11

 

Honor saß in ihrem neuen Büro des TLF-Centers und hatte sich in Schreibtischarbeit vergraben, als es sanft an die Tür klopfte. Beim ersten Mal hörte sie das leise Geräusch nicht, so tief war ihre Konzentration. Es klopfte erneut, diesmal begleitet von einem ostentativen Räuspern.

Erst dieses Räuspern erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie blickte auf.

»Commander Jaruwalski ist jetzt da, Ma’am«, informierte James MacGuiness sie in dem Ton, den er für jene privaten Augenblicke reservierte, in denen er seinen widerspenstigen Schützling schelten musste. Honor lachte leise. Seine Augen antworteten mit einem Funkeln, das man nur sah, wenn man ihn genau kannte, doch sein Blick blieb ernst. Honor sammelte sich und setzte ein angemessen nüchternes Gesicht auf.

»Ja, Mac«, sagte sie demütig. »Würden Sie den Commander bitte hereinführen?«

»Nur einen Augenblick, Ma’am«, antwortete er und trat an ihren Schreibtisch. Die Tischplatte war bedeckt mit Datenchips, den Überresten ihres Arbeits-Mittagessens, einer klebrig wirkenden Kakaotasse, dem harten Krustenrand eines Stücks Limonenkuchen, einer zu Zwei Dritteln leergegessenen Schüssel mit Staudensellerie und einem leeren Bierkrug. Honor beobachtete ihren Steward milde lächelnd dabei, wie er die Unordnung – mit Ausnahme der Datenchips – dazu bewegte, sich säuberlich auf das Tablett zu teleportieren, auf dem er ihr das Mittagessen gebracht hatte. Das war gewiss nicht annähernd so leicht, wie er es erscheinen ließ, und sie grinste, als er mit flinken Fingern die Datenchips verschob, sodass sie geordnet wirkten. Eine weitere Sekunde verwandte er darauf, die Blumen in der Vase auf der Anrichte zurechtzurücken, Nimitz und Samanthas Sitzstangen zu überprüfen und Honors Uniform mit einem kritischen Blick zu mustern. Eine Fussel auf ihrer Schulter entlockte ihm ein leichtes Stirnrunzeln, und mit leisem Schniefen schnipste er sie fort.

»Nun werde ich Commander Jaruwalski hereinführen, Ma’am«, sagte er und entschwand voll asketischer Majestät mit seinem Tablett. Das geräumige Büro hinterließ er wie durch Zauberkraft sauber und ordentlich.

Nimitz, der an Samanthas Seite ruhte, bliekte spöttisch. Honor spürte die Wonne, die sie teilten, und fragte sich, was sie mehr erheitere: die geheimnisvolle Weise, in der MacGuiness Ordnung aus dem Chaos schuf, oder die feste Hand, mit der er Honor zu leiten wusste. Eigentlich spielte es aber keine Rolle.

»Ich weiß auch nicht, wie er das macht«, sagte sie zu ihnen. Beide ‘Katzen sandten ihr ein stilles Gelächter, das im Hintergrund von Honors Bewusstsein widerhallte.

Sie betrachtete die beiden kopfschüttelnd, dann schob sie den Stuhl etwas zurück und wartete auf ihre Besucherin.

Wie eigenartig, dachte sie. Genauer gesagt, würden viele Leute es eigenartig finden: James MacGuiness musste der reichste Steward in der ganzen Royal Manticoran Navy sein. Das hieß, wenn er überhaupt noch zur Navy gehörte. Honor hatte ihm testamentarisch vierzig Millionen manticoranische Dollar vermacht, und er war nicht auf die dumme Idee gekommen, ihr das Erbe zurückzahlen zu wollen, nachdem sie lebend wieder aufgetaucht war. Die meisten Menschen hätten sich, zu solchem Reichtum gekommen, selbst Dienstboten gehalten, doch MacGuiness hatte auf seine wortlose Art deutlich gemacht, dass er Honors Steward sei und dies auch zu bleiben beabsichtige.

Eher halbherzig hatte sie versucht, ihn als Haushofmeister von Harrington House auf Grayson zurückzulassen, denn zweifellos besaß er eine ausgeprägte Gabe, das dortige Personal zu managen (welches nach Honors Ansicht viel zu umfangreich war, aber wen kümmerte schon ihre Meinung?). Ferner wusste sie, dass Clinkscales und ihre Eltern seine unaufdringliche Tüchtigkeit sehr vermissen würden. Nimitz und Samantha hatten ihre Jungen auf Grayson zurückgelassen, denn sie waren nun alt genug, um von Pflegeeltern erzogen zu werden. An Baumkatzen, die sie bei ihren täppischen Streichen wachsam im Auge behielten, herrschte mit Hera, Athena, Artemis und den Baumkatern auf dem Gut von Harrington wahrlich kein Mangel. In den seltenen Fällen, in denen eine weibliche Baumkatze, die einen Menschen adoptiert hatte, Nachwuchs bekam, gab sie ihre Jungen ungefähr im Alter von zwei bis drei T-Jahren in die Obhut von Pflegeeltern. Aus dem Bedürfnis, an der Seite ihres Gatten zu bleiben, während er mit dem Verlust seiner mentalen Stimme rang, hatte Samantha das Pflegearrangement lediglich ein wenig vorgezogen.

Über zwei T-Jahre lang aber hatte MacGuiness den Kätzchen als menschlicher Ziehvater gedient. Honor wusste genau, wie schwer es ihm gefallen war, die verschmusten, wilden Bällchen aus flaumigem Fell zurückzulassen, und sie hatte auch deren traurige Sehnsucht bei seinem Aufbruch gespürt. Immerhin hatte er ihr nicht folgen müssen, wenn sie Grayson verließ. Auf Honors ›posthume‹ Bitte hin hatte die RMN ihm erlaubt, den Dienst zu quittieren, damit er dauerhaft in Harrington House bleiben konnte. Sie gestand sich ein, dass sie darum nicht nur ersucht hatte, weil er in ihrem graysonitischen Haushalt eine solch bedeutende Rolle spielte. Sie hatte ihn bereits in zu viele Raumgefechte mitgenommen und – mit knapper Not – wieder hinausgeführt. Fortan sollte er in Sicherheit leben können.

Niemand schien ihr eine Wahl zu lassen. Sie war sich noch immer nicht sicher, wie Mac schon wieder seinen Willen durchgesetzt hatte. Gestritten hatten sie darüber nie; dazu bestand keine Notwendigkeit. Mit einer Art geistigen Judos, das er mit einer Virtuosität einzusetzen wusste, neben der Honors Fertigkeit im Coup de vitesse verblasste, wich MacGuiness jeder Diskussion aus, indem er einfach an Bord der Paul Tankersley erschien; gerade rechtzeitig, bevor das Schiff sich auf die Reise ins Sternenkönigreich begab. Auch die Navy hatte MacGuiness nicht ihrem institutionalisierten Ordnungssinn unterordnen können. Mac war nie wieder in den aktiven Dienst zurückgekehrt und zeigte auch keinerlei Neigung dazu – trotzdem schien das niemand zu wissen. Indem er ihr, Zivilist der er war, als Steward diente, brach er unzählige Geheimhaltungsvorschriften, da war Honor sich sicher. Allein die Brisanz des TLF-Materials, zu dem er Zugang besaß, musste jeden guten (weil paranoiden) Spionageabwehrspezialisten des ONI in einen Anfall von Berserkerwut stürzen! Niemand aber schien den Mut zu haben, MacGuiness davon in Kenntnis zu setzen, dass er sich über die Bestimmungen hinwegsetze.

Und wenn Honor ehrlich war, wollte sie es gar nicht anders. Früher war ihr schon der Gedanke, einen persönlichen Diener ständig um sich zu haben, albern und anmaßend vorgekommen. In gewisser Weise ging es ihr noch immer so – doch war MacGuiness genauso wenig ihr Diener, wie Nimitz ihr Haustier war. Wie sie ihr tatsächliches Verhältnis charakterisieren sollte, wusste sie nicht genau zu sagen, aber das bedrückte sie nicht weiter. Nur eins zählte: Ob sie nun Commodore, Admiral, Gutsherrin oder Herzogin hieß, sie war noch immer James MacGuiness’ Captain, und er war nach wie vor ihr Betreuer und Freund. Auch als Zivilist und Multimillionär.

Sie lachte wieder, doch dann kehrte MacGuiness mit einer dunkelhaarigen, falkengesichtigen Frau in der Uniform eines Commanders der Royal Manticoran Navy zurück, und Honor verbannte das warme Lächeln aus ihrem Gesicht. Es fiel ihr nicht schwer, eine ernste Miene aufzusetzen, denn düstere Emotionen umgaben die andere Frau wie ein Nebel – Verbitterung und wachsame Furcht, die nur durch einen milden Anklang von Neugier aufgehellt wurden. Wie von einer groben Hand wurde Honor von diesen Gefühlen gepackt, und vermochte sich kaum zu beherrschen; fast wäre sie vor Mitgefühl sichtbar zusammengezuckt.

Ich glaube, mein Verdacht trifft voll ins Schwarze. Hätte ich mich doch nur geirrt. Aber vielleicht können wir hier ein Unrecht wenigstens teilweise wieder gutmachen.

»Commander Jaruwalski, Hoheit«, verkündete MacGuiness mit der makellosen Förmlichkeit, die er für Gelegenheiten aufsparte, bei denen Besucher zugegen waren.

»Danke, Mac«, sagte Honor, erhob sich und reichte Jaruwalski die Hand. »Guten Tag, Commander. Ich freue mich, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich haben.«

»So kurzfristig war es nun auch wieder nicht, Hoheit.«

Wie Honor sprach Jaruwalski in Sopranlage, doch hatte ihre Stimme einen abgespannten, niedergeschlagenen Unterton. »Und wenn ich ehrlich sein soll, bin ich in letzter Zeit nicht gerade übermäßig beschäftigt«, fügte sie hinzu und verzog den Mund zu einem misslungenen Lächeln.

»Ich verstehe.« Honor drückte ihr fest die Hand – einen Moment länger als unbedingt erforderlich –, dann deutete sie auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. »Bitte nehmen Sie Platz, und machen Sie es sich bequem.« Sie wartete, bis Jaruwalski sich gesetzt hatte, dann zog sie die Brauen hoch. »Mögen Sie zufällig ein Bier, Commander?«

»Äh, jawohl, Hoheit. Ich trinke Bier.« Jaruwalski empfand eindeutig grenzenloses Erstaunen über die Frage, und es schien sich ein wenig durch die Trübsal zu bohren, die sie einhüllte wie ein Leichentuch.

»Gut!«, rief Honor und blickte MacGuiness an. »Bringen Sie uns doch zwo Old Tilmans, Mac.«

»Sofort, Hoheit.« Der Steward blickte Jaruwalski höflich an. »Wünscht der Commander noch etwas zu ihrem Bier?«

»Nein, danke. Ein Bier reicht mir völlig … Mr. MacGuiness.« Die kurze Pause und das zögerliche Benutzen der zivilen Anrede verriet, dass Jaruwalski nicht genau einzuordnen wusste, welchen Status MacGuiness denn nun besaß, doch war diese Frage im Augenblick gewiss für sie zweitrangig. Aus dem Geschmack ihrer Gefühle ging zweifelsfrei hervor, dass sie im Laufe des vergangenen T-Jahres nicht gerade häufig von Flaggoffizieren auf ein Bier eingeladen worden war.

»Sehr wohl, Ma’am«, murmelte MacGuiness und zog sich mit einer Geräuschlosigkeit zurück, bei der jede Baumkatze neidisch werden konnte.

Jaruwalski blickte ihm kurz nach, dann wandte sie sich resolut Honor zu. Ihre Körpersprache verkündete stillen Trotz, und wieder musste Honor sich zusammenreißen, um nicht zusammenzuzucken, so tief war die Bitterkeit hinter den dunklen Augen der anderen Frau.

»Gewiss fragen Sie sich schon, weshalb ich Sie zu mir gebeten habe«, sagte sie nach einer sehr kurzen Pause.

»Jawohl, Hoheit, das frage ich mich«, entgegnete Jaruwalski mit gedämpfter Stimme. »Sie sind der erste Flaggoffizier, der mich sprechen möchte, seitdem der Seaford-Untersuchungsausschuss seine Beratungen beendet hat.« Sie grinste und ruckte leicht und verbittert den Kopf. »Sie sind sogar der erste höhere Offizier, der einer Begegnung mit mir nicht auszuweichen versucht, wenn Sie mir meine Offenheit vergeben.«

»Das erstaunt mich nicht«, sagte Honor gelassen. »Unter den gegebenen Umständen hätte mich eher alles andere gewundert.« Jaruwalski blähte die Nasenflügel, und Honor spürte, dass sie innerlich die Zähne fletschte. Davon ließ sie sich nichts anmerken und fuhr fort: »Von jeher neigte man dazu, den Überbringer schlechter Nachrichten zu bestrafen, und das gilt auch für Leute, die es eigentlich besser wissen müssten. Genauer gesagt: Auch für Leute, die es tatsächlich besser wissen.«

Jaruwalski beherrschte sich und stutzte nicht, doch Honor spürte, wie der Commander sich innerlich still auf die Lauer legte. Jaruwalski war Honors Ruf nur unwillig gefolgt und wachsam und abwehrend ins Büro gekommen; mit verzweifeltem Stolz versuchte sie, ihre seelischen Wunden zu verbergen. Eindeutig war sie darauf gefasst, dass diese Wunden einmal mehr offen gelegt und aufgerissen würden, doch Honors Antwort hatte ihr diese Erwartung genommen. Nun wusste sie nicht, weshalb Honor sie zu sich bestellt hatte, und dadurch fühlte sie sich unsicher und schutzlos. So sehr sie die Verachtung, die man sie hatte spüren lassen, auch schmerzte: damit hatte sie umgehen können. Nun wehrte sie die Hoffnung ab, dass dieses Gespräch irgendetwas anderes hervorbringen könnte als neue Beschämung.

Noch wagt sie es nicht, mir zu trauen, dachte Honor und nahm den Blick von ihr, denn MacGuiness kehrte mit zwei großen, beschlagenen Gläsern voll Bier in der Farbe dunklen Bernsteins zurück. Er hatte Zeit gefunden, zusätzlich einen Teller mit Käse und rohem Gemüse auf das Tablett zu packen. Lächelnd schüttelte Honor den Kopf, während er seine Last am Rand ihres Schreibtischs abstellte und für jeden eine schneeweiße Serviette hervorzauberte.

»Sie sind allzu sehr darauf bedacht, die Leute zu verwöhnen, Mac«, sagte sie ernst.

»Das würde ich so nicht sagen, Hoheit«, entgegnete er ruhig.

»Jedenfalls nicht vor einem Gast«, neckte sie ihn. Nun war es an ihm, sie mit einem Kopfschütteln zu bedenken. Dann zog er sich erneut zurück, und Honor wandte sich wieder Jaruwalski zu.

Fast gegen den eigenen Willen hatte der Commander während Honors verbalem Schlagabtausch mit dem Steward gelächelt. Nun straffte Jaruwalski die Lippen, aber ihre Wachsamkeit hatte ein wenig nachgelassen. Honor wies auf das vor ihr stehende Glas.

»Prost, Commander«, sagte sie einladend und nahm einen großen Schluck. Nur mit Mühe verkniff sie sich ein entzücktes Seufzen, während ihr das süffige, erfrischende Gebräu die Kehle hinunter rann. Auf Hell hatte sie vieles entbehren müssen, aber am meisten hatte ihr Old Tilman gefehlt. Für die SyS-Garnison hatte es havenitisches Bier gegeben (hätte man es wieder ins Pferd zurück gegossen, so hätte man die Welt verbessert, fand Honor), und sowohl Wärter als auch Gefangene hatten sich als Bierbrauer versucht. Niemand hatte ein halbwegs genießbares Getränk zustande gebracht. Was das anging, hegte Honor den Verdacht, dass der Hopfen oder die Gerste auf Sphinx womöglich eine kaum merkliche Mutation erfahren hatte, die für den einzigartigen, unvergleichlichen Geschmack der Biere aus der Tilman-Brauerei verantwortlich war. Jaruwalski schien das Seufzen zu hören, das Honor sich nicht gestattete, und ihr Mund zuckte. Dann setzte sie sich zurück und nahm genießerisch selber einen kleinen Schluck.

Honor vermied es sorgfältig, ihre tiefe Befriedigung zu zeigen, die sie empfand, weil der Commander sich entspannte. Für einen Flaggoffizier war es nicht üblich, Untergebenen während der Dienststunden Bier oder andere leicht alkoholische Getränke anzubieten. Andererseits war ihr Gespräch von vornherein ungewöhnlich, und Jaruwalski hatte sich seit der Zwoten Schlacht von Seaford 9 garantiert oft genug in unerträglich formellen Besprechungen wiedergefunden.

Honor ließ der anderen Frau noch einige Augenblicke Zeit, dann beugte sie sich vor und stellte das Bierglas ab.

»Wie ich schon sagte, fragen Sie sich gewiss, was ich von Ihnen will«, sagte sie leise. Jaruwalski versteifte sich wieder ein wenig, gab jedoch keine Antwort. Sie erwiderte nur Honors Blick und wartete ab. »Wahrscheinlich haben Sie schon einige Vermutungen angestellt, weshalb jemand aus der Admiralität mit Ihnen sprechen wollte – keine besonders angenehmen, wie ich mir denke. Sie konnten sich nicht vorstellen, warum ich Sie zur mir ins Büro bitten sollte. Außer natürlich, dass ich Sie den Hirnmühlen-Kandidaten als ›abschreckendes Beispiel‹ präsentieren möchte, denn mittlerweile haben Sie bestimmt begriffen, dass Sie nach Seaford keine Aussicht auf eine Beförderung mehr hatten.«

Honors Ton war beiläufig, fast freundlich, und damit traf sie Jaruwalski umso tiefer, denn ihm fehlte die Schärfe, die sie in letzter Zeit schon so oft gehört hatte.

»Das habe ich mich gefragt, Hoheit«, sagte sie schließlich und versuchte dabei, den Schmerz und die Verbitterung zu verbergen. »Ich habe auch nicht geglaubt, dass Sie mir eine Verwendung in der Hirnmühle anbieten wollten«, fügte sie hinzu, um galligen Humor bemüht.

»Nein, das wollte ich nicht«, erwiderte Honor. »Aber vielleicht könnte ich Ihnen etwas anbieten, das Sie genauso interessant finden …«

»Sie könnten?« Nur die Überraschung verleitete Jaruwalski zu der Kardinalsünde, einem Flaggoffizier ins Wort zu fallen. Ihr dunkles Gesicht lief noch dunkler an, als sie das begriff.

»Ich könnte«, wiederholte Honor und lehnte sich mit dem Stuhl zurück. »Bevor wir allerdings weiterreden, Commander, sollte ich Ihnen wohl anvertrauen, dass ich einmal unter Elvis Santino gedient habe«, sagte sie und verstummte. Diesmal erwartete sie offensichtlich eine Antwort.

Jaruwalski neigte den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen.

»Tatsächlich, Hoheit? Das wusste ich gar nicht.«

Und worauf ich hinaus will, weißt du auch nicht. Aber das erfährst du schon noch, Commander.

»Jawohl, ich habe ihn auf meiner Raumkadettenreise kennen gelernt. In der alten War Maiden ging es nach Silesia, und er war Zwoter Taktischer Offizier.« Als Jaruwalski das hörte, ging ein kaum merkliches Zucken durch ihr Gesicht, und Honor grinste freudlos. »Vor diesem Hintergrund ahnen Sie vielleicht schon, weshalb ich gar nicht überrascht war zu hören, was in Seaford geschehen ist«, fügte sie mit spröder Stimme hinzu.

»Ich nehme an, er war nicht gerade ein … aufsteigender Stern, Hoheit?« Die Stimme des Commanders klang brüchig und verriet den Hass, der in ihr aufgewallt war, als Santinos Name fiel, aber auch ein humoriger Unterton lag darin.

»So könnte man es ausdrücken«, räumte Honor ein. »Sie könnten natürlich auch sagen, dass er als Taktischer Offizier vier astrografische Fixpunkte, ein Hyperlog, Annäherungsradar und einen Fluglotsen mit voller Computerunterstützung brauchte, um mit beiden Händen sein Hinterteil zu finden – an seinen guten Tagen.«

Diesmal war es Jaruwalski unmöglich, ihr Erstaunen zu kaschieren. Sie riss die Augen auf über den Ton, in dem Honor das vernichtende Urteil fällte, aber sie saß sehr still.

»Ich habe den Bericht des Seaford-Untersuchungsausschusses gelesen«, fuhr Honor nach einem Augenblick in normalerem Tonfall fort. »Weil ich Santino kannte, verstehe ich vermutlich besser als andere, was in seinem Kopf vorging – oder eben nicht vorging. Ich habe nie begriffen, wie er die Hirnmühle bestehen konnte. Seine Familie hat ausgezeichnete Verbindungen. Trotzdem ist es mir unbegreiflich, wie er selbst mit den allerbesten Beziehungen seinen letzten Rang erlangen konnte, denn seine Leistungszeugnisse sind einfach grässlich. Es hat mich allerdings nicht im Geringsten erstaunt, dass ihn die Panik ergriffen hat, als es wirklich zappenduster wurde.«

»Verzeihen Sie, Hoheit, aber bislang schienen die meisten höheren Offiziere zu glauben, er hätte in Panik verfallen sollen – sei es aber nicht. Zumindest dachte ich, man sei sich wenigstens einig, er hätte vorsichtiger sein müssen und nicht einen Frontalangriff auf einen offenkundig haushoch überlegenen Feind beginnen dürfen.«

»Panik ist nicht gleich Panik, Commander. Angst vor zu schlechten Chancen, Angst vor dem Feind, selbst Angst vor dem Tod ist eine Sache. Jeder von uns empfindet sie. Wir wären Idioten, wenn wir sie nicht empfinden würden, aber wir lernen, uns von diesen Ängsten nicht beherrschen zu lassen. Das dürfen wir nämlich nicht zulassen, wenn wir unsere Pflicht tun wollen.

Es gibt jedoch noch eine andere Art von Schrecken: die Angst vor dem Versagen, die Furcht, für eine Katastrophe verantwortlich gemacht zu werden oder Verantwortung übernehmen zu müssen. Das ist etwas anderes als Todesangst: die Angst nämlich, ein Desaster wie Seaford zu überleben und zeitlebens insgeheim ausgelacht zu werden, was für ein Idiot man war, sich in solch eine katastrophale Lage zu manövrieren. Und dass Elvis Santino wirklich ein Idiot war, machte seine Furcht nur umso schlimmer.«

Sie schwieg und legte den Kopf schräg. Dann musterte sie Jaruwalski mit ihrem gesunden Auge. Der Commander erwiderte ihren Blick fest, aber ihr war zweifellos unbehaglich zumute. Sie stimmte Honors Einschätzung Santinos vorbehaltlos zu, aber sie war nur Commander – ein Commander, dessen Karriere gegen die nächste Mauer gerast war. Ein Commander durfte keinen Admiral kritisieren, und sie konnte nichts sagen, was angesichts ihrer Lage nicht eigennützig geklungen hätte.

»Im Abschlussbericht des Ausschusses sind mir drei Punkte ins Auge gefallen, die sich mehr oder minder direkt auf Sie beziehen, Commander«, fuhr Honor fort. »Erstens: Ein Flaggoffizier entledigt sich unmittelbar vor dem Gefecht mit einem außerordentlich überlegenen Feind eines erfahrenen Operationsoffiziers, der so lange auf der Station gewesen ist, dass er die lokalen Bedingungen weit besser kennt als besagter Flaggoffizier. Zwotens: Der Flaggoffizier begnügt sich nicht damit, diesen unliebsam gewordenen Untergebenen seiner Pflichten zu entbinden, sondern nimmt sich die Zeit, ihn von seinem Flaggschiff zu entfernen und eine Depesche zu verfassen; in dieser Depesche begründet er die Entlassung besagten Offiziers mit ›unzureichendem Kampfgeist‹, ›ungenügender Vorbereitung‹ und ›mangelhafter Pflichterfüllung‹. Drittens … Sie haben sich niemals gegen die Vorwürfe verteidigt, Commander. Würden Sie zu diesen drei Punkten Stellung nehmen?«

»Ma’am – Hoheit – das kann ich nicht.« Jaruwalski waren ihre Strapazen an der Stimme anzumerken, und sie schluckte mühsam. »Admiral Santino ist tot, und mit ihm starben alle seine Stabsoffiziere und jedes andere Lebewesen, das vielleicht gesehen oder gehört hat, was wirklich vorfiel. Es wäre … Ich meine, wie kann ich erwarten, dass irgendjemand glaubt …«

Ihr brach die Stimme, und hilflos warf sie beide Hände hoch. Nur einen Augenblick senkte sich ihre Maske, und die Verwundbarkeit und die Verletzungen, die sie so sehr hatte verstecken wollen, blickten Honor aus ihren Augen an. Dann atmete Jaruwalski tief durch, und die Maske legte sich wieder über ihr Gesicht.

»Ich habe bereits selbst erlebt, Commander«, sagte Honor wie im Plauderton, »was geschehen kann, wenn man den Ruf eines Vorgesetzten infrage stellt. Niemand scheint es glauben zu wollen. In meinem Falle entstammte der Vorgesetzte einer sehr erlauchten, reichen Familie. Er besaß einflussreiche Freunde und Gönner, und ich war nur die Tochter sphinxianischer Freisassen ohne Verbindungen und ganz gewiss ohne Familienvermögen oder Einfluss, die mir den Rücken gestärkt hätten. Deshalb behielt ich Stillschweigen über sein Verhalten. Aber damit hätte ich mir beinahe meine Laufbahn ruiniert, und zwar nicht einmal, sondern mehrmals, bis wir uns schließlich auf dem Duellplatz von Landing City gegenübertraten.«

Jaruwalski riss erstaunt den Mund auf, als sie begriff, von wem ihr Gegenüber da sprach, doch Honor fuhr im gleichen beiläufigen Ton fort:

»Im Rückblick sehe ich jedoch, dass jeder, der ihn kannte, die Wahrheit augenblicklich durchschaut hätte. Ich hätte sie nur aussprechen müssen. Aber ich besaß niemanden, dem ich mich hätte anvertrauen können. Vielleicht hat mir auch das Selbstvertrauen gefehlt – der Glaube, dass die Navy mich genauso sehr schätzte wie einen nutzlosen, degenerierten, arroganten Parasiten, der zufälligerweise Sohn eines Earls war. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, habe ich mich irgendwo ebenfalls schuldig gefühlt. Ich hatte das Gefühl, zum Geschehenen irgendwie selbst beigetragen zu haben und dass es zu einem gewissen Teil meine eigene Schuld war.«

Sie pausierte und lächelte schief.

»Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor, Commander?«

»Ich …« Jaruwalski starrte sie an, und Honor seufzte.

»Nun, Commander, dann lassen Sie mich einmal darlegen, wie ich mir die Situation vorstelle, die auf dem Flaggdeck der Hadrian geherrscht hat, nachdem Lester Tourville die Hypermauer durchbrochen hatte. Ich bezweifle, dass Santino sich die Mühe gemacht hat, die Operationspläne zu sichten, die er von Admiral Hennessy geerbt hatte. Ich nehme an, er war völlig überrascht, und weil er sich nie mit Hennessys – und Ihren – Plänen auseinander gesetzt hatte, besaß er nicht den leisesten Schimmer, was er tun sollte. Ich glaube, er geriet in Panik, weil er wusste, dass die Admiralität seinem Gefechtsbericht entnehmen würde, wie hilflos er war. Dann haben Sie sich mit ihm vermutlich über die angemessene Reaktion gestritten. Sie haben seinen Absichten widersprochen, und er ließ seine Furcht und seine Wut an Ihnen aus, indem er sie ablöste. Vor dem Gefecht nahm er sich sogar noch die Zeit, die er eigentlich nicht hatte, und verschickte eine Depesche. Darin machte er lediglich allgemeine Beschuldigungen, die so nebulös gehalten waren, dass Sie unmöglich ihre Gegenstandslosigkeit beweisen konnten. Er wusste genau, dass er Ihnen damit die Karriere ruiniert. Außerdem hat er Sie damit nebenbei zum Sündenbock für alles gemacht, was nach Ihrer Abreise schief ging. Er wollte ganz offensichtlich den Eindruck erwecken, als hätte allein Ihre mangelhafte Vorbereitung – und nicht etwa die seine – diese vertrackte Lage heraufbeschworen. Entspricht diese Zusammenfassung in etwa den Gegebenheiten, Commander?«

Ein bitteres Schweigen entstand, während Jaruwalski unbeirrt Honor ins Auge starrte. Die Anspannung stieg und stieg, doch urplötzlich ließ der weibliche Commander die Schultern sinken.

»Jawohl, Ma’am«, hauchte sie so leise, dass Honor sie kaum hörte. »Das … ist es in etwa.«

Honor lehnte sich wieder zurück. In ihrem Gesicht stand nichts außer Gelassenheit und Nachdenklichkeit, während sie und ihre beiden Freunde ihre empathischen Sinne anstrengten, um Jaruwalskis leise Antwort zu prüfen. Für jemanden, gegen den Santino seine Beschuldigungen mit Recht vorgebracht hätte, wäre es ein Leichtes gewesen, Honor anzulügen und ihr zuzustimmen. Andrea Jaruwalski hingegen war, so stellten alle drei rasch fest, ohne Falsch. Großen Schmerz empfand sie, große Zukunftsangst und einen bitteren Groll darüber, dass vor Honor niemand zum gleichen Schluss gelangt war, aber sie log nicht. Honor atmete erleichtert und zufrieden zugleich durch.

»Das dachte ich mir doch«, sagte sie fast ebenso leise wie Jaruwalski. »Ich habe mir Ihre Noten im TLF angesehen. Sie scheinen mir nicht zu jemandem zu passen, dem es am Kampfeswillen mangelt. Die ununterbrochene Reihe von ausgezeichneten Leistungsbewertungen in Ihrer Personalakte ebenfalls nicht. Irgendjemand aber musste für Seaford den Kopf hinhalten, und Santino stand nicht mehr zur Verfügung. Außerdem fragten sich sogar Leute, die ihn kannten, ob er diesmal nicht vielleicht doch Recht gehabt haben könnte; sie trauten wohl selbst ihm nicht zu, ausgerechnet den Offizier abzulösen, den er am dringendsten brauchte. Da musste dieser Offizier es doch gehörig verbockt haben, oder nicht? Aber das war Ihnen doch wohl klar?«

Honor schwieg, und Jaruwalski nickte ruckartig.

»Natürlich war es Ihnen klar«, murmelte Honor. »Und Sie haben sich nicht verteidigt, indem Sie dem Untersuchungsausschuss Ihre Sicht der Dinge schilderten, weil Sie bezweifelt haben, dass man Ihnen glauben würde. Sie haben befürchtet, man würde annehmen, Sie wollten auf irgendeine Weise die schweren Beschuldigungen entkräften, die Santino ihnen zur Last legte – ganz egal wie, Hauptsache, Sie bekämen den Kopf wieder aus der Schlinge, nicht wahr?«

»Ja, ich habe wirklich nicht geglaubt, dass mir jemand glauben würde«, gab Jaruwalski mit düsterem Gesicht und hohl klingender Stimme zu. »Und selbst wenn jemand dazu bereit gewesen wäre – Sie haben es ja selbst gesagt: Santino war tot. Mein durch nichts untermauertes Ehrenwort hätte gegen das eines Offiziers gestanden, der mich wegen meiner Feigheit derart verabscheute, dass er sich die Zeit nahm, meine Inkompetenz in einem offiziellen Bericht festzuhalten, bevor er sich in eine aussichtslose Schlacht stürzte.« Sie zuckte hilflos und angespannt zugleich mit den Schultern.

»So ähnlich habe ich mir die Sachlage vorgestellt«, sagte Honor nickend. »Ich sehe Santinos Gesicht vor mir, während er diese Depesche diktiert, und ich weiß auch ein wenig zu viel über seinen ›Mangel an Kampfgeist‹. Und seine Trägheit. Und seine Angewohnheit, sich einen Sündenbock zu suchen.«

Nun hob Honor die Schultern, doch bedeutete die Geste bei ihr etwas ganz anderes. Schweigen dehnte sich zwischen ihnen aus. In Wellenkreisen schien es sich von Honors Schreibtisch auszubreiten und beide zu überschwemmen. Sie schmeckte Jaruwalskis grenzenlose Erleichterung, dass es doch einen Menschen gab, der ihr glaubte.

Der weibliche Commander hob das Bierglas und trank gierig, dann atmete sie tief durch. Ihr Gesicht wirkte nicht mehr verschlossen, und kaum dass es sich entspannte, verlor es seine maskenhafte Disziplin. Nun sah Jaruwalski fast hager aus, ihre Wangen wirkten eingefallen von der Erschöpfung und der Marter, die sie so lange verborgen hatte. Mit blitzenden Augen musterte sie Honors Gesicht.

»Hoheit, ich finde kaum die passenden Worte … Sie können sich nicht vorstellen, wie viel mir Ihr Verständnis bedeutet. Wahrscheinlich ist es zu spät, um meine Karriere noch zu retten, aber allein zu wissen, dass wenigstens ein Mensch begreift, was wirklich vorgefallen ist, das …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht ansatzweise ausdrücken, wie wichtig mir das ist. Aber so dankbar ich bin, ich muss mich trotzdem fragen, wieso Sie sich die Mühe machen, mit mir zu sprechen und es mir zu sagen.«

»Weil ich Ihnen eine Frage stellen möchte, Commander«, antwortete Honor. »Eine sehr wichtige Frage.«

»Gerne, Ma’am.« Eine schwache, neue Befürchtung trat in die Gefühle des Commanders: die Sorge, dass Honors Frage in irgendeiner Weise den noch so frischen Eindruck, Verständnis gefunden zu haben, zerstören könnte. Doch obwohl sie nun mit Grauen auf das Kommende wartete, schwankte weder Jaruwalskis Stimme, noch mied sie Honors Blick.

»Was haben Sie Admiral Santino geraten, Commander?«, fragte Honor sehr ruhig.

Jaruwalski zögerte keine Sekunde. »Ich riet ihm zu sofortigem Rückzug, Hoheit«, sagte sie. Sie kannte Honors Ruf, und Honor empfand Jaruwalskis Furcht, als wäre es ihre eigene: Die Furcht, der einzige Mensch, der das Geschehen tatsächlich durchschaute, könne letztlich doch noch zu dem Schluss gelangen, dass die Anschuldigungen des toten Admirals berechtigt gewesen seien und Jaruwalski dem Ratschlag ihrer Todesangst nachgegeben habe. Wenn Honor Santino auch als willensschwachen Unfähigen betrachtet hatte, hieß das noch lange nicht, dass die Frau, die von den Journalisten den Spitznamen ›der Salamander‹ bekommen hatte, den Schwanz eingekniffen hätte. Sie hätte nach einer Möglichkeit Ausschau gehalten, den überlegenen Gegner auf intelligente Art anzugreifen, statt ihm kampflos ihre Station zu überlassen. Doch Honor hatte eine Frage gestellt, und Andrea Jaruwalski hatte sie wahrheitsgemäß beantwortet, obwohl sie fürchtete, ihre Aufrichtigkeit könnte sie die einzige mitfühlende Person kosten, die sie nach mehr als einem T-Jahr in bitterer Schande gefunden hatte.

»Gut«, sagte Honor leise und lächelte schief, als der Commander zusammenzuckte.

Sie wusste nicht, ob sie Jaruwalskis Antwort auch dann für ›gut‹ befunden hätte, wenn der Link zu Nimitz und ihre eigene Empathie nicht gewesen wären; so aber erlebte sie unmittelbar, wie aufrichtig Commander Jaruwalski zu ihr war. Honor hoffte zwar, dass sie auch ohne den Link zu dem gleichen Ergebnis gekommen wäre, doch meldete sich nun ihre eigene Aufrichtigkeit nörgelnd zu Wort und zog in Zweifel, dass sie Jaruwalskis Antwort denn wirklich mit der nötigen Leidenschaftslosigkeit hätte begutachten können. Im Augenblick jedoch war diese Frage ohne Belang.

»Ich bin froh, dass Sie das sagen«, fuhr Honor schließlich fort. »Froh, weil ich es für die richtige Entscheidung halte. Man muss sich nur den Wert – oder besser, die Wertlosigkeit – von Seaford Neun vor Augen halten und daran denken, welcher Kampfkraft Sie sich gegenüber sahen. Und ich bin froh, dass Sie ohne Umschweife geantwortet haben. Ich hatte mir schon ein Bild von der Person gemacht, vor der Elvis Santino sich so klein fühlen würde, dass er ihretwegen seine Furcht gerade so lange überwindet, um sie zu ruinieren. Nun hatte ich Gelegenheit, diese Person selbst in Augenschein zu nehmen, und auch darüber bin ich froh.«

»Das sind Sie, Hoheit?« Jaruwalski klang verblüfft, als traue sie ihren Ohren nicht, und Honor nickte.

»Wir setzen bei einem Offizier der Königin ein gewisses Maß an … physischem Mut voraus, Andrea«, erklärte sie. »Im Großen und Ganzen liegen wir damit nicht verkehrt. Vielleicht wirft es kein besonders helles Licht auf die menschliche Intelligenz, dass unsere Offiziere mehr als den Tod fürchten, der Saganami-Tradition keine Ehre zu machen – zumindest in den Augen ihrer Kameraden. Wenn man einen Krieg zu gewinnen hat, ist diese Eigenheit jedoch ganz willkommen.

Doch was wir viel höher schätzen sollten, ist der moralische Mut, den ein Offizier besitzen muss, um jede Verantwortung auf sich zu nehmen, die sich ihm stellt. Dazu muss man über die ›Saganami-Tradition‹ hinausblicken und kommt an einem Punkt, an dem ein Offizier aus Pflichtbewusstsein etwas tut, was das Ende der eigenen Karriere bedeuten kann. Etwas, das ihr oder ihm sogar die Verachtung von Leuten einbringt, deren Meinung fraglichem Offizier etwas bedeutet, die aber nicht an Ort und Stelle waren und nicht die gleichen Entscheidungen treffen mussten. Einem meiner engsten Freunde musste ich befehlen, sein Schiff den Havies zu übergeben. Er war bereit, bis zum bitteren Ende zu kämpfen, und an seiner Stelle hätte ich wohl ähnlich gedacht. Meine Pflicht aber bestand darin, ihn daran zu hindern, das Leben seiner Leute in einem Gefecht zu opfern, das er nicht gewinnen konnte.

Es war sehr schwer, eine der schwierigsten Entscheidungen, die ich je treffen musste, und ich wäre deswegen beinahe gehängt worden. Aber selbst wenn ich gewusst hätte, was die Havies mir antun würden, wäre es dennoch meine Pflicht gewesen, den Befehl zu geben.«

Sie sah Andrea Jaruwalski tief in die Augen, und was sie dort erkannte, milderte ihren Blick.

»Ich glaube Ihnen, dass Sie Admiral Santino zum Rückzug geraten haben, und ich glaube, dass Sie es ihm aus den richtigen Gründen nahe legten. Nicht aus Furcht, sondern aus Vernunft und gesundem Menschenverstand. Es ist Ihnen nicht leichter gefallen, als mir mein Entschluss fiel, Alistair McKeon die Kapitulation zu befehlen, denn man bricht mit solchen Anweisungen wirklich die Tradition. Trotzdem kommt ein Zeitpunkt, an dem wir an der äußeren Form dieser Tradition vorbeischauen und uns auf die Gründe konzentrieren müssen, auf denen sie eigentlich fußt. Einen ganzen Kampfverband und das Leben so vieler Menschen aus einer vergeblichen Trotzgebärde heraus zu opfern, das hätte Edward Saganami niemals getan und auch von niemandem erwartet. Wenn auch nur eine entfernte Siegeschance bestanden hätte oder andere, wichtigere Beweggründe – wenn etwa Ehre und Ansehen des Sternenkönigreichs auf dem Spiel gestanden hätten oder wir beim Rückzug Gefahr gelaufen wären, das Vertrauen eines Verbündeten zu verlieren –, dann wäre ein Opfergang womöglich erforderlich gewesen. Aber einen zahlenmäßig derart unterlegenen Verband vor die Rohre eines übermächtigen Gegners zu führen, nur um ein Sonnensystem zu verteidigen, das von vornherein völlig wertlos war …«

Sie schüttelte bestimmt den Kopf.

»Sie haben es erkannt und Ihrem Vorgesetzten geraten, den gleichen Schluss zu ziehen. Er weigerte sich, weil ihm der moralische Mut fehlte, den Sie mit ihrem Ratschlag bewiesen hatten. Seine Erkenntnisverweigerung kostete nicht nur ihn das Leben, sondern jeden Mann und jede Frau an Bord seines Flaggschiffs – wahrscheinlich die meisten Menschen unter seinem Befehl und sämtliche Schiffe seines Kommandos. Wenn ich entscheiden sollte, welche Verhaltensweise ich bei einem Offizier im Dienst der Königin vorziehe, so weiß ich, welche Wahl ich treffen würde. Deshalb habe ich Sie zu mir gebeten.«

Jaruwalski hob fragend die Augenbrauen, und Honor lächelte.

»Ich habe noch keine zwo Wochen das Kommando über den TLF«, sagte sie. »Ich habe drei sehr tüchtige Stellvertreter und meine eigenen Erfahrungen mit der Hirnmühle. Trotz der zusätzlichen Last, die Admiral Caparelli mir mit ›Einführung in das Taktische Denken Eins‹ aufgebürdet hat, bin ich mir schon über mehrere tiefgreifende Veränderungen im Klaren. Stellen, an denen ich das Programm ein wenig aufbohren oder die Schwerpunkte verlagern möchte. Und dabei hätte ich gern Ihre Hilfe.«

»Meine Hilfe, Hoheit?« Jaruwalski wirkte völlig davon überzeugt, sie müsse sich verhört haben.

»Ihre Hilfe, Andrea. Ich benötige Sie als Adjutantin. Ich vertraue Ihrem Urteil und weiß, dass Sie begreifen, was ich zu erreichen versuche, und dass Sie diese Bemühungen effektiv organisieren werden. Außerdem müssten Sie mich gelegentlich an den Simulatoren und im Hörsaal vertreten, wenn ich nicht persönlich dort sein kann. Und wenn ich das sagen darf – ich möchte, dass Sie als lebendiges Vorbild dienen, das Richtige zu tun, auch wenn man dafür hinterher einen hohen Preis zu zahlen hat.«

Unter ihrem dunklen Teint war Jaruwalski erbleicht. Sie blinzelte heftig, und ihre Oberlippe bebte leicht.

»Außerdem«, fuhr Honor in absichtlich fröhlichem Ton fort, »gibt es noch mindestens einen weitaus weniger lobenswerten Grund, Ihnen diese Verwendung anzubieten.«

»Tat-tatsächlich, Ma’am?«, fragte der Commander rau. Honor gab vor, Jaruwalskis Stottern bei der ersten Silbe nicht bemerkt zu haben.

»Aber natürlich!«, rief sie und grinste dabei wie die sprichwörtliche Katz im Selleriefeld. »Allein der Gedanke ist köstlich: Indem ich den Offizier ›rehabilitiere‹, den dieser Esel von Santino aus Missgunst und schlechter Laune ruinieren wollte, kann ich ihm post mortem noch eins auf die Nase geben. Himmel, Frau! Wie könnte ich mir diese Gelegenheit entgehen lassen!«

 

Honor Harrington 11. Wie Phoenix aus der Asche
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