48

 

»Das glaub ich einfach nicht«, brummte Michelle Henke, die Gräfin von Gold Peak, während sie aus dem Fenster ihrer Suite im zweiten Obergeschoss von Honors Ostufervilla auf die Jasonbai hinausstarrte. »Was zum Teufel denkt Beth sich dabei?«

»Dass ihr keine andere Wahl bleibt«, sagte Honor hinter ihr nüchtern.

Auf Elisabeths Bitte hin hatte sie ihren Aufenthalt auf Manticore verlängert und teilte sich zwischen ihrer Villa, dem Mount Royal Palace und der graysonitischen Botschaft auf. Ihr einzigartiger Status als Adlige beider Sternnationen verlieh ihr eine ebenso einmalige Sichtweise. Obwohl so gut wie jedes Mitglied der Regierung High Ridge sie hasste – ein Gefühl, das zugegebenermaßen durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte –, war sie als Nachrichtenkanal für beide Seiten zu wertvoll, als dass man auf sie hätte verzichten wollen. Benjamin wusste, dass sie das Ohr der Königin hatte, Elisabeth wusste, dass der Protector ihr bedingungslos vertraute. Und selbst High Ridge war sich im Klaren, dass Honor die beste Quelle war, wenn er erfahren wollte, was Benjamin IX. wirklich von einer Idee hielt.

Deswegen besaß sie einen weit besseren Aussichtspunkt, als sie je gewollt hätte, und nun wurde sie Zeuge einer der beschämendsten Episoden in der gesamten Geschichte des Sternenkönigreichs von Manticore.

Doch andererseits habe ich in letzter Zeit so vieles gesehen, worauf ich lieber verzichtet hätte, erinnerte sie sich, und wandte sich Henke zu.

Durch den Tod von Michelles Vater und dem ihres älteren Bruders war sie zur Gräfin von Gold Peak geworden, doch ihr Schiff war der Achten Flotte zugeteilt gewesen, als die schreckliche Nachricht sie ereilte. Die Edward Saganami war unentbehrlich, und die Heimreise hätte so lange gedauert, dass Henke ohnehin nicht rechtzeitig zur Beerdigung erschienen wäre. Daher war sie an der Front geblieben, hatte ihre Trauer in der Dienstpflicht erstickt, bis White Haven sie auswählte, um Saint-Justs Waffenstillstandsangebot nach Manticore zu bringen. Caitrin Winton-Henke war durchaus in der Lage, die Grafschaft zu leiten, die nun Michelle gehörte, und Honor wusste, dass für beide Frauen die Last der Pflicht das einzige lindernde Mittel gegen die Trauer bedeutete.

Michelle hatte es jedoch nur wenige Stunden zu Hause ausgehalten. Nun war sie zum ersten Mal wieder mit Honor allein – von LaFollet und Nimitz abgesehen –, und Honor holte tief Luft.

»Mike, es tut mir so Leid«, sagte sie leise, und Michelle erstarrte und wandte sich rasch vom Fenster ab, als sie den Schmerz in Honors Sopran hörte.

»Leid?« Sie hob überrascht die Augenbrauen, und Honor nickte.

»Ich konnte nur eine Rakete aufhalten«, sagte sie. »Ich musste eine Wahl treffen, und …«

Sie verstummte mit starrem Gesicht, unfähig, den Satz zu beenden, und Henkes Miene wurde weich. Drei Atemzüge lang stand sie reglos da und kämpfte gegen die Tränen an, aber als sie schließlich das Wort ergriff, klang ihr rauchiger Alt fast normal.

»Du bist nicht Schuld daran, Honor. Weiß Gott, an deiner Stelle hätte ich mich genauso entschieden. Es tut weh – mein Gott, und wie es weh tut –, dass ich Dad und Cal nie wiedersehen werde. Aber durch dich ist wenigstens Mutter noch am Leben. Und meine Cousine. Und Protector Benjamin.« Sie streckte die Hand aus und fasste Honor bei den Oberarmen, dann schüttelte sie nachdrücklich den Kopf. »Niemand hätte mehr tun können als du, Honor. Niemand. Zieh das niemals in Zweifel!«

Honor blickte ihr in die Augen und schmeckte ihre Aufrichtigkeit. Seufzend nickte sie. Ihr Verstand wusste immer, dass sie richtig gehandelt hatte. Aber sie hatte fürchten müssen, dass Henke es anders sehen könnte. Bevor sie gewusst hatte, dass Henke ihr den Tod ihres Vaters und ihres Bruders nicht anlastete, hatte sie sich allein die Schuld für die Tragödie gegeben. Nun aber konnte Honor das Schuldgefühl ablegen, und sie atmete tief durch und nickte wieder.

»Ich danke dir für dein Verständnis«, sagte sie leise, und Henke schnalzte verärgert mit der Zunge.

»Honor Harrington, du bist im gesamten Universum vermutlich der einzige Mensch, der mir unterstellt, ich könnte dich nicht verstehen!« Voller Zuneigung schüttelte sie ihre Freundin, die sie weit überragte, dann trat sie ans Fenster und blickte wieder auf das kobaltblaue Wasser der Jasonbai hinaus.

»Und da das nun nicht mehr zwischen uns steht: Was wolltest du damit sagen, dass Beth keine Wahl hat

»Eine Wahl bleibt ihr nicht«, sagte Honor und akzeptierte den Wechsel auf ein weniger schmerzliches Thema. »Das Kabinett ist vereint. Sie hat keine andere Wahl, als die Politik des Kabinetts zu unterstützen – ansonsten müsste sie die einstimmigen Empfehlungen all ihrer verfassungsgemäß ernannten Minister zurückweisen. Theoretisch könnte sie das. Praktisch wäre es jedoch eine Katastrophe. Zumindest würde sie damit eine Verfassungskrise heraufbeschwören, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem wir sie am wenigsten brauchen können. Und wenn dieser Weg erst einmal eingeschlagen ist, wer weiß, wo er endet? Die Aussicht, verfassungsrechtliche Präzedenzfälle zu schaffen, ist immer Furcht erregend, und es lässt sich einfach nicht zuverlässig vorhersagen, ob der neue Präzedenzfall letztendlich die Krone oder das Kabinett stärkt – also das Oberhaus.«

»Himmel, Honor! Ich dachte, du magst keine Politik!«, rief Henke halb belustigt und halb ernst. Honor zuckte mit den Schultern.

»Ich mag sie wirklich nicht. Aber seit Elisabeths Rückkehr nach Manticore komme ich von … von einer Art Beraterfunktion nicht mehr los. Ich fühle mich nicht wohl darin und glaube auch nicht, dass ich diese Funktion besonders gut erfülle. Aber wenn die Königin mir sagt, sie brauche mich, dann kann ich wohl kaum nein sagen. Nicht nach allem, was geschehen ist. Und außerdem« – sie verzog den Mund zu einem Lächeln, dem jede Heiterkeit fehlte – »hat dadurch Benjamin die Gewissheit, dass Elisabeth nicht den Verstand verloren hat, ganz gleich, was ihre Regierung auch plant. Schließlich erfährt er von ihren Entscheidungen durch jemandem, dem er absolut vertraut.«

»Also wird die Regierung tatsächlich in den Waffenstillstand einwilligen? Obwohl wir nur einen Katzensprung vom Hauptsystem der Havies entfernt stehen?«

Henke klang, als traue sie noch immer ihren Ohren nicht, und Honor konnte es ihr nicht verdenken.

»Genau das wird sie tun«, sagte sie leise.

 

Oscar Saint-Just blickte Bürger Minister Jeffery Kersaint an und tat etwas, das Kersaint als völlig unmöglich erschienen wäre, hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen.

Er lächelte.

Auf dem sonst reglosen Gesicht Saint-Justs wirkte das breite Grinsen grotesk deplaziert. Angesichts der Umstände begriff Kersaint allerdings sehr gut, weshalb der Bürger Vorsitzende lächelte, denn er hatte – natürlich mit Kersaints Hilfe – das Unmögliche möglich gemacht.

»Sie haben es geschluckt?«, fragte der Diktator der VRH, als hätte er Kersaint beim ersten Mal nicht glauben können. »Sie sind darauf eingegangen? Auf alles

»Jawohl, Bürger Vorsitzender. Sie haben einem Waffenstillstand zugestimmt, in der beide Seiten die besetzten Sonnensysteme behalten, bis die Friedensverhandlungen abgeschlossen sind. Sie bitten sich aus, dass wir augenblicklich eine Delegation entsenden, um die einzelnen Punkte des Waffenstillstands zu bestätigen. Innerhalb zweier Standard-Monate sollen dann Friedensverhandlungen aufgenommen werden.«

»Gut. Gut! Mit Gerede können wir sie monatelang binden; wenn es sein muss, sogar Jahre!« Saint-Just rieb sich die Hände und wirkte wie ein Mann, den noch auf dem Schafott die Begnadigung erreicht hat – oder wenigstens ein zeitweiliger Aufschub der Hinrichtung.

»Wenigstens Jahre, Sir. Vielleicht können wir sogar einen echten Friedensvertrag erwirken.«

»Ha! Das glaube ich erst, wenn ich ihn vor mir liegen sehe«, entgegnete Saint-Just skeptisch. »Trotzdem, es ist wunderbar, Jeffery. Ich brauche nur Zeit zum Großreinemachen und um herauszufinden, was wir gegen die neuen manticoranischen Waffen unternehmen. Bürger Admiral Theisman hat in dieser Hinsicht bereits einige interessante Vorschläge auf Lager. Das haben Sie gut gemacht. Sogar sehr gut.«

»Danke, Sir.«

»Setzen Sie zusammen mit Mosley ein Kommunique auf. Es soll so optimistisch klingen, wie es nur geht. Und sagen Sie Mosley, sie soll schnellstmöglich ein Interview mit Joan Huertes verabreden.«

»Jawohl, Sir. Ich kümmere mich sofort darum«, stimmte Kersaint zu und verließ rasch Oscar Saint-Justs Büro.

Der Bürger Vorsitzende blickte abwesend in die Ferne und lächelte schwach. Dann sammelte er sich. Zeit fürs Großreinemachen brauche er, hatte er Kersaint gesagt. Nun, jetzt hatte er diese Zeit. Saint-Just drückte die Intercomtaste.

»Jawohl, Bürger Vorsitzender?«

»Rufen Sie Bürger Admiral Stephanopoulos zu mir. Und fordern sie ein SyS-Kurierboot nach Lovat an.«

 

»Bürger Admiral, ich habe einen Com-Anruf von Bürger Admiral Heemskerk für Sie«, meldete Bürger Lieutenant Fraiser, und Lester Tourville bekam eine Gänsehaut. Er blickte von der taktischen Übung auf Shannon Forakers Plot auf und hob die Hand, um sein Gespräch mit Foraker und Yuri Bogdanovich zu unterbrechen. Dann wandte er sich dem Signaloffizier zu.

»Hat der Bürger Admiral gesagt, worum es geht?«, fragte er mit einer scheinbaren Ruhe, die ihn selbst überraschte.

»Nein, Bürger Admiral«, sagte Fraiser und räusperte sich. »Aber vor ungefähr fünfundvierzig Minuten kam ein Kurierboot der SyS ins System«, bot er als Erklärung an.

»Ich verstehe. Danke.« Tourville nickte Fraiser zu und wandte sich wieder an Bogdanovich und Foraker. »Ich fürchte, diesen Anruf muss ich annehmen«, sagte er. »Wir machen später weiter.«

»Natürlich, Bürger Admiral«, sagte Bogdanovich ruhig, und Foraker nickte. Dann aber atmete der Operationsoffizier scharf ein, und Tourville sah sie fragend an.

»Die Alpband hat soeben die Seitenschilde hochgefahren, Bürger Admiral«, meldete Foraker. »Die DuChenois und die Lavalette ebenfalls. Ja, es sieht so aus, als machte Bürger Admiral Heemskerks gesamtes Geschwader Klar Schiff zum Gefecht.«

»Verstehe«, sagte Tourville und rang sich ein Grinsen ab. »Wie’s scheint, ist der Anruf des Bürger Admiral dringender als ich dachte.« Er blickte über die Flaggbrücke hinweg Everard Honeker an und sah in den Augen seines Volkskommissars, dass dieser ebenso wachsam war wie er. Honeker schwieg jedoch. Nun, es gab auch nichts mehr zu sagen.

Foraker drückte Tasten an ihrer Konsole; ohne Zweifel verfeinerte sie ihre Daten, als könnte sie damit noch etwas erreichen. Selbst wenn Tourville sich dem Befehl widersetzte, den Heemskerk ihm unweigerlich erteilen würde, wäre es vergebens. Da Heemskerks Geschwader bereits voll gefechtsklar war, wäre es glatter Selbstmord gewesen, wenn er die Seitenschilde seines Flaggschiffs hochgefahren oder die Waffensysteme aktiviert hätte.

»Ich nehme den Com-Anruf im Kommandosessel entgegen, Harrison«, sagte er zu dem Signaloffizier. Welchen Sinn hatte es, seinem Stab die schlechte Neuigkeit zu verschweigen?

»Aye, Bürger Admiral«, sagte Fraiser leise, und Tourville ging zum Admiralssessel. Er setzte sich und drückte die Comtaste in der Armlehne. Das Display vor ihm erhellte sich und zeigte das ernste, breitkiefrige Gesicht von Bürger Konteradmiral Alasdair Heemskerk, SyS-Flotte. Tourville rang sich ein Lächeln ab.

»Guten Tag, Bürger Admiral. Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte er sich.

»Bürger Admiral Tourville«, antwortete Heemskerk förmlich und ohne Betonung, »gemäß eines Befehls von Bürger Vorsitzender Saint-Just muss ich Sie anweisen, mich augenblicklich an Bord meines Flaggschiffs aufzusuchen.«

»Wohin soll’s denn gehen?« Das Herz pochte Tourville bis zum Hals, und er bemerkte, dass seine Hände schweißig waren. Merkwürdig. Im Gefecht hatte ihn solche Furcht noch nie ereilt.

»Wir begeben uns nach Nouveau Paris«, eröffnete Heemskerk ihm ohne mit der Wimper zu zucken, »und dort wird untersucht, inwieweit Sie in die Verschwörung Bürgerin Minister McQ …«

Seine Stimme riss ab, und sein Bild verschwand. Tourville stutzte. Was zum …?

»Heilige Mutter Gottes!«, kreischte jemand, und Tourville schwenkte seinen Sessel herum und blickte in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war. Dann versteifte er sich und starrte ungläubig in das visuelle Display. Fünf unerträglich hell gleißende Kugeln störten dort das samtige Schwarz des Alls. Riesig waren sie und strahlten so grell, dass es trotz der Automatikfilter im Display schmerzte, sie direkt anzusehen. Und während Tourville sie noch baff anstierte, bemerkte er, dass weiter entfernt noch mehr grelles Licht aufflackerte. Es war unmöglich, Einzelheiten der zweiten Eruption auszumachen, aber sie schien sich ungefähr in der Richtung ereignet zu haben, in der sich Javier Giscards Flaggschiff befand … und das SyS-Schlachtgeschwader, das den Chef der 12. Flotte im Auge behalten sollte.

Lester Tourville riss den Blick von den verblassenden Plasmabällen los, die einmal die Schiffe von Bürger Konteradmiral Heemskerks verstärktem Geschwader gewesen waren. Auf der Flaggbrücke herrschte Totenstille, der Stille ähnlich, die ein Mikrofon im Vakuum des Weltraums aufnimmt, und er schluckte mühsam.

Dann wurde der Bann gebrochen, denn Shannon Foraker blickte von der Konsole auf, mit der sie soeben einen völlig unverdächtig erscheinenden Aktivierungscode in das taktische Datennetz gesendet hatte. Und dieser Code hatte einen der zahlreichen Operationspläne ausgelöst, die im Laufe der vergangenen zweiunddreißig Minuten von ihr an die Schiffe der 12. Flotte gesendet worden waren.

»Hoppla«, sagte sie.

 

Oscar Saint-Just hatte wieder einen Bericht zu Ende gelesen, kritzelte die elektronische Unterschrift und drückte den Daumen in den Scanner. Das nenne ich einen produktiven Morgen, dachte er, nachdem er die Zeitanzeige in der Ecke des Displays angesehen hatte. Produktiv nicht nur für ihn.

An der diplomatischen Front wirkte Kersaint wahre Wunder. Er hatte die Manticoraner beschwatzt, die erste Verhandlungsrunde auf Haven abzuhalten. Und dabei war es ihm tatsächlich gelungen, diese Narren High Ridge und Descroix in endlose Diskussionen um die Form des Konferenztisches zu verwickeln! Der Bürger Vorsitzende erlaubte sich ein seltenes Schmunzeln und schüttelte den Kopf. Bei dieser Geschwindigkeit würde es Monate dauern, bis man irgendeinen substanziellen Punkt berührte, und das sollte ihm nur recht sein. Nichts besser als das. Die Volksrepublik stand noch unter Schock über die plötzliche Unterbrechung der Feindseligkeiten. Und manch einer würde gewiss – zunächst – erbost sein über die ›Kapitulation‹ der Republik, denn als solche schienen die Manticoraner und die interstellaren Nachrichtenagenturen das Geschehen zu betrachten. Doch auch diese erbosten Personen würden schon recht bald entdecken, dass eigentlich etwas anderes geschah: Manticore wurde daran gehindert, republikanische Sonnensysteme einzunehmen, die es sich im Grunde frei aussuchte.

Währenddessen machte die Volksflotte (oder genauer gesagt die vereinten Streitkräfte, die alle regulären Waffengattungen unter dem Oberbefehl der SyS zusammenfassen und ersetzen würde) erste Fortschritte im Umgang mit den neuen manticoranischen Waffen. Tatsächlich erwartete Saint-Just im Moment Bürger Admiral Theisman zur üblichen Mittwochs-Konferenz. Der Bürger Vorsitzende gestattete sich einen kurzen Augenblick der Selbstzufriedenheit. Theisman hatte sich als ausgezeichnete Wahl erwiesen. Er befehligte die Zentralflotte mustergültig. Der Bürger Admiral beschwichtigte die regulären Offiziere, und es trat offen zutage, dass es ihm an politischem Ehrgeiz mangelte. Damit beruhigte er panische Stimmen, die einen weiteren Putschversuch befürchteten. Zudem hatte er genau begriffen, dass seine Lebenserwartung und sein Kommando über die Zentralflotte davon abhing, ob Saint-Just mit ihm zufrieden war.

Sobald Giscard und Tourville einträfen und diese beiden ›Misshelligkeiten‹ erledigt wären, konnte Saint-Just sich dem allgemeinen Großreinemachen beim Militär zuwenden, und …

Die Welt erbebte wie irr.

Saint-Just hatte dergleichen noch nie erlebt. Gerade noch saß er hinter seinem Schreibtisch im Sessel; im nächsten Moment lag er darunter und konnte sich nicht erinnern, wie er dorthin gekommen war. Dann brach der Explosionsdonner über ihn herein und schmerzte ihm selbst in seinem schalldichten Büro in den Ohren. Wieder erbebte die Welt. Und wieder, jedes Mal gefolgt von ohrenbetäubendem Donner.

Saint-Just rappelte sich auf und musste sich am Schreibtisch festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren; eine Serie von schwächeren Stößen schüttelte ihn durch. Die Stöße schienen sich von ihm zu entfernen, und er hustete; Staub hing in der Luft. Der muss aus dem Teppich stammen, dachte er und wunderte sich, dass sein Gehirn noch zu solchen Schlüssen fähig war. Über ihm hing ein zweites Staubband in der Luft; es musste von der Decke stammen. Faszinierend. Er beobachtete, wie sich das obere Band heransenkte und mit dem niedrigeren vereinigen wollte.

Er konnte nicht sagen, wie lange er so dagestanden und beobachtet hatte, bis eine neuerliche Störung ihn aus seiner Halbbenommenheit riss. Etwas krachte gegen die Wand des Gebäudes und sandte eine weitere Stoßwelle durch das Bauwerk. Dieser Stoß war schwächer als die anderen, aber er wiederholte sich unablässig, wenigstens ein Dutzend Mal. Dann hörte Saint-Just plötzlich Pulsergewehre jaulen und Dreiläufer tödlich fauchen; jetzt wusste er, was die schwächeren Stöße verursacht hatte.

Sturmshuttles. Sturmshuttles hatten Löcher in die Außenwand des Turms geschossen und sich dann in die Breschen gebohrt und Sturmtruppen ausgespien.

Er fuhr zu seinem Schreibtisch herum, riss die Schublade auf und nahm den Pulser an sich, den er dort für Notfälle verwahrte. Dann drehte er sich um und rannte zur Bürotür. Er wusste zwar nicht, was vorging, aber er musste verschwinden, bevor …

Die Tür löste sich in eine Splitterwolke auf, bevor er sie erreichte. Die Gewalt der Explosion schleuderte ihn zurück und riss ihm den Pulser aus der Hand. Die Waffe prallte gegen die Wand und schlug neben der Türöffnung auf den Boden. Saint-Just schüttelte den Kopf und richtete sich auf Hände und Knie auf. Sein Gesicht war überströmt von Blut. Es rann ihm aus zahllosen oberflächlichen Schnitten und Kratzern, die ihm die umherwirbelnden Türsplitter beigebracht hatten. Das war nun egal. Stur begann er, zum Pulser zu kriechen. Für ihn zählte nur noch, diese Waffe zu erreichen, sich aufzurappeln und das Vorzimmer zu durchqueren. Er wollte den geheimen Liftschacht auf dem Korridor erreichen, der zum Dachhangar führte.

Vor ihm krachte ein Fuß zu Boden, und Saint-Just erstarrte, denn der Fuß war gepanzert. Geduckt starrte er den Fuß an, und dann folgten seine Augen widerwillig dem rußgeschwärzten Bein aus synthetischem Stahl. Als sein Blick einen Punkt erreichte, der fünfundzwanzig Zentimeter über Augenhöhe lag, hielt er inne, denn er sah nun in die Mündung eines Pulsergewehrs, Militärausführung.

Unfähig zu begreifen, wie ihm geschah, kniete Saint-Just vor dem Fuß, obwohl weitere Füße durch die Trümmer seiner Bürotür trampelten. Aus dem Vorzimmer drang Rauch herein, und von fern hörte er Gebrüll und Schreie, überlagert vom unverkennbaren Lärm der Handpulser und schwerer Waffen. Nur das Geräusch der Füße jedoch schien ihm direkt ins Gehirn zu dringen, in einer makellosen, reinen Klarheit, als brauchte er dazu keine Ohren. Nun kamen noch mehr Fußpaare hinein: drei weitere in Panzeranzügen, einer in den üblichen Stiefeln der Volksflotte.

Ein Exoskelett jaulte auf, und eine gepanzerte Faust packte Saint-Just beim Kragen. Rau und mühelos, aber nicht brutal, zog sie ihn auf die Füße, und er wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Er wollte klar sehen können. Mehrere Sekunden brauchte er dazu, doch am Ende hatte er es geschafft. Und als er in Thomas Theismans Augen blickte, presste er die Lippen zusammen.

Der Bürger Admiral stand zwischen vier hoch aufragenden Panzeranzügen des Volks-Marinecorps, und Saint-Just kniff die Augen zusammen, als er den Pulser in Theismans Hand sah. Es war die Waffe, die er fallen gelassen hatte. Saint-Just krümmte unwillkürlich die Finger, als wollte er den Pistolengriff umfassen, den er nicht mehr hielt.

»Bürger Vorsitzender«, sagte Theisman gleichmütig, und Saint-Just fletschte die Zähne.

»Bürger Admiral«, brachte er zur Antwort hervor.

»Sie haben zwo Fehler begangen«, sagte Theisman. »Nein, eigentlich sogar drei. Der erste bestand darin, dass Sie mir den Befehl über die Zentralflotte gaben, ohne mir einen neuen Volkskommissar zuzuteilen. Ihr zwoter Fehler war, dass Sie Admiral Gravesons Datenbanken nicht vollständig haben löschen lassen. Es hat ein wenig gedauert, bis ich die Datei fand, die sie darin versteckt hatte. Ich weiß nicht, was geschehen ist, als McQueen losgeschlagen hat. Vielleicht ist Graveson in Panik ausgebrochen und hatte Angst zu handeln, nachdem McQueen Sie nicht sofort zusammen mit Pierre erwischte, wie es geplant war. Wie auch immer, in der Datei verriet sie mir, mit wem ich Kontakt aufnehmen könnte, falls ich jemals dort weitermachen wollte, wo McQueen aufgehört hat.«

Er schwieg, und Saint-Just starrte ihn für die Dauer eines Herzschlags an, dann warf er den Kopf zurück.

»Sie haben drei Fehler erwähnt«, sagte er. »Was war der dritte?«

»Die Feindseligkeiten zu beenden und Giscard und Tourville nach Haven zurückzubeordern«, antwortete Theisman tonlos. »Ich weiß nicht, was bei Lovat geschehen ist, aber ich kenne Giscard und Tourville. Ich nehme an, dass sie beide schon tot sind, aber ich bezweifle, dass sie sich einfach auf den Rücken gelegt und Ihren Schergen die Kehlen dargeboten haben. Ich würde vermuten, Sie haben einige Verluste zu beklagen. Das Entscheidende war aber etwas anderes. Mit Ihrem Befehl haben Sie jedem regulären Offizier verraten, dass neue Säuberungen bevorstehen … und das wollten wir nicht noch einmal mit uns machen lassen, Bürger Vorsitzender.«

»Also nehmen Sie meinen Platz ein, oder was?« Saint-Just lachte krächzend auf. »Sind Sie denn wirklich so wahnsinnig, meine Stelle einnehmen zu wollen?«

»Ich will Ihren Posten nicht und werde mein Bestes tun, um ihn nicht annehmen zu müssen. Wichtig ist hier nur eins: Die anständigen Männer und Frauen in der Republik dürfen nicht länger zulassen, dass jemand wie Sie diesen Posten bekleidet.«

»Und was jetzt?«, herrschte Saint-Just ihn an. »Ein großer Schauprozess vor der Hinrichtung? Legen Sie den Proles und den Reportern Beweise für meine Verbrechen vor?«

»Nein«, sagte der Bürger Admiral leise. »Ich glaube, solche Prozesse haben wir hier schon zu oft gesehen.«

Theisman hob den Pulser und richtete ihn aus einem Meter Entfernung auf Saint-Justs Stirn. Der havenitische Diktator riss die Augen auf.

»Adieu, Bürger Vorsitzender.«

 

ENDE

 

Honor Harrington kehrt zurück in:

»Die Raumkadettin von Sphinx«!

Honor Harrington 11. Wie Phoenix aus der Asche
titlepage.xhtml
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_000.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_001.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_002.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_003.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_004.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_005.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_006.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_007.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_008.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_009.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_010.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_011.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_012.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_013.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_014.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_015.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_016.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_017.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_018.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_019.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_020.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_021.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_022.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_023.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_024.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_025.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_026.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_027.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_028.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_029.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_030.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_031.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_032.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_033.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_034.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_035.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_036.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_037.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_038.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_039.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_040.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_041.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_042.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_043.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_044.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_045.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_046.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_047.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_048.html
Honor_Harrington_11._Wie_Phoeni_split_049.html