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»Sie scheinen uns keine Chance geben zu wollen, ihnen irgendeinen Hinterhalt zu legen, was meinen Sie, Aristides?« Vizeadmiral der Roten Flagge Frederick Malone lächelte frostig von Trikoupis’ Combildschirm.
»Nein, Sir, das scheint nicht in ihrer Absicht zu liegen.«
Wer auch immer auf havenitischer Seite den Befehl führte, er hütete sich offenbar vor etwas. Trikoupis bezweifelte, dass der Feind mit der Izzie und der Esterhaus rechnete. Denn Haven konnte weder wissen, dass die beiden Schiffe hier waren, noch wozu sie imstande waren. Wenn der havenitische Kommandeur sich jedoch nicht wegen BatDiv 62 so vorsichtig verhielt, dann wusste Trikoupis nicht, weswegen sonst.
»Vielleicht fürchten sie sich, wir könnten ihnen den gleichen Streich spielen wie Admiral Harrington bei Cerberus«, schlug er vor, woraufhin Malone schnaubte.
»Wenn Sie darauf wetten wollen, freue ich mich schon jetzt auf Ihr Geld! Oder wollen Sie andeuten, der havenitische Nachrichtendienst hätte einen Grund, an meiner geistigen Gesundheit zu zweifeln?«
»Nie käme ich auf solch einen Gedanken, Sir.« Trikoupis grinste, doch der Augenblick der Heiterkeit ging rasch vorüber, und er hob die Schultern. »Es ist nicht unvernünftig von ihnen, langsam hereinzukommen, auch wenn sie diesen zahlenmäßigen Vorteil mitbringen. Ich bezweifle sehr, dass sie auch nur entfernt ahnen, was wir wirklich vorhaben. Aber ihre Ausweichmanöver erleichtern uns nicht gerade die Abfangberechnungen.«
»Hm.« Malone nickte zustimmend. In seinem Gesicht, spiegelte sich eine gewisse Geringschätzung wider. »Das sehe ich auch so. Glaube ich. Trotzdem hilft ihnen dieses Herumtänzeln bei einer ernsthaften Gegenwehr doch gar nichts. Sie müssen in Waffenreichweite von Zelda kommen … es sei denn, sie wollen tatsächlich im äußeren System herumlungern, während wir systemeinwärts tun und lassen können, was wir wollen. Da bräuchten wir doch nur gemütlich in der Kreisbahn zu warten, bis sie sich auf einen Annäherungsvektor festlegen, und dann herauskommen und sie frontal zerschmettern, bevor sie auch nur auf Angriffsentfernung an die Basis herankommen.«
»Das meine ich auch.« Nun nickte Trikoupis. »Wir müssten aber die nötige Kampfstärke haben, um ihnen auf ein Nahgefecht entgegentreten zu können. Mittlerweile haben sie uns wenigstens ein halbes Dutzend Kursänderungen aufgezwungen und dadurch unsere Aufschließgeschwindigkeit erheblich gesenkt. Damit wird auch unsere Ausweichgeschwindigkeit geringer sein. Und sie haben Aufklärungsdrohnen losgeschickt, Sir. Jede Kursänderung, die sie erzwingen, jede Minute, die sie zu unserer Abfangzeit hinzufügen, gibt ihren Drohnen eine erhöhte Chance, uns zu erfassen.«
»Das weiß ich.« Malone seufzte und rieb sich die Augen. »Wissen Sie, mein Job hat mir mehr Spaß gemacht, als die Dinge noch einfach und unkompliziert waren. Ich bin sicher, dass diese ganzen neuen Spielzeuge, mit denen man uns überschüttet, ihren Sinn haben, aber jedes einzelne macht uns die Sache schwerer, und die Komplikationen nehmen geometrisch zu. Mittlerweile scheinen einige Havies das begriffen zu haben.«
»Das kommt mir auch so vor.« Trikoupis blickte auf eins der Displays, die seinen Kommandosessel umgaben. Und sie manövrieren immer geschickter. Das ONI hat Recht: Das sieht mehr nach einer alliierten Formation aus als je zuvor. Von den unkoordinierten Havie-Verbänden früherer Tage ist hier nichts mehr zu sehen. Mein Gott, wie eng gestaffelt diese Mistkerle fahren! »Wenigstens sieht es so aus, als würden sie nun endgültig auf einen Annäherungskurs einschwenken, Sir«, stellte er laut fest.
»Früher oder später mussten sie das ja«, stimmte Malone zu. Er musterte seine eigenen Displays, und seine Stimme wurde lebhafter. »Meine Taktikleute schlagen vor, mit zwohundert Ge auf null null neun zu null drei eins zu gehen. Wie klingt das für Sie?«
»Einen Augenblick bitte, Sir.« Für einen Vizeadmiral der Royal Manticoran Navy war es ungewöhnlich, einen Offizier um einen Rat zu bitten, der innerhalb der RMN noch nicht einmal auf der Kapitänsliste stand, vor allem, wenn es um ein Abfangmanöver auf Flottenebene ging. Doch andererseits bestand Malones Streitmacht aus nur fünf Superdreadnoughts und einem Schirm aus Schlachtkreuzern und Kreuzern; drei der Superdreadnoughts standen unter Trikoupis’ Kommando – die Izzie und die Esterhaus von BatDiv 62 und HMS Belisarius, ein Medusa-Superdreadnought der RMN. Diese drei Lenkwaffenbehälter-Superdreadnoughts waren der einzige Grund, warum sich Malone noch nicht längst mit Höchstgeschwindigkeit zurückgezogen hatte. Bei Adler, Basilisk und Alizon hatten die Alliierten gelernt, die havenitischen Raketengondeln nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, und aus dem geringen Beschleunigungswert der Angreifer ging eindeutig hervor, dass sie reichlich Gondeln zur Party mitbrachten.
Trikoupis’ Schiffe änderten jedoch die Lage. Jedenfalls hofften er und Malone, dass dem so wäre. In vielerlei Hinsicht eskortierten sein Flaggschiff und dessen Divisionskamerad nur Trikoupis’ Schiffe durch verstärkte Raketenabwehr, während die Izzie, die Esterhaus und die Belisarius das Kämpfen übernahmen.
»Null null neun zu null drei eins sieht mir ziemlich gut aus, Sir«, sagte Trikoupis, als die projizierten Vektoren in seinem eigenen Plot erschienen. »Angenommen, dass beide Seiten ihre Beschleunigung beibehalten, kommen wir in fünfundsiebzig Minuten auf Gefechtsentfernung.«
»Meinen Sie nicht, dass wir zu tief in ihre Feuerreichweite kommen?«, fragte Malone. Im Tonfall des Admirals lag kein Zögern, es war eine rein sachliche Frage.
»Wenn sie den Kurs ändern und auf Maximalbeschleunigung gehen, könnten sie uns höchstens fünfzig Minuten auf äußerste Raketenreichweite halten, Sir«, antwortete Trikoupis. »Wenn sie direkt von uns abdrehen und wir nachziehen, ist das Gefechtsfenster nur noch zehn Minuten lang. Offen gesagt, wenn sie sehen, was wir für sie haben, werden sie wohl kaum noch heldenmütig zu uns aufschließen wollen, nur damit sie im Gefechtsbericht besser aussehen.«
»Da haben Sie vermutlich Recht.« Malone blickte einige Sekunden lang auf sein Display, dann nickte er. »Also gut, Aristides. Sie haben die Führungsdivision dieses Angriffs, also legen Sie die Bewegung fest. Der Rest des Verbands folgt Ihren Manövern.«
»Danke, Sir«, sagte Trikoupis und nickte seinem Operationsoffizier zu. »Sie haben den Mann gehört, Adam. Auf geht’s.«
»Bürger Admiral, zwo der Drohnen fassen etwas auf«, meldete Bürger Lieutenant Commander Okamura. Groenewold blickte von dem Gespräch auf, das er mit Bürgerin Lieutenant Commander Bhadressa führte, und Okamura runzelte die Stirn. »Wir sind uns nicht ganz sicher, was es ist, Bürger Admiral. Die manticoranische Eloka täuscht die Drohnen noch, und selbst die Positionsbestimmung ist noch nicht bestätigt. Es sieht aber danach aus, als würden die unidentifizierten Schiffe sich von hoch steuerbord nähern. Wenn die Peilungsauswertung der Operationszentrale zutrifft, dann kommen sie in zwoundfünfzig Minuten ab jetzt auf sechs Millionen Kilometer heran. Unter Beibehaltung der Beschleunigung wird die Entfernung sich ab diesem Augenblick wieder vergrößern.«
»Irgendeine Idee, was das sein könnte?«
»OPZ sagt, es sehe nach ein paar Wallschiffen aus, Bürger Admiral.«
»Verstehe.«
Groenewold blickte finster in das taktische Display, auf dem gerade Icons für die neuen Kontakte erschienen – wenn es denn echte Kontakte waren und nicht bloß ›Sensorengeister‹. Er spürte jemanden neben sich, und als er aufsah, war Bürgerin Kommissar O’Faolain zu ihm getreten.
»Wofür halten Sie es, Bürger Admiral?«, fragte sie ruhig.
»Da kommt einiges infrage, Bürgerin Kommissar, aber ich halte das da nicht für Diamatosche LACs. Wenn Fugimoris Vektorangaben stimmen, dann wollen die Unbekannten nicht näher an uns heran als auf äußerste Raketenreichweite, und das sähe LACs mit großen, fiesen Strahlwaffen überhaupt nicht ähnlich. Die würden nämlich möglichst nahe an uns heranwollen, bevor sie zuschlagen, sozusagen auf Messerkampfdistanz.«
»Könnten diese Großkampfschiffe einen LAC-Nahangriff mit Raketenschlägen aus großer Entfernung unterstützen wollen?«, fragte O’Faolain, und Groenewold blickte sie respektvoll an.
»Das wäre gewiss denkbar, Ma’am. Trotzdem, ich glaube nicht daran. Wenn die Mantys einen LAC-Schlag ausführen würden, wäre das ein Zeichen, dass sie dieses Sonnensystem bis aufs Letzte verteidigen wollen. In dem Fall befänden sich ihre Superdreadnoughts aber nicht auf einem Vektor, der es ihnen unmöglich macht, uns weiter zu folgen, falls wir scharf abdrehen. Dann würden sie die Superdreadnoughts dicht hinter ihre LACs heranbringen und auf Gefechtsentfernung bleiben, um den Nahangriff zu unterstützen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich halte die Brüder da hinten für Superdreadnoughts mit Raketengondeln. Wenn die Feindaufklärung die manticoranischen Kräfte in diesem System richtig bewertet hat, dann können es nicht mehr als sechs bis acht sein, und ihre Gondeln sind nun auch wieder nicht so gut, dass sie unsere Übermacht damit ausgleichen könnten. Wenn die Mantys sich uns tatsächlich auf Raketenreichweite nähern, dann sind sie so gut wie tot.«
»Also gut, Adam. Beginnen Sie mit dem Absetzen der Gondeln«, sagte Konteradmiral Trikoupis, und Commander Towson nickte.
»Sie haben den Admiral gehört«, wandte er sich an seine Untergebenen, und seine von graysonitischem Akzent gefärbte Stimme klang forscher als sonst. »Plan Bravo-Drei. Ausführen.«
Der Befehl wurde bestätigt, und Trikoupis blickte auf sein W-Display. Funkelnder Diamantstaub verzierte es plötzlich: jede winzige Juwelentraube ein Paket Raketengondeln. Sie feuerten noch nicht. Jedes Paket trieb achtern aus den Impellerkeilen der Lenkwaffen-Superdreadnoughts und wurde von den Traktorstrahlen mehrerer ihrer Geleitschiffe erfasst. Ein Verband, zu dem ein Harrington-Superdreadnought gehörte, konnte mit Maximalwert beschleunigen, ohne dass die geschleppten Gondeln die Höchstlast seiner Kompensatoren senkten, denn alle benötigten Raketenbehälter konnten unmittelbar vor Gefechtsbeginn von den Harringtons abgesetzt werden.
Trikoupis beobachtete, wie HMS Belisarius die Eloka-Drohnen startete. Es waren nur vier, und jede von ihnen ahmte die Emissionen nach, die ein Superdreadnought abgab, der sich erfolglos mit Hilfe seiner Stealth-Systeme zu tarnen versuchte. Trikoupis betrachtete sie lächelnd. Auf den ersten Blick hätte man annehmen können, diese vier falschen Superdreadnoughts sollten die Haveniten bluffen und zum Abdrehen bewegen, doch waren sie aus einem ganz anderen Grund ausgesetzt worden. Trikoupis wünschte, er hätte mehr davon einsetzen können, doch mehr als vier hätten nicht zu der Täuschung gepasst, die sein Verband beabsichtigte.
Trikoupis beobachtete die Lichtsprenkel noch einen Moment länger und vergewisserte sich, dass jede Raketengondel von dem vorgesehenen Empfänger wie geplant mit den Traktorstrahlen erfasst wurde, dann musterte er einmal mehr die havenitische Formation. Der Feind musste den Wachverband mittlerweile wenigstens teilweise geortet haben, denn er änderte den Kurs, um ihn abzufangen. Aber auch Admiral Malone änderte den Kurs, um die Entfernung groß zu halten. Es würde noch einige Minuten dauern, bis die Entfernung weit genug gesunken war, um ein Raketenduell zu gestatten. Die Haveniten waren zwar schon seit längerem in Reichweite von Trikoupis’ Raketen, doch stand der Konteradmiral unter striktem Befehl, den gewaltigen Reichweitenvorteil der Geisterreiter-Vögelchen nicht preiszugeben.
Doch das war nicht weiter schlimm. Diejenigen Vorteile der Geisterreiter-Raketen, die er einsetzen durfte, würden das Raketenduell für die Haveniten weit weniger rentabel machen, als sie auch nur im Entferntesten ahnen konnten … vorausgesetzt, die Raketen bewährten sich im Einsatz so sehr, wie die Ergebnisse der Übungen versprachen. Falls sich Trikoupis hinsichtlich der Strategie nicht irrte, die Admiral Caparelli und Hochadmiral Matthews verfolgten, dann wäre der Verlust des Elric-Systems auf lange Sicht sogar vorteilhaft – solange es Haven nur nicht allzu billig in die Hände fiel. Und das wird es nicht, dachte er voll Grimm. Er konnte nicht sagen, wie viele von Malones Schiffen die Havies geortet hatten, aber seine eigene Operationszentrale verfügte über eiserne Erfassungen der havenitischen Superdreadnoughts. Die feindlichen Schiffe, die von der manticoranischen Bordortung nicht erfasst wurden, waren von den verbesserten Aufklärungsdrohnen, die ebenfalls aus dem Füllhorn des Geisterreiter-Projektes stammten, aus dem Versteck gezerrt worden. Diese Schiffe waren seinen Feuerleitlösungen schutzlos ausgeliefert; sie waren keine Kampfschiffe mehr, sondern nur noch Ziele.
Je näher er die havenitische Formation betrachtete, desto mehr wollte sie ihm als manticoranisch erscheinen – welch unerfreulicher Gedanke. Die Schiffe waren so dicht aneinander gerückt, dass jedes nur sehr begrenzten Spielraum zum Manövrieren besaß, falls es sich gegen einkommenden Raketenbeschuss auf die Seite rollen müsste. Zwischen den Kanten ihrer Impellerkeile war sehr wenig Abstand – erheblich weniger Abstand als bei havenitischen Verbänden normalerweise üblich. Dieser beengte Manövrierraum brachte indessen nicht nur die Gefahr einer Impeller-Kollision mit sich, sondern auch entscheidende Vorteile: Die Nahbereichs-Abwehrschirme der einzelnen Schiffe überlappten sich stärker, sodass der gegenseitige Schutz effizienter wurde, und wenn eine enge Formation wie diese tatsächlich gleichzeitig die Schiffe rollte, bildeten die Impellerkeile einen einzigen, gewaltigen Abwehrschirm. Einige Raketen würden durch die Lücken zwischen den einzelnen Keilen schlüpfen, aber nicht viele. Der Impellerkeil einer Rakete war sehr ausgedehnt und würde nur dann durch die Lücken passen, wenn die Rakete mit dem richtigen Winkel eintreten würde. Genau diesen Winkel zu treffen wäre jedoch reine Glückssache. Ein Raketen-Impellerkeil aber, der die weitaus stärkeren Keile eines Schiffes auch nur streifte, nahm derart viel Energie auf, dass die ihn erzeugende Rakete augenblicklich verglühte.
Dennoch war etwas eigenartig an den Abständen der Schiffe – nein, nicht an den Abständen, sondern an den relativen Lagen der Superdreadnoughts im Zentrum der Formation.
»Haben Sie sich den Schlachtwall einmal genauer angesehen, Adam?«, fragte er Towson, und der graysonitische Commander blickte ihn mit erhobenen Brauen an.
»Was soll damit sein, Sir?«
»Achten Sie darauf, wie die Schiffe gestaffelt sind«, gab Trikoupis ihm einen Hinweis und drückte einige Tasten, um ausgewählte Schiffe zu markieren. »Sehen Sie das Zentrum des Walls? Es dehnt sich nach Steuerbord aus, fast wie ein Kegel, dessen Spitze im rechten Winkel von uns fortzeigt. Vertikal sind die Schiffe im Kegel genauso angeordnet wie der Rest des Schlachtwalls, aber rechtwinklig zu unserem Annäherungsvektor sind die Abstände eindeutig vergrößert.«
»Ich sehe, was Sie meinen, Sir«, antwortete Towson verwirrt. »Ich fürchte aber, ich verstehe es nicht. Vielleicht erhöht das ihre Ortungsgenauigkeit ein wenig, weil sie die Störungen der Schiffe zwischen ihnen und uns ausschalten. Aber sobald sie abdrehen und uns die Breitseiten zuwenden, ist dieser Vorteil dahin. Im Grunde verringern die Havies damit sogar ihre taktische Flexibilität. So, wie diese Schiffe nach Backbord und Steuerbord aus der Formation ragen, haben sie doch keine andere Wahl, als nach Steuerbord zu drehen, wenn sie ihre Breitseiten einsetzen wollen. Wenn sie in die andere Richtung drehen müssten, verstellen sie mehreren Schiffen im Kegel das Schussfeld.«
»Das würde ich auch sagen«, stimmte Trikoupis ihm nachdenklich zu. »Aber diese Formation ist viel zu dicht gepackt, als dass es ein Irrtum oder das Ergebnis zufälliger Abweichungen sein könnte. Also hat der Kommandeur da drüben einen guten Grund, genau diese Formation einzunehmen.«
»Aber welcher Grund soll das sein, Sir?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Trikoupis langsam. »Es sei denn …« Er dachte noch einige Sekunden nach, dann nickte er. »Ich glaube, wir sehen hier den ersten Versuch, eine LAC-Abwehr-Doktrin zu entwickeln.«
»LAC-Abwehr, Sir?« Towson warf einen Blick auf den eigenen Plot. »Ja, tatsächlich, ich glaube, das wäre möglich.«
»Eigentlich überrascht es mich, dass wir dergleichen bisher noch nicht beobachtet haben«, sagte Trikoupis. »Wenn ich an Stelle der Havies wäre und mir ausmale, was bei Hancock passiert ist, dann hätte ich entsetzliche Angst vor den neuen LAC-Typen. Bisher hatte ich angenommen, die Havies hätten einfach nicht begriffen, wodurch sie damals so große Verluste erlitten haben. Schließlich haben sie seitdem in keinem einzigen Gefecht irgendwelche sichtbaren Vorkehrungen gegen LACs getroffen. Aber jetzt …«
»Wenn diese Formation dort wirklich der LAC-Abwehr dient, sehe ich durchaus die Vorteile, die sie sich versprechen, Sir«, stimmte Towson zu. »Die Ortung der versetzten Schiffe wird durch die Interferenz ihrer Begleitschiffe nicht gestört, jedenfalls nicht auf der einen Seite des Walls. Und sehen Sie sich den Schirm an.« Der Operationsoffizier berührte eine Taste, und die havenitischen Schlachtkreuzer und Kreuzer blinkten. »Sehen Sie, wie die meisten davon sich nach hinten zurückgezogen und zu den Seiten ausgebreitet haben? Wenn man sie so weit auseinander zieht, verringert man ihre gegenseitige Unterstützung enorm, und auch der Abwehrschirm kann die Nahbereichsabwehr des Schlachtwalls nicht mehr nennenswert verstärken. Aber beachten Sie, wie sich der Ortungsbereich dadurch erhöht. Der Raketenschussbereich übrigens auch. Man kann zwar keine ganz so hohe Beschussdichte auf einen gegebenen Punkt richten, aber dafür kann man ein größeres Volumen bestreichen. Das wäre durchaus vernünftig, wenn man hofft, LACs frühzeitig zu orten und noch während des Anflugs unter Beschuss zu nehmen.«
Er runzelte die Stirn und zupfte sich meditativ am Ohrläppchen.
»Angenommen, Sie haben Recht, und es ist wirklich der erste Versuch einer wirkungsvollen LAC-Abwehr, Sir, warum konzentriert man dann diese schweren Schiffe an nur einer Flanke? Die Ortungsdichte ist dort höher und das Raketenfeuer dichter, aber nur an dieser Seite des Walls; der anderen Seite nutzt es gar nichts.«
»Das weiß ich auch nicht«, gab Trikoupis zu. »Ich würde sagen, dass sie sich ihrer Schiffsführung einfach noch nicht sicher genug sind. Wenn sie sich auf einer radikal anderen Achse reformieren müssten, bereitet ihnen der Auswuchs auf einer Seite schon genug Mühe. Und die Ebene des Walls auf beiden Seiten zu versetzen?« Er schüttelte den Kopf. »Das würde ich nicht einmal mit graysonitischen oder manticoranischen Schiffen gern versuchen. Nein, ich glaube, wir sehen hier einen Kompromiss vor uns zwischen dem, was sie gern täten, und dem, was sie sich realistisch zutrauen. Ich muss sagen, mein Respekt für den unbekannten Urheber dieser Idee wächst dadurch sogar. Es muss sehr verführerisch gewesen sein, jede mögliche Verbesserung mit hineinzuquetschen, aber er war so klug und begnügte sich mit dem, was seiner Meinung nach durchführbar wäre, statt zu viel auf einmal zu probieren.«
»Ich verstehe. Andererseits schadet diese Anordnung ihnen sehr, sobald das Raketenduell beginnt. Es sei denn natürlich, sie ziehen sich dann rasch wieder zusammen.«
»Das glaube ich aber nicht. Wenn sie das wollten, hätten sie es schon getan … Sehen Sie nur! Sie schwenken jetzt nach backbord.«
Towson nickte, aber er antwortete seinem Admiral nicht direkt. Er war zu sehr damit beschäftigt, Anweisungen über das taktische Datennetz zu erteilen, und Trikoupis wollte ihn nicht stören. Ab diesem Punkt konnte ein Admiral den Ausgang des Gefechts kaum noch beeinflussen. Die Schulung der Besatzung, die Planung, die Verteilung und die Eröffnungszüge waren beendet, die Handlungsmöglichkeiten beider Seiten lagen offen und wurden durch Annäherungsgeschwindigkeit und Salvenstärke beider Seiten bestimmt. Konteradmiral Trikoupis und Vizeadmiral Malone waren nun nur noch hochrangige Beobachter, die sich darauf verlassen mussten, dass ihre Untergebenen ihr Handwerk verstanden.
Trikoupis glaubte, dass Towson wohl Recht hatte mit seiner Vermutung, inwieweit die unorthodoxe Formation der Haveniten sich auf ihre Nahbereichsabwehr auswirken würde. Die versetzten Schiffe wurden näher an die alliierte Formation geschoben, als die beiden Wälle den Kurs änderten und die Breitseiten öffneten. Dadurch wurden sie nicht nur zu leichteren Zielen, die Nahbereichsabwehr ihrer Geleitschiffe erhielt auch nachteilige Beschusswinkel. Doch der Unterschied war nur marginal. Trikoupis empfand wiederum Respekt vor dem Gehirn hinter dem Plan. Für LACs gäbe es keinen günstigeren Zeitpunkt, um einen Schlachtwall anzugreifen, als während die eigenen Großkampfschiffe ihn mit Raketen beharkten. Der einkommende Beschuss musste die feindliche Ortung verwirren und – noch wichtiger – die Taktischen Offiziere vor die Wahl stellen, mit den Nahbereichs-Abwehrwaffen entweder die LACs oder die Raketen abzuwehren. Deshalb war es umso wichtiger, schon jetzt, vor dem Raketenduell, die Augen nach LACs unter Stealth offen zu halten. Die Haveniten taten nichts anderes.
»Wir erreichen Angriffsdistanz, Sir!«
»Greifen Sie wie befohlen an, Commander«, sagte Trikoupis formell, für die Akten.
»Die Beschleunigung der Mantys sinkt nicht mehr, Bürger Admiral«, meldete Okamura. »Sie liegt nun konstant bei fünfhundertzehn Ge – etwa fünf Kps Quadrat.«
»Hm.« Bürger Vizeadmiral Groenewold zupfte sich an der Unterlippe. Berücksichtigte man den vermuteten Wirkungsgrad der neuen manticoranischen Trägheitskompensatoren, so passte der Wert ungefähr auf einen Superdreadnought, der außerhalb des Impellerkeils Raketengondeln mitschleppte. Da die Manticoraner die Beschleunigung gesenkt hatten, mussten sie in der Tat Gondeln ausgesetzt haben. Vor allem aber mussten die leichteren Schiffe volle Ladungen mit sich führen. Im Gegensatz zu Superdreadnoughts fehlte ihnen die Traktorstrahlerkapazität und der Platz, um volle Ladungen innerhalb der Keile mitzuführen. Darum hätten sie während der Annäherung nicht mit den Wallschiffen Schritt halten können. Da Groenewold nach den Angaben der Operationszentrale dreimal so viel Wallschiffe besaß wie die Manticoraner und seine Geleitschiffe ebenfalls volle Gondelladungen schleppten, sah es ganz danach aus, als würde das Gefecht für den manticoranischen Kommandeur ziemlich hässlich ausgehen.
Aber das alles muss er genauso gut wissen wie ich, also gibt es nur zwei Möglichkeiten: Er ist ein Idiot – und die Mantys haben unter Beweis gestellt, dass auch sie Idioten in ihren Reihen haben … kommt mir trotzdem unwahrscheinlich vor. Oder er glaubt, er hätte einen Vorteil, der seine Unterlegenheit ausgleicht. Das heißt, wir müssen jeden Moment damit rechnen, dass Diamatosche LACs unter Stealth auftauchen.
»Signal an die Geleitschiffe. Ich wünsche eine noch sorgfältigere Ortungswache. Wenn sie überhaupt ›Super-LACs‹ haben, dann wäre jetzt der ideale Moment, um sie gegen uns einzusetzen.«
»Erreichen Abschussposition - jetzt!«, rief Adam Towson angespannt, und der Wachverband von Elric Station feuerte aus allen Rohren und Gondeln.
SämtlichenGondeln … einschließlich der vollen Ladungen, die von der Isaiah MacKenzie, der Edward Esterhaus und der Belisarius an jedes einzelne Geleitschiff verteilt worden waren. Darüber hinaus konnten die drei Lenkwaffen-Superdreadnoughts sogar noch so viele Raketenbehälter absetzen, wie die vier zusätzlichen Superdreadnoughts geschleppt hätten, die die Haveniten auf den Ortungsschirmen zu sehen glaubten. Voll Schadenfreude rollten die Crews die überzähligen Gondeln von den Schienen.
Die alliierten Chefs der Stäbe hatten eindeutige Anweisung gegeben: Die neuen Schiffe durften unter keinen Umständen preisgeben, dass sie ganze Wellen von Raketengondeln aus den Magazinen ihres Hohlkerns abrollen konnten. Wenn Haven davon noch nichts wusste, war nun auch noch der falsche Zeitpunkt, den Feind auf ihre Existenz aufmerksam zu machen. Das hieß jedoch nicht, dass die Schiffe diese Gondeln nicht an ihre Geleitschiffe weitergeben konnten. Die havenitische Nahbereichsabwehr-Ortung würde später eindeutig belegen, dass das einkommende Raketenfeuer von den Schiffen ausgegangen war, die tatsächlich im Augenblick der Feuereröffnung die Gondeln geschleppt hatten. Was diese Daten indes nicht erfassen konnten, war die Tatsache, dass alle diese Raketen der ausgefeilten zentralen Feuerleitung von GNS Isaiah MacKenzie unterlagen, während ihre beiden Divisionskameraden sich bereithielten, um notfalls einzuspringen.
Admiral Malone hatte fünf Superdreadnoughts, sechzehn Schlachtkreuzer, zehn Schwere und zwölf Leichte Kreuzer, dazu acht Zerstörer – und vier Eloka-Drohnen. Nachdem BatDiv 62 die Geschenke ausgepackt hatte, verfügten diese Schiffe (und Drohnen) über vierhundertvier Raketengondeln zu je zehn Lenkwaffen. Dazu kamen noch die Bordwerfer der Kampfschiffe, und so erreichte die Gesamtzahl der Raketen in dieser ersten, massierten Salve die beachtliche Zahl von viertausendneunhundert Lenkwaffen.
Die Salve hätte noch größer sein können, doch die Bordwerfer von BatDiv 62 feuerten nicht nur Schiffskiller. Sie feuerten weitere Eloka-Drohnen, die in der Formation blieben und die havenitischen Zielsuchsysteme mit Störsignalen überfluteten. Wieder andere nahmen das Aussehen weiterer Superdreadnoughts, Schlachtkreuzer und Schwerer Kreuzer an, die sämtlich einen Lockruf an die havenitischen Sensoren ausstrahlten.
Solch Täuschkörper waren von je verfügbar gewesen, aber nur in beschränkten Zahlen. Das falsche Sensorbild eines Kampfschiffs auf Gefechtsentfernung verschlang so viel Energie, dass es von dem zu schützenden Schiff an die Drohne gesendet werden musste. Daher wurden Täuschkörper gewöhnlich nur in geringen Zahlen und im Griff eines Traktorstrahls ausgesetzt. Die gleiche technische Entwicklung, die zu den Miniaturkraftwerken für die Überlicht-Aufklärungsdrohnen geführt hatte, erlaubte auch den Ingenieuren des Projekts Geisterreiter den Durchbruch beim Täuschkörper-Problem. Das Ergebnis – eines der Ergebnisse – war ein unabhängiger Täuschkörper, der sich bis zu zwanzig Minuten lang allein mit Strom versorgen konnte, je nach Stärke des Sensorbildes, das er zu simulieren hatte. Und dieser Täuschkörper ließ sich noch dazu aus den neuartigen Großkampfschiffs-Raketenwerfern abfeuern. Nun gingen die Bordwerfer von BatDiv 62 auf Schnellfeuer und spien diese Täuschkörper aus; mit jeder Breitseite vervielfachten sich die möglichen Ziele für die Haveniten.
Während eine Welle falscher Ziele nach der anderen auf dem W-Display erschien, spürte Konteradmiral Aristides Trikoupis, wie sich sein Mund unwillkürlich zu einem kalten Raubtiergrinsen verzog.
Für die Haveniten würde es kein angenehmer Nachmittag im Elric-System werden.
»Heilige Mutter Gottes!«, wisperte jemand in B. J. Groenewolds Nähe und fasste damit adäquat zusammen, wie sich der Bürger Vizeadmiral fühlte.
Die Mantys konnten einfach nicht so viele Raketen auf ihn abgefeuert haben, nicht bei den Annäherungsvektoren, die seine Ortungsteams beobachtet hatten! Es war schlichtweg unmöglich.
Und doch war es geschehen. Während die Feuerlawine sich auf seinen Kampfverband zuwälzte, spürte er in seinem Bauch einen Klumpen aus Eis. Okamura musste genauso bestürzt sein wie er, doch der Operationsoffizier ließ sich davon nicht lähmen. Trotz seines Entsetzens empfand Groenewold eine tiefe Zufriedenheit mit der Selbstbeherrschung des Bürger Commander. Manticoranische Feuerleitgeräte und Raketensensoren waren besser als die entsprechenden Gegenstücke der Volksflotte. Um diesen Vorteil zu kompensieren, hielt Okamura seine Feueröffnung so lange wie möglich zurück und verfeinerte bis zum letzten Augenblick die Feuerleitgleichungen. Er durfte nicht so lange warten, bis das einkommende Feuer nahe genug herangekommen war, um seine Raketengondeln zu erfassen oder sie durch Naheinschläge zu vernichten, doch mit jeder Sekunde, die er wartete, verbesserte er seine Trefferchancen um einen winzigen, aber womöglich entscheidenden Bruchteil. Groenewold hätte am liebsten schon auf äußerste Reichweite gefeuert, aber dazu war die manticoranische Eloka zu gut. Auf diese Entfernung wäre eine solide Erfassung des Gegners unmöglich gewesen, und nachdem sie sich schon so tief in die Reichweite der Mantys gewagt hatten, wollten Groenewold und Okamura die Raketen mit der optimalen Feuerleitlösung starten.
Okamura warf einen letzten Blick auf seine Displays, dann grunzte er zufrieden.
»Start«, meldete er nur, und die Raketengondeln von KV 12.3 erwiderten das Feuer. Die Raketen schwärmten aus, warfen sich auf die wenigen Gegner und …
Der Plot sprang um, und Groenewold presste die Zähne aufeinander, als die Ziele sich darin plötzlich auf absurde Art vervielfachten. Er fluchte lautlos, aber bitter und mit Nachdruck, während immer mehr falsche Ziele übermütig und verspielt im W-Display umhertanzten. Noch nie hatte er gesehen, wie so wenige Schiffe so viele Täuschkörper benutzten. Und noch während er hinsah, trübte sich die Darstellung durch Störsender, die stärker und ausgedehnter sendeten, als Groenewold es je beobachtet hatte.
Die fünfunddreißig Superdreadnoughts von KV 12.3 und ihre Geleitschiffe hatten über achthundert Raketengondeln in Schlepp, und jede Gondel enthielt zwölf Raketen. Die Salve, die der Verband gefeuert hatte, bestand daher aus mehr als dreizehntausend Raketen und war fast dreimal so groß wie der einkommende manticoranische Beschuss. Eigentlich hätte er bei so viel weniger Zielen eine weit höhere Massierung erreichen müssen. Darum hätte jede vernünftige Berechnung vor der Schlacht (in die man durchaus die überlegenen manticoranischen Raketen und die weit bessere Feuerleitung einbezog) ein Ergebnis vorhersagen müssen: die umfassende Vernichtung des Wachverbandes von Elric Station.
Dieser Prognose hätte jedoch der Wissenstand der Volksflotte zugrunde gelegen, die von dem Projekt Geisterreiter noch nie etwas gehört hatte. B. J. Groenewold, der alles richtig gemacht hatte, musste nun entdecken, wie falsch seine Berechnungen gewesen waren.
»Anfangsortung sieht vielversprechend aus, Sir«, meldete Commander Towson. »Die Telemetrie der Vögelchen zeigt an, dass die Hälfte bereits intern auf ein Ziel aufgeschaltet hat.«
»Sehr gut, Adam!« Trikoupis gestattete sich ein breites Lächeln. Das Füllhorn namens Geisterreiter hatte noch ein weiteres Geschenk ausgeschüttet: Die Bordsensoren der neuen Großkampfschiff-Raketen waren um fast achtzehn Prozent empfindlicher als früher, und die Bordcomputer vermochten deutlich besser zu unterscheiden, ob sie ein echtes oder falsches Ziel vor sich hatten. Die Forschungsabteilungen arbeiteten nach wie vor daran, diese beiden Punkte weiter zu verbessern – eine praktische Notwendigkeit, sobald der Flotte gestattet wurde, die vergrößerte Reichweite der neuen Raketen voll auszunutzen; aber allein das, was bereits verfügbar war, erwies sich schon jetzt als sehr wertvoll. Die Izzie und ihre Schwesterschiffe konnten die Lenkwaffensteuerung viel früher von schiffs- auf raketeneigene Systeme übertragen, wodurch mehr Zeit für kompliziertere Zielanspracheberechnungen blieb. Das wiederum erhöhte die Trefferanzahl beträchtlich.
Bei Abschuss der Raketen waren die beiden Verbände sechseinhalb Millionen Kilometer voneinander entfernt und näherten sich einander mit dreihundertzwanzig Kilometern pro Sekunde an. Die Raketen von KV 12.3 hatten daher eine nominelle Flugzeit von 172 Sekunden, ihre Endgeschwindigkeit würde etwas mehr als 75.700 Kps betragen. Bürger Vizeadmiral Groenewolds Vögelchen blieben nur noch acht Sekunden Brenndauer für die letzten Angriffsmanöver. Bei ihrer Geschwindigkeit sollten acht Sekunden mehr als genug sein – vorausgesetzt, die feindliche Nahbereichsabwehr schoss sie nicht ausnahmslos ab, bevor sie auf 30.000 km (die Höchstreichweite eines Laser-Gefechtskopfes) heranwaren. Manticoranische Raketen beschleunigten mit etwas höheren Werten, und daher war die Flugzeit für ihre Lenkwaffen um zehn Sekunden kürzer. Ihnen blieb dadurch mehr Zeit für die Angriffsmanöver, und ihre Endgeschwindigkeit lag um mehr als zweitausend Kps höher. Groenewold blieb indes keine andere Wahl, als den Nachteil hinzunehmen.
Ohne dass er und seine Kommandanten es ahnten, reizte Vizeadmiral Malone – trotz dieser Zahlen – das Leistungsvermögen seiner Raketen nicht bis aufs Äußerste aus. Die neuen Mehrstufen-Raketen, die das Projekt Geisterreiter hervorgebracht hatte, hätten mit 96.000 Gravos beschleunigen können statt mit den 47.240 Kps², mit denen sie sich begnügten. Bei dieser Beschleunigung hätten sie den Abstand in nur 118 Sekunden überbrückt und eine Endgeschwindigkeit von über 110.000 Kps besessen – und sogar noch über eine Minute lang manövrieren können. Bei dieser Geschwindigkeit und dieser Manövrierdauer hätten sie die Abwehr von KV 12.3 durchschlagen wie Blitze, doch das Oberkommando der Allianz hatte befohlen, diese Kapazitäten in Reserve zu halten.
Dennoch erging es Kampfverband 12.3 schlimm. Jede fünfte Rakete in der massierten Salve war entweder ein Störsender oder ein Täuschkörper, der vorgab, ein ganzer Gondelschwarm Raketen zu sein. Beide Seiten hatten schon Störsender und Eloka-Raketen benutzt, das war Routine. Aber die Volksflotte hätte sich niemals Raketen träumen lassen, die es sich leisten konnten, so viel Energie auf Täuschsignale zu vergeuden. Die schiere Gewalt der Störungen und die außergewöhnliche Deutlichkeit der falschen Signaturen übertraf alles, was Groenewold oder Okamura hätten vorhersehen können. Die havenitische Nahbereichsabwehr war darum nur halb so wirkungsvoll, wie sie hätte sein sollen, und die einkommenden Raketen besaßen weit bessere Sucher als alles, was die Manticoraner bislang aufgeboten hatten.
Das Elric-Wachgeschwader hatte fünfzig Sekunden vor Kampfverband 12.3 gefeuert, und seine Raketen erreichten die Haveniten mehr als eine Minute bevor Groenewolds Lenkwaffen die letzten Manöver einleiteten. Antiraketen rasten ihnen verzweifelt entgegen, und ungläubig sah Groenewold zu, wie Antirakete über Antirakete von den Täuschkörpern abgelenkt oder von den Störsendern geblendet wurde. Die letzte Barriere, die Lasercluster, eröffnete das Feuer und stach mit kohärentem Licht nach den einkommenden Lasergefechtsköpfen, aber auch sie litten unter den Störsendern und verschwendeten zu viel Mühe auf harmlose Täuschkörper. Kaum ein Fünftel des einkommenden Feuers wurde von den Antiraketen abgewehrt, und die Lasercluster erwischten nur weitere achtzehn Prozent.
Dann detonierten zweitausendvierhundert alliierte Laser-Gefechtsköpfe auf einmal, und über Kampfverband 12.3 brach eine Flutwelle der Vernichtung herein.
Alle diese Raketen waren auf nur fünf Schiffe gezielt worden, und die auserwählten Opfer torkelten im Todeskampf, während jedes von ihnen von fast fünfhundert Raketen angegriffen wurde. Superdreadnoughts waren über alle Maßen zäh. Selbst Großkampfschiff-Raketen konnten ihnen wegen ihrer schweren Panzerung und den starken aktiven und passiven Abwehrsystemen nur selten einen wirksamen Treffer zufügen. Natürlich: Superdreadnoughts konnten durch Raketentreffer vernichtet werden, aber normalerweise nur in einem langen, für beide Seiten schmerzhaften Schlagabtausch, bei dem sie buchstäblich einen Zentimeter nach dem anderen in Stücke geschossen wurden.
Die Wiedereinführung des Raketenbehälters und die höhere Tödlichkeit seiner Geschosse hatte diese Rechnung nicht verändert. Es brauchte noch immer Dutzender, wenn nicht Hunderter Einzeltreffer, um einen Superdreadnought zu vernichten; aber es bedurfte nicht mehr der langen, brutalen Zermürbungsgefechte, um die nötige Raketenzahl gegen ein Ziel werfen zu können, nein: Das war nun mit einer einzigen Breitseite zu bewerkstelligen.
Und Kampfverband 12.3 wand sich nun im Herzen eines Mahlstroms aus bomben-gepumpten Lasern. Niemand würde je sagen können, wie viele Hunderte Laser sich nutzlos an die undurchdringlichen Gravitationsbänder der Impellerkeile verschwendeten, oder wie viele im letzten Augenblick von den Seitenschilden abgelenkt wurden, die die Flanken ihrer Opfer schützten. Was das betraf, so würde auch niemand je erfahren, wie viele Laserstrahlen nun wirklich in die Rümpfe ihrer Ziele einschlugen.
Das interessierte auch gar nicht weiter. Im einen Moment besaß Kampfverband 12.3 noch einen soliden Kern aus fünfunddreißig Wallschiffen; im nächsten Augenblick waren es nur noch einunddreißig. Das schreckliche Leuchten freigesetzten Fusionsplasmas erhellte das Zentrum der havenitischen Formation, beleuchtete die Gräber dessen, was vor einigen Sekunden noch Multimegatonnen-Superdreadnoughts gewesen waren. Niemand an Bord von Konteradmiral Trikoupis’ Zielen hatte überlebt; fünfundzwanzigtausend Männer und Frauen starben in dem strahlenden Scheiterhaufen, unter ihnen Bürger Vizeadmiral B. J. Groenewold, der seinen Kampfverband gegen jede Gefahr gewappnet hatte, die er sich hatte ausmalen können. Stattdessen war er in eine Falle gelaufen, mit der höchstens ein Hellseher hätte rechnen können.
Aristides Trikoupis beobachtete, wie seine Opfer vom Display verschwanden, und dann waren die havenitischen Raketen an der Reihe. Sie waren zu zahlreich, als dass die aktiven Abwehrsysteme des Wachverbands sie alle hätten zerstören können … aber die Kinder von Projekt Geisterreiter erwarteten sie bereits. Eine feindliche Rakete nach der anderen schweifte ab, um einen Täuschkörper anzugreifen, viele wurden von den Störsendern geblendet, drehten plötzlich ab oder verfehlten einfach ihr Ziel, weil sie es wegen der Störsignale einfach nicht mehr erkennen konnten. Als Trikoupis das sah, blitzten seine Augen triumphierend auf. Von den dreizehntausend Raketen wurden mehr als zehntausend getäuscht oder geblendet. Zwei- oder dreitausend schwenkten allein auf die vier Eloka-Drohnen ein, die sich als zusätzliche Superdreadnoughts ausgaben, und die dreitausend, die letztlich die echten Ziele angriffen, verteilten sich über alle Schiffe des Geschwaders. Ehemals waren dreizehntausend Raketen unterwegs gewesen, denn so viele Lenkwaffen mussten die aktiven Abwehrsysteme überlasten. Die Haveniten hätten Admiral Malones Schiffe nur lähmen müssen – oder so schwer beschädigen, dass sie nicht mehr fliehen und den Folgeangriffen des zahlenmäßig weit überlegenen Raider-Verbandes entkommen konnten. Das wäre relativ leicht gewesen, wenn die aktive Abwehr einmal überlastet und niedergewalzt worden wäre.
Doch die Abwehrsysteme waren der Herausforderung gewachsen, die sich ihnen stellte. Antiraketen dünnten den einkommenden Lenkwaffensturm aus, und dann begannen die Lasercluster mit kühler, computergesteuerter Effizienz zu feuern.
Mit zugekniffenen Augen beobachteten Vizeadmiral Malone und Konteradmiral Trikoupis, wie die Überlebenden der havenitischen Angriffswelle immer näher kamen. Und dann, in letzter Sekunde, gab das Flaggschiff den Befehl, und alle Schiffe des Wachverbands rollten gleichzeitig auf die Seite. Nur noch den Bauch ihrer Impellerkeile boten sie den Angreifern dar.
Einige der Raketen kamen dennoch durch. Es waren einfach zu viele, als dass es anders hätte sein können, und die Isaiah MacKenzie und die Edward Esterhaus erbebten und erschauerten, als sie getroffen wurden. Die Bugschilde der Lenkwaffen-Superdreadnoughts – von den neuen LACs übernommen – verringerten den Schaden außerordentlich, und die Belisarius kam tatsächlich ohne einen Treffer davon. Sie war jedoch der einzige Superdreadnought, der das von sich behaupten konnte, und die Schlachtkreuzer Amphitrite und Lysander bockten, als Laserstrahlen sich in ihre viel zerbrechlicheren Rümpfe brannten. Die Amphitrite schüttelte die Hiebe ab und lief weiter; Atemluft pfiff aus ihren geschundenen Flanken, aber sie war noch voll kontrollierbar. Die Lysander hatte weniger Glück. Hintereinander schlugen drei Treffer in ihren Heckimpellerring, zerstörten zwei Alpha- und wenigstens vier Beta-Emitter, und noch mehr durchbohrten sie mittschiffs, weideten die Steuerbord-Breitseite aus und vernichteten die Operationszentrale, die Flaggbrücke (letztere zum Glück unbesetzt) und zwei der drei Fusionskraftwerke. Ein Drittel ihrer Besatzung war tot oder schwer verwundet. Die Lysander taumelte, dann fiel ihre Beschleunigung ab, und sie blieb hinter dem Verband zurück.
Eigentlich war sie todgeweiht, doch die Haveniten mussten gelähmt sein von dem Schlag, den sie gerade erst hatten hinnehmen müssen. Ihre Verbandbeschleunigung sank, und die Lysander konnte langsam davonhinken.
Vizeadmiral Malone überschlug rasch die Lage. Es war unmöglich, die Lysander mit zerstörtem Warshawski-Segel aus dem Sonnensystem zu schaffen, aber wenigstens konnte er ihre Besatzung retten. Die Superdreadnoughts, von denen keiner schwere Schäden erlitten hatte, senkten die Beschleunigung auf den Wert, mit dem der waidwunde Schlachtkreuzer mithalten konnte, rollten herum, sodass sie die Breitseiten auf die Haveniten richteten, und feuerten trotzig, während die Geschwaderkameraden der Lysander näher kamen. Die Entscheidung fiel schwer, denn da Malone die volle Gondelkapazität der Harringtons beziehungsweise Medusas nicht auszunutzen konnte, hatten die Haveniten noch immer die Oberhand. Und Malone durfte die Fähigkeiten seiner Schiffe nicht voll zum Einsatz bringen.
Doch die Haveniten hatten genug. Es war, als hätte die Kraft sie verlassen, die ihnen Antrieb gab – und vielleicht war es wirklich so, dachte Trikoupis grimmig. Er hatte sein Feuer auf den Teil des havenitischen Schlachtwalls konzentriert, in dem er das Flaggschiff vermutete. Ihre anfängliche Entschlossenheit schwankte. Sie ließen es zu, dass die Entfernung sich langsam erhöhte, und überschütteten das Wachgeschwader mit einem Raketenhagel, der völlig wirkungslos blieb, da die Schiffe durch Geisterreiter geschützt wurden. Trikoupis und Malone waren zufrieden.
Sie bargen alle überlebenden Lysanders und setzten den Rückzug fort, ganz wie die Befehle von Sir Thomas Caparelli und Wesley Matthews es ihnen vorschrieben. Die Überlebenden von Kampfverband 12.3 blickten ihnen nach und übernahmen mürrisch das Sonnensystem, ohne zu ahnen, dass das gegnerische Oberkommando es ihnen geben wollte.