Achtzehn
Der Wendepunkt

Wie die »wirklich Geisteskranken« sich benahmen, wurde von den Kriminologen um die Jahrhundertwende heiß diskutiert, da viele Täter Geisteskrankheit nur vortäuschten. Als immer mehr Nervenheilanstalten gebaut wurden und immer mehr Ärzte vor Gericht als Gutachter auftraten, verbreitete sich auch in der Unterwelt die Nachricht von der Möglichkeit, in eine Anstalt eingewiesen zu werden und dort ein ziemlich angenehmes Leben zu führen. Im Jahr 1888 schrieb Dr. Paul Garnier, der medizinische Direktor der Pariser Polizei, dass ihm in den vergangenen zwei Jahren aufgefallen sei, dass Kriminelle diesen Trick »ungewöhnlich oft« anwandten. Er führte dies auf das Strafgesetz von 1885 zurück, das Wiederholungstäter auf die Teufelsinsel verbannte. Verbrecher wollten wohl lieber einige Zeit in einer Nervenheilanstalt verbringen, als ein Leben lang in dieser Hölle zu stecken.

Garnier war aber nicht der Einzige, der das Problem erkannte, und Frankreich war auch nicht das einzige Land, in dem es sich stellte. Anfang der 1890er-Jahre enthielten die kriminologischen Handbücher mehrerer Länder Warnungen vor vorgetäuschter Geisteskrankheit und Hinweise darauf, wie man die List durchschauen konnte. 1892 empfahl das Manual of Medical Jurisprudence, das britische und amerikanische Kriminalbeamte benutzten, den Ermittlern, auf Übertreibungen zu achten. »Bei echter Geisteskrankheit gibt der Betroffene nicht zu, dass er geisteskrank ist; nur wenn er simuliert, versucht er mit allen Mitteln, andere glauben zu machen, er sei verrückt.« Ermittler deckten viele vorgetäuschte Verhaltensweisen auf, zum Beispiel Taubstummheit, Lähmung, Gedächtnisschwund, Manie, Epilepsie, Melancholie, Delirium, auch Hungerstreiks und Selbstmordversuche. Manie kam dabei am häufigsten vor, weil »Laien glauben, die Symptome der Geisteskrankheit seien Gewalttätigkeit sowie lautes und unzusammenhängendes Sprechen«.

Hans Gross, der österreichische Kriminologe, empfahl den Ermittlern, die Aussagen der Gefangenen sorgfältig zu prüfen. »Manche sind wohlüberlegt und schlau, andere sind ungeschickt und dumm.« Dieser Gegensatz, sagte er, sei ein Zeichen für Simulation. Er riet den Polizeibeamten auch dringend, die Augen des Verdächtigen zu beobachten:

Kein intelligenter Mensch hat die Augen eines Idioten, und kein Idiot hat intelligente Augen. Die gesamte Physiognomie, die Haltung, die Gesten mögen täuschen, die Augen nie; und wer darin geübt ist, die Augen zu beobachten, wird nie zum Narren gehalten … Denken Sie auch daran, dass ein Schwindler, wenn er glaubt, unbeobachtet zu sein, dem Ermittler oft einen schnellen, prüfenden Blick zuwirft, um zu sehen, ob er ihm glaubt oder nicht.«

In Fachzeitschriften erschienen zahlreiche warnende Berichte. Der Wiener Psychiater Richard von Krafft-Ebing schrieb etwa über einen Häftling, der eine ehemalige Geliebte mit einem Taschenmesser getötet hatte und dann Geisteskrankheit simulierte, indem er nicht mehr sprach, nicht mehr aß und den Kopf an die Wand schlug. Als später herauskam, dass er insgeheim etwas aß, tief schlief und seine Selbstmisshandlung nur vortäuschte, wurde er verurteilt und hingerichtet.

Garnier schrieb einen langen Artikel über Fälle von vorgetäuschter Geisteskrankheit und seine Methoden der Entlarvung. Ein Ganove, ein fünfundzwanzigjähriger Gewohnheitsdieb namens Troyé, stellte sich krank, nachdem er erfahren hatte, dass er in eine Gefängniskolonie deportiert werden sollte. Tagelang saß er schweigend und zusammengekauert in einer Ecke seiner Zelle, und seine linke Hand zitterte. Alle Versuche, ihn aus seiner Erstarrung zu locken, scheiterten. Eines Tages bemerkte Garnier gegenüber dem Gefangenen, dass jetzt seine rechte Hand zittere. Da er die Symptome nicht glaubhaft hatte simulieren können, gestand Troyé schließlich den Täuschungsversuch. Ein anderer Häftling täuschte Halluzinationen vor und hörte auf, zu sprechen und zu essen. Nach einigen Besuchen sagte Garnier laut zu einem Kollegen, dass er dieses Syndrom kenne und daher mit einer baldigen manischen Phase rechne. Als der Häftling am nächsten Tag tatsächlich die neuen Symptome zeigte, wusste Garnier, dass die Geisteskrankheit nur simuliert war. Ein dritter Gefangener, der gehungert und den Kopf an die Wand geschlagen hatte, hörte nach drei Tagen einfach von selbst damit auf. »Es ist doch verständlich, dass ich keine Lust habe, das Land zu verlassen und unter Wilden zu leben«, erklärte er.

Garniers schwierigster Fall war ein dreißigjähriger Mann namens Paul-Joseph Cavène. Dieser hatte einer ehemaligen Geliebten mehrere Drohbriefe geschrieben, weil sie einen anderen Mann geheiratet hatte. Nach einem Überfall auf ihren Ehemann wurde er dann verhaftet. Nervenärzte, die Cavène psychologisch untersuchten, wiesen auf seine turbulente Jugend, seine gestörte Entwicklung und seinen Größenwahn hin: Er stieß »leere und bedeutungslose Sätze in lächerlich emphatischem Ton« aus. Letztlich kamen sie zu dem Schluss, dass Cavène zwar psychisch gestört, aber nicht schuldunfähig sei. Das Gericht verurteilte ihn daraufhin zu acht Tagen Gefängnis.

Kurz nach seiner Entlassung schüttete Cavène seiner früheren Geliebten Säure ins Gesicht und versuchte, ihr mit den Fingern die Augen auszustechen. Nach seiner zweiten Verhaftung stellten Nervenärzte fest, dass seine Symptome sich verschlimmert hatten. Er halluzinierte über sein Opfer und behauptete, ihr perfektes Gesicht im Traum zu sehen. Als man ihn darauf aufmerksam machte, dass ihr Gesicht nicht mehr perfekt sei und er es verunstaltet habe, schien er völlig überrascht. Routinefragen lösten Schimpftiraden und Wutanfälle aus. Er schrieb hochtrabende Verse, in denen er sich mit Spartakus und Toussaint-Louverture, dem Befreier Haitis, verglich. Und er freute sich, seinen Namen in den Zeitungen zu finden.

Die Ärzte waren allerdings der Meinung, dass sein Verhalten zu zweckmäßig und systematisch sei. Gewiss, Cavène war eigenartig und impulsiv, aber er übertrieb auch diese neuen Symptome. Daher glaubten sie, dass er »die Sprache und das Verhalten eines Menschen, der halluziniert und an Verfolgungswahn leidet«, übernehme. Ein ehemaliger Zellengenosse berichtete, dass er darüber gesprochen habe, dass er seine ehemalige Geliebte überfallen und dann »dank vorgetäuschter Geisteskrankheit einer Strafe entgehen« wolle.

Das war selbst für die Experten ein neues Phänomen: Ein nur leicht Geisteskranker simulierte extreme Symptome, um ungestraft davonzukommen. »Ein Mann mit solchen Verhaltensstörungen«, schrieben sie, »gehört unter strengster Aufsicht in eine Nervenheilanstalt.«

Cavène wurde in die Nervenheilanstalt Bicêtre in Paris geschickt und einige Monate später wieder entlassen. Erneut bedrohte er daraufhin seine Exfreundin und deren Mann. Als er die beiden in einem Pariser Park verfolgte, schoss der Ehemann mehrere Male mit einem Revolver auf ihn. Nach einem Krankenhausaufenthalt wurde Cavène in der Anstalt Sainte-Anne in Paris untergebracht und dann in eine andere Anstalt auf dem Land verlegt. Nachdem er von dort fliehen konnte, kehrte er nach Paris zurück, um sich zu rächen, doch die Polizei vereitelte diesen Plan. Als Garnier seinen neuesten Bericht schrieb, befand sie Cavène gerade in Sainte-Anne, und niemand wusste, wie lange er dort bleiben würde.

Wenn schon ein Mann wie Cavène fliehen und Menschen verletzten konnte, so stand zu befürchten, dass Vacher ein Blutbad anrichten würde. Zwischen dem Verhalten der Täter, die den Berichten zufolge eine Geisteskrankheit vorgetäuscht hatten, und Vachers Gehabe gab es auffallende Ähnlichkeiten: Hochmut, Größenwahn, Publicitysucht, Hungerstreiks, sporadische Taubstummheit und simulierte Selbstmordversuche. Lacassagne und seine Kollegen verdächtigten daher Vacher von Anfang an, Unzurechnungsfähigkeit nur vorzutäuschen. »Der erste Eindruck, den man gewinnt, wenn man Vacher mit seiner Mütze aus weißem Hasenfell – immerhin der Farbe der Unschuld – betrachtet, lautet: Das Verhalten dieses Mannes ist aufgesetzt«, schrieb Lacassagne. »Dies ist der erste Eindruck, den die meisten naiven Beobachter und die meisten misstrauischen Spezialisten gleichermaßen teilen.« Lacassagne hatte offenbar schon früh eine Abneigung gegen Vacher entwickelt. »Wir haben selten einen hochmütigeren und gleichzeitig argwöhnischeren Angeklagten gesehen, kaum einen anderen, der so vorsichtig mit seinen Worten umgeht und gleichzeitig derart lächerlich handelt. Er befleißigte sich einer unangemessenen Vertrautheit und eines arroganten Tons gegenüber jeder Autorität.«

Später, als Lacassagne auf die Symptome einging, die er bei Vacher festgestellt hatte, hätte er beinahe Gross’ Beschreibung des typischen Simulanten zitieren können:

Von Zeit zu Zeit vergisst Vacher seine amateurhafte Dramatik und die Rolle, die er spielt. Dann spricht er ziemlich vernünftig und gibt schlaue Antworten, oder er pariert Argumente, die sich gegen ihn richten, mit einem durchtriebenen Lächeln und weicht Suggestivfragen aus. Wenn er bemerkt, dass er von dem Gehabe abweicht, das er eigentlich an den Tag legen will, schweigt er oft bewusst oder macht vereinzelte, absichtlich unvernünftige Bemerkungen, hinter denen er sich versteckt.

Auffallend fand Lacassagne, dass Vacher im Gegensatz zu anderen Gefangenen, deren Geschichten sich im Laufe des näheren Kennenlernens entwickelten, an einer unveränderlichen Vorgabe festhielt. Er weigerte sich, Fragen zu seinen Verbrechen zu beantworten, und verwies jedes Mal auf seinen Brief mit dem ersten Geständnis. »Er kommt immer wieder auf sein Hauptthema zurück: Er wurde von einem tollwütigen Hund gebissen und litt an einer Blutvergiftung«, berichtete Lacassagne. Vacher wiederholte diese Geschichte in jedem Brief und in jedem Gespräch, aber auch in den Memoiren, die er zum Schluss schrieb. Drängte man ihn, präzisere Angaben zu machen, reagierte er gereizt und stieß Drohungen aus. Lacassagne bemerkte aber auch grundlegende Ungereimtheiten in Vachers Geschichte. Einerseits wurde er von einem tollwütigen Hund gebissen und in den Nervenheilanstalten misshandelt, doch anderereseits agierte er unter »göttlicher Führung«. Vachers Erzählung war sowohl »hypochondrisch als auch größenwahnsinnig«. Diese Kombination von Symptomen war den Psychologen bisher noch nicht untergekommen, darum bezweifelte Lacassagne auch, dass sie wirklich echt waren. Sie standen »keinesfalls im Einklang mit seiner Diagnose in Dole«.

Was Lacassagne und seinen Kollegen am meisten auffiel, war, wie zielgerichtet Vacher an seinem Fall arbeitete. Als Vacher im Gefängnis in Belley eintraf, untersuchte ihn der Anstaltsarzt Bozonet flüchtig und kam zu dem Schluss, dass die Schuldfähigkeit des Häftlings »erheblich eingeschränkt« sei. Einige Wochen später kam Dr. Léon Madeuf, ein Gegner der Todesstrafe, unangekündigt aus Paris, um mit Vacher zu sprechen. Fourquet hatte ihm das verboten, doch als Fourquet einmal für kurze Zeit verreist war, behauptete Madeuf, die Erlaubnis des Richters zu besitzen, sodass Bozonet ihn einließ. Madeuf schrieb zwar nie einen Bericht, aber es war klar, auf wessen Seite er stand. Vacher, der einen Verbündeten witterte, schrieb später an Madeuf, dass es »absolut notwendig« sei, mithilfe der Presse seine Situation publik zu machen. Wenn Madeuf die Lyoner Zeitungen dazu bringen könne, seinen Brief zu veröffentlichen, sei »der größte Teil [unserer Sache] geschafft«. Jetzt, in Lyon, schrieb Vacher der Justizbehörde, dass Madeuf etwas Klarheit in den Fall bringen könne.

Lacassagne und seine Kollegen hatten nie zuvor jemanden so systematisch daran arbeiten sehen, in eine Heilanstalt geschickt zu werden. Das war »sein einziges Ziel«, schrieb Lacassagne. »Er hat nicht vergessen, wie leicht es war, entlassen zu werden.« Vacher wusste natürlich um diese Bedenken und lieferte den Ärzten daher ein Gegenargument: »Warum wurde ich noch nicht in eine Heilanstalt eingewiesen? Ich werde es Ihnen sagen: Weil Sie befürchten, dass ich fliehe. Fliehen … warum? Ich bin inzwischen so bekannt, dass man mich sofort wieder einfangen würde, falls ich je entkommen könnte. Nein, nein, ich würde nicht zu fliehen versuchen.«

Im Gegensatz zu vielen anderen Gefangenen in Saint-Paul bewunderte Vacher Lacassagne niemals – vielleicht weil er dessen Skepsis spürte. Sobald Vacher erkannt hatte, dass Lacassagne nicht auf seiner Seite stand, beschloss er, ihm gar nichts mehr zu sagen. Es gab niemals, nicht einmal zeitweilig, einen vertrauensvollen Austausch wie mit Fourquet. Die täglichen Gespräche führten nicht zu einer Katharsis oder zu einem Geständnis, sie waren lediglich ein pausenloser Schlagabtausch zwischen zwei Männern mit unbeugsamem Willen. Vacher schien sich jedoch über die Herausforderung zu freuen und betrachtete ihr Zusammensein als Spiel. »Wissen Sie, Herr Doktor«, sagte er eines Morgens arrogant, »der schwierigste Teil Ihrer Aufgabe besteht darin, meinen Geisteszustand zu ermitteln.«

Einmal glaubte Lacassagne schon, endlich einen Zugang gefunden zu haben. Er fragte Vacher nach einem Mord, dessen er verdächtig war, den er jedoch nicht gestanden hatte. Jedes Mal, wenn der Professor diesen Punkt bisher angesprochen hatte, war Vacher in verdrießliches Schweigen versunken. Doch diesmal schien er zuzuhören, neigte aufmerksam den Kopf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Lacassagne hoffte, dass der Gefangene ihm endlich etwas zu diesem Thema sagen werde, doch dann zuckte Vacher plötzlich melodramatisch mit den Schultern, begann hin und her zu gehen und rief: »Ich will Ihnen mal etwas sagen – ich habe wirklich genug von Ihnen. Ich werde nur noch sagen, was ich will, und kein Wort mehr. Ich habe genug gesagt. Lesen Sie die Gespräche mit dem Richter nach. Es ist vorbei. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.« Dann schwieg er erneut.

Um Vachers Abwehrhaltung zu durchbrechen, begann Lacassagne daraufhin ein Gespräch über Vachers altes Regiment. Doch das brachte ihm nur eine Zurechtweisung durch den Gefangenen ein.

Sie sind schuld daran, dass Sie mir nicht vertrauen. Erinnern Sie sich an den Tag, als Sie es wagten und beinahe meinen Selbstrespekt und meinen Patriotismus beleidigt hätten, indem Sie von den kleinen und großen Siegen meiner Kameraden während meines Dienstes in der Armee sprachen? Sie hatten recht, mich um meine Meinung zu fragen, aber Sie haben [den falschen Ton und] die falsche Zeit dafür gewählt.

Lacassagne schrieb ebenso gereizt:

Dies ist Vachers Theorie: Ich bin unschuldig, weil ich verrückt war. Es ist wichtig, meinen Geisteszustand während meines Wanderlebens zu kennen …

Vacher hat immer darauf gesetzt, dass er aufgrund seines Aufenthalts in einer Nervenheilanstalt straffrei davonkommen werde. Der Arzt erklärte ihn für geheilt, aber heute [besteht er darauf], dass er immer noch krank war, als man ihn entließ.

Wir haben gesehen, dass er sich auf das Simulieren eines Deliriums konzentrieren kann, dass er sein Geständnis zurückhalten oder verschleiern kann und dass er unbedingt erreichen möchte, dass man ihn in der Zeit seines Wanderlebens für schuldunfähig erklärt. Das alles ist zu raffiniert für einen Geisteskranken.

Das soll nicht heißen, dass Lacassagnes Besuche bei Vacher ihn von dessen Schuldfähigkeit überzeugten. Sie machten ihm jedoch klar, dass er aus Gesprächen mit Vacher keine richtigen Schlüsse ziehen konnte. Vacher würde sich immer verstellen und immer die Wirkung seiner Worte abwägen. Um diesen Fall zu lösen, um herauszufinden, ob der Beschuldigte tatsächlich geisteskrank war, musste Lacassagne Fakten sprechen lassen. Darum wandte er sich nunmehr den forensischen Beweisen zu, die an den Tatorten gesammelt worden waren.

Da Lacassagne die Opfer nicht selbst obduziert hatte, konnte er nicht für die Qualität oder Präzision der Untersuchung garantieren. Außer den beiden Obduktionen seines Kollegen Jean Boyer waren alle anderen von Ärzten mit unterschiedlicher Erfahrung vorgenommen worden, und zwar unter ungünstigen Bedingungen auf dem Land. Die Leiche des ersten Opfers, Eugénie Delhomme, wurde erst fünf Tage nach ihrer Entdeckung obduziert. Rosine Rodiers Leiche wurde mitten in der Nacht im trüben Licht von Laternen auf einer nebligen Wiese obduziert.

Die Ärzte hatten dabei viele Fehler begangen. Lacassagne hatte in seinem Vademecum darauf hingewiesen, wie wichtig es war, eine anale Vergewaltigung zu prüfen, da Päderastie immer häufiger als Mordmotiv auftauchte. Und weil Vacher eine Flasche mit Öl bei sich getragen hatte und die Ärzte an einigen Leichen Ölspuren entdeckt hatten, wäre so eine Untersuchung in diesem Fall besonders wichtig gewesen. Doch die Ärzte hatten sie nur bei zwei Toten vorgenommen. Lacassagne zeigte die elf Tatortberichte einem Zeichner, der die Leichen in den Positionen skizzierte, in denen man sie gefunden hatte. Mithilfe der Zeichnungen, der Autopsieberichte und Vachers Geständnissen begann Lacassagne dann, Gemeinsamkeiten aufzulisten.

Alle Opfer waren in abgelegenen Gegenden und ohne Zeugen ermordet worden. Alle waren viel kleiner und schwächer als Vacher gewesen – sie konnten sich also nicht wirklich wehren. Zehn Leichen wiesen neben anderen grausamen Verletzungen große Schnittwunden an der Seite der Kehle auf. Die Leiche des elften Opfers, die man aus dem Brunnen geborgen hatte, bestand nur noch aus Knochen. An zehn Tatorten hatten die Ermittler in einiger Entfernung von der Leiche eine oder mehrere riesige Blutlachen gefunden. Die Leiche selbst war fast immer versteckt worden, entweder unter einem Busch wie bei Eugénie Delhomme, Vachers erstem Opfer, oder in einem verlassenen Schuppen wie bei Louise Marcel, seinem zweiten Opfer. Nur zwei Opfer wiesen an den Innenseiten der Finger oder den Handflächen Wunden auf, die auf Gegenwehr hindeuteten. Keine Leiche hatte Prellungen am Rücken oder Hinterkopf. Wenn das Verbrechen in geschlossenen Räumen begangen worden war, etwa in Hirtenhütten, gab es keine Blutspuren an den Wänden.

Die forensischen Details lieferten Lacassagne genug Informationen, um Vachers Angriffsmethode zu rekonstruieren. »Die Umstände der Morde zeigen, dass die Opfer fast nach dem gleichen Schema überfallen und ermordet wurden. Vacher improvisierte nicht, er ging immer nach der gleichen Methode vor.«

Laut Lacassagnes Rekonstruktion war Vacher meilenweit auf viel benutzten Straßen gewandert, hatte diese dann jedoch verlassen, um an Wandrändern »auf die Jagd« zu gehen. Dort hatte er einsamen Jugendlichen aufgelauert, deren »junges Fleisch ihn faszinierte und reizte«. (Lacassagne wies darauf hin, dass alle Opfer von Vacher, abgesehen von der 68 Jahre alten Witwe Morand, jung gewesen waren.) Vacher hatte sich an einen Hirten herangepirscht, sich rasch umgeschaut, um sicher zu sein, dass niemand in der Nähe war – der junge Hirte Alphonse Rodier war einem Überfall nur entkommen, weil sich in letzter Minute einige Arbeiter genähert hatten –, dann hatte er die Kehle des Opfers gepackt. Vacher war stark und hatte ungewöhnlich lange Fingernägel. An seinem ersten Opfer entdeckte man daher auch verräterische Kratzwunden. Später, als er mutiger geworden war und mehr Übung im Umgang mit dem Messer hatte, hatte er seinen Opfern so große Wunden an der Kehle zugefügt, dass diese die Kratzer verbargen. Die Autopsien hatten jedoch zerquetschte Kehlköpfe offenbart, was bewies, dass die Opfer auch gewürgt worden waren.

Vacher hatte seine Opfer so schnell und kraftvoll gepackt, dass sie kaum eine Chance hatten, sich zu wehren oder zu schreien. Die meisten hatten schnell das Bewusstsein verloren oder waren zusammengebrochen, worauf Vacher sie auf den Boden gelegt und ihnen die Kehle aufgeschlitzt hatte. Lacassagne nahm an, dass er immer so vorgegangen war, da nur eine der Leichen am Rücken oder Hinterkopf jene Art von Verletzungen aufwies, die ein schwerer Sturz hervorgerufen hätte. Nur ein Opfer, die Witwe Morand, hatte Prellungen, wie sie bei Stürzen auftreten, da Vacher sie offenbar sofort erstochen hatte, als er in ihre Küche gekommen war. Wenn die anderen Opfer auch im Stehen erstochen worden wären, wäre das Blut aus der Halsvene einen halben oder sogar ganzen Meter weit herausgespritzt. Das Fehlen von solchen Blutspritzern an den Tatorten schloss aber diese Variante aus.

Vachers »Standardmethode«, schrieb Lacassagne, war so effizient, dass er nie verletzt oder gekratzt wurde. In zwei Fällen – Louise Marcel und Pierre Laurent – waren die Opfer nicht bereits durch das Würgen wehrlos, doch obwohl sie sich zu befreien versucht hatten, was die Art der Wunden belegte, waren sie nicht in der Lage gewesen, sich erfolgreich zu verteidigen. Nur ein Opfer, nämlich Madame Plantier, war entkommen, während Vacher sich noch in der ersten Phase seiner Attacke befunden hatte.

»Es ist sicher, dass Vacher sich hinter dem Kopf oder an einer Seite des Opfers befand, andernfalls wäre er vollkommen mit Blut bedeckt gewesen«, schrieb Lacassagne. »Das Blut spritzte auf den Boden, ohne Vacher zu erreichen. Das würde erklären, warum sich auf seiner Kleidung nur sehr wenig Blut fand.«

Die Untersuchungen hatten ergeben, dass die Innenseite der Kleidung blutgetränkt war und dass die Organe und Herzen der Opfer vollkommen ausgeblutet waren. Was die Blutlachen betraf, nahm Lacassagne an, dass die erste jeweils dort entstanden war, wo Vacher das Opfer getötet und so viel Blut wie möglich hatte auslaufen lassen. Dann hatte er die Leiche an eine andere Stelle geschleift, an der er sie missbraucht oder verstümmelt hatte. Zum Schluss hatte er die Leiche versteckt – hinter einem Felsen, in einem Gebüsch oder mit Ästen oder Blätter bedeckt in einer Bodenmulde. Manchmal hatte er auch in aller Eile versucht, die Blutpfützen mit Erde zu bedecken.

Dann war er weitergegangen, oft in der Nacht, bis er so weit vom Tatort entfernt gewesen war, dass die Suchtrupps ihn nicht finden konnten. Er hatte immer Kleider zum Wechseln bei sich und hatte sich oft den Bart abrasiert, um sich anschließend erneut einen wachsen zu lassen.

»Man muss sich fragen«, schrieb Lacassagne, »ob die ständige Wiederholung dieser Serie von blutigen Handlungen das Werk eines Kannibalen ist – aber eines vernunftbegabten Kannibalen – oder im Gegenteil das eines Verrückten ohne jegliche Vernunft.« Für den Professor deutete der gesamte Tatverlauf trotz der grausamen Perversität auf Planung und Vernunft hin, wie sie nur ein geistig Gesunder an den Tag legen konnte. »Zweifellos wählte er die Zeit, das Opfer und den Ort aus.« Sobald Vacher begonnen hatte, einem Opfer nachzustellen, »hielt er sich an einen vorher beschlossenen Plan, der ein wohlüberlegtes und logisches Vorgehen nach einem bestimmten System einschloss … Auf den Hauptstraßen begegnete er zahlreichen Menschen, aber dort verlor er nie die Selbstbeherrschung. Das geschah nur, wenn er weit vom nächsten Dorf entfernt war.«

Er tötete schnell, effizient und mit einer »Präzision und Geschicklichkeit«, was auf einen »ruhigen, unerschütterlichen Vorsatz« schließen ließ. Das Vorgehen des Mörders »setzte Kühnheit, Kaltblütigkeit und unerschütterliche Ruhe voraus«.

Lacassagne wies darauf hin, dass Vacher während seiner Wanderschaft immer wieder eine Geistesklarheit bewiesen hatte, die man nicht von einem Verrückten erwarten konnte. Nach dem Mord an der Witwe Morand hatte er zum Beispiel die Tür zugezogen und den Schlüssel weggeworfen, sodass die Entdeckung der Tat sich verzögert hatte. Minuten nach der Ermordung von Aline Alaise war Vacher so geistesgegenwärtig gewesen, einem Bauern, der ihm auf einem Pferdewagen entgegengekommen war, weismachen zu wollen, dass er sich bei einem Unfall eine blutige Nase geholt habe. Und als er nach dem Überfall auf die zwölfjährige Alphonsine Derouet einem Polizisten begegnet war, hatte er sich so unauffällig benommen, dass er diesen nicht misstrauisch gemacht und ihn sogar auf eine falsche Fährte gelockt hatte.

Nachdem Vacher seine Opfer getötet hatte, war er bisweilen in einen sexuellen Rausch verfallen. Doch selbst dieser sprach nach Lacassagnes Ansicht nicht gegen seine Schuldfähigkeit, weil er erst nach dem sorgfältig geplanten Mord einsetzte. An diesem Punkt »erregt es ihn, die Leiche vollständig zu besitzen; dann und nur dann kann er ungestört deren Geschlechtsorgane verstümmeln«. Nach Lacassagnes Ansicht war dies ein Zeichen von Sadismus. Dieser erst vor Kurzem geprägte Begriff bezeichnete Menschen, die es lustvoll fanden, anderen Schmerzen zuzufügen. Der Terminus »hat nicht das Geringste mit Geisteskrankheit zu tun«, schrieb Lacassagne, und wer sich solcher Praktiken befleißige, verdiene den Schutz der Gesellschaft nicht. Wer solche Neigungen habe und Verbrechen begehe, müsse auch als Verbrecher behandelt werden.

Wie Fourquet war auch Lacassagne der Meinung, dass Vacher viele weitere Verbrechen begangen, aber nicht gestanden hatte. Die Akten, die aus dem ganzen Land eintrafen, ließen den Schluss zu, dass Vacher 25 bis 27 Menschen umgebracht, vergewaltigt oder misshandelt hatte. Gestanden hatte er jedoch nur elf Taten, die er alle nach seinen Schüssen auf Louise begangen hatte. Lacassagne vermutete, dass Vacher ein selektives Geständnis plante – eine Zusammenstellung von Verbrechen, die ihn als schuldunfähigen Verrückten zeigen sollten. Obwohl er einige Male auch gestohlen hatte – Augustine Mortureux’ Ohrringe und Schuhe, Marie Moussiers Ehering und 200 Francs des Vagabunden Gautrais –, leugnete er diese Diebstähle hartnäckig. Fourquet führte dies auf eine Art perverses Ehrgefühl zurück, doch Lacassagne war anderer Meinung. Seiner Ansicht nach wollte Vacher alles bestreiten, was ein logisches Motiv hätte darstellen können.

»Letztlich«, schrieb Lacassagne, »und das ist ein wichtiger Punkt, hatte er immer genug Geld, um nicht als Landstreicher festgenommen zu werden.« Dies und seine Papiere vom Militär halfen ihm, drei Jahre lang einer Verhaftung zu entgehen.

Nachdem die Experten Vacher vier Monate lang studiert hatten – sie besuchten seine Familie, beurteilten seine Erbanlagen, beobachteten sein Verhalten, analysierten Tatorte und lasen Berge von Zeugenaussagen, Geständnissen und medizinischen Berichten –, waren sie bereit, einen Bericht vorzulegen. Im Jargon der damaligen Zeit erklärten sie, Vacher sei »weder epileptisch noch impulsiv«. Er sei ein amoralischer und gewalttätiger Mensch. Er leide gelegentlich an kurzzeitigen Anfällen von »melancholischen Delirien mit Verfolgungswahn und Selbstmordgedanken«. Auch wenn er irgendwann in seinem Leben geisteskrank gewesen sein sollte, war sicher, dass er, »als er aus der Anstalt Saint-Robert entlassen wurde, geheilt und schuldfähig war. Wenn er sich während seiner Haft unvernünftig benommen hatte, dann [nur] deshalb, weil er Geisteskrankheit simulierte.« Vacher sei, einfach ausgedrückt, ein Verbrecher, der »als schuldfähig betrachtet werden sollte. Seine Zurechnungsfähigkeit wird in keiner Weise durch frühere psychische Probleme eingeschränkt.« Nach Ansicht der Experten war der Mörder der jungen Hirten für sein Tun verantwortlich und konnte vor Gericht gestellt werden.