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Honor blickte sich in dem kleinen Büro um und seufzte. Das Seufzen kam von Herzen, und trotzdem hätte sie nicht sagen können, ob es der Erleichterung oder der Traurigkeit entsprang. Gewiss lag Erleichterung darin, denn die letzten Monate waren weit anstrengender gewesen, als man vom so genannten ›Genesungs-Dienst‹ annehmen sollte. Natürlich war das hauptsächlich ihre eigene Schuld. Eigentlich hätte sie wenigstens eine von Sir Thomas’ Bitten ablehnen müssen, und doch hätte sie das ebenso ungern getan wie die Copperwalls ohne Drachen hinunterzusegeln.
Dennoch war sie gezwungen gewesen, einige schwierige Entscheidungen zu treffen. Vor allem hatte sie das Sprachlern-Projekt so gut wie ganz an Dr. Arif und Miranda abtreten müssen. An die beiden und an James MacGuiness. Zu den schwierigsten Dingen seit der Flucht aus Cerberus gehörte es, Nimitz zu seinem und Samanthas ›Sprachunterricht‹ zurückzulassen, denn vor allem während der ersten Stunden hatte sie – trotz der Entfernung – seine Frustration deutlich gespürt. Schon vor Jahren war sie gezwungen gewesen zu akzeptieren, dass sie loslassen musste, sobald sie Verantwortung einmal delegiert hatte. Wenn man die Person, der man eine Aufgabe übertrug, dennoch nicht aus den Augen ließ, beschwor man sämtliche Nachteile herauf: Man verbrachte fast genauso viel Zeit mit dem Überwachen, wie man für die Aufgabe selbst benötigt hätte, und die Person, an die man delegiert hatte, gewann den Eindruck, dass man kein Vertrauen in sie und ihre Fähigkeiten setzte. Davon abgesehen, konnte jemand nur dadurch etwas lernen, dass er es tat, und indem man versuchte, seinem Schüler alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, tat man ihm keinen Gefallen, auch wenn es zunächst danach aussah. Im besten Fall kostete es ihn die Chance, aus seinen Fehlern zu lernen. Im schlimmsten zögerte man damit nur den Zeitpunkt heraus, an dem er einem Problem gegenüberstand, das er nicht bewältigen konnte – mittlerweile fühlte er sich aber womöglich schon gefährlich selbstsicher und bemerkte gar nicht, dass das Problem ihn überforderte.
All diese Dinge hatte Honor schon vor langer Zeit beim Umgang mit Subalternoffizieren gelernt. Sie lächelte schmal, als ihr ein unfassbar junger Rafael Cardones und eine Reihe fehlerhaft programmierter Ortungsplattformen in den Sinn kam. Sie hatte das Delegieren gelernt, weil sie es als ihre Pflicht ansah, den jüngeren Leuten etwas beizubringen. Trotzdem fiel es ihr nun viel schwerer, eine Aufgabe, die sie am liebsten persönlich erledigt hätte, an jemanden zu übertragen, der sie genauso gut verrichten konnte. Sie kam sich dadurch irgendwie faul und träge vor. Als drücke sie sich davor. Wahrscheinlich hatte sie im vergangenen T-Jahr genau deswegen nie wirklich ausreichend Zeit für irgendeine Aufgabe gefunden.
Doch hätte sie nicht so viele Stunden in ihrem Büro verbracht, wäre ihr eine gewisse Sache vermutlich nie bewusst geworden. Etwas, das sie zusammen mit dem Büro wieder aufgeben müsste – und aus dem sich die Traurigkeit erklärte, die ebenso sehr aus ihrem Seufzen sprach.
Sie liebte es zu lehren.
Wahrscheinlich hätte sie darüber nicht überrascht zu sein brauchen, denn schließlich genoss sie an ihrer Arbeit eines ganz besonders: den geistigen Horizont ihrer untergebenen Offiziere zu erweitern und mit ihnen die Freude zu teilen, die sie empfunden hatte, als sie einen weiteren Aspekt des gemeinsamen Berufes meisterte. Und wenn sie ehrlich war, gab es wohl nichts Zufriedenstellenderes als zu beobachten, wie die Männer und Frauen reiften und das Potenzial nutzten, das sie in ihnen von Anfang an entdeckt hatte – kein Orden, Titel und Prisengeld konnte diese Erfahrung aufwiegen. Diesen Leuten gehörte die Zukunft, aber sie würden kämpfen und auch sterben müssen, damit das Sternenkönigreich eine Zukunft erhielt. Ihnen beizubringen, was sie alles leisten und erreichen konnten, gehörte zu den höchsten Berufungen, die Honor sich vorstellen konnte.
Darum hatte sie sich am Hörsaalpult als Naturtalent erwiesen. Darüber hinaus hatte ihr empathischer Sinn ihr eine unschätzbare Gabe erwiesen: die des Wissens. Honor hatte gewusst, dass ihre Studenten begriffen, was sie ihr bedeuteten – wie stolz sie auf sie war.
Sie würde D’Orville Hall vermissen. Ganz Saganami Island würde ihr fehlen … auch wenn sich die Akademie sehr verändert hatte, seit Honor hier selbst die Schulungsbänke gedrückt hatte. Alles war so viel größer geworden, so viel geschäftiger. Der Krieg, der während Honors Kadettenjahren nur ein ferne Bedrohung gewesen war, hatte die Akademie mit seiner Realität wie eine Lawine überrollt und zu etwas Schnelllebigerem, Wilderem gemacht; die Entschlossenheit aller war grimmiger geworden. In allzu vieler Hinsicht war die Akademie direkt mit der Front verbunden, was durchaus positive Aspekte hatte, überlegte Honor. Den Kadetten musste klar gemacht werden, dass sie vom Hörsaalstuhl in einen Krieg gingen, in dem scharf geschossen wurde; überlebenswichtig war es, dass sie das begriffen. Dennoch hatte die ›Saganami-Erfahrung‹, wie man es wohl nennen sollte, dabei etwas verloren. Nicht ihre Unschuld … oder Verschlafenheit. Aber etwas vom … Vertrautwerden. Von der Art, in der junge Männer und Frauen allmählich in die Navy hineinwuchsen, und auch von der Geduld, mit der die Navy diese Umwandlung von Zivilisten in Soldaten begleitete.
Nein, auch das stimmte nicht ganz. Honor konnte im Augenblick nicht in Worte fassen, was sie meinte, und bezweifelte, dass es ihr je gelingen würde. Vielleicht gab es keine Worte dafür.
Und vielleicht erinnere ich mich ja auch nur an einen goldenen Schimmer, den es zwar nie gab, der sich aber anscheinend auf alles legt, sobald wir an ›glücklichere Tage‹ zurückdenken, überlegte sie mit ironischem Schnauben. Auf seinem Sitzbaum neben der Tür bliekte Nimitz leise.
»Also gut, Stinker. Also gut! Ich habe genug Trübsal geblasen«, sagte sie zu ihm und schloss energisch die Schreibtischschublade. Ihre Papiere und die Speicherchips waren bereits verstaut worden. Sie warf einen letzten Blick nach Staub oder vergessenen Besitztümern in die Runde, dann hielt sie dem Kater die ausgebreiteten Arme hin.
Mit voll wiederhergestellter alter Zuversicht sprang er von seinem Sitzbaum, und lachend teilte und schmeckte Honor sein Entzücken, mit dem er in ihren Armen landete, an ihr hoch huschte und sich auf ihre Schulter setzte. Vorsichtig verankerte er sich mit den Handpfoten – beiden Handpfoten, die ihm endlich wieder perfekt gehorchten – an ihrer Uniformjacke und bohrte die Krallen der Echtfüße sanft unterhalb ihres Schulterblatts in das Polster. So hielt er sich, eine Echthand auf ihren Kopf gelegt, und Honor atmete tief durch.
Wenn man bei einer Raumoffizierskarriere eins lernte, dann dass nichts blieb, wie es war. Türen öffnen und schließen sich, Pflichten und Verwendungen ändern sich, dachte sie, dann trat sie durch die Tür und ließ ihre jüngste Verwendung hinter sich. Geräuschlos schloss sie die Tür und blieb stehen, um die Ehrenbezeugungen von zwei Raumkadetten im dritten Jahr zu erwidern, die ihre großen Ferien offenbar auf dem Campus verbrachten. Sie gingen nach unten in das hallende Foyer. Honor blickte ihnen einen Augenblick lächelnd nach, dann wandte sie sich dem grün Uniformierten zu, der geduldig vor dem Büro auf sie gewartet hatte.
»Na schön, Andrew. Wir können jetzt gehen.«
»Sind Sie sicher, Mylady?« In seinen Augen zeigte sich die leise Belustigung und das Mitgefühl, das sie in seinen Emotionen schmeckte. Honor drückte ihm die Schulter.
»Ja, ich bin mir sicher«, sagte sie und folgte den Midshipmen ins Foyer.
»Eins muss ich sagen, Hoheit. Aus Ihrer Zeit auf Manticore haben wir mehr als nur das Beste herausgeholt.«
Sir Thomas Caparelli und Honor saßen auf dem Balkon vor seinem Büro. Admiralty House war ein bescheidenes, kaum mehr als hundert Etagen hohes Gebäude, doch das Büro des Ersten Raumlords lag im dreiundsiebzigsten Stock. Die Menschen auf den Gehwegen und Avenuen weit unter ihnen erschienen darum nur noch als bunte Punkte. Der altmodische Sonnenschirm über dem Crystoplasttisch flatterte hin und wieder, wenn ein Flugwagen ein wenig schneller vorbeischoss, als die Verkehrsregeln in solch geringer Höhe gestatteten.
Honor, Nimitz und LaFollet waren zu früh eingetroffen, und so hatte Honor sich damit vergnügt, mit ihrem neuen Auge zu üben; sie hatte den gesamten Bereich von Normalsicht bis maximaler Teleskopvergrößerung durchgeschaltet und die Fußgänger beobachtet. Ein wenig leichtsinnig kam sie sich dabei schon vor, aber es hatte auch eine faszinierende Seite. Sie fühlte sich an Kaleidoskope erinnert, ein Lieblingsspielzeug graysonitischer Kinder. Und im Grunde erschien ihr der Zeitvertreib angemessen: als Beweis, dass ihre körperliche Wiederherstellung, wegen der sie so lange auf Manticore hatte weilen müssen, endlich abgeschlossen war.
Nun, abgeschlossen war vielleicht ein zu … technisches Wort. Ihren Arm konnte sie mittlerweile normal bewegen, aber ihre Finger blieben unerträglich ungeschickt. Manchmal wünschte sie sich fast, sie hätte noch immer nur eine Hand, und keine künstliche. Eine ungeschickte künstliche Hand, auf die kein Verlass war. Andererseits ist es nur eine Frage der Übung, versicherte sie sich immer wieder. Meist zwang sie sich, Arbeiten, bei denen sie zwei Hände benötigte, auch wirklich mit zwei Händen auszuführen, anstatt den Arm abzuschalten und es auf die einhändige Weise zu tun, die sie mühsam hatte lernen müssen.
Nun wandte sie sich Caparelli zu und lächelte ihn über den Tisch hinweg an.
»Es freut mich, dass Sie es so sehen, Sir. Ich muss zugeben, manchmal habe ich mich gefühlt, als würde ich mit ein paar Bällen zu viel jonglieren. Selbst jetzt wünschte ich mir, Sie hätten nur eine einzige Aufgabe für mich vorgesehen gehabt. Auf diese Weise hätte ich mich auf diese eine konzentrieren können. Im Augenblick glaube ich nämlich, ich hätte jede einzelne weitaus besser erledigen können, wenn ich mich nicht derart hätte verzetteln müssen.«
»Glauben Sie mir, Hoheit. Die Navy ist mehr als zufrieden … und Dr. Montaya hatte sicherlich Recht, als er Ihre Vorstellung von einer geruhsamen Genesung beschrieben hat! Wenn ich gewusst hätte, wie sehr Sie sich in jede Aufgabe hineinstürzen, die ich Ihnen stelle, dann hätte ich mich schrecklich schuldig gefühlt, als ich Sie darum bat. Ich hätte es allerdings trotzdem getan, fürchte ich, denn wir haben Sie auf beiden Posten gebraucht.«
Honor winkte ab – mit der linken Hand diesmal, doch Caparelli schüttelte nur den Kopf.
»Nein, Hoheit. Das kann man nicht einfach so beiseite wischen. In Ihren Vorlesungen haben Sie Großartiges geleistet, obwohl Sie bis über beide Ohren in der Arbeit steckten, und Ihre berühmten Dinnerpartys gingen über alle Anforderungen der Pflichterfüllung hinaus. Ich glaube nicht, dass ich je erlebt habe, dass Midshipmen sich tatsächlich die Finger wundgeschuftet haben, um von einem Admiral eingeladen zu werden. Gewöhnlich ist es eher andersherum. Noch dazu waren bei den Abschlussprüfungen in Taktik vierzehn von den fünfzehn besten Erstjahres-Kadetten Ihre Schüler – und siebenunddreißig unter den besten fünfzig.«
»Aber gearbeitet haben sie selber, Sir. Ich habe sie nur in die richtige Richtung geführt«, sagte Honor ein wenig verlegen, und Caparelli schmunzelte.
»Das ist wohl nicht ganz falsch, Hoheit. Aber trotzdem, Sie haben den Kadetten gezeigt, wohin sie blicken sollten, und alle waren sehr motiviert. Und das schon, bevor sie Ihnen in die Hände fielen – niemals zuvor haben so viele Kadetten darum gebeten, einer bestimmten Ausbilderin zugeteilt zu werden. Und nachdem Sie ihnen Ihren Stempel aufgeprägt hatten, waren sie erst recht motiviert.« Er lächelte wieder. »Wie ich höre, gefällt Ihnen Ihr Spitzname nicht besonders, Hoheit, aber als die Kadettenschaft hörte, dass ›der Salamander‹ Vorlesungen halten würde, wurde das Sekretariat geradezu überflutet mit Versetzungsgesuchen von Midshipmen, die unbedingt Ihrer Vorlesung zugeteilt werden wollten.«
»Für diese Heldenverehrung bin ich weit weniger verantwortlich als die Medien«, erwiderte Honor.
»Vielleicht.« Caparelli ließ ihr das letzte Wort zu diesem Thema und nahm einen Schluck aus seinem eisgekühlten Glas. Honor trank ebenfalls, setzte das Glas wieder ab und bot Nimitz einen Selleriestängel an. Er nahm ihn und knabberte fröhlich daran, und Honor wandte sich wieder Caparelli zu. Der Erste Raumlord stellte sein von Kondenswasserperlen besetztes Glas auf den Untersetzer.
»Noch mehr als für Ihre Leistungen an der Akademie möchte ich Ihnen für Ihre Arbeit am TLF danken«, sagte er in ernsterem Ton. »Für zwo Dinge dort sogar. Einmal für Ihre Verbesserungen an der Hirnmühle. Zum anderen dafür, dass Sie Commander Jaruwalskis Karriere gerettet haben. Darum hätte ich mich nämlich selber kümmern müssen.«
»Sie sind der Erste Raumlord der gesamten Navy Ihrer Majestät, Sir. Sie haben andere Dinge zu tun, als sich um einzelne, unbekannte Commanders zu kümmern. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich zu Beginn meiner Karriere einmal unter Santino gedient und wusste, was für ein rachsüchtiger Idiot er war. Aus persönlichen Gründen habe ich mich deshalb näher mit der Schlacht von Seaford befasst, als ich es normalerweise getan hätte. Aber ich bin froh, dass Andrea Jaruwalskis Laufbahn doch noch nicht zu Ende ist. Sie ist ein guter Offizier, Sir Thomas. Ein sehr guter sogar. Es ist nur meine Meinung, aber ich finde, BuPers sollte sich einmal überlegen, ob man sie nicht außer der Reihe zum Captain JG befördern kann.«
»Ich glaube, Sie können davon ausgehen, dass man das in Erwägung zieht. Kriangsak hat bereits mit Luden Cortez gesprochen, und wenn ich richtig verstanden habe, steht sie schon auf der Liste.«
»Gut«, sagte Honor entschieden.
Sie hatte es immer gehasst, wie einige Offiziere das Günstlingsspielchen trieben, und war immer der Ansicht gewesen, dass solch ein System schon allein durch seine Natur zu Missbrauch einlud. Elvis Santino und Pavel Young waren ›leuchtende‹ Beispiele für diese Vorstellung. Andererseits hatte sie immer geglaubt, niemals genügend Einfluss zu besitzen, um dieses Spiel ebenfalls zu spielen. Aber nun erkannte sie in der besten Tradition aller Vernunftdenker der Galaxis durchaus einige Vorteile darin. Andrea Jaruwalskis Karriere war auf dem Weg zum Schutthaufen gewesen, und ihre Rettung, die ganz gewiss zum Vorteil der Navy war, verdankte sie einzig und allein der Tatsache, dass Honor Harrington ihre erste Investition ins Patronagesystem getätigt hatte. Vielleicht hatten die hohen Offiziere doch nicht ganz Unrecht, dieses Spiel zu spielen – etwa Leute wie Hamish Alexander (sie bemerkte kaum den vertrauten kleinen Sprung, den ihr Herz beim Gedanken an ihn machte). Wenn man junge Offiziere nicht deswegen förderte, weil sie Verwandte waren oder die Kinder von Freunden oder Menschen, von denen man später einen Gefallen verlangen konnte, sondern wenn man sie förderte, weil sie herausragende Offiziere waren, so bedeutete das tatsächlich, dass man sich für seinen eigenen Aufstieg revanchierte. Nicht bei der Person, die man unter die Fittiche nahm, sondern bei der Navy, beim Sternenkönigreich insgesamt.
»Jetzt muss ich jedoch zugeben«, fuhr Caparelli fort, »dass ich niemals mit den Veränderungen gerechnet hätte, die Sie beim TLF auslösen. Bei Ihrer Vorgeschichte und dem bisherigen Verlauf Ihrer Karriere hätte ich vielleicht damit rechnen sollen, aber ich tat’s nicht. Vielleicht liegt das daran, dass wir alle ein wenig zu sehr unter dem ›Nicht-hier-erfunden‹-Syndrom leiden, das uns die Sicht auf einiges verstellt, was getan werden müsste.«
»So weit würde ich nicht gehen, Sir. Ich denke, die RMN leidet ein wenig unter einem zu engen Blickfeld. Wir fühlen uns überlegen, und das dürfen wir auch, wenn wir uns mit den Havies vergleichen oder den Schlägertrupps in Silesia. Wir sind wirklich besser als die. Und als Raumstreitkraft, die im interstellaren Raum operiert, haben wir erheblich mehr Erfahrung als irgendeiner unserer Alliierten. Trotzdem glaube ich, die Navy sollte sich stärker bewusst werden, dass man die gleiche Sache auf verschiedene Weise tun kann – einige dieser Methoden mögen schlechter sein als unsere, aber andere können auch besser sein.«
»Ich stimme Ihnen vorbehaltlos zu. Und es gilt umso mehr, als wir nun mehr nicht-manticoranische Offiziere denn je durch die Hirnmühle jagen. Wir müssen uns nicht nur bewusst sein, dass wir von ihnen lernen könnten, sondern wir müssen auch darauf achten, ihnen nicht auf die Zehen zu treten, indem wir sie von oben herab behandeln. Gewiss wird immer ein gewisser, unvermeidbarer Unterton von, nun ja … institutioneller Arroganz bleiben. Das ist wahrscheinlich auch ganz gesund so, und ich denke, die meisten unserer Verbündeten werden das dem größten Bundesgenossen der Allianz nachsehen. Doch alliierte Flaggoffiziere hereinzuholen, um mit ihnen gemeinsam die Schulungsprogramme aufzustellen und zu entwerfen, war ein Geniestreich, Hoheit. Szenarien aufzubauen, in denen manticoranische Offiziere fremden Doktrinen folgen und mit sansibarischem, alizonischem oder graysonitischem Gerät arbeiten müssen, war ein weiterer. Wie ich verstanden habe, fanden einige unserer angehenden Kommandanten es recht ernüchternd, dass die angebliche Überlegenheit unserer Offiziere tatsächlich auf der Überlegenheit unserer Technik beruht, und das ist gut so. Außerdem haben wir von den Graysons schon etliche sehr nützliche Impulse erhalten. Es würde mich sehr überraschen, wenn wir von unseren anderen Verbündeten nicht auch etwas lernen könnten … nachdem wir ihnen nun endlich zuhören.«
»Das hoffe ich auch, Sir Thomas«, sagte Honor sehr ernst. »Sie haben uns nämlich einiges beizubringen, und wenn wir das eingestehen – sowohl uns selbst als auch ihnen –, motivieren wir sie umso mehr, auch von uns lernen zu wollen.«
»Da stimme ich Ihnen zu, Hoheit. Völlig.« Er nickte nachdrücklich, lehnte sich zurück und blickte über die von der Nachmittagssonne beschienene Hauptstadt hinweg.
»Wie ich höre, brechen Sie bald nach Grayson auf«, stellte er fest, und Honor nickte trotz des abrupten Themenwechsels.
»Ich bin fast ein Jahr im Sternenkönigreich gewesen, Sir. Zeit, dass ich mich wieder um meine Pflichten als Gutsherrin von Harrington kümmere. Außerdem hat Willard Neufsteiler einen Riesenstapel Papiere für mich, die ich persönlich unterzeichnen muss.«
»Das verstehe ich durchaus, Hoheit. Wenn ich recht verstanden habe, beginnt die neue Sitzungsperiode des Konklaves der Gutsherren nur wenige Wochen nach Ihrer Rückkehr.«
»Noch ein Grund für mich, nach Hause zu gehen«, stimmte Honor ihm zu und grinste schief. »Nach Hause …«, wiederholte sie leise. »Wissen Sie, das ist für mich in den letzten Jahren ein ziemlich kompliziertes Wort geworden.«
»Das klingt mir sehr nach Untertreibung«, sagte Caparelli. »Aber ich frage, weil ich gern wüsste, was Sie für die Zukunft planen. Besonders wie Sie sich Ihre Rückkehr in den aktiven Dienst vorstellen.«
»Wie ich mir meine Zukunft vorstelle?« Honor hob die Augenbrauen. »Ich dachte, diese Entscheidung trifft das Bureau für Personalangelegenheiten, Sir.«
Caparelli zuckte die Achseln. »Hoheit, Sie sind Admiral in der Navy Ihrer Majestät, aber Sie sind auch graysonitischer Flaggoffizier und außerdem Gutsherrin. Damit können Grayson und das Sternenkönigreich beide legitim Ihre Dienste beanspruchen, und wir sind beide schlau genug, um sie auch zu wollen. Doch wie es aussieht, liegt die Entscheidung, wer Sie am Ende bekommt, doch bei Ihnen, deshalb wollte ich meine Ansprüche schon früh anmelden.«
»Sir Thomas, ich …«, begann sie, aber er unterbrach sie mit einer Handbewegung.
»Ich will ja gar keinen Druck auf Sie ausüben. Noch nicht, denn ich habe mit BuMed gesprochen und weiß, dass Admiral Mannock Sie frühestens in drei, eher vier Monaten wieder voll diensttauglich schreiben wird. Ich möchte nur, dass Sie sich Gedanken machen. Und ich wollte Sie noch einmal daran erinnern, dass Sie nun an einem Punkt Ihrer Karriere angelangt sind, wo Sie weit mehr Gewalt über Ihre Zukunft und Ihre zukünftige Verwendung haben als Ihnen vielleicht bewusst ist. Sie müssen sich wappnen, damit richtig umzugehen.«
»Ich …« Honor verstummte erneut und zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, Sie haben Recht, Sir Thomas. Aus dieser Perspektive habe ich es noch gar nicht betrachtet.«
»Oh, ich glaube, Sie hätten diese Perspektive schon noch gefunden, und das mit allem Recht. Ich dachte nur, ich erwähne es noch einmal eigens, weil Sie sich das Ganze wirklich sehr genau überlegen sollten.«
Nun schwieg er, und Honor drehte sich ihm zu; sie sah ihn direkt an, denn sie spürte seinen Stimmungsumschwung. Er war plötzlich sehr tiefsinnig, und doch empfing sie Aufregung – eine Vorfreude –, in die sich jedoch ein schwacher Unterton von Furcht mischte. Er wandte sich ab und blickte erneut auf die Stadt hinaus, dann holte er tief Luft.
»Zusätzlich zu den Punkten, die wir bereits besprochen haben, Hoheit, wollte ich Ihnen noch etwas sagen. Das ist auch der Grund, weshalb ich Sie heute zu mir bestellt habe.« Er wandte sich ihr wieder zu, und sie hob höflich fragend die Brauen.
»Gestern habe ich Unternehmen Butterblume gestartet«, erklärte er, und sie setzte sich kerzengerade hin. Honor wusste Bescheid über die Operation. Alice Truman hatte am taktischen Hauptsimulator des TLF mehrere alternative Strategien mit Honor durchprobiert, und die Endfassung des Operationsplans trug unverkennbar Honors Handschrift.
»Alice Truman bricht nächste Woche nach Trevors Stern auf«, fuhr Caparelli leise fort. »Wenn Sie auf Grayson ankommen, sollte die Achte Flotte marschbereit sein. Im Augenblick haben wir die Havies in einer Offensive gegen Grendelsbane Station gebunden, und ich musste einige Lenkwaffen-Superdreadnoughts abziehen, um die Station verteidigen zu können. Trotzdem haben wir die Kampfstärke erreicht, die im Operationsplan gefordert wird. Einige LAC-Geschwader sind noch feuchter hinter den Ohren, als mir recht ist, aber …«
Er hob leicht die Schultern, und aus seinen Gefühlen sprach jene Reue, die jeder gute Befehlshaber empfindet, wenn er seine Leute in die Gefahr schickt.
»Verstanden, Sir«, sagte Honor in einem genauso ruhigen Ton. Sie dachte an die Menschen in den Schiffen, die sie persönlich kannte und die an Unternehmen Butterblume teilnehmen würden. Scotty Tremaine und Horace Harkness. Alice Truman. Rafael Cardones, der nun einen von Trumans LAC-Trägern kommandierte, und Konteradmiral der Roten Flagge Alistair McKeon, einen ihrer Divisionschefs. Von diesen Namen abgesehen gab es noch Dutzende anderer, und sie empfand einen Anflug von Furcht – ein Widerhall des unleugbaren Wissens, dass in der Schlacht Menschen ihr Leben verlieren würden.
»Danke, dass Sie mich einweihen«, sagte sie schließlich und rang sich ein Lächeln ab. »Ich hatte bisher nicht begriffen, wie viel schwieriger es ist, Menschen in den Kampf zu schicken, wenn man selbst nicht mitgehen kann.«
»Das ist eine der schwersten Lektionen, die man lernen muss … zumindest muss man es hinnehmen«, stimmte Caparelli ihr zu und blickte wieder auf die Stadt. »Hier sitze ich an einem schönen Sommernachmittag, und da draußen« – er wies mit einem Nicken auf die dunkelblaue Himmelskuppel – »ziehen Hunderttausende von Menschen in die Schlacht, weil ich es ihnen befohlen habe. Letztlich trage ich für alles, was ihnen zustößt, die Verantwortung … aber von diesem Punkt an kann ich nichts daran ändern, was mit ihnen geschehen wird.«
»Was immer man Ihnen bezahlt, Sir, es reicht nicht«, sagte Honor, und er wandte sich ihr zu und grinste sie an.
»Hoheit, keinem von uns zahlen sie genug, aber wenn wir keinen Spaß verstehen, dann hätten wir eben nicht der Navy beitreten sollen.«
Aus seinem Munde das altehrwürdige Sprichwort der unteren Decks zu hören, überraschte Honor auf ganzer Linie, und sie kicherte los. Sie konnte nicht anders, und er grinste zufrieden, weil er das Schulmädchen in ihr hervorgelockt hatte. Sein Gesichtsausdruck machte es nur noch schlimmer. Sie brauchte mehrere Sekunden, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte. Als Erstes bedachte sie ihn mit einem tadelnden Blick.
»Mir fällt noch das eine oder andere Klischee ein, das man auf Sie anwenden könnte, Sir Thomas. Keins davon wäre jedoch sehr schmeichelhaft, fürchte ich.«
»Na, was soll’s. Darüber darf ich mich wohl nicht wundern. Außerdem bin ich es mittlerweile gewöhnt, beschimpft zu werden. Nur wenige Menschen wissen es zu schätzen, was für ein feiner, unerschütterlicher Kerl ich bin.«
»›Fein‹ und ›unerschütterlich‹ sind nicht unbedingt die ersten Adjektive, die mir bei Ihnen in den Sinn kommen, Sir«, sagte sie, und er lachte wieder. »Trotzdem möchte ich diese Gelegenheit ergreifen, um Sie zu einem kleinen Beisammensein einzuladen, das Miranda und meine Mutter für nächsten Monat planen. Wie ich höre, nimmt nur ein ganz bescheidener Kreis daran teil – nicht mehr als zwo- oder dreihundert Leute auf der Gästeliste –, eine Art Abschiedsparty im Sternenkönigreich, bevor wir nach Grayson aufbrechen. Ihre Majestät hat ihr Kommen angekündigt, und ich hoffe, Sie erscheinen ebenfalls.«
»Es wäre mir eine Ehre, Hoheit«, sagte er ernst.
»Gut. Denn bis dahin haben Nimitz, Farragut und Samantha genug Zeit, um sich eine angemessene Begrüßung für einen feinen, unerschütterlichen Kerl wie Sie auszudenken.« Sie lächelte ihn engelhaft an. »Und wenn Sie die drei erst kennen lernen, Sir Thomas, kommen Sie schnell zu der Überzeugung, dass Sie in der erste Welle von Unternehmen Butterblume besser aufgehoben gewesen wären!«