er Gelegenheit gehabt habe, den Kasten zu öffnen. Er fügte hinzu, natürlich fahre er im Bezirk ziemlich viel herum und müsse das Kraftfahrzeug oft vorübergehend unbeaufsichtigt stehenlassen, zum Beispiel, wenn er Leute in ihren Häusern aufsuche.
»Was wir hier haben, sieht also sehr nach einem Fall von Vorbedacht aus«, sagte Rankine. »Jemand sieht das Motorrad unbeaufsichtigt wie erwähnt worden ist. Er sagt zu sich selbst: >Ah, dieses Motorrad hat einen Werkzeugkasten, und im Werkzeugkasten wird ein schwerer Schraubenschlüssel liegen.< Er schaut sich um, damit er feststellen kann, ob er beobachtet wird.«
»Wenn es meiner ist, Sir, sind auf der anderen Seite meine Anfangsbuchstaben eingeritzt«, sagte Luckraft.
»Aha. Darf ich fragen, ob Sie ihre Anfangsbuchstaben immer in Polizeieigentum ritzen?«
»Ja, Sir. Immer. Weil es sonst geklaut wird. Von meinen Kollegen, meine ich.«
»Aha. Nun, wir werden den Schraubenschlüssel noch eine Weile nicht berühren. Sie selbst haben ihn nicht angerührt, hoffe ich?«
»Nicht im geringsten, Sir.«
»Was uns geradewegs zum Haupträtsel dieses Falles zurückbringt«, sagte Rankine. »Wo ist der Kopf des Toten? Mehrere Möglichkeiten bieten sich an. Der Kopf kann ganz in der Nähe vergraben sein. Oder er könnte mitgenommen worden sein. Oder er – «
»Still, Rankine«, sagte Widger. »Verfügen Sie sich zu einem Telefon und rufen Sie Country an dringend. Und rufen Sie Dr. Mason an – dringend.«
Rankine entfernte sich mit offensichtlichem Widerwillen zu Fuß, während Widger in das Polizeiauto stieg und in die andere Richtung davonfuhr, zu einem ersten Gespräch mit Anna May. Luckraft blieb auf seinem Posten und hielt die Neugierigen fern, die nun auf das erregte Klatschgerede der Bust-Eltern hin aufzutauchen begannen. Eine unternehmungslustige ältere Dame, eine Mrs. Jewell, erkletterte einen nahen Baum, um einen gehörigen Blick zu tun, erlitt aber beinahe auf der Stelle einen Schwindelanfall und stürzte herunter, trug zum Glück jedoch nichts Schlimmeres davon als ein paar Kratzer und Blutergüsse. Danach gelang es Luckraft, indem er von seinem Posten am Gatter wütend in die Gegend schrie, alles weitere Bäume erklettern und Böschungen ersteigen zu unterbinden, und da mangels dieser Aktivitäten praktisch nichts anderes mehr zu sehen war als die blaubekleidete massige Gestalt Luckrafts, reagierten die meisten Leute verhältnismäßig schnell auf die Aufforderung, weiterzugehen.
Inzwischen hatte in Burraford Rouths Kopf den ersten von seinen drei postumen Auftritten.
Eine Frau von Rouths Typ, so geldgierig und der Selbstachtung so entbehrend, daß sie bereit war, sogar für Mrs. Leeper-Foxe zu arbeiten, hatte sich bereit erklärt, im alten Pfarrhaus das Frühstück zuzubereiten, und vertrat entschieden die Meinung, daß an jenem Morgen im Eßzimmer alles seine Ordnung gehabt habe, als sie das Essen auf den Tisch stellte. Zwei Minuten später änderte sich das. Erpicht auf Schinken, Würstchen, Nieren, Tomate und Ei, bemerkte Mrs. Leeper-Foxe in ihrem malvenfarbenen Morgenmantel zunächst nichts von der zweifelhaften Ehre, die ihr vom Lehnstuhl in der Ecke am offenen Fenster aus erwiesen wurde. Sie hatte sich tatsächlich schon hingesetzt und bedient und hob die erste Gabel voll an den Mund, als sie wahrnahm, daß sie von einem fußballförmigen Gegenstand ohne Iris oder Pupille in den Augen und mit einer häßlichen Delle an der Seite angestarrt wurde. Und selbst dann reagierte sie nicht sofort. Ihre Hand bewegte sich weiter aufwärts, ihr Mund öffnete sich, und hinein ging der Bissen. Sie begann sogar zu kauen.
Dann dämmerte die Erkenntnis.
Der Bissen explodierte über den ganzen Tisch und machte Platz für einen Kreischanfall, als sei die Pfeife einer Dampfmaschine verklemmt. Nach wenigen Sekunden gab es zwei Dampfmaschinen; die Frühstücksköchin schwang sich hoch zu hysterischem Diskant hinauf, während Mrs. Leeper-Foxe aus Atemnot Pausen einlegte, so als wäre ein Maschinist auf sie hinaufgestiegen und ringe mit ihrem Ventil. Gemeinsam stürzten die beiden aus dem Haus und die Straße hinauf vorbei an >The Stanbury Arms< wo Jack Jones davon so verblüfft wurde, daß er halb aus dem Bett stieg und kamen schließlich an einem Puffer erschreckter Leute zum Stillstand, die entlang des Weges aus den verschiedenen Häusern gequollen waren. Als endlich ein gewisses Maß an Verständlichkeit hergestellt war, wurden zwei Männer zum alten Pfarrhaus entsandt, um nachzusehen; beide hatten, wie es der Zufall wollte, von der Entdeckung in Bawdeys Meadow noch nichts gehört. Sie waren demzufolge froh, aber nicht überrascht, festzustellen, daß Mrs. Leeper-Foxe und die Frühstücksköchin offenbar einer gemeinsamen morbiden Halluzination erlegen waren: Was der Lehnstuhl enthielt, war nicht Rouths abgetrennter Kopf oder der irgendeiner anderen Person, sondern eine lebensgroße Büste aus dem achtzehnten Jahrhundert in weißem Marmor.
Dieser Gegenstand erwies sich schließlich als Eigentum von Broderick Thouless, dem Komponisten. Durch eine verschlungene Reihe von unehelichen Zeugungen stammte Thouless von William Augustus, Herzog von Cumberland, dem Sieger von Culloden, ab (oder glaubte jedenfalls daran); und es war Cumberland, den die Büste angeblich darstellte. Normalerweise stand sie in einer Ehrenecke in Thouless’ Salon auf einem Mahagoni-Sockel, aber da der Komponist zur Zeit jeden Tag pausenlos mit der Arbeit für einen Film des Titels >Unlebendig< beschäftigt war, betrat er, wie der Zufall es fügte, achtundvierzig Stunden lang diesen Raum nicht, bevor er den Verlust entdeckte und sich telefonisch bei der Polizeistation in Glazebridge beschwerte, was er praktisch gleichzeitig mit dem Wiederauftauchen der Büste im alten Pfarrhaus tat. In dem Durcheinander nach Rouths Ermordung brauchte die Polizei einige Zeit, um den notwendigen Zusammenhang herzustellen, und so kam es, daß Thouless erst am Abend von Kriminalinspektor Widger besucht wurde, der inzwischen unter Kriminal-Chefinspektor Ling vom County Headquarters tätig war.
»Also, Sie, so wie ich es verstehe, haben Sie hier Nacht und Tag ein Fenster geöffnet. Ich meine Tag und Nacht.«
»Ja, das ist richtig. Zum Lüften.«
»Unklug von Ihnen, Sir, wenn ich das sagen darf.«
»Einladung für Einbrecher rund um die Uhr«, sagte Kriminal Constable Rankine, den Widger ungern mitgebracht hatte. »Wenngleich nicht einbruchsreif, bevor es dunkel wird, um genau zu sein.«
»Der Arme hat sich nie mit dem Diebstahlsgesetz von 1968 befaßt«, sagte Thouless unerwartet.
»Gewiß.« Solidarität hin, Solidarität her, Widger sah nicht ganz ohne Schadenfreude seinen mitteilsamen Kollegen zur Abwechslung einmal aus der Fassung gebracht. »Rankine, da haben Sie sich in die Nesseln gesetzt. Wie Sie je Ihre Prüfung für den Kriminaldienst bestanden haben – «
»Das Diebstahlsgesetz von 1968, Sir, hatte das Hauptziel – «
»Später, Rankine, später. Wenn Sie glauben, daß Sie fertig sind, möchte ich Mr. Thouless etwas anderes fragen. Sie sagen also, Sir, daß die Büste jederzeit während der vergangenen zwei Tage gestohlen worden sein kann.«
»Ja, ja, gewiß. Das sage ich doch die ganze Zeit. Wann kann ich sie wiederhaben?«
»Vorläufig noch nicht, Sir«, sagte Widger. »Es müssen Untersuchungen vorgenommen werden Fingerabdrücke und so weiter. Dabei fällt mir ein, daß wir Ihre Fingerabdrücke nehmen müssen, um sie ausscheiden zu können. Und auch die Ihrer Putzfrau.«
»Mrs. Dunwoody? Sie ist schon seit Tagen krank. Zugehfrauen weisen sehr wenig natürlichen Widerstand gegen Infektionen auf, muß ich feststellen«, sagte Thouless gereizt.
Während ihm die Fingerabdrücke abgenommen wurden, berichtete er von Hagberd, der manchmal Gartenarbeiten für ihn verrichtete. Er habe Hagberds Aufmerksamkeit auf die Büste gelenkt, teilte er mit, vor etwa zwei Wochen, aus Familienstolz, und die Gelegenheit benutzt, um eine Schilderung von Culloden und den Folgen zu geben, und Hagberd sei von Cumberlands Spitznamen sehr beeindruckt gewesen. »Schlächter«, habe er immer wieder gemurmelt, »Schlächter, Schlächter«, bis Thouless ihn erschrocken zum Heckenschneiden zurückgeschickt habe. Angesichts dessen schien es zumindest möglich zu sein, wie Thouless jetzt zu Widger sagte, daß es Hagberd war, der für den Diebstahl dieses an sich nicht sehr wertvollen Marmorbrockens verantwortlich war.
Und dem konnte Widger zustimmen, da seit dem Vormittag die moralische Gewißheit bestand, daß Hagberd, wenn nicht des Mordes an Routh selbst, so doch der Tat schuldig war, ihn zerlegt und seinen abgetrennten Kopf in der Gegend herumgeschleppt zu haben; Hauptfaktor bei dieser Entscheidung war die Entdeckung eines Messers, einer Säge und eines Beils alle blutbefleckt, alle mit Hagberds Fingerabdrücken und sonst keinen unter einem Haufen Kohlenanzünder in einem Anbau an Hagberds Häuschen.
Der Mann selbst blieb lange Zeit unauffindbar. Nach Constable Luckrafts Ansicht, die sich zuletzt als zutreffend erwies, hatte er sich nicht versteckt oder die Flucht ergriffen, sondern war einfach irgendwo an der Arbeit; und erst um zehn Uhr wurde er endlich ausfindig gemacht und festgenommen. Inzwischen hatte er weitere Vorkehrungen für Rouths Kopf getroffen, und diese hatten sich einem abendlichen Angler mitgeteilt, einem örtlichen, nirgends vermittelbaren Arbeitslosen namens Don Goodey, der vergeblich versuchte, Forellen aus einem Nebenarm des Burr schwarz zu fischen, von dem bekannt war, daß aus ihm seit dem Jahr von Alamein nichts mehr hatte herausgeholt werden können. Über seiner Naßfliege dösend, wurde Goodey von wie er später sagte >einer Erscheinung< geweckt, und er sah, als er die Augen öffnete, ein Floß eigentlich einen Packkistendeckel vor sich, das vor seinen Füßen an das Ufer stieß; darauf lag Rouths blutverschmierter Kopf, durch lange, schräg hineingetriebene Nägel festgehalten und >wie flehend< auf Goodeys Schuhspitzen starrend. Von dieser grauenhaften Erscheinung zu entnervt, um auf das stumme Flehen einzugehen, hatte Goodey einen lauten Entsetzensschrei ausgestoßen, seine Angelrute fallen lassen und die Flucht ergriffen, um geeignete Unterstützung zu suchen. Diese war jedoch nicht in der Nähe gewesen, so daß das Floß, bis die Ermittler zum Schauplatz zurückkehrten, stromabwärts in Richtung des Zusammenflusses von Burr und Glaze verschwunden war.
Versuche, es zu bergen, wurden unternommen, aber vergebens. Nur noch einmal tauchte es kurz im Dämmerlicht auf, als es an der Molkerei in Glazebridge in Flußmitte vorbeischwamm, aber identifiziert wurde es erst später, im Rückblick. Danach ging es vermutlich entweder unter oder schwamm flußabwärts nach Glazemouth und wurde aufs Meer hinausgetragen. Jedenfalls verschwand es spurlos und wurde nie mehr gesichtet.
Der Ablauf der Ereignisse war also wie folgt:
Sonntag oder Montag: Cumberland-Büste aus Thouless’ Salon gestohlen.
Montag, 19.30 Uhr: Mord an Routh.
Montagnacht/Dienstagmorgen: Leiche zerstückelt und an andere Stelle gebracht, Kopf fortgeschafft. (Den ärztlichen Feststellungen zufolge hatte die Zerstückelung sechs bis zehn Stunden nach dem Eintritt des Todes stattgefunden.)
Dienstag, 6.30 Uhr: Leiche von Prance entdeckt.
Dienstag, 10.00 Uhr: Kopf in Mrs. Leeper-Foxes Eßzimmer.
Dienstag, 10.10 Uhr: Büste in Mrs. Leeper-Foxes Eßzimmer.
Dienstag, 20.20 Uhr: Kopf fleht Goodey an.
Dienstag, 22.00 Uhr: Hagberd verhaftet.
Dienstag, 22.1} Uhr: Kopf durchschwimmt Glazebridge.
Abgesehen von diesen unbestreitbaren Tatsachen jedoch von diesen und der Entdeckung von Hagberds Werkzeugen unter den Kohleanzündern war die Ernte an Beweismaterial dürftig. Hagberd war es gelungen, den ganzen Tag durch den Bezirk zu wandern, ohne öfter als zweimal bemerkt zu werden, und dies jeweils in ganz normalem, unschuldigem Zusammenhang; er hatte kein Alibi, weder für den Mord noch für das Leeper-Foxe-Debakel aber das hatten, wenn man es genau nahm, auch viele andere Leute nicht; seine Fingerabdrücke fanden sich auf der Büste, aber ebenso die von Thouless und seiner Haushälterin, Mrs. Dunwoody. Trotzdem hatte infolge der allgemein bekannten Vorurteile und Antipathien Hagberds niemand ernsthafte Zweifel daran, daß die postumen Aufmerksamkeiten, die Routh erwiesen worden waren, das Werk seines verrückten Ex-Angestellten sein mußten, und er wurde deshalb angeschuldigt, die Beiseiteschaffung der Leiche geplant zu haben: grotesk, wie der Major meinte, wenn man bedachte, welche Mühe er sich gegeben hatte, sie möglichst vielen Leuten zu zeigen.
Was die Mordanklage anging, so kam sie später, nachdem Hagberd jedermann mit der ständig wiederholten Erklärung zur Erschöpfung gebracht hatte, er könne Routh getötet haben oder auch wieder nicht; er würde abwarten müssen, fügte er rätselhaft hinzu. Dasselbe äußerte er zur Zerstückelung und trieb damit sogar seinen eigenen Anwalt (von Clarence Tully gestellt) an die Grenzen seiner Geduld, weil er es unablässig wiederholte. Aber diese zweideutige Haltung rettete ihn nicht. Gewiß, niemand – nicht einmal der Leiter der Kronanwaltschaft war vollkommen davon überzeugt, daß die Tötung von Routh Hagberds Werk gewesen war; das Verhalten des Mörders, wie von Anna May geschildert, sprach gegen diese Vermutung, ebenso die Tatsache, daß der dem Constable Luckraft entwendete Schraubenschlüssel sich als säuberlich von Fingerabdrücken gereinigt erwies; wenn das, warum nicht die Werkzeuge, die im Anbau versteckt waren?
In der Rubrik >Motiv< freilich sprach alles gegen Hagberd, und da offenkundig war, daß Zurechnungsunfähigkeit jedermann der Notwendigkeit entheben würde, ein abschließendes Urteil zu fällen, wurde die Anklage weiterverfolgt, und nach den üblichen Gutachten der Psychiater wies ein Einzelrichter Hagberd für unbestimmte Zeit in Rampton ein. Sein seltsames Verhalten im Hinblick auf die Leiche hätte etwas Ähnliches ohnehin nötig gemacht, so daß selbst jene, die ihn für unschuldig des Mordes hielten, nicht das Gefühl haben mußten, Grund zur Auflehnung zu haben.