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»Bereit für Transition – Transition jetzt!«
Captain (Junior-Grade) Jonathan Yerensky kündigte auf der Flaggbrücke von GNS Benjamin the Great die Rückkehr in den Normalraum an, und Hamish Alexander schnitt eine Grimasse, während das vertraute Unwohlsein und das Gefühl der Desorientierung ihn trafen. Das ist eben das Schöne, wenn man ein alter Admiral ist, dachte er. Wenn man erst mal meine Seniorität besitzt, dann braucht man sich keine Gedanken mehr darum zu machen, wie man hochnäsige Untergebene mit seinem Stoizismus beeindruckt. Wenn White Haven sich nach dem Durchdringen der Alpha-Mauer am liebsten erbrochen hätte, dann konnte er das ruhig zeigen … niemand wagte es, darüber zu lachen.
Er grinste, aber seine Augen huschten bereits über das Wiederholdisplay. Im Moment fütterte die Operationszentrale es mit einer Schemazeichnung des gesamten Sonnensystems. Das sagte White Haven freilich nicht viel. Sobald die Ortungsmannschaften jedoch etwas auffassten, das über die längst bekannte Astrografie des Planetensystems hinausging, würde OPZ es ihm augenblicklich in den Plot übertragen.
Er lauschte dem Hintergrundgemurmel, einer Litanei aus Meldungen und Befehlen, ohne wirklich darauf zu achten. Seinen Stab hatte er seit mehr als drei T-Jahren. Vielleicht waren sie zu lange in der Kreisbahn um Trevors Stern gewesen, doch wenigstens hatte es ihnen dort nicht an Zeit für Übungen und Simulationen gemangelt. Mittlerweile wusste jeder Stabsoffizier und jeder Flaggbrückengast, was White Haven sofort erfahren wollte und was er von seinen Leuten selbstständig erledigt haben wollte. Im Gegenzug wusste er, dass er sich auf seine Mannschaft verlassen konnte.
Damit hatte White Haven den Kopf frei, um sich ganz seinem aussagelosen, uninformativen W-Display zu widmen.
Uninformativ war es indes nur in Bezug auf den Feind, musste er einräumen. Etliche alliierte Icons leuchteten in dem Hologramm: erstens die dreiundsiebzig Superdreadnoughts und elf Dreadnoughts seines Schlachtwalls, zweitens die üblichen Geleitschiffe, die gerade ausschwärmten und ihre Raketenabwehrpositionen einnahmen, und drittens und letztens, achteraus des Hauptverbands, die siebzehn LAC-Träger von Alice Trumans Kampfgruppe und deren Geleitschiffe – Schlachtkreuzer und Schwere Kreuzer, dazu vier verstärkende Dreadnoughts. Schneesturmartig stoben Diamantsplitter von den LAC-Trägern fort, und White Haven lächelte grimmig, als sie beschleunigten und in Führung vor den Hauptverband gingen, noch während sie sich zu Formationen ordneten. Die Operationszentrale hatte die LACs ausnahmslos erfasst, als sie starteten, doch ihre Eloka und Stealth-Systeme waren bereits aktiv. Nach wenigen Minuten verloren auch die Ortungsgeräte der Benjamin the Great die LACs eines nach dem anderen.
Ein zweiter, fast ebenso dichter Blizzard stob vorwärts, mit einer Beschleunigung, die kein LAC je erreicht hätte. White Haven kippte den Sitz zurück. Die mit überlichtschnellen Signalsendern ausgestatteten Aufklärungsdrohnen schossen systemeinwärts.
Ich versuche wie immer Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen, überlegte er, aber im Gegensatz zu sonst empfinde ich sie diesmal fast wirklich. Das liegt natürlich daran, weil die Havies höchstwahrscheinlich nicht den leisesten Schimmer haben, was ihnen bevorsteht. Ob das noch gilt – und ob es überhaupt eine Rolle spielt –, wenn das nächste Gefecht beginnt, das sind natürlich ganz andere Fragen.
Er sah den davonrasenden Drohnen nach und lächelte.
Bürger Admiral Alec Dimitri und Bürgerin Kommissar Sandra Connors befanden sich zu einer Routinebesprechung im Lageraum der DuQuesne-Basis, als der Alarm summte. Der hoch gewachsene, athletische Bürger Admiral wandte sich rasch um und warf einen geübten Blick auf die Statustafel. Bürgerin Kommissar Connors drehte sich fast genauso schnell um. Weder sie noch Dimitri hätten selbst in ihren schlimmsten Albträumen erwartet, dass man ihnen so plötzlich die Verantwortung für das Barnett-System übertragen könnte, doch andererseits hatten sie fast vier T-Jahre lang als Stellvertreter Thomas Theismans und Denis LePics fungiert. Beide nahmen sie ihre Pflichten ernst, und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätten Theisman und LePic dafür gesorgt, dass sie sich intim und intensiv mit dem Planetensystem und seinen Verteidigungseinrichtungen vertraut gemacht hätten. Infolgedessen brauchte Connors nur wenig länger als der Bürger Admiral, um auf der riesigen Tafel den neuen Eintrag zu finden. Sie runzelte die Stirn.
»Zwoundzwanzig Lichtminuten von der Sonne?«, murmelte sie, und Dimitri grinste sie gepresst an.
»Mir scheint es auch ein wenig … übervorsichtig. Und dann noch in so einem stumpfen Winkel zu Enki«, stimmte er ihr zu und fragte sich, was die Manticoraner nur im Sinn haben konnten. Barnett war ein G9-Stern, und seine Hypergrenze betrug nur wenig mehr als achtzehn Lichtminuten, warum also kamen die Manticoraner ganze vier Lichtminuten weiter vom Stern entfernt aus dem Hyperraum als sie mussten? Und das auch noch aus einer Richtung, durch die sie die Entfernung zu ihrem einzig denkbaren Ziel um weitere vier unnötige Lichtminuten vergrößerten?
Der Bürger Admiral verschränkte die Hände auf dem Rücken und umschritt einmal sehr langsam den ausgedehnten Befehlsbalkon, von dem er den gesamten Lageraum überblickte. Seine äußerste Sphäre von Ortungsgeräten umgab die Sonne in einem Radius von siebzehn Lichtminuten, in einer sicheren Entfernung von der Hypergrenze also, was zumindest rasche Vernichtungsschläge gegen die Sensoren erschwerte. Dennoch waren sie so weit vom Gravitationszentrum des Barnett-Systems entfernt, dass die gewaltigen Antennen eine Reichweite von fast zweieinhalb Lichtwochen erhielten, innerhalb derer sie den Hypertransit jedes Sternenschiffs orteten, das größer war als ein Kurierboot. Zwischen der äußersten Antennensphäre und der Umlaufbahn Enkis lagen neun Lichtminuten, und fast dreizehn Lichtminuten trennten den Planeten von den Ortungsplattformen, die dem manticoranischen Verband am nächsten waren. Daher würde es noch – Dimitri blickte aufs Chronometer – zehn Minuten und sechsundzwanzig Sekunden dauern, bis er die erste lichtschnelle Meldung von den Sensoren erhielt, die am besten beobachten konnten, was sich ihm da näherte. Andererseits besaßen auch die weiter systemeinwärts positionierten Antennen genügend Reichweite, um eine derart massierte Hypertransition zu registrieren. Sie hatten die überlichtschnellen Schockwellen beim Durchbruch der Alpha-Mauer aufgespürt, und nun erfassten sie eine verworrene Ballung von Impellersignaturen. Noch aber war die Entfernung zu groß, als dass man mehr beobachten konnte. Darum würden die Meldungen der Ortungsabteilung unangenehm vage bleiben, bis die Manticoraner erheblich weiter systemeinwärts vorgestoßen wären. Leider ließ sich den wenigen soliden Erkenntnissen der Ortungsabteilung sicher entnehmen, dass der Feind tatsächlich tiefer ins System vorstoßen würde. Der Schätzwert auf der Tafel besagte, dass mehr als siebzig Wallschiffe Kurs auf Enki genommen hatten, und siebzig Wallschiffe planten mehr als nur einen Raid.
»Das ist White Haven«, sagte Dimitri rau. »Es muss die Achte Flotte sein. Der Stärkeabschätzung zufolge könnte sie sogar von der Dritten unterstützt werden. Und das heißt, wir haben möglicherweise bereits verloren, Bürgerin Kommissar.«
Connors’ Gesicht zeigte Missbilligung, aber nur kurz, und ihre Missbilligung richtete sich eigentlich gar nicht gegen Dimitri. Defätismus war ihr zuwider, doch damit konnte sie an der bevorstehenden Schlacht nichts ändern. Sie wusste, dass der Bürger Admiral Recht hatte. Die eigene Kampfstärke war auf nur zweiundzwanzig Wallschiffe reduziert worden. Auch mit den neuen Minen und den Raketenbehälteraufstellungen, die Theisman ersonnen hatte, den Forts und den LACs erschien es höchst unwahrscheinlich, siebzig bis achtzig manticoranische Superdreadnoughts und Dreadnoughts aufhalten zu können. Außerdem, rief sie sich ins Gedächtnis, lagen frühe Stärkenabschätzungen in aller Regel sogar dann zu tief, wenn der Feind keine Eloka einsetzte, um weitere Schiffe zu tarnen. Und doch …
»Wir können ihnen trotzdem eine Schlacht liefern, Bürger Admiral«, sagte sie, und er nickte.
»Das können wir ganz gewiss, Ma’am, und darauf gedenke ich die Mantys auch aufmerksam zu machen. Ich wünschte nur, ich wüsste, weshalb sie so weit draußen transistiert sind … und warum sie so langsam anrücken. Ich habe zwar nichts dagegen, wenn der Gegner mir Zeit gibt, meine Einheiten zusammenzuziehen und sie ihm entgegen zu werfen, aber ich muss mich doch fragen, weshalb er mir so gefällig ist.«
»Mir ist der gleiche Gedanke gekommen«, murmelte Connors, und wie auf Kommando wandten sie sich beide der Lichtskulptur des riesigen Holotanks zu, die das Barnett-System wiedergab.
Lodernd rot hingen die Icons der feindlichen Flotte wie Pockennarben im System, 26,3 Lichtminuten von Enki entfernt; Der Feind näherte sich dem Planeten mit gemächlichen 6000 Kps bei einer Beschleunigung von nur dreihundert Gravos. Vorläufige Abfanggleichungen wurden auf einem Nebendisplay angezeigt und versorgten Dimitri mit einer Auswahl an Handlungsoptionen. Er beabsichtigte keineswegs, seine beweglichen Schiffe dem einkommenden Hammer entgegen zu senden. Wenn er so dumm wäre, würden seine Schiffe gewiss einige Abschüsse erzielen, aber keines würde überleben, und dann wären seine unbeweglichen Forts und die schwachen LACs leichte Beute für den kaum geschwächten, intakten feindlichen Schlachtwall. Auch wollte er keineswegs seine hochreichweitigen Minen verschwenden. Dimitri wollte warten, bis er sie mit den Raketen seiner Kampfschiffe kombinieren konnte. Daher brauchte er im Augenblick nur zu berücksichtigen, was die Manticoraner ihm zufügen konnten.
Unter der Vorraussetzung, der gegnerische Verband behielt seine gegenwärtige Beschleunigung bei und entschied sich für ein Passiergefecht mit den inneren Abwehrforts Enkis, würde der Kampf in etwas mehr als fünf Stunden beginnen. Mit über dreiundfünfzigtausend Kilometern pro Sekunde würden die manticoranischen Schiffe am ihm vorbeiziehen, wenn sie sich dafür entschieden. Das aber bezweifelte Dimitri. Dadurch würden sie ihn zwar früh erreichen, doch Schnelligkeit spielte in den Überlegungen der manticoranischen Führung offenbar keine Rolle, sonst wäre der Verband dichter an der Hypergrenze transistiert und würde mit höherer Beschleunigung systemeinwärts marschieren. Außerdem hatten die Manticoraner einfach keinen Grund, sich für ein Gefecht im Vorbeiflug zu entscheiden. Wenn sie die Kreisbahn Enkis erreichten, wäre der Kampf so oder so vorüber, und wenn sie darüber hinausschossen, dann würden sie verzögern müssen, um zurückzukehren und die Ruinen in Besitz zu nehmen.
Nein, wie sie einkamen, würden sie sich für ein gemächliches Rendezvous entscheiden. Wenn sie bei ihrer lächerlich geringen Beschleunigung blieben, würden sie in sechseinhalb Stunden in eine Kreisbahn um Enki einschwenken und ihre Raumlandetruppen absetzen – und zu diesem Zeitpunkt wären Dimitris Schiffe bereits im All treibende Wracks.
Diese Wracks aber erhielten zahlreiche Manticoranische Gesellschaft. Auf mehr konnte Dimitri nicht hoffen, und wenn er diesen langsamen, ach so selbstsicheren Bastarden ein paar ordentliche Verluste zufügte, dann schwächte er sie vielleicht derart, dass sie dem Unternehmen Eiserne Ration nichts Wirksames entgegensetzen konnten. Dann würden sie Grendelsbane an Giscard verlieren und müssten wehrlos zusehen, wie er die Allianz von Südosten aufrollte.
Dimitri blickte in ein anderes Display und grunzte zufrieden. Auf diesem Display waren seine Schiffe zu sehen, die von ihren verteilten Patrouillerouten zusammenströmten, um sich mit den Forts zu vereinen. Ein anderes zeigte die Kampfbereitschaft seiner LACs; für eine Flottille nach der anderen schlug die Anzeige vom Bernsteingelb auf Grün um, und Dimitri nickte knapp. Ihm blieb genügend Zeit, um seine Kräfte zu sammeln und zu formieren, und die manticoranischen Hundesöhne wussten nichts von den neuen Minen und Gondelaufstellungen, die er ihnen gern vorführen würde.
Er schürzte die Oberlippe, weiße Zähne blitzten auf, dann wandte er sich wieder der Hauptstatustafel zu. Geduldig wartete er, dass sich die feindlichen Schiffe eindeutig identifizieren ließen.
»Wir erhalten erste Daten, Mylord.«
Admiral White Haven blickte von dem leisen Gespräch mit Captain Lady Alyson Granston-Henley, seiner Stabschefin, auf, als die neuen Informationen blinkend auf seinem Display erschienen.
»Ich habe sie, Trev.« White Haven und Granston-Henley gingen zu Commander Trevor Haggerston, dem dunkelhaarigen, untersetzten Operationsoffizier der Achten Flotte. Der Erewhoner war auf seine schroffe Weise ein attraktiver Mann, und White Haven hatte den Eindruck, dass Granston-Henley und Haggerston sich ein wenig näher gekommen waren, als es die buchstabengetreue Auslegung des Reglements zuließ. Nicht dass der Earl auch nur im Entferntesten beabsichtigte, die Beziehung der beiden offiziell anzusprechen … oder gar so zu tun, als hätte er ihre Liebschaft auch nur vermutet. Für den Flottenstab der Achten waren die beiden einfach zu wertvoll, als dass White Haven sich wegen solcher Torheiten Gedanken machen wollte.
Er und seine Stabschefin stellten sich neben Haggerston und beobachteten mit ihm, was die Aufklärungsdrohnen überlichtschnell dem Flaggschiff meldeten.
Zuerst wurde nur ein Gesprenkel zusätzlicher Icons sichtbar, das jedoch rasch zu einem breiteren, tieferen und helleren Nebel aus Lichtkennungen anwuchs. White Haven schürzte die Lippen, während die Operationszentrale sich an die Datenauswertung begab. Wenn die havenitische Seite nicht versuchte, verschlagener zu sein als gewöhnlich, dann standen ihr erheblich weniger Wallschiffe zur Verfügung, als der Earl gedacht hatte. Caparellis Ablenkungsversuche rings um Grendelsbane hatten also offenbar Früchte getragen, und White Haven bezeugte dem Ersten Raumlord innerlich seinen Respekt.
Caparellis Erfolg hatte allerdings auch seine Schattenseite. Unter normalen Umständen bedeuteten weniger Schiffe durchaus weniger Gegner, und das war eigentlich immer etwas Gutes. In diesem besonderen Fall jedoch bedeuteten weniger Gegner schlichtweg weniger Ziele.
»Was haben wir denn schon ausgemacht, Trev?«, fragte er nach einem Moment.
»OPZ spricht von zwoundzwanzig Wallschiffen und zehn Schlachtschiffen – hinter den Impellerkeilen könnten sich allerdings noch ein paar Schiffe mehr verbergen. Dazu kommen zwanzig bis dreißig Schlachtkreuzer, sechsundvierzig Kreuzer aller Klassen, und dreißig bis vierzig Zerstörer. Anscheinend sind vierzig bis fünfundvierzig Forts aktiv, und in der Mitte haben sie verdammt viele LACs. OPZ nimmt eine Mindestzahl von siebenhundert an.«
»Hm.« White Haven massierte sich das Kinn. Siebenhundert LACs war in der Tat eine große Anzahl … für eine Flotte ohne Shrikes oder Ferrets. LACs alter Bauweise waren nicht kampfstark genug, als dass sich eine Fertigung in größeren Stückzahlen lohnte. McQueen musste die letzten Reserven zusammengekratzt haben, um so viele in einem einzigen Sonnensystem unterzubringen. Es sei denn natürlich, die Volksflotte hatte den Bau Leichter Angriffsboote wieder aufgenommen. Gegen hyperraumtüchtige Kampfschiffe waren LACs so gut wie nutzlos, aber in der Überzahl konnten sie den neueren LAC-Typen empfindliche Verluste zufügen. Die Vernichtung eines Shrikes oder eines Ferrets müssten sie zwar mit dem Verlust mehrerer eigener Boote bezahlen, aber McQueen hatte bereits gezeigt, dass sie dieses Zermürbungs- und Abnutzungsspiel gerne spielen würde, wenn ihr keine andere Wahl blieb.
Nicht dass siebenhundert oder auch doppelt so viele LACs alter Bauweise Alice Trumans Leuten hätten gefährlich werden können.
Wenn Letztere überhaupt kämpfen müssten.
»Abstand zum Feind?«
»Wir marschieren seit siebenunddreißig Minuten systemeinwärts, Sir. Entfernung zum Planeten grob vierhundertsechsundsechzig Millionen Kilometer – entspricht sechsundzwanzig Lichtminuten –, und wir bewegen uns mit ein klein bisschen mehr als siebentausendzwohundert Kps. Das ist selbst für Geisterreiter noch ziemlich weit, Sir.«
»Das meine ich auch.« White Haven rieb sich weder das Kinn. Die endgültige – oder bislang endgültige – Version der Langstreckenrakete beschleunigte mit bis zu 96.000 Gravos, viertausend mehr als die Lenkwaffen, die Alice Truman während der Zwoten Schlacht von Hancock Station eingesetzt hatte. Damit konnten sie aus dem Stillstand bei Maximalbeschleunigung über eine Entfernung von fast einundfünfzig Lichtsekunden hinweg manövrierfähig angreifen. Begrenzte man die Antriebe auf 48.000 g, so ließ die Reichweite sich verdreifachen, und die Maximalreichweite stieg auf über dreieinhalb Lichtminuten bei einer Endgeschwindigkeit von 0,83 c. Damit allerdings gelangten selbst die Feuerleitsysteme der Royal Manticoran Navy an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit.
Doch da der Feind aus der Ruhe selbst bei niedriger Beschleunigung über weniger als dreißig Lichtsekunden hinweg angreifen konnte, stand den Haveniten eine sehr hässliche Überraschung bevor.
»Ich glaube, den Kerlen geben wir den Rest, Skipper«, bemerkte Sir Horace Harkness im Ton vollkommener Zufriedenheit, während Ihrer Majestät Leichtes Angriffsboot Bad Penny das LAC-Geschwader 19 dem Feind entgegenführte.
»Treffend, wenngleich unelegant ausgedrückt, Chief«, stimmte Ensign Pyne ihm zu, und Scotty Tremaine nickte. Die aktiven Ortungsgeräte waren vollständig abgeschaltet, doch empfing die Bad Penny die von den Aufklärungsdrohnen übertragenen Daten problemlos. Das taktische Display besaß weder die Auflösung noch die Darstellungsmöglichkeiten, wie sie in der Operationszentrale der Benjamin the Great zur Verfügung standen, aber Tremaine sah genug, um zu wissen, dass Harkness Recht hatte.
Einer konventionell bewaffneten alliierten Flotte hätten die Haveniten einen heftigen Abwehrkampf bieten können. Sie hätten zwar sämtliche Kampfschiffe verloren, dem Angreifer jedoch ebenfalls schwere Verluste zugefügt. Dazu hätten die Angreifer jedoch zunächst in ihre Reichweite kommen müssen – und die Achte Flotte hatte nicht die Absicht, es dazu kommen zu lassen. Zumindest nicht mit ihren Sternenschiffen. Bei LACs sah die Sache schon anders aus. Sie würden unmittelbar nach den Raketenschlägen angreifen, und Tremaine bezweifelte sehr, dass sie auf viel mehr treffen würden als manövrierunfähige Schiffe, denen der Fangschuss gegeben werden musste, und auf die Wracks bereits vernichteter Schiffe.
Die vielen LACs, die er auf dem Display sah, bereiteten ihm gelindes Unbehagen, aber nicht genug, um ihm den Schlaf zu rauben. Selbst nach seinen pessimistischsten Annahmen verfügten die Haveniten nur über halb so viele Boote wie Admiral Truman, und die manticoranischen LACs waren Shrike-B und Ferrets. Sämtliche Shrike-B des 19. Geschwaders besaßen einen neuartigen, verbesserten Bolgeo-Roden-Paulk-Heckschildgenerator, der sie noch gefährlicher machte.
Bürger Admiral Dimitri nahm von einem Signalmaat eine weitere Tasse Kaffee entgegen. Der Kaffee war gut, gerade so gebrüht, wie Dimitri es mochte, aber er schmeckte wie Industriereiniger der Qualität Beizt-alles-ab. Allzu überraschend war das nicht. Fünf Stunden und achtunddreißig Minuten waren seit der Transition der Manticoraner vergangen. Während dieser Zeit hatten die Bastarde sich vierhundertsechzig Millionen Kilometer bewegt und waren nur noch etwas über fünfzehn Millionen Kilometer von Enki entfernt; sie bremsten nun ab, und ihre Geschwindigkeit war auf 9.300 Kps gesunken.
Ihr Annäherungsmanöver begriff Dimitri noch immer nicht, und sein Verstand versuchte unablässig, hinter die scheinbare Unlogik zu kommen, so wie man mit der Zunge ständig an einem schmerzenden Zahn stochert. Ohne Zweifel rückten die Manticoraner mit schweren Gondelladungen im Schlepp an – das hätte er an ihrer Stelle nicht anders gemacht! –, aber manticoranische Superdreadnoughts konnten selbst mit voller Gondelzuladung viel höher beschleunigen als mit nur dreihundert Gravos. Warum verschwendeten die Manticoraner so viel Zeit? Und warum waren sie nicht wenigstens auf einen zeitoptimierten Kurs gegangen, wenn sie schon nicht mit voller Beschleunigung anrückten? Am logischsten wäre es ohnehin gewesen, wenn sie an einer Position in den Normalraum transistiert wären, von der aus Enki genau zwischen ihnen und Barnett gelegen hätte. So aber kamen sie von zu weit systemauswärts und zu langsam herein und näherten sich Enki zudem noch in einem spitzen Winkel. Im Augenblick befanden sich ihre Icons und die Schiffe, die Dimitri ihnen entgegengeschickt hatte, nicht einmal auf einer Geraden mit dem blauen Punkt im Plot, der Enkis Position symbolisierte.
All das erschien entsetzlich unorthodox, ein guter Grund für Dimitri, augenblicklich misstrauisch zu sein, besonders weil er wusste, dass er es – wenn die Schiffe dort draußen tatsächlich die Achte Flotte waren – mit White Haven zu tun hatte, der systematisch jeden havenitischen Kommandeur fertig machte, der ihm begegnete. Deshalb musste es einen guten Grund für den scheinbar ungeschickten, hirnlosen Anmarsch der Manticoraner geben, und Dimitri konnte sich kein einziges Motiv denken, das auch nur entfernt einen Sinn ergeben hätte. Fast war es, als wollte White Haven den Verteidigern absichtlich genügend Zeit geben, ihre Schiffe zu massieren, aber das war lächerlich. Gewiss, die Manticoraner verfügten über die bessere Technik, aber für alles gab es Grenzen. Nicht einmal Manticoraner waren so draufgängerisch, dass sie dem Feind absichtlich die Chance gaben, sich zu sammeln. Jeder Flaggoffizier, der sich seine Tressen verdient hatte, forschte vielmehr nach Möglichkeiten, wie er die Verteidiger überraschen konnte, während ihre Verbände noch ausgefächert waren. Auf diese Weise konnte er sie einzeln angreifen und vernichten, statt ihnen allen auf einmal gegenüberzustehen!
Doch White Haven schien vielmehr das genaue Gegenteil zu tun, überlegte Dimitri und zuckte gereizt die Achseln. Noch zwölf Minuten, und es spielte keine Rolle mehr, ob der manticoranische Kommandeur wusste, was er tat, denn dann wäre der Abstand unter sechs Millionen Kilometer gesunken. Wegen ihres Annäherungsvektors wären die feindlichen Schiffe schon zwei Minuten früher in Dimitris Reichweite, prinzipiell jedenfalls, denn in Anbetracht der manticoranischen Eloka war selbst ein Angriff auf sechs Millionen Kilometer gegen einen näher kommenden Feind vielleicht etwas zu optimistisch. Deshalb mussten er und seine Leute den Beschuss der Manticoraner erdulden, bevor ihre eigenen Vögelchen beim Gegner einschlugen. Doch in vier Minuten würde er die mit Minen armierten Drohnen losschicken, und er würde gewiss seine Gondeln leeren können, bevor irgendwelcher Beschuss ihn traf. Außerdem …
Ein schriller, durchdringender Warnton durchschnitt die Stille im Lageraum wie eine Kreissäge.
»Kommen auf fünfzehn Millionen Kilometer, Sir«, meldete Trevor Haggerston gleichmütig, und White Haven nickte.
»Etwas Neues über die unidentifizierten Bogeys?«, fragte er.
»Wir sind uns noch immer nicht sicher, Sir, aber es sieht ganz danach aus, als wären die meisten davon Raketengondeln. Die andere Sorte bereitet uns größeres Kopfzerbrechen. Diese Dinger sind kleiner als Raketenbehälter, aber größer, als einzelne Raketen sein sollten. Sie haben in etwa die Größe einer Fernaufklärungsdrohne.«
»Verstehe.« Der Earl runzelte die Stirn und zuckte die Achseln. Raketen oder Drohnen, beide waren sie gleichermaßen empfindlich gegen Naheinschläge, von denen es genug geben würde, sobald die erste Salve die havenitische Nahbereichsabwehr übersättigte; zudem würden die Naheinschläge sie schon daran hindern, irgendetwas Unangenehmes zu versuchen.
Die Haveniten wähnten sich noch in Sicherheit, in Wirklichkeit aber hätte White Haven sie schon seit über einer Stunde mit manövrierfähigen Raketen beschießen können, wenn er die Beschleunigung der Lenkwaffen weit genug gesenkt hätte. Obwohl seine Aufklärungsdrohnen knapp außer feindlicher Reichweite hockten und Daten sandten, wären die Feuerleitlösungen auf fünfundsechzig Millionen Kilometer einfach zu schlecht gewesen … ganz zu schweigen davon, dass die Flugzeit beinahe neun Minuten betragen hätte. Damit hatte ein Kommandant mehr als genügend Zeit, sein Schiff zu rollen und den einkommenden Beschuss mit dem Impellerkeil abzuleiten. Trotz aller Vorzüge der Geisterreiter-Raketen wären die Verteidiger darüber hinaus zu brauchbaren Nahbereichsabwehr-Lösungen gekommen, wenn ihnen so viel Zeit blieb.
Andererseits hatte auch gar nicht die Notwendigkeit bestanden, verfrüht anzugreifen. Ihm blieben noch immer mehr als zwölf Minuten, bis er in die Reichweite der Haveniten kam, und in diesem Zeitraum konnte jeder seiner Harrington/Medusa-Superdreadnoughts sechzig Salven zu sechs Gondeln abfeuern. Das waren allein von den Lenkwaffen-Superdreadnoughts mehr als einhundertelftausend Raketen … aber sie waren nicht allein, und White Haven sah ein letztes Mal in seinen Plot.
Dank der Daten von den Aufklärungssonden und der Zeit, die seinen Feuerleitoffizieren zur Verfügung gestanden hatte, um diese Daten zu verfeinern, hatte White Havens Ortung die meisten havenitischen Großkampfschiffe so gut wie unlösbar erfasst. ›So gut wie unlösbar‹ bedeutete in dieser großen Entfernung noch immer nicht das Gleiche wie auf geringeren Abstand, und entsprechend würde die Zielgenauigkeit leiden. Andererseits hatten die Haveniten noch keinen einzigen Täuschkörper ausgesetzt, und ihre Störsender wurden gerade erst hochgefahren. Das war durchaus vernünftig, wenn der Feind eine übermäßige Inanspruchnahme seines Eloka-Geräts vermeiden wollte. Nur würde sich Sparsamkeit diesmal als tödlich erweisen.
»Sehr gut, Commander Haggerston«, sagte er förmlich. »Sie haben Erlaubnis, das Feuer zu eröffnen.«
Bürger Admiral Dimitri ließ die Kaffeetasse fallen, und sie zerschellte auf dem Fußboden, ohne dass er es bemerkte. Weder das Klirren des Porzellans noch die sich plötzlich ausbreitende, dampfende Kaffeelache bemerkte er auch nur am Rande, denn er konnte einfach nicht glauben, was er vor sich im Display sah.
Die Ortungsgeräte und die Computer scherten sich nicht darum, was ihre menschlichen Herren und Meister dachten. Ungerührt zeigten sie trotzdem ihre lächerlich anmutenden Befunde, und Dimitri hörte andere Stimmen, einige davon schrill vor anschwellender Panik. Die im Lageraum übliche Disziplin zerbarst genauso wie die Kaffeetasse. Das war entschuldbar. Jeder hier war ausgebildeter Berufssoldat und bemannte sozusagen das ›Nervenzentrum‹ für die Verteidigung eines ganzen Sonnensystems. In erster Linie war es ihre Pflicht, ruhig und gelassen zu bleiben und weiterhin die Kontrolle über die Kampfeinheiten auszuüben, denn darauf beruhte jede Hoffnung auf Sieg.
Trotzdem hätte Dimitri den Leuten ihre Panik nicht nachgetragen, und wenn doch, wäre es ohne Bedeutung gewesen, denn auch nicht die gefassteste Reaktion hätte den Ausgang des Gefechts noch in irgendeiner Weise beeinflussen können.
In der gesamten Geschichte des interstellaren Krieges hatte noch niemand eine Salve erblickt, die so massiv gewesen wäre wie die, welche nun auf Dimitris Schiffe zuraste. Diese Raketen beschleunigten mit wenigstens 96.000 Gravos. Sie waren von Bordraketenwerfern und Lenkwaffengondeln gestartet worden, die sich selbst mit neuntausend Kilometern pro Sekunde bewegten; hinzu kam die Anfangsgeschwindigkeit, die ihnen durch die Gravtreiber der Werfer mitgeteilt worden war. Eine leise Stimme in Dimitris Gehirn hätte am liebsten geglaubt, die Manticoraner wären plötzlich irrsinnig geworden und verschenkten ihre Eröffnungssalve auf eine Entfernung, die jeden Treffer so gut wie unmöglich machte. Die unglaubliche Beschleunigung dieser Raketen müsste eigentlich zur Folge haben, dass ihr Antrieb nach weniger als einer Minute Brenndauer bereits versagte. Dann würden sich die Raketen seinen Schiffen nur noch auf ballistischen Bahnen nähern und sie nicht verfolgen können, wenn diese ihre Ausweichmanöver begannen.
Doch wenn White Haven eins nicht war, dann irrsinnig. Wenn er auf diese Entfernung das Feuer eröffnete, dann hatten seine Vögelchen auch die nötige Reichweite … Dimitris Raketen jedoch nicht.
Betäubt beobachtete der Bürger Admiral, wie die Raketen auf seinen Schlachtwall zuhielten. Die Spitze der Salve bestand fast ausschließlich aus Störraketen und Täuschkörpern, und er biss die Zähne zusammen, denn er stellte sich vor, welche Panik, welches Entsetzen die Männer und Frauen an Bord dieser Schiffe befallen musste. Seine Männer, seine Frauen. Er hatte sie hinausgeschickt und nüchtern erwartet, dass ihre Schiffe vernichtet würden, dass viele – die meisten – ihrer Besatzungen den Tod fänden. Aber er hatte geglaubt, dass sie wenigstens zurückschlagen könnten, bevor sie starben. Nun erkannte ihre Nahbereichsabwehr nicht einmal die Raketen, die ihnen den Tod brachten.
Es schien ewig zu dauern, und hinter ihm stöhnte jemand lautstark, als der manticoranische Schlachtwall eine zweite Salve schoss, die genauso massiv war wie die erste. Auch das war unmöglich. Das war die Feuerkraft einer vollen Gondellast für jedes Schiff in White Havens Schlachtwall! Er konnte doch nicht noch mehr davon in Schlepp gehabt haben! Offensichtlich hatte den Manticoranern jedoch niemand gesagt, was sie tun konnten und was nicht, und nun folgte noch eine dritte Salve.
Die erste massive Salve stürzte sich auf Dimitris Schlachtwall, und sein betäubtes Gehirn bemerkte einen weiteren Unterschied zum Normalfall. Die taktischen Gegebenheiten geschleppter Raketengondeln ließen einer Flotte keine andere Wahl, als ihre Behälter mit der ersten Salve zu leeren, denn jede Gondel, die dann nicht feuerte, wurde mit höchster Wahrscheinlichkeit bei Feuererwiderung des Gegners durch Naheinschläge vernichtet. Die Gondelraketen wurden normalerweise auf die Feindschiffe konzentriert, gegen welche die besten Feuerleitlösungen vorlagen. Schoss man nämlich auf äußerste Reichweite, anstatt abzuwarten, dass der Gegner die eigenen Waffen nutzlos machte, schmälerte das sogar die Effizienz der besten Feuerleitlösungen.
All dies resultierte darin, dass auf relativ wenige Ziele ein Übermaß an Vernichtung hereinbrach, doch diesmal geschah etwas anderes. Nein, diesmal hatten die Manticoraner ihr Feuer mit tödlicher Präzision verteilt. Die erste Salve bestand aus über dreitausend Raketen. Viele davon waren Störraketen oder Täuschkörper, die meisten aber nicht, und Hamish Alexanders Beschießungsplan lenkte einhundertundfünfzig Raketen gegen jedes havenitische Wallschiff. Die hoffnungslos gestörte und verwirrte Nahbereichsabwehr der Ziele hielt nicht mehr als zehn Prozent vom einkommenden Beschuss ab, und die havenitischen Großkampfschiffe ruckten und erbebten, als massive, bomben-gepumpte Laserstrahlen sie trafen; Atemluft, Wrackteile und Wasserdampf brachen heraus, glühende Splitter stoben von den Panzerungen auf, und wo die Stellaratorfelder der Fusionsreaktoren versagten, flammten in Bürger Admiral Dimitris Schlachtwall neue, entsetzliche Lichter auf.
Doch während die Superdreadnoughts und Dreadnoughts noch unter dem Beschuss torkelten und starben, war schon eine zweite, ebenso massive Salve unterwegs. Sie ignorierte die überlebenden, ausgeweideten Wallschiffe und stürzte sich auf die leichteren, zerbrechlichen Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer, sogar auf Schwere und Leichte Kreuzer. Jedes dieser Ziele wurde von weniger Raketen angegriffen, aber selbst ein Schlachtschiff überstand nicht mehr als eine Hand voll Treffer durch solch massive Laser-Gefechtsköpfe … und keines davon hatte auch nur annähernd die Nahbereichsabwehr-Kapazität eines Wallschiffs.
Die dritte Salve schoss an den beweglichen Einheiten vorbei und stürzte sich auf die Orbitalabwehrsysteme Enkis. Allerdings ignorierten sie auch die Forts. Ihre konventionellen Nuklearsprengköpfe detonierten vielmehr als blendende, genau im Ziel liegende Plasmawolke, die jeden einzelnen ungeschützten Satelliten, jede Raketengondel und jede Drohne in der Kreisbahn um Enki vernichtete.
Dann, wie um den Wahnsinn zu krönen, brach eine Flutwelle von LACs aus der Tarnung hervor. Es mussten wenigstens fünfzehnhundert Boote sein, und sie befanden sich bereits in Energiewaffenreichweite zu der Wrackansammlung, die einmal eine Flotte gewesen war. Sie griffen an, feuerten wild und verwandelten im Vorbeiflug alle Wallschiffe Dimitris endgültig in Wracks – oder Schlimmeres. Die LACs waren den Forts nahe genug, um von dort unter Beschuss genommen zu werden, aber ihre Eloka war fast so gut wie die der Wallschiffe, und sie warfen Scharen von Störsendern und Täuschkörpern aus. Selbst die Raketen, die zu ihnen durchdrangen, schienen völlig wirkungslos zu detonieren. Es war, als hätten die Impellerkeile dieser unfassbar kleinen Bestien keinen Rachen und keinen Kilt, durch den sie angreifbar waren.
Die LACs hatten ihr Annäherungsmanöver offenbar sorgfältig geplant. Die relative Geschwindigkeit zu ihren Opfern war sehr gering, nicht mehr als fünfzehnhundert Kps, und sie kreuzten die Spur von Dimitris Wall in einem Winkel, der sie gleich wieder von seinen Forts und seinen eigenen LACs wegführte. Einige havenitische LAC-Flottillen standen in geeigneter Position und wagten einen Abfangversuch, aber sie endeten als strahlender Feuerball, nachdem leichtere, aber noch immer tödliche Raketen ihnen entgegengerast waren. Dann tauchten die manticoranischen LACs – McQueens weithin verlachte ›Super-LACs‹ – wieder in die Unsichtbarkeit, die ihnen ihre Stealth-Systeme boten. Und um auf jeden Fall sicherzustellen, dass sie unbeschadet entkamen, belegte der manticoranische Schlachtwall den Gefechtsraum auf diese unglaubliche Entfernung mit einem soliden Kegel aus Täuschkörpern und Störsendern, die es für alle überlebenden Verteidiger unmöglich machten, auf die wendigen kleinen Boote aufzuschalten.
Alec Dimitri starrte voll Entsetzen auf das Display, auf dem jedes einzelne Sternenschiff seines Verbandes ausradiert worden war, ohne auch nur einen einzigen Schuss abgefeuert zu haben. Nicht einen einzigen Schuss. Und während er noch die sich ausbreitenden Baken der Rettungskapseln anstierte, berührte ihn jemand an der Schulter.
Er zuckte zusammen und fuhr herum. Der weibliche Signaloffizier wich einen Schritt zurück vor dem, was sie in seinen Augen erblickte. Dimitri hielt inne, atmete tief durch und zwang die verkrampften Muskeln seiner Kiefer, sich wieder zu entspannen.
Im Lageraum wurde nicht mehr geschrien, die Ausrufe des Unglaubens waren verstummt. Eine tiefe, makellose Stille herrschte, und als Dimitri sprach, klang ihm seine eigene Stimme unnatürlich laut in den Ohren.
»Was ist, Jendra?«
»Ich …« Die Bürgerin Commander schluckte. »Ein Signal von den Mantys, Bürger Admiral. Es richtet sich an Bürger Admiral Theisman. Sie wissen wohl nicht, dass er nicht mehr hier ist.« Sie bemerkte, dass sie schwätzte, und biss die Zähne zusammen, bis sie die Fassung wiedererlangt hatte. »Ein Signal von ihrem Kommandeur, Bürger Admiral.«
»White Haven?«, fragte er fast apathisch, obwohl er alles andere als Gleichgültigkeit empfand. Als sie nickte, kniff er die Augen zusammen. »Was für ein Signal?«
»Klartext, Bürger Admiral«, antwortete sie und reichte ihm ein elektronisches Klemmbrett. Er nahm es und drückte die Abspieltaste. Ein Mann in der schwarz-goldenen Uniform eines manticoranischen Admirals blickte ihn aus dem holografischen Display an. Er war dunkelhaarig und hatte breite Schultern … seine harten Augen strahlten im kühlsten Blau, das Alec Dimitri je gesehen hatte.
»Admiral Theisman«, sagte der Manticoraner tonlos, »ich fordere Sie auf, dieses System und Ihre überlebenden Einheiten augenblicklich zu übergeben. Soeben haben wir demonstriert, dass wir willens und imstande sind, jede einzelne bewaffnete Einheit in diesem System, sei es Schiff oder Fort, zu vernichten, ohne unsere eigenen Schiffe der Feuererwiderung auszusetzen. Es macht mir kein Vergnügen, Männer und Frauen abzuschlachten, die sich nicht einmal wehren können. Ich lasse mich jedoch nicht abhalten, genau das zu tun, wenn Sie nicht augenblicklich kapitulieren, denn auf keinen Fall werde ich meine Leute unnötigen Gefahren aussetzen. Sie haben fünf Minuten, um meine Bedingungen anzunehmen und Ihr Kommando zu übergeben. Sollten Sie nach Ablauf dieser Frist meiner Forderung nicht entsprochen haben, werden meine Schiffe erneut das Feuer eröffnen. Wir wissen beide, was das zur Folge hätte. Ich erwarte Ihre Antwort. White Haven aus.«
Das Display erlosch. Dimitri starrte es noch einige Sekunden lang an. Dann sackten seine Schultern, und er reichte das Klemmbrett dem Signaloffizier zurück. Er wandte sich Sandra Connors zu und zwang sich, das Unaussprechliche auszusprechen.
»Ma’am«, seine ruhige Stimme durchschnitt die Stille wie ein Messer, »ich sehe keine Alternative.« Er holte tief Luft. »Ich ersuche um Erlaubnis, mit meinem gesamten Kommando vor dem Gegner zu kapitulieren.«