Teil eins
Die Verbrechen

»Der Werwolf aus den Geschichten
Wurde jetzt übertroffen …«

Aus einem volkstümlichen Gedicht über Joseph Vacher, 1898

Eins
Die Bestie

An einem regnerischen Frühlingsabend im Jahr 1893 spazierte die neunzehnjährige Louise Barant in der französischen Provinzstadt Besançon die Uferpromenade entlang. Plötzlich kam ihr ein Mann entgegen, der eine Militäruniform trug. Sein Name war Joseph Vacher (ausgesprochen »Vaschee«). »Mieses Wetter, oder?«, fragte er, und sie antwortete reflexhaft: »Kann man wohl sagen.« Normalerweise hätte Louise, eine große, gesund aussehende Frau mit lockigem Blondhaar, nicht mit einem Fremden gesprochen, schon gar nicht, wenn er brutal aussah wie dieser hier. Aber Vacher strahlte auch eine entwaffnende Unschuld aus, und die Feldwebelwinkel wiegten sie in Sicherheit.

Also gingen sie plaudernd weiter und aßen gemeinsam in einem Café. Sie erfuhren, dass sie beide aus Kleinstädten stammten: sie aus Baume-les-Dames, einer netten kleinen Gemeinde an der Grenze zur Schweiz, und er aus Beaufort, einem unscheinbaren Städtchen südöstlich von Lyon. Sie erzählten einander von ihrer Vergangenheit, und er gestand ihr, dass er sich bisher bei keinem Menschen so wohlgefühlt habe. Auch sie hatte das Gefühl, freimütig sprechen zu können. Dennoch beschlich sie ein komisches Gefühl, als sie von ihrem Essen aufblickte und in seine stechenden Augen sah. Später am Abend machte er ihr einen leidenschaftlichen Heiratsantrag. Dann schwor er, sie umzubringen, wenn sie ihn je betrügen sollte. Jetzt war ihr klar, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte.

In den folgenden Wochen verfolgte er sie ständig. Wie andere Männer, für die Gewalt zum Leben gehört, wusste er, wie man Drohungen, Reue, Selbstmitleid und Charme geschickt miteinander verbindet, um eine Beziehung zu verlängern. Louise, die in der Stadt fremd war und als Hausmädchen arbeitete, versuchte verzweifelt, ihm aus dem Weg zu gehen, und erfand zu diesem Zweck zahllose Ausreden. Einmal jedoch hatte sie Mitleid mit ihm, was bei Opfern bisweilen vorkommt, und ging mit ihm tanzen. Schüchtern standen sie mitten zwischen fröhlichen Leuten, als ein Soldat Louise ansprach. Vacher stürzte sich daraufhin mit solcher Wut auf den Mann, dass der Soldat und Louise aus dem Tanzsaal rannten.

Jetzt wusste sie, dass sie niemals sicher sein würde, solange sie sich in derselben Stadt wie Vacher aufhielt. Da sie sich nicht traute, ihn direkt abzuweisen, behauptete sie, ihre Mutter habe die Heirat verboten und sie nach Hause befohlen. Aber die Entfernung tat seiner Besessenheit keinen Abbruch. Immer wieder schickte er ihr Liebesbriefe. Schließlich schrieb sie ihm eine klare Antwort darauf: »Es wäre am besten, wenn du mir nicht mehr schreiben würdest … Zwischen uns ist alles aus. Ich möchte mich den Wünschen meiner Mutter nicht widersetzen. Zudem liebe ich dich nicht. Adieu, Louise.«

Sie hoffte, von nun an Ruhe vor ihm zu haben. Denn sie wusste, dass er sich der Fahnenflucht schuldig machen würde, wenn er seine Einheit verlassen sollte, um sie zu suchen. Doch ihre Abreise und ihr letzter Brief hatten bei ihm derartige Wutanfälle ausgelöst, dass der Regimentsarzt ihm »nervöse Erschöpfung« attestiert und einen viermonatigen Erholungsurlaub verordnet hatte. Sofort fuhr er nach Baume-les-Dames und kaufte unterwegs noch einen Revolver.

Jeder Soldat in Vachers Kaserne hätte Louise geraten, sich gar nicht erst mit dem dreiundzwanzigjährigen Feldwebel einzulassen, weil er etwas Wildes und Gewalttätiges an sich hatte. Alle hatten seine Manien und sein explosives Temperament schon erleben müssen. Einmal hatte er einem Kameraden, der nicht exakt in der Reihe stand, ohne Vorwarnung in den Unterleib getreten. Ein andermal hatte er im Alkoholrausch schwere Holzschreibtische durch den Raum geschleudert, gebrüllt wie ein Tier und sich Haare aus den Unterarmen herausgerissen. Als man ihn wider Erwarten nicht befördert hatte, hatte er sich sinnlos betrunken, alles kurz und klein geschlagen und jeden, der sich ihm genähert hatte, mit einem Rasiermesser bedroht. Schließlich hatte er die Klinge an seine eigene Kehle angesetzt. Nach diesem Vorfall wurde er in ein Krankenhaus gebracht und dann in eine andere Kompanie versetzt.

Mitunter konnte Vacher aber auch rücksichtsvoll und, wenn es notwendig war, sogar charmant sein. So hatte er sich zweifellos benommen, als er Louise kennengelernt hatte, doch als sie ihn zurückwies, kehrte die Bestie zurück.

Nachdem er im Dorf angekommen war, versuchte er tagelang, ihre Mutter und ihre Familie für sich einzunehmen, doch er schaffte es nur, ihnen auch Angst einzujagen. Am Morgen des 25. Juni 1893 besuchte er Louise bei ihrem Dienstherrn. Nach einer abschließenden Aussprache wollte er mit dem Zug nach Besançon zurückfahren. Als Louise die Tür öffnete und ihn sah, wich sie zurück.

»Warum fürchtest du dich, Louise?«

»Ich fürchte mich nicht«, erwiderte sie wenig überzeugend.

»Schau, ich will dir nichts tun. Ich komme in Frieden, um die Sachen abzuholen, die mir gehören.«

Er beharrte wie besessen darauf, dass sie ihm seine Briefe, die wertlosen Schmuckstücke, die er ihr geschenkt hatte, und das Geld, das er in Restaurants für sie ausgegeben hatte, zurückgab. Sie händigte ihm alles aus, was er haben wollte, aber er war immer noch nicht zufrieden. Als er nicht aufhörte, ihr Vorwürfe zu machen, begann sie vorsichtig, rückwärtszugehen und die Marmortreppe hinaufzusteigen. Je länger er redete, desto aufgeregter wurde er.

»Wieso willst du mich nicht, Louise? Wir könnten doch so glücklich sein! Du weißt ja gar nicht, wozu ich fähig bin. Ich habe es dir schon einmal gesagt und wiederhole es nun: Ich bin verrückt nach dir. Komm mit mir.«

Sie drohte ihm damit, dass sie ihren Herrn wecken würde, wenn er nicht sofort das Haus verlasse, und der werde ihn dann hinauswerfen. Vacher schob die rechte Hand in die Tasche.

»Du willst also nicht mitkommen?«

»Nein!«

Daraufhin zog er den Revolver heraus und feuerte einen Schuss ab. Die erste Kugel drang in Louises Mund ein, zerschmetterte zwei Zähne, durchschlug die Zunge und trat aus der Wange heraus. Sie schrie auf und brach zusammen. Zwei weitere Schüsse streiften ihren Scheitel, während sie fiel, und einer schlug in der Wand ein. Dann schoss Vacher sich selbst zweimal ins Gesicht.

Die Schüsse hallten im Flur derart laut wider, dass die Hausbewohner aus ihren Schlafzimmern eilten und Passanten von der Straße ins Haus stürzten. Sie fanden Louise auf der Treppe kauernd vor. Vacher taumelte mit blutbeschmiertem Gesicht blind herum, stolperte ein paar Schritte zur Tür hinaus und brach auf der Straße zusammen.1

So begann das öffentliche Leben von Joseph Vacher, einem der berüchtigtsten Serienmörder seines Jahrhunderts, der mehr Menschen tötete als Jack the Ripper. Der Vorfall mit Louise Barant war zwar sein erster Konflikt mit dem Gesetz, aber er war seinen Mitmenschen schon seit Jahren unangenehm aufgefallen und hatte ihnen Unbehagen eingeflößt. Nachbarn in Beaufort erinnerten sich an ihn als Kind, das schnell Streit anfing und bei Raufereien auf dem Schulhof ungewöhnlich gewalttätig war. Einmal, als er das Vieh der Familie hüten sollte, hatte er die Tiere auf eine Wiese geführt und einigen die Beine gebrochen. Als Teenager verbrachte er ein paar Jahre in einem Kloster, wurde aber wegen nicht näher genannter Fehltritte relegiert. Später wurde er zum sechzehnten Regiment in Besançon eingezogen. Obwohl die strenge Disziplin beim Militär ihm guttat, neigte er auch dort zu Wutausbrüchen. Alle Leute fanden ihn irgendwie sonderbar, doch sie hatten, wie er selbst zu Louise gesagt hatte, keine Ahnung, wozu er tatsächlich fähig war.

Verbrechen aus Leidenschaft kamen damals häufig vor, wurden milde bestraft und oft dem Opfer zur Last gelegt. Nachdem Vacher auf Louise geschossen hatte, verbrachte er mehrere Wochen im Krankenhaus. Dann schickte man ihn zur Beobachtung in ein Irrenhaus in der Nachbarstadt Dole, wo die Ärzte herausfinden sollten, ob er hinreichend zurechnungsfähig war, um ihn vor Gericht stellen zu können. Das »24-Stunden-Attest«, das den ersten Tag des Patienten in der Anstalt dokumentierte, bezeichnete ihn als ruhig. Er reagiere kaum auf Fragen und bereue seine Tat. Die Ärzte beschrieben in allen Einzelheiten, wie die Schüsse ihn entstellt hatten: Eine purpurrote Furche zog sich über seinen rechten Kiefer, und gelblicher Eiter rann aus dem rechten Ohr – er würde sein Leben lang stigmatisiert bleiben. Bei jedem Atemzug flatterte seine rechte Wange wie ein loses Segel, weil eine Kugel einen Gesichtsnerv durchtrennt hatte. Beim Sprechen konnte er kaum den Mund öffnen, und seine Stimme klang nasal und undeutlich.

Er schien eher ein gebrochener als ein gefährlicher Mann zu sein. Doch als er sich im Laufe der nächsten Wochen erholte und kräftiger wurde, kam sein paranoider und gewalttätiger Charakter zum Vorschein. Er beschuldigte die Ärzte – anfangs ruhig, später immer heftiger –, sich gegen ihn verschworen zu haben, und verlangte jeden Tag, ein Chirurg solle ihm die Kugel aus dem Ohr holen. Kurz vor dem geplanten Eingriff warf er dem medizinischen Personal vor, ihn umbringen zu wollen, und rannte aus dem Operationssaal.

Am 20. Juli machte er nach den Aufzeichnungen der Anstalt eine »nervöse Krise« durch. Er schrie die Ärzte an und prügelte sich mit seinen Zimmergenossen. Manchmal saß er vor- und zurückschaukelnd auf der Bettkante. »Hin und wieder hebt er den Kopf und fokussiert die Augen, als lausche er unsichtbaren Stimmen«, schrieb der Assistenzarzt Dr. Léon Guillemin. »In solchen Momenten hat er den Gesichtsausdruck eines Verrückten.«

Innerlich kochte Vacher. Er hasste die Anstalt und alle, die sich in ihr aufhielten. Seiner Meinung nach waren die Ärzte herzlos und die Patienten Schweine. Später schrieb er in einem langen, verbitterten Brief an die Behörden – er sollte sich bald als fleißiger Briefschreiber erweisen –, die Irrenanstalt sei »schmutzig und widerlich« und man zwinge ihn, auf einer schmuddeligen Matratze voller Flöhe zu schlafen. Das Essen sei kaum genießbar, und die Wärter würden es oft stehlen. Nicht beaufsichtigte Patienten misshandelten einander, und es mache ihnen besonderen Spaß, die Blinden zu quälen. »Sie schubsten sie und spuckten ihnen ins Gesicht. Manche stießen sie sogar nackt in den Schnee hinaus.« Bisweilen dachte er offenbar sogar an Selbstmord. »Und ich war nicht der Einzige … Manche konnten diese Behandlung nicht ertragen und nahmen sich das Leben.«

Nach ihrer eigenen Einschätzung waren die Ärzte in Dole mitfühlend und fürsorglich. Gedruckte Texte aus der Anstalt bezeichneten ihre Therapie als »behutsam, erträglich, human und eher modern«. Anders als früher wurden die Patienten nicht an die Wand gekettet oder wegen unwissentlich begangener Verfehlungen geschlagen. »Alle Erzwingungsmethoden, die Kranke quälten, wurden aufgegeben … Patienten werden überaus menschlich behandelt.«

Als Vacher aufgenommen wurde, bereitete der Direktor der Anstalt gerade den Umzug der Insassen in einen neuen Gebäudekomplex vor, der aus mehreren Pavillons bestand und in einer ländlichen Umgebung etwas außerhalb der Stadt erbaut worden war – eine beachtliche Verbesserung im Vergleich zur bisherigen festungsähnlichen Anstalt. Damals wurden solche Einrichtungen überall in Europa gebaut.

Dennoch waren die Zustände in Dole nicht so, wie sie sein sollten. Ende des 19. Jahrhunderts berichtete ein Besucher, dass viele Patienten immer noch in dunklen, vergitterten Zellen lebten und unzureichend versorgt würden. Wie viele andere Irrenanstalten hatte auch die in Dole viel zu viele Insassen. Die Zahl der geistig Behinderten war in Frankreich (wie in ganz Europa und in Amerika) sprunghaft gestiegen. Schuld daran waren der Alkoholismus und die Syphilis, zudem wurde die Diagnose »geisteskrank« immer häufiger gestellt. Mit diesem Begriff wurden damals Probleme aller Art zusammengefasst, etwa Demenz, Obdachlosigkeit und kriminelles Verhalten. Daher luden Gefängnisse, Zuchthäuser und Armenhäuser die Menschen, mit denen sie nichts anfangen konnten, in den Irrenanstalten ab. Viele kamen auch direkt von der Straße. Als Vacher aufgenommen wurde, beherbergte die staatliche Anstalt mehr als doppelt so viele Patienten wie ursprünglich geplant. Sie war für 500 Insassen gebaut worden, war aber mit über 900 vollgestopft, von denen mindestens 15 Prozent Kriminelle waren. (Angesichts solch unerträglicher Zustände konnte selbst ein sehr engagierter Arzt herzlos werden. Als der Direktor der Irrenanstalt Villejuif in Paris gefragt wurde, welche Therapie seiner Meinung nach am wirksamsten sei, antwortete er: »Wir warten darauf, dass sie sterben.«)

Die Ärzte hatten Vacher in einem Hochsicherheitstrakt untergebracht, aber die Aufsicht war wie in vielen anderen Anstalten nicht streng genug. In der Nacht des 25. August 1893 schlich sich Vacher daher aus seinem Zimmer, fand einen langen Balken, lehnte diesen an die Mauer und floh in die Freiheit. Er wollte nach Baume-les-Dames fahren, um Louise zu suchen. Eine Fahndungsmeldung wurde sofort telegrafisch verschickt, und die Polizei in Louises Dorf erhielt eine besondere Warnung. Es konnte nicht schwer sein, den Flüchtigen zu identifizieren, denn er trug die Standardkleidung der Anstalt – ein graues Baumwollhemd und eine graue Hose –, und sein entstelltes Gesicht war nicht zu übersehen.

Einige Wochen später entdeckten ihn einige Soldaten in Besançon, woraufhin ihn Ortspolizisten festnahmen. Wenige Tage später setzte man ihn in einen Zug, um ihn in die Anstalt zurückzubringen. Seine Wärter wurden angewiesen, ihm Handschellen anzulegen und ihn ständig im Auge zu behalten. Während der Fahrt fragte Vacher, ob er beim nächsten Halt die Toilette aufsuchen dürfe. »Sie müssen warten«, sagten sie, denn sie wollten ihn nicht einmal dafür aussteigen lassen, obwohl seine Hände gefesselt waren. Schließlich schlug er vor, unmittelbar vor den Wärtern zur Tür hinaus zu urinieren. Da der Zug mit Höchstgeschwindigkeit dahinraste, schien es unwahrscheinlich, dass Vacher einen Sprung wagen, geschweige denn überleben würde. Er schlurfte also zur Tür, öffnete seine Hose und sprang hinaus, ehe die Wärter reagieren konnten. Dann knallte er auf den Bahndamm, rollte sich ab und lief wie ein Hase davon, während der Zug weiterfuhr.

Zwei Tage später stöberten ihn von einigen Dorfkindern alarmierte Polizisten in einem Bauernhaus beim Essen auf. Sie brachten ihn in Ketten nach Dole zurück. Sein Zustand verschlimmerte sich. Er hatte immer häufiger »melancholische Zustände« und versuchte, sich umzubringen, indem er den Kopf an eine Wand schlug. »Wir müssen häufig drastische Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass er sich selbst verletzt«, schrieben die Ärzte in einem »Situationsbericht« vom 26. Oktober 1893.

Inzwischen war Dr. Guillemin eingetroffen, um eine offizielle Analyse von Vachers Geisteszustand zu erstellen. Er sprach mit ihm, untersuchte ihn körperlich, unterhielt sich mit seinen Betreuern und las die Akten. Dann diagnostizierte er Vacher als »verwirrten Mann mit Verfolgungswahn ersten Grades«. In diesem Zustand habe sich Vacher fast sein Leben lang befunden. Die Symptome seien nicht immer offenkundig, träten aber gelegentlich mit voller Schärfe auf, und als Louise ihn abgewiesen habe, seien sie schlimmer geworden denn je und hätten Selbstmordgedanken ausgelöst. In der Anstalt leide Vacher weiter an schwerem Verfolgungswahn und akustischen Halluzinationen. Er glaube, »die ganze Welt habe sich gegen ihn verschworen«, schrieb Guillemin. Seit seiner Ankunft in Dole glaube Vacher, die Ärzte vernachlässigten und ignorierten ihn, wollten ihn nicht versorgen und sähen ihn gerne tot. »Wir haben unser Bestes getan, aber er wirft uns vor, ihn töten zu wollen. Es gibt keine Anzeichen für eine Besserung.«

Abschließend schrieb Guillemin: »1. Vacher ist geistesgestört und leidet an Verfolgungswahn. 2. Er ist für sein Handeln nicht verantwortlich.«

Das zuständige Gericht erklärte ihn daraufhin wegen Unzurechnungsfähigkeit für nicht schuldig. Dadurch wurde Vacher vom Kriminellen zum geisteskranken Mündel des Staates, genauer gesagt des Departements Isère in Ostfrankreich. Man wollte ihn ins dortige staatliche Irrenhaus außerhalb von Grenoble einweisen, wo er bleiben sollte, bis seine Ärzte ihn für geheilt erklärten.

Zwei Wärter begleiteten ihn auf seiner Zugfahrt zur neuen Anstalt Saint-Robert. Sie trugen einen Bericht bei sich, in dem Guillemin den Patienten als »derzeit wirklich ruhig« beschrieb. »Er will nur in seine Region zurückkehren und bald wieder bei seiner Familie sein.« Guillemin war zuversichtlich, dass Vacher sich während des Transports anständig benehmen werde. »Da er jedoch bereits Selbstmord- und Fluchtversuche unternommen hat, empfehle ich strenge Bewachung. Zwei zuverlässige Beamte sollten genügen.« Unerklärlich ist, dass er den Mordversuch, die »Stimmen« und Vachers gefährlichen Verfolgungswahn in diesem Bericht nicht erwähnte. Das Personal im Saint-Robert bereitete sich daher auf den Empfang eines depressiven, selbstmordgefährdeten Menschen vor, nicht aber auf einen Mann, der für andere gefährlich war. Später erinnerte sich Vacher daran, dass er nach der Abfahrt in Dole nur noch den Wunsch hatte, »überall Blut zu sehen«.

Vacher hatte versprochen, sich während der Überführung ruhig zu verhalten. Die Ärzte hatten an seine Vernunft und Würde appelliert und ihm erlaubt, anstelle der grauen Anstaltskleidung seine Regimentsuniform zu tragen. Doch die Uniform schürte nur seine Wut, und er beschloss, zu fliehen und die Welt über die Missstände in Dole zu informieren. Schon auf dem Bahnsteig probierte er seinen »Uriniertrick«, aber die Wärter packten ihn sofort und legten ihm Hand- und Fußfesseln an. Im Zug bemühte er sich, für möglichst viel Unruhe zu sorgen. In einem Waggon dritter Klasse zwischen den Wärtern sitzend, wand er sich hin und her und versuchte, sich zu befreien. Als das misslang, kreischte er anarchistische Parolen und beschwerte sich lautstark über seine Behandlung in Dole – vor allem dann, wenn an Bahnhöfen viele Menschen durch den Zug liefen. Er tobte derart, dass einige Frauen sich ängstigten und weinten.

Vachers Reiseziel, das Irrenhaus Saint-Robert, war »eine der besten Anstalten Frankreichs«, wie es in einem zeitgenössischen britischen Bericht über Krankenhäuser und Irrenanstalten heißt. Es war auf dem Gelände eines alten Klosters gebaut worden und bot den Insassen einen majestätischen Blick auf die Alpen und frische Bergluft. Die Anstalt war auf der Basis der neuesten psychologischen Theorien geplant worden und wollte den Patienten ein normales Leben ermöglichen, anstatt sie einfach wegzusperren. Es gab separate Wohnhäuser für Frauen und Männer und in der Mitte ein Gebäude für alle, jeweils im neoklassischen Stil. Jenseits der Hauptgebäude erinnerten Häuser, Straßen, Bäume und bebaute Felder an ein malerisches Dorf. Der gesamte Komplex, vom Erscheinungsbild über die Architektur bis zur Einstellung des Personals, hatte das Ziel, den Insassen ein frohes und gutes Leben zu ermöglichen.

Auch das Personal war freundlich. Im Gegensatz zu ihren Kollegen in anderen Anstalten benutzten die Ärzte in Saint-Robert Zwangsjacken nur zwei- oder dreimal im Jahr und nur »zeitweilig in Ausnahmefällen, wenn klar ist, dass der Patient sich selbst verletzen würde«, wie der Direktor, Dr. Edmond Dufour, einer Ärztegruppe erläuterte, die das Haus besuchte. Im Saint-Robert verzichtete man auf übliche Praktiken wie eiskalte oder »schottische« (abwechselnd heiße und kalte) Duschen, um Patienten zu disziplinieren. Nicht einmal gewalttätige Insassen wurden gefesselt. Stattdessen wurden sie mit Arbeiten wie Flicken und Nähen beschäftigt, die das Selbstwertgefühl steigerten, sowie mit Musik und Theateraufführungen. Das Personal sprach immer respektvoll und nett mit ihnen. Das alles sollte die Würde der Patienten wiederherstellen und an ihre Vernunft appellieren.

Darum wurde auch der Mann, der am 21. Dezember 1893 spätabends eintraf und dessen Gesicht ein Leben voller Gewalt widerspiegelte, fürsorglich und menschlich behandelt. Da man wusste, dass er selbstmordgefährdet war, wurde er zwar im Hochsicherheitstrakt, aber in einem Zimmer mit Aussicht auf die Berge untergebracht. Das sollte ihn beruhigen. Und tatsächlich besserte sich sein Befinden schon nach knapp 24 Stunden. Offenbar sprach er auf die freundliche Atmosphäre an, denn vor dem Abendessen stand er auf und schlug ein gemeinsames Gebet vor: »Liebe Freunde, lasst uns Gott dafür danken, dass wir in einer Gegend geboren wurden, wo unsere Betreuer so nett und menschlich sind. Gott sei Dank wurden wir unter einer so gütigen Sonne geboren.«

Diese Worte schienen eine innere Sanftheit auszudrücken und waren ein hoffnungsvolles Zeichen für die Genesung des Patienten. Niemand, der sie hörte, konnte sich vorstellen, wie irreführend sie waren.

Joseph Vacher lebte in einer Ära der Erwartung und der Furcht. Die Belle ­Époque Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war eine Zeit des Friedens und Wohlstands sowie der wissenschaftlichen und künstlerischen Fortschritte. Sarah Bernhardt ließ die Bühne erstrahlen, Toulouse-Lautrec und Degas erleuchteten die Welt der Kunst, Gustave Eiffel baute seinen Turm, und Louis Pasteur entdeckte, dass Mikroorganismen Infektionen auslösen können.

Alles schien größer, schneller, neuer und effizienter zu werden. Das neue Eisenbahnnetz beförderte Passagiere im Eiltempo quer durch Kontinente, und Dampfschiffe brachten sie rasch übers Meer. Telegrafendrähte übermittelten Nachrichten mit Lichtgeschwindigkeit durchs ganze Land und wurden sogar im Atlantik verlegt. Die Olympischen Spiele erlebten ihre Wiederauferstehung, und das Kino wurde geboren. Moderne Varietés wurden in Paris eröffnet und präsentierten einen lebhaften neuen Tanz, den Cancan.

Endlich konnten die Menschen versuchen, das Leben zu genießen, anstatt es nur zu erdulden. Sie kauften in schönen Warenhäusern ein, besorgten sich die neuen Kleider von der Stange und fuhren mit Fahrrädern, die die Mittelklasse im Sturm erobert hatten. Vor allem den Frauen eröffnete das Fahrrad die Möglichkeit, unabhängiger zu werden. Plakate und farbige Zeitungsanzeigen – ebenfalls Innovationen jener Zeit – stellten Kundinnen als befreite Göttinnen dar, die auf ihren Fahrrädern nackt durch den Himmel flogen.

Doch mitten im allgemeinen Optimismus gab es auch Angst. Auf jede glückliche, wohlhabende Familie kamen viele andere, die in Armut und Elend lebten. Jeder spürte die Instabilität, das Donnergrollen von unten. Der Anarchismus, eine internationale terroristische Bewegung, wurde immer stärker: Bomben explodierten auf Märkten, in Regierungsbüros und Bahnhöfen. Die Behörden antworteten mit brutaler Unterdrückung, was wiederum zu Vergeltungsschlägen führte. Ende des Jahrhunderts legten die Anarchisten ihre Bomben überall in Europa und ermordeten die Präsidenten Frankreichs und der USA. Für einige Intellektuelle war die moderne Gesellschaft mit ihren vulgären Vergnügungen und ihrem avantgardistischen Lebensstil ein Beweis dafür, dass die Spezies Mensch verweichlicht war, dass eine Umkehr der Evolution und eine soziale Degeneration stattfanden.

Die Kriminalität nahm zu, und die neue Sensationspresse schürte die Angst der Bevölkerung. Nicht nur die Verbrechen selbst erschreckten die Menschen, sondern auch die Entstehung einer kriminellen Klasse. Die Londoner lernten das »residuum«, den »Bodensatz«, fürchten, die New Yorker erlebten den Aufstieg ethnischer Straßenbanden, und die Pariser mieden die »Apachen«, umherziehende Jugendbanden, die Leute aus der Oberschicht bedrängten, wenn sie sich abseits der ausgetretenen Pfade bewegten. Legionen von Besitzlosen – Landstreicher, Straßengangs und Kriminelle, die aus Irrenhäusern geflohen waren – hatten es anscheinend auf die braven Bürger abgesehen.

In diesem Klima der Hoffnung und der Furcht begannen Experten in verschiedenen Ländern, das Verbrechen wissenschaftlich zu erforschen. Wie die anderen großen Denker jener Zeit betrachteten sie Kriminalität nicht als Sünde oder Teufelswerk, sondern als wissenschaftliche Herausforderung – schließlich lebten sie ja im Zeitalter der Wissenschaft. Mediziner, Juristen, Psychologen und Anthropologen richteten Institute ein, um die Kriminalität zu untersuchen. Sie veröffentlichten ihre Erkenntnisse in Fachzeitschriften und diskutierten ihre Theorien auf internationalen Konferenzen.

Sie waren die ersten modernen Kriminologen und entwickelten Techniken, deren sich die Kriminalistik bis heute bedient. Sie brachten Ordnung ins Chaos der Tatorte, indem sie Messungen vornahmen, Schleifspuren, Abdrücke und Fasern untersuchten, methodisch obduzierten und biologische Proben sammelten. Psychologen – Vertreter einer neuen Wissenschaft – begutachteten Verdächtige und befragten sie nach der Festnahme ruhig und effizient – ganz im Gegensatz zu den brutalen Methoden ihrer Vorgänger. Um Muster im Verbrechen zu entdecken, legten sie Datenbanken an und erstellten Statistiken. Sie sezierten Gehirne hingerichteter Verbrecher und suchten nach den Wurzeln deren Verhaltens. Ihre Forschungen lieferten eine Fülle an Material für Diskussionen, die einst Priestern und Philosophen vorbehalten waren: Welche guten und bösen Neigungen hatte der Mensch von Natur aus? Was beeinflusste diese Neigungen? Wo endete der freie Wille, und wo begann der Wahn? Konnte man den Drang, Böses zu tun, verstehen, vorhersehen, umlenken oder heilen?

Die Ärzte in Saint-Robert begegneten ihrem neuen Patienten freundlich, und er schien dies zu erwidern: »Als ich hier ankam, glaubte ich, im Paradies zu sein«, schrieb er in einem Brief an Dr. Dufour, den Direktor. Später berichtete er in einem langen Brief an Louise (der er bis ans Ende seines Lebens schrieb) von seiner Freude nach der Ankunft in der neuen Anstalt:

Stell dir meine Überraschung vor … Der Zug fuhr durch ein kleines Tal, das von schneebedeckten Bergen umgeben war, und da war es, funkelnd im Licht des Mondes … diese saubere, elektrisch beleuchtete Einrichtung (denn ich traf nachts ein). Die Haustür öffnete sich, und vor mir standen zwei Freunde, während ich Henker erwartet hatte. Wir gingen durch einen Garten, der schöner war als jeder Garten in Grenoble.

Sie brachten mich in ein Gebäude, das von Gesindel bewohnt wurde; aber sie waren nicht mit den lebenden Toten [in Dole] zu vergleichen. Während wir in Dole von Wärtern umringt waren, die ebenso gut Scharfrichter hätten sein können, verkörpern die Wärter hier Wachsamkeit und Menschlichkeit.

Das soll nicht heißen, dass Saint-Robert ein Ferienlager war. Wie ihre Kollegen anderswo auch hatten die Psychiater eine an Paranoia grenzende Angst vor Freizeit. Darum ließen sie weder Untätigkeit noch abweichendes Verhalten zu. Geweckt wurde um fünf Uhr, im Winter um sechs Uhr morgens. Dann folgten eine halbe Stunde Putzen und das Frühstück. Am Vormittag arbeiteten die Patienten auf den Feldern oder in einer Werkstatt der Anstalt. Das Mittagessen wurde genau um zwölf Uhr serviert. Nach einer halbstündigen Ruhepause wurde wieder gearbeitet. Abendessen gab es um sechs, im Winter um fünf Uhr. Bis zur Bettruhe um acht Uhr durften die Patienten Domino oder Karten spielen, lesen oder auf dem Gelände der Anstalt spazieren gehen.

Die Tage reihten sich gleichförmig aneinander: Am Freitag wurden die Haare geschnitten und gewaschen und der Bart gestutzt. Am Samstag wurde neue Bettwäsche verteilt, und am Sonntag bekamen die Insassen vor der Messe saubere Kleider. Der Sonntag war zugleich ein Konzerttag, und die Patienten unterhielten die anderen Insassen sowie Bewohner der Gemeinde mit Shows, Theaterspielen und Musik. Alle zwei Wochen durften die Patienten einen Brief an eine Person außerhalb der Anstalt schreiben, der allerdings zensiert wurde. Die Idee hinter dem Ganzen war einfach: Ordnung und Disziplin als Teil einer täglichen Routine sollten die Unordnung und das Chaos in den Köpfen der Patienten lindern.

Zwischen all diesen »normalisierenden« Aktivitäten verordneten die Ärzte somatische und psychologische Therapien. Dabei nutzten sie zum Teil die Heilmittel ihrer Zeit: Blutegel, um Erregbarkeit zu dämpfen, Abführmittel, um durch Erbrechen und Durchfall den Körper zu reinigen, und Opium, Belladonna oder Chloroform in geringen Dosen, je nach den Symptomen, die sie lindern wollten. Auch die Wassertherapie wurde häufig angewandt: Lange, heiße Bäder sollten Patienten mit Manien beruhigen, und Depressive, die stimuliert werden mussten, bekamen kalte Bäder. Manischen oder halluzinierenden Patienten verabreichte man bisweilen leichte Elektroschocks – dieses Verfahren wurde als »Berührung mit einem Pinsel aus Messing« bezeichnet. Außerdem ermunterten die Ärzte ihre Patienten, über ihre Probleme und ihre Hoffnung auf ein besseres Leben zu reden.

Vacher verbrachte drei Monate in Saint-Robert. Die Psychiater, die ihn behandelten, wussten, dass er manisch und mitunter selbstmordgefährdet war, darum verordneten sie ihm wahrscheinlich eine beruhigende Wassertherapie, vielleicht auch Elektroschocks. Im Januar 1894 bat Vacher den Anstaltsdirektor schriftlich, man möge nicht »einen Teil meines Kopfes elektrisieren«. Gespräche gab es mit Sicherheit, denn die Ärzte vermerkten, sie hätten seine Version des Vorfalls mit Louise zur Kenntnis genommen und akzeptiert. Vacher blieb die meiste Zeit allein und las.

Saint-Roberts Akten beschreiben einen Mann, der sich sehr von dem Patienten unterschied, der sich in Dole so ungebärdig verhalten hatte. Er sprach offenbar auf die Behandlung an, oder zumindest sah es so aus. Zwei Wochen nach seiner Ankunft berichteten die Ärzte, dass er keine Stimmen mehr höre und allmählich »sanftmütig und höflich« werde. Er schrieb schmeichlerische Briefe an und über Dr. Dufour (»Er sollte ganz Frankreich regieren, nicht nur diese Anstalt voller Gesindel«). Am 29. Januar 1894 schrieb Vacher, er sehe ein, dass er für sein Verbrechen die ihm zugeteilte Strafe verdient habe, und sei der Meinung, er hätte sich trotz der vergangenen sechs Monate in Dole selbst heilen können. Bald entwarf er einen Plan, der ihm nach seiner Entlassung ein anständiges Leben ermöglichen sollte.

Vachers Briefe und sein »unauffälliges« Verhalten überzeugten Dufour davon, dass es seinem Patienten allmählich besser ging. Seiner Meinung nach bewiesen die Briefe zwei wichtige Aspekte: dass Vacher die Verantwortung für sein Verbrechen übernahm und dass er seine Zukunft planen konnte. »Er betonte mir gegenüber, dass wir nicht das Recht hätten, jene Geisteskranken zu behalten, die vollständig geheilt seien«, erzählte Dufour später einem Zeitungsreporter. »Es sei meine Pflicht, sie freizulassen.« Auch die Regierung von Isère, die über die hohen Kosten der modernen Anstalt klagte, hatte Dufour bereits aufgefordert, Patienten zu entlassen, sobald ihre Symptome abgeklungen waren.

Anfang März 1894 schrieb Dufour dem Präfekten von Isère, dass Vacher wegen seiner gelösten Verlobung einen Nervenzusammenbruch erlitten habe, nun aber geheilt sei. Der Präfekt ordnete daraufhin Vachers Entlassung an. Am 1. April 1894, weniger als zehn Monate nach seinem Mordversuch an Louise, öffneten ihm Wärter daraufhin das schmiedeeiserne Tor. Vacher umarmte seine Ärzte und Mitbewohner, dann ging er hinaus in die Freiheit.

Eine Zeitung schrieb später über diesen Augenblick: »Eine wilde Bestie wurde aus ihrem Käfig entlassen.«