13

 

»Nun, es ist so weit … glaube ich«, stellte Bürger Vizeadmiral Lester Tourville fest. Mit dem Sessel rückte er vom Tisch des Besprechungsraums ab und musterte mit funkelnden Augen eingehend das sternenübersäte Hologramm darüber. Während der Vorbereitung des Einsatzplanes hatte er die Sternenkarte schon oft gesehen, schon sehr oft sogar; aber bis jetzt war es eben nichts weiter als Planung gewesen. Nun war aus dem Plan ein bevorstehender Einsatz geworden: Die zugeteilten Einheiten mussten sich nur noch zusammenziehen, dann würde das Unterfangen in die Realität umgesetzt werden.

»Sie machen mich jedes Mal nervös, wenn Sie Vorbehalte äußern«, entgegnete Volkskommissar Everard Honeker spöttisch, und Tourville schmunzelte. Der Bürger Vizeadmiral fragte sich oft, was die Systemsicherheit sich wohl dabei dachte, dass sie Honeker, seinen politischen Aufpasser, nicht ablöste. Schließlich durfte er nicht hoffen, dass den Vorgesetzten des Bürger Kommissars entgangen wäre, wie sehr ihr dienstliches Verhältnis durch gegenseitige Sympathie verdorben war. Nach der schändlichen Entscheidung Cordelia Ransoms, an Honor Harrington ein Gerichtsurteil zu vollstrecken, das offenbar auf haltlosen Anklagen beruhte, hatte sich Honekers moralischer Verfall beschleunigt. Dieser Verfallsprozess war mittlerweile an einen Punkt gelangt, der nicht sehr weit von akuter Systemverdrossenheit entfernt war. Tourville wäre jede Wette eingegangen, dass Honekers Berichte an Oscar Saint-Just nur noch sehr entfernt an die Wirklichkeit erinnerten.

Eine ganze Weile hatten Tourville und Honeker ostentativ vorgegeben, zwischen ihnen hätte sich nichts geändert. So war es am sichersten, denn sie konnten nicht wissen, ob ein anderer Informant beobachtete oder ahnte, wie es wirklich zwischen ihnen stand. Nach dem Unternehmen Ikarus allerdings hatte sich einiges geändert. Ohne es je selbst gegenüber Honeker zu kommentieren, bemerkte Tourville eine Art Tauwetter im Verhältnis zwischen den Offizieren der 12. Flotte und den Volkskommissaren, die deren politische Zuverlässigkeit zu überwachen hatten. Er bezweifelte, dass er sich einer allgemeinen Erscheinung gegenübersah, doch die 12. Flotte war etwas Besonderes. Sie hatte geschafft, was mit der möglichen Ausnahme von Thomas Theismans Verbänden im Barnett-System dem gesamten Rest der Volksflotte noch nicht gelungen war: die Manticoraner im Gefecht zu schlagen. Mehr als das – die 12. Flotte hatte die Royal Manticoran Navy und ihre Verbündeten gedemütigt, die Manticoranische Allianz erschüttert – man brauchte sich nur vor Augen zu halten, dass die Alliierten seitdem auf jeden Angriff verzichtet hatten. Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn wurde die Moral der volksrepublikanischen Zivilbevölkerung gestärkt.

Bürger Admiral Giscards Untergebene wussten genau, was sie geleistet hatten, ob sie nun zur Volksflotte gehörten oder Volkskommissare waren. Daraus entstanden Stolz und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, starke Gefühle, die man gar nicht zu hoch schätzen konnte. Ein von Grund auf anständiger Mensch wie Honeker musste ihnen nachgeben, etwas anderes blieb ihm nicht übrig … und selbst ein kalter Fisch wie Eloise Pritchart, die Volkskommissarin Bürger Admiral Giscards, war dagegen nicht völlig immun.

Im Amt für Systemsicherheit musste man doch eigentlich begriffen haben, wie unausweichlich diese Entwicklung war, doch scheinbar war der Stimmungsumschwung völlig unbemerkt geblieben. Zumindest reagierte die SyS nicht, wie sie in den frühen Phasen des Krieges auf solch eine Entwicklung reagiert hätte. Saint-Justs Untergebene handelten durchaus, aber Tourvilles Befürchtungen wurden in keiner Weise erfüllt. Dass die Systemsicherheit sich plötzlich großzügig gab und die Zwölfte mit Schiffen ihrer Privatflotte verstärkte, flößte Tourville zwar größtes Misstrauen ein, gleichzeitig aber war kein einziger Volkskommissar entfernt oder abgelöst worden. Soweit Tourville es beurteilen konnte, hatte man auch keine neuen Wachhunde abgestellt, die ihrerseits nicht nur die Admirale, sondern auch die Volkskommissare im Auge behalten sollten … genau das aber hätte er an Saint-Justs Stelle vorsichtshalber veranlasst.

Nur weil Tourville keine neuen Aufpasser bemerkt hatte, konnte man selbstverständlich noch lange nicht sicher sein, dass es sie nicht doch gab. Die SyS verfügte über ein im Grunde unbegrenztes Personalreservoir, und Saint-Just besaß jahrzehntelange Erfahrung im Aufbau von Spitzelnetzen – erst für die Innere Abwehr und die Legislaturisten, nun als Kopf der SyS für Rob Pierre. Wenn er nicht wollte, dass ein solches Netz während des Aufbaus entdeckt wurde, dann wusste er eine Entdeckung gewiss zu verhindern. Tourville war jedoch fest davon überzeugt, dass Saint-Just diesen Schritt nicht unternommen hatte; er fragte sich, ob auch noch andere daraus die gleichen Schlüsse zogen wie er und erkannten, dass sich zwischen Saint-Just und McQueen eine gewaltige Machtverschiebung ereignet haben musste.

Eine angenehme, prosaischere Nebenwirkung der Veränderungen bestand darin, dass die Volkskommissare die kühle Förmlichkeit und Distanz lockerten, auf denen sie bis dahin bestanden hatten. Honeker hatte sich früher als die meisten anderen zwanglos gegeben, doch noch vor einem Jahr hätte selbst er keine humorige Bemerkung über die möglichen Risiken eines Operationsplans gemacht. Schließlich wäre es seine Aufgabe gewesen sicherzustellen, dass ausgerechnet der Offizier, mit dem er scherzte, den Plan trotz aller möglichen Gefahren hundertprozentig und ohne mit der Wimper zu zucken durchführte.

Honeker arbeitete allerdings von vornherein unter anderen Vorgaben als seine Wachhundkameraden, denn Lester Tourville hatte sich mit Vorbedacht den Ruf geschaffen, ein blutdürstiger, wild entschlossener Haudegen zu sein, der kaum den nächsten Kampf abwarten konnte. Öfter als ihm lieb war, sah sich der Volkskommissar genötigt, Tourvilles begeisterte Kampfeslust zu dämpfen. Schon vor langer Zeit hatte er begriffen, dass der Bürger Admiral und Bürger Captain Yuri Bogdanovich, Tourvilles Stabschef, das zu ihrem Vorteil zu nutzen verstanden: Sie manövrieren ihn oftmals leicht in eine Lage, in der er nicht anders konnte, als ihnen freie Hand zu lassen.

Dieser Umstand verlieh seiner spöttischen Antwort eine besondere Nuance. Außerdem entsprach es Honekers Art, eine ernst gemeinte Frage in diesen Ton zu kleiden.

»Ich würde sagen, ich staune selber, dass ich Vorbehalte äußere, Everard«, gab der Bürger Vizeadmiral nach einem Weilchen zu. Vor Ikarus hätte keiner der beiden auch nur darüber nachzudenken gewagt, sich mit den Vornamen anzureden; mittlerweile verzogen sie nicht einmal die Miene dabei. Dass sie sich nicht duzten, ging mehr auf ihre Erziehung als auf ein Gefühl der Distanz zurück. »Ich bin nicht im Geringsten darüber verärgert, dass Skylla nun scheinbar tatsächlich eingeläutet wurde. Ich wünschte nur, ich wüsste mehr darüber, in welche Kreissäge Jane Kellet im Hancock-System gelaufen ist.«

Er zückte eine Zigarre aus der Brusttasche und spielte damit, ohne sie aus der Folie zu wickeln, während er mit dem Stuhl in regelmäßigen Bögen von einer Seite zur anderen hin und her wippte.

»Wenn der FND zu erklären versucht, in welche Hölle sie geraten ist, widerspricht er sich in regelmäßigen Intervallen selbst«, fuhr der Bürger Admiral nachdenklich fort. »Ich schätze, das kann man den Leuten auch kaum verübeln, denn die Ortungsdaten sind mehr als knapp, und die Überlebenden sind nicht bloß verwirrt, sie sind traumatisiert. Ich halte es jedenfalls für offensichtlich, dass die Mantys irgendetwas in petto haben, von dem wir nichts wissen.«

»Bürgerin Minister McQueens ›Super-LACs‹?« Honekers Stimme bemühte sich um einen erheiterten Tonfall, aber seine Augen waren ernst.

Tourville nickte. »Ich habe Bürger Commander Diamatos … nein, er ist ja jetzt Bürger Captain, oder?« Tourville schüttelte den Kopf. »Schwerer kann man sich eine Beförderung nicht erkämpfen, aber bei Gott! Der Mann hat sie verdammt noch mal verdient! Ich bin froh, dass er da lebend rausgekommen ist!« Der Bürger Vizeadmiral schüttelte noch einmal den Kopf, dann atmete er tief durch. »Auf jeden Fall habe ich seinen Bericht gelesen, und ich wünschte, er hätte ihn schreiben können, bevor McQueen den Untersuchungsausschuss einberief. Aber er war halt nicht in der Verfassung dazu.«

»Ja, das wäre wünschenswert gewesen. Schon allein der technischen Daten wegen.«

Tourville hob die Brauen, und Honeker lachte ohne jede Belustigung. »Auch ich habe den Bericht gelesen, Lester. Und wie Sie habe auch ich den Verdacht, dass dabei einiges ausgelassen wurde. Es fand sich zum Beispiel nur sehr wenig über die Befehlsstruktur des Kampfverbands, finden Sie nicht?«

»Ja, so war es«, stimmte Tourville ihm zu. Selbst in diesem Augenblick trauten weder er noch Honeker sich anzumerken, was das Ergebnis der Untersuchung in ihren Augen bewies: dass Esther McQueen nach wie vor nicht die uneingeschränkte Herrin über die Volksflotte war. Jedem Beobachter musste das idiotische Verhalten von Bürger Admiral Porter ins Auge springen, und doch hatte niemand im Ausschuss auch nur ein Wort über seine ausgeprägte Dummheit verloren. Dazu waren seine politischen Gönner zu mächtig; nichts und niemandem konnte gestattet werden, den Ruf eines Offiziers zu beflecken, der für seine Treue zur Neuen Ordnung gerühmt wurde. Trotz aller Bemühungen McQueens hatte der Hancock-Bericht zwei Drittel seiner Schärfe verloren und erinnerte auf verdächtige Weise mehr an eine porentiefe Mohrenwäsche als an die schonungslose, unbarmherzige Analyse, auf welche die Volksflotte angewiesen war.

»Aber wie Sie habe ich mir über die technischen Aspekte in Diamatos Bericht Gedanken gemacht und wünschte, er hätte dem Ausschuss vorgelegen, bevor er seinen offiziellen Schiedsspruch gefällt hat«, fuhr der Bürger Vizeadmiral fort. »Nicht dass er die Zweifler überzeugt hätte … nicht einmal mich hat er überzeugt – voll überzeugt, meine ich. Meiner Meinung nach ist es selbst den Mantys nicht möglich, ein Fusionskraftwerk und einen vollständigen Satz Beta-Emitter in einen LAC-Rumpf zu stopfen und dann noch Platz für den grauenhaften Graser zu finden, den Diamato beschrieben hat!«

»Diesen Aspekt habe ich nie ganz verstanden«, sagte Honeker und gab damit einen Mangel an technischer Kompetenz zu, den kein ›anständiger‹ Volkskommissar je eingeräumt hätte. »Ich meine, wir bauen Fusionskraftwerke doch sogar in Pinassen ein. Ist ein LAC letzten Endes denn etwas anderes als eine übergroße Pinasse?«

»Hm.« Tourville kratzte sich am Kopf, während er sich überlegte, wie er diesen Sachverhalt am besten erklären sollte. »Ich verstehe, wie Sie auf diesen Gedanken kommen«, räumte er nach einem Augenblick ein, »aber es ist kein Problem der Größe. Genauer gesagt, ist es eigentlich zwar doch ein Größenproblem, aber der Größenunterschied wird dabei so entscheidend, dass er eine ganz neue Art von Problem erzeugt.

Bei einer Pinasse ist der Impellerkeil weitaus schwächer als bei einem Kriegsschiff oder einem Frachter. Er ist auch deutlich kleiner – er durchmisst nur einen Kilometer – und viel energieärmer. Die kleinen Westentaschen-Fusionskraftwerke, die wir in Beiboote einbauen, liefern nicht genügend Energie, um auch nur den Impellerkeil eines kleinen Schiffes – etwa den eines LACs – zu betreiben. In diesen kleinen Reaktoren benutzt man magnetische Stellaratorfelder und laserinduzierte Fusion; insgesamt sind sie nicht viel weiter entwickelt als die Kraftwerke, die man auf Alterde schon vor der Diaspora benutzt hat. Gut, wir haben seitdem einige Fortschritte gemacht, sonst hätten wir sie niemals im vergleichsweise winzigen Rumpf einer Pinasse unterbringen können. Die Bauweise dieser Reaktoren setzt aber ihrer Energieabgabe eine recht niedrige Obergrenze.

Selbst die größte Pinasse oder der schwerste Sturmshuttle liegen noch weit unter eintausend Tonnen, ein brauchbares LAC muss jedoch dreißig- bis fünfzigtausend Tonnen maßen, damit man die Impeller und die Bewaffnung unterbringen kann. Denken Sie nur daran, dass Kurierboote in der gleichen Größe rangieren, aber weder Waffen noch Abwehrsysteme tragen; an ihrer Stelle bekommt man den Hypergenerator gerade so eben hineingequetscht. Ein LAC darf kleiner sein als ein Sternenschiff, aber es muss mit hohen Werten beschleunigen können. Darum muss ein militärtauglicher Trägheitskompensator im Rumpf Platz finden, und der LAC-Reaktor muss Seitenschildgeneratoren und Waffen mit Energie versorgen. Die Waffensysteme verbrauchen ebenfalls viel Platz. Das LAC muss wie ein ernstzunehmendes Kampfschiff auftreten, sonst könnte der Gegner es im Gefecht einfach ignorieren. Darum braucht ein LAC ebenso wie ein Sternenschiff einen modernen Fusionsreaktor mit Gravfeld-Stellarator, sonst kann es nicht die Energiemengen erzeugen, die es benötigt. Und moderne Fusionsreaktoren kann man nicht allzu sehr miniaturisieren.«

Der Bürger Vizeadmiral zuckte mit den Schultern.

»Natürlich behelfen sich die Schiffbauingenieure einiger Tricks, wenn sie ein LAC entwerfen. Zunächst einmal setzen sie kein Kraftwerk ein, das sämtlichen Energiebedarf aus seiner augenblicklich verfügbaren Kapazität erfüllt. Auf die Tonne Schiffsraum bezogen, besitzen LACs gewaltige Speicherringe, die relativ gesehen größer sind als in jedem anderen Schiffstyp, sogar größer als in Superdreadnoughts. Absolut sind sie wegen des Größenunterschiedes zwischen beiden Schiffen selbstverständlich viel kleiner, aber die meisten LACs, die mit Energiewaffen bestückt sind, entnehmen die Energie zum Betrieb ihrer Angriffswaffen den Speicherringen, und sehr viele Typen betreiben damit auch die Lasercluster der Nahbereichsabwehr. Nicht einmal ein Superdreadnought erzeugt genügend Energie pro Zeit, um seinen Impellerkeil ohne Unterstützung durch die Speicherringe hochzufahren. Allein den Keil aufrechtzuerhalten, wenn er einmal steht, kostet unglaublich viel Energie. Aber die Energie, die beim ersten Erzeugen der Impellerbänder verschlungen wird, liegt um Größenordnungen darüber. Die meisten Kampfschiffe haben darum selbst dann, wenn sie still in einer Umlaufbahn liegen, wenigstens ein Fusionskraftwerk in Betrieb, mit dem sie die Speicherringe laden. Ein LAC hat selbstverständlich nur ein einziges Kraftwerk, und allein um dieses Kraftwerk betreiben zu können, muss man zunächst einmal nicht unbeträchtliche Energiemengen investieren.

Deshalb werden Ihnen die meisten Werftoffiziere versichern, dass ein Angriffsboot wie Diamatos ›Super-LAC‹ technisch einfach unmöglich ist. Entweder sind die verdammten Dinger größer, als Diamato geglaubt hat, oder er hat sich in Bezug auf ihre zerstörerische Wirkung ernsthaft verschätzt.«

»Ich bin etwas verwirrt, Lester«, gab Honeker zu. »Wollen Sie nun sagen, dass Diamato Recht hatte oder dass er sich irrte?«

»Ich sage, dass er sich jeder logischen Analyse zufolge, die ich anstellen kann, geirrt haben muss – aber was Jane Kellets Kampfverband zugestoßen ist, sagt mir, dass er Recht hat. Und dieser Widerspruch ist es, der mir solches Kopfzerbrechen bereitet. Javier Giscard ist ein guter Mann, und bei aller Bescheidenheit, ich bin auch nicht die letzte Niete, was taktisches Denken angeht. Mir gehen beim Denken immerhin Leute wie Yuri Bogdanovich und Shannon Foraker zur Hand. Keiner von uns hat eine Vorstellung, wie man sich gegen diese ›Super-LACs‹ verteidigen soll, denn keiner von uns kann ihre Fähigkeiten schlüssig und nachvollziehbar hochrechnen. Offen gesagt, mache ich mir fast genauso große Sorgen um Diamatos Angaben zur Reichweite und zum Beschleunigungsvermögen dieser verflixten Raketen, die ihnen irgendjemand hinterher geschossen hat, während die LACs – oder was auch immer – sie aus der Nähe beharkt haben. LACs oder keine LACs, eins darf ich Ihnen versichern: Dieser Reichweitenvorteil, der eindeutig aus den Beobachtungen hervorgeht, raubt mir in so mancher Nacht den Schlaf.«

»Also meinen Sie, dass McQueen Recht hat, wenn sie zu Vorsicht rät«, sagte Honeker klanglos.

»Ja«, antwortete Tourville im gleichen Ton und zuckte mit den Schultern. »Anderseits verstehe ich gut, warum manche Leute sich fragen« – selbst jetzt vermied er es sorgfältig, Oscar Saint-Justs Namen fallen zu lassen – »wo die Superwaffen der Mantys denn nun bleiben. Seit Ikarus haben wir ihnen mehrere schwere Schläge versetzt. Zwar nicht in ihren wichtigen Systemen, aber doch über die gesamte Nordgrenze der Allianz verteilt, und es hat kein Zeichen für Waffensysteme gegeben, von denen wir nichts wüssten. Wenn also der Feind über solche Super-LACs verfügt, warum setzt er sie dann nicht ein? Besitzt er sie hingegen nicht, dann sollten wir die Mantys so bald und massiert wie möglich angreifen. Und wenn der Feind diese neuen Raketen und Super-LACs gerade erst in Dienst stellt, aber noch nicht bei den Fronteinheiten eingeführt hat, dann sollten wir jetzt die Fetzen fliegen lassen!«

»Ich verstehe.« Honeker betrachtete den Bürger Admiral forschend. Für Lester Tourville musste es schlimmer sein als eine Zahnwurzelbehandlung, sich auch nur den Anschein zu geben, mit Oscar Saint-Just einer Meinung zu sein. Nicht dass Honeker es ihm verdenken konnte. Der Volkskommissar teilte Tourvilles Bedenken über das militärische Urteilsvermögen des SyS-Chefs mittlerweile weitgehend.

Schon lange hatte Honeker erkannt, dass hinter der Fassade des wilden Mannes, um die es den Bürger Vizeadmiral so sehr zu tun war, ein außerordentlich wacher Verstand arbeitete. Wenn sich Lester Tourville ehrlich sorgte, weil er die Widersprüche in den Berichten über die Schlacht von Hancock nicht aufzulösen vermochte, so wäre Everard Honeker der Letzte gewesen, der seine Bedenken von der Hand wies.

Ob er die technischen Grundlagen nun begriffen hatte oder nicht.

»Dann begrüßen Sie also den Skylla-Plan im wesentlichen«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Das entnehme ich jedenfalls Ihrem Eifer, sich hineinzustürzen und die Mantys schnell und heftig anzugreifen.«

»Selbstverständlich. Klar, es besteht immer die Möglichkeit, dass es uns dabei schlecht ergeht, aber dieses Risiko geht man mit jeder aussichtsreichen Operation ein. Mit schweren Verlusten zurückgeschlagen zu werden, droht uns aber nur dann, wenn die Mantys rechtzeitig unseren ersten Angriffspunkt herausfinden und dort alle Schiffe massieren, die sie irgendwie zusammenkratzen können. Dazu müssten sie sich bei ihrer Schiffsverteilung allerdings viel wagemutiger verhalten als irgendwann seit Unternehmen Ikarus. Ich erkenne bei ihnen keine Tendenz einer Verhaltensänderung. Darum erscheint es mir umso wichtiger, sie jetzt anzugreifen, bevor sie ihr strategisches Gleichgewicht wieder zurückerhalten.

Trotzdem weist McQueen zu Recht darauf hin, dass wir unsere Kräfte zusammenfassen und drillen müssen, bevor wir sie ins Gefecht schicken. Sie wissen so gut wie ich, in welchem Ausmaß die Zwölfte seit Ikarus gewachsen ist, und wir haben trotzdem noch nicht die geplante Kampfstärke erreicht. Besonders in den neu aufgebauten Einheiten, die noch nicht aufeinander eingespielt sind, hakt es noch immer, wenn raue Kanten sich aneinander reiben. Und weil wir so viele neue Schiffe erhalten haben, mussten wir unsere voll ausgebildeten Ingenieure und Maschinisten noch dünner verteilen. Und wir waren von vornherein nicht allzu üppig mit derartigem Personal ausgestattet!«

Mit einem bitteren Grinsen schüttelte er den Kopf.

»Typisch, nicht wahr? Endlich überwinden wir unseren Mangel an tüchtigen Schiffsingenieuren und Bordmechanikern, und ausgerechnet dann stoßen die Werften so viele neue Schiffe aus, dass uns der alte Engpass schon wieder einholt!« Er lachte. »Na schön, ich gebe zu, besser zu viele Schiffe und zu wenig Techniker, als von beidem zu wenig!

Ich wollte eigentlich auf etwas anderes hinaus. Wenn McQueen auf adäquater Vorbereitung besteht, dann ist das nur vernünftig. Wir gehen so früh ins Gefecht wie möglich, aber wir brauchen Zeit. Ich glaube sogar, dass McQueen uns zu sehr antreibt und zu viel Druck macht, wenn es ihr mit dem Startdatum wirklich ernst ist. Es dauert allein schon sehr lange, unsere Schiffe hierher zu holen – denken Sie nur an die Entfernungen, die zu überwinden sind. Und wenn sie hier eintreffen, müssen wir sie überhaupt erst einmal so weit schulen, dass sie sinnvollen Leistungsstandards entsprechen.«

Und wir müssen diesen Kretins, dachte er, die uns von der SyS aufs Auge gedrückt worden sind, sogar beibringen, welche Luke ihrer Luftschleuse sie als Erste zu öffnen haben!

Auch wenn er die Worte nicht laut aussprach, Honeker hörte sie dennoch. Wie Tourville war auch er überrascht gewesen, dass die SyS die Volkskommissare der 12. Flotte nicht summarisch ausgetauscht hatte. Zum Teil war dies auf Saint-Justs vorbehaltloses Vertrauen in Eloise Pritcharts Urteil und ihre kühle, analytische Intelligenz zurückzuführen. Das wusste Honeker und bezweifelte dennoch, dass das recht persönliche Verhältnis zwischen den Volkskommissaren und den Offizieren der 12. Flotte Saint-Just wirklich so sehr behagte wie er vorzugeben versuchte. Das konnte eigentlich nicht sein – nicht, wenn diese Beziehungen (nach seiner Sicht) nur Esther McQueens Position stärken konnten. Dadurch erklärten sich ganz offensichtlich auch die ›Verstärkungen‹, die der 12. Flotte vom Amt für Systemsicherheit zur Verfügung gestellt worden waren.

Offiziell sollte der Volksflotte damit nur geholfen werden, den Schiffsmangel zu überbrücken, der die Durchführung von Unternehmen Skylla und sämtlichen Folgeoperationen zu verhindern drohte. Denn wenn die Volksflotte Schiffe brauchte, dann musste die Systemsicherheit als Beschützer und Streiter des Volkes einspringen und die Lücken füllen.

Honeker hatte erschrocken festgestellt, dass die Privatflotte der Systemsicherheit allen Gerüchten zum Trotz auch Dreadnoughts und sogar Superdreadnoughts umfasste. Nicht viele zwar, wie es den Anschein hatte, doch war Honeker bislang davon ausgegangen, die SyS besitze kein einziges Wallschiff. Tourvilles Gesichtsausdruck verriet, dass die Existenz dieser Schiffe ihn sogar noch mehr beunruhigte als seinen Volkskommissar. Gewiss, allzu viele Wallschiffe schien die SyS nicht zu besitzen, und doch …

Tourville und Giscard betrachteten die Ankunft der SyS-Einheiten eindeutig mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Ein Offizier, der kurz vor Beginn einer sehr riskanten Offensive stand, musste natürlich eine gewisse Dankbarkeit empfinden, wenn aus dem Nichts das Äquivalent eines überstarken Geschwaders erschien, um seinen Schlachtwall zu verstärken. Gleichzeitig zählten die Besatzungen dieser Schiffe jedoch zu den fanatischsten Anhängern der Neuen Ordnung im Allgemeinen und Saint-Justs im Besonderen. Unverhohlen traute keiner von ihnen den regulären Offizieren wirklich. Das Zusammengehörigkeitsgefühl und der Stolz, auf denen die Leistungen der 12. Flotte so sehr beruhten, wurde nun vom spaltenden Einfluss der SyS-Schiffe, ihrer Besatzungen und besonders ihrer Offiziere bedroht. Diese Leute jedoch hatten viel tiefer greifenden Drill nötig, um die Standards der 12. Flotte zu erreichen. Die deutlichen Beweise ihrer anfänglichen Unzulänglichkeiten hatte nicht gerade zu einem freundlicheren Verhältnis zwischen den regulären Besatzungen und den SyS-Crews beigetragen.

Esther McQueen war gewiss alles andere als begeistert gewesen, SyS-Schiffe aufgedrängt zu bekommen. Trotzdem konnte sie ihre wahren Gründe dafür nicht offen aussprechen. Schließlich wollte sie nicht den Eindruck erwecken, sie hege tatsächlich jene zutiefst subversiven Ansichten, die Saint-Just ihr eindeutig unterstellte. Hätte McQueen die Schiffe abgelehnt, wäre es ihr außerdem ungleich schwerer gefallen, Argumente für das Hinausschieben von Unternehmen Skylla anzubringen. Wenn sie tatsächlich zu wenige Schiffe hatte, warum war sie dann nicht dankbar für jede Unterstützung durch SyS-Großkampfschiffe? Erhob sie ihrer offiziellen Argumentation zum Trotz Einwände gegen die Verstärkung, dann schob sie den Beginn der Operationen hinaus, um eigene Absichten zu verfolgen, oder etwa nicht? Zumindest würde die SyS es so und nicht anders deuten.

Dass die SyS-Schiffe ausgerechnet den Geschwadern zugeteilt wurden, zu denen Giscards und Tourvilles Flaggschiffe gehören, ist nicht unbemerkt geblieben, dachte der Bürger Kommissar grimmig. Das wird wohl kaum McQueens Idee gewesen sein. Ich weiß genau, wie gern Lester seine Flottenorganisation umwerfen würde, um die Schiffe wieder loszuwerden. Aber das wagen weder er noch Giscard – genauso wenig, wie McQueen es wagen konnte, Saint-Justs Verstärkungen von vornherein abzulehnen.

Er seufzte. In einer idealen Welt hätte die Revolution schon längst erfolgreich und triumphal ihr Ziel erreicht. Doch in der Welt, in der er lebte, drohte bewundernswerten Menschen wie Lester Tourville und Shannon Foraker von den Führern der Republik mindestens genauso viel Gefahr wie von ihren Feinden. Wären Tourville und Foraker tatsächlich Feinde des Volkes gewesen, hätte Honeker nichts dagegen einzuwenden gehabt; sie waren es aber nicht. Darum fragte sich Honeker immer öfter, ob er – oder Rob Pierre und Oscar Saint-Just – überhaupt wussten, was das Volk wirklich brauchte!

Infolgedessen fand er sich nun in der Position, zwischen Menschen wählen zu müssen, die grundsätzlich anständig, ehrenwert und mutig waren und ihr Leben der undankbaren Aufgabe widmeten, die Republik zu verteidigen … und zwischen Menschen, denen man jene entsetzlichen Übergriffe in Camp Charon und auf dem Planeten Hades vorwarf. So hätte es nicht sein sollen. Dennoch: Vor die Wahl gestellt, hätte er deswegen nicht in Lebensgefahr geraten dürfen. Aber so und nicht anders war es. Manchmal wünschte sich Honeker, er könnte offen auf Tourville zutreten und ihm sagen, wo er stand. Das war noch immer unmöglich und außerdem nicht erforderlich, denn Tourville hatte es gewiss längst schon herausbekommen.

Hoffentlich nicht auch Oscar Saint-Just.

 

Honor Harrington 11. Wie Phoenix aus der Asche
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