Zehn
Spuren gibt es immer
Eines der Objekte aus Lacassagnes Sammlung war das Skelett eines jungen Mannes, das in einem Schaukasten hing. Der Kopf war nach einer Begegnung mit der Guillotine wieder am Rumpf befestigt worden. Auf der Innenfläche des rechten Beckens stand in Großbuchstaben der Name Gaumet. Er erinnerte an ein brutales Verbrechen und daran, dass die Wissenschaft in der Lage gewesen war, es mithilfe winziger Spuren aufzuklären.
Annet Gaumet war ein hartgesottener Verbrecher, der im Alter von 24 Jahren schon vierzehnmal verurteilt worden war. Am 21. Dezember 1898 brachen er und mehrere Bandenmitglieder in die Wohnung der Witwe Foucherand über ihrem Bistro in der Rue de la Villette in Lyon ein. Sie würgten die Frau, erschlugen sie mit Knüppeln und stahlen ihr Geld. Die Polizei wusste, wie sie mit einem Tatort umzugehen hatte, und als Lacassagne am nächsten Morgen mit dem Staatsanwalt und dem Polizeikommissar eintraf, fand er die Szene unverändert vor. Die Frau lag auf dem Rücken – Beine gespreizt, Röcke nach oben gezogen, der rechte Arm schützend über der Brust liegend, der linke seitwärts gestreckt, Quetschungen am Hals und eine klaffende Wunde an der rechten Seite des Kopfes. Neben der Leiche lag eine blutige Weinflasche. Möbel waren umgeworfen und Schubladen geleert worden.
Die Ermittler gingen von Zimmer zu Zimmer und notierten sorgfältig die Positionen der Möbel, der Blutflecken und anderer Gegenstände. An diesem Tatort schien es jedoch ungewöhnlich wenig Spuren zu geben. Die blutige Flasche war möglicherweise als Waffe benutzt worden, aber man fand keine Fingerabdrücke darauf. Trotz des Chaos waren auch keine Fußabdrücke zu sehen. Es gab keine Kleidungsstücke, die nicht dem Opfer gehörten, und auch fremde Haare wurden nicht gefunden. Das Einzige, was Lacassagne ungewöhnlich fand, war ein Klumpen menschlicher Fäkalien auf dem Bett. Er wusste nicht, warum er sich dort befand und ob er für die Untersuchung nützlich war, ließ ihn aber dennoch zusammen mit der Leiche und der Flasche ins Institut bringen.
Mitte der 1890er-Jahre suchten Experten immer gründlicher nach Spuren an Tatorten und bemühten sich, die Kluft zwischen Wissenschaft und Gesetz zu überbrücken. In der Einführung zum achten Band seiner Zeitschrift forderte Lacassagne 1893 eine bessere Zusammenarbeit »von Gesetzeshütern und Wissenschaftlern«. Hans Gross, der berühmte österreichische Jurist und Juraprofessor, teilte diese Ansicht. In seinem Handbuch der Kriminalistik waren 180 Seiten wissenschaftlichen Experten gewidmet, unter anderem dem »Mikroskopisten«, dem »chemischen Analytiker«, den »Experten für Physik« und den »Experten für Mineralogie, Zoologie und Botanik«. Seiner Meinung nach waren Fachleute die wichtigsten Helfer eines Untersuchungsbeamten und entschieden auf die eine oder andere Weise immer über den Ausgang eines Verfahrens. 1895 verabschiedete die International Union of Criminal Law bei einer Konferenz in Linz eine Resolution, die spezielle Kurse für junge Juristen forderte, um ihr Wissen über wissenschaftliche Verfahren zu vertiefen.
Ein großer Pluspunkt der Wissenschaft ist es, dass sie bestimmte Muster entdeckt, wo keine erkennbar waren, und Dinge aufdeckt, die früher unsichtbar geblieben wären. Das galt auch für die aufblühende Forensik. Ermittler stellten fest, dass ein Verbrecher unweigerlich Spuren am Tatort zurückließ oder auch mitnahm, einerlei, wie vorsichtig er war. Jahre später wurde diese Regel nach Lacassagnes Schüler Edmond Locard als »Locard’sches Prinzip« bekannt. Polizei und Experten waren fasziniert davon, wie klein diese Spuren sein konnten. Einen Täter anhand von winzigen Objekten – einem Haar oder einigen Fasern – zu überführen kam der Zauberei nahe (und wurde in der Presse auch oft so genannt). Mediziner und Ermittler, die um die Bedeutung winziger Hinweise wussten, lernten daher, auch weniger offensichtliche Stellen zu untersuchen, etwa das Hutfutter, Ärmel- und Hosenaufschläge oder die Haut unter den Fingernägeln des Opfers und der Verdächtigen. Nichts war so trivial, dass es ihre Aufmerksamkeit nicht wert gewesen wäre, sei es ein Kleidungsstück, das zerkaute Ende eines Pfeifenstiels oder Papierschnitzel. Und sie nutzten Techniken, mit denen sie nahezu unsichtbare Spuren fanden.
Das wichtigste Werkzeug dabei war das Mikroskop. Obwohl es schon Jahrhunderte zuvor erfunden worden war, machte die Technik im 19. Jahrhundert enorme Fortschritte. Linsenhersteller nutzten das erweiterte Wissen über die Optik, um neue Linsen zu entwerfen und bessere Gläser zu produzieren. Ende des Jahrhunderts bauten Firmen wie Carl Zeiss in Deutschland Mikroskope, deren Auflösungsvermögen erst um 1960 von Elektronenmikroskopen übertroffen wurde. Gross beschrieb zahlreiche Ermittlungen, bei denen ein Mikroskopist Spuren entdeckt hatte, die der Polizei entgangen waren. In mehreren Fällen wiesen gesäuberte Mordwaffen doch noch winzige Blutspuren auf, die ein Mikroskopist entdeckte, als er die Nieten eines Messergriffs oder die Verbindungsstelle zwischen einem Axtgriff und der Schneide untersuchte.
Ebenso nützlich waren Mikroskope für die Untersuchung von Haaren, die an allen Tatorten zu finden waren, wenn man nur sorgfältig genug nach ihnen suchte. Sie hafteten an Kleidungsstücken, Schuhen, Waffen und Knochensplittern, und oft hatte ein Opfer Haare an den Fingern, die Hinweise auf den Täter gaben. »Das kommt öfter vor, als man glaubt. Würde man die Hände der Opfer noch genauer untersuchen, fände man sie noch häufiger«, schrieb Gross. Darum bestand er darauf, dass gewöhnliche Polizisten die Hände eines Opfers unberührt ließen, bis autorisierte Forensiker eintrafen. Diese Experten konnten mithilfe des Mikroskops zwischen Menschen- und Tierhaaren, aber auch zwischen Haaren und Pflanzenfasern wie Flachs, Maisgrannen und Baumwolle unterscheiden. Sie wussten, von welchen Körperteilen ein Haar stammte, ob es einem Erwachsenen oder einem Kind gehört hatte und welcher Rasse der Träger angehört hatte. Ende des 19. Jahrhunderts wurden Prozesse im Falle von sexuellen Übergriffen entschieden, weil Experten unter dem Mikroskop vermischte Schamhaare identifiziert hatten.
Die amerikanischen Autoren Francis Wharton und Moreton Stille schilderten unter anderem einen Fall in Norwich, England. Ein kleines Mädchen war mit durchschnittener Kehle tot auf einem Feld aufgefunden worden. Da die Mutter seltsam gefasst war, verhörte man sie. Sie behauptete, sie habe sich von ihrem Kind entfernt, während sie Blumen gepflückt habe, und bestritt, etwas über den Tod des Mädchens zu wissen. Als die Polizei ein langes Messer mit ein paar winzigen Haaren am Griff bei ihr fand, behauptete sie, dass die Haare von einem Hasen stammten, den sie zum Essen geschlachtet habe. Ein Mikroskopist identifizierte sie jedoch als Eichhörnchenhaare. Das Kind hatte einen Schal aus Eichhörnchenfell getragen, und die Fasern vom Schal passten zu denen am Messer. Angesichts dieser Beweislage legte die Mutter ein Geständnis ab.
Andere Indizien lieferte die Untersuchung von Staubteilchen, die selbst die vorsichtigsten Verbrecher nicht beseitigen konnten. Staub aus einer Tasche, aus dem Gewebe eines Mantels oder aus der Rille eines Taschenmessers verriet, wo der Verdächtige gewesen war oder womit er sein Brot verdiente. Gross verwies auf eine Jacke, die an einem Tatort zurückgelassen worden war. Sie enthielt keine sichtbaren Hinweise auf den Eigentümer, aber die Ermittler stopften sie in einen schweren Papiersack, klopften sie mit Stöcken aus, sammelten den Staub und untersuchten ihn. Er bestand zum größten Teil aus Sägemehl, was darauf hindeutete, dass der Verdächtige Schreiner war oder in einer Sägerei arbeitete. Aber sie fanden auch Gelatine und Leimpulver. Beide wurden damals von Schreinern kaum benutzt. »Daraus schlossen sie, dass die Jacke einem Tischler gehörte«, schrieb Gross. Später bestätigte sich diese Vermutung.
Das Mikroskop und eine chemische Analyse halfen Ermittlern, Blutflecken zu identifizieren. Getrocknetes Blut ähnelte vielen Substanzen, zum Beispiel Rost, Sporen, Kautabak, Farbe oder Pflanzenresten. Um es von anderen Substanzen zu unterscheiden, benutzten die Experten chemische Tests, vor allem einen Test, den der niederländische Wissenschaftler J. Izaak van Deen entwickelt hatte. Der Ermittler goss Guajak, ein Harz aus der Rinde eines tropischen Baumes, auf eine Substanz, die möglicherweise Blut war, und fügte dann Wasserstoffperoxyd hinzu. Bestand die Probe aus Blut, reagierten die Chemikalien mit dem Hämoglobin in den roten Blutkörperchen und färbten es innerhalb von Sekunden saphirblau. Für eine genauere Diagnose benutzten sie – wie Lacassagne im Fall Badoil – ein Spektroskop.
Wenn die Polizei einen Verdächtigen mit Blut an der Kleidung oder an den Händen fand, pflegte dieser vor allem auf dem Land zu behaupten, er habe vor Kurzem ein Tier geschlachtet. Darum war es wichtig, Menschenblut von Tierblut zu unterscheiden. Zu diesem Zweck untersuchte ein Experte unter dem Mikroskop die Größe und Form der roten Blutkörperchen. Keine zwei Arten haben gleiche Zellen: Vögel, Fische und Reptilien haben längliche rote Blutkörperchen mit deutlichen Zellkernen, die Zellen von Säugetieren sind scheibenförmig, haben eine Mulde in der Mitte und besitzen keinen Zellkern. Die Blutkörperchen der Säugetiere sind ihrerseits unterschiedlich groß, wobei ihre Größe sich jedoch nicht nach der Größe des Tieres richtet. Die roten Blutkörperchen einer Maus sind größer als die eines Löwen, während die eines Menschen größer sind als die eines Rindes oder Pferdes. George Gulliver, ein britischer Chirurg, der jahrzehntelang Blutkörperchen von rund 600 Spezies untersuchte, schrieb, Menschen hätten die größten roten Blutkörperchen, dicht gefolgt von Hunden. Der Größenunterschied war winzig, ließ sich aber mit den kalibrierten Mikroskopen jener Zeit leicht feststellen. Nach der Jahrhundertwende entwickelte der deutsche Wissenschaftler Paul Uhlenhuth einen einfachen und schnellen Test für menschliches Blut, der auf Antikörperreaktionen basierte. Diese Methode wird heute noch verwendet.
Experten lernten, auch darauf zu achten, wo und in welcher Form Blut auftrat. Sie suchten an den ungewöhnlichsten Plätzen nach Blut, zum Beispiel an der Unterseite eines Tisches – dort konnte es Blutspritzer geben, wenn ein auf dem Boden liegendes Opfer verletzt worden war. Blut auf dunklem Stoff war bei Kerzenlicht besser zu sehen als bei Tageslicht. Auch wie die Blutspuren aussahen, hatte eine Bedeutung. Verschmiertes Blut ließ darauf schließen, dass die Leiche geschleift worden war, und das sprach gegen einen Selbstmord. Bluttropfen, die aus einer Höhe von einem halben Meter herabgefallen waren, hinterließen ein größeres Spritzmuster als Tropfen, die nur zehn Zentimeter gefallen waren. Waren sie senkrecht gefallen, erzeugten sie einen runden Spritzer, während jene, die von einem bewegten Körper getropft waren, einen länglichen Spritzer zurückließen, wobei der schmalere Teil des Tropfens die Richtung angab.
An vielen Tatorten wurde auch Sperma gefunden. Es hinterließ meist unregelmäßige Flecken, und das getrocknete Albumin glänzte. Wenn man es mit Wasser benetzte, roch es deutlich nach Stärke. Das ermöglichte eine erste Identifizierung, aber die einzige Möglichkeit, Sperma eindeutig nachzuweisen, bestand darin, unter dem Mikroskop einzelne Spermatozoen mit ihrem birnenförmigen Kopf und dem langen, biegsamen Schwanz zu entdecken. Die meisten Ermittler glaubten, dass das relativ einfach sei, vorausgesetzt allerdings, sie betrachteten das reine Sperma und nicht eine Ansammlung einzelner Teile. Es war allzu verlockend, irgendwelche Körnchen in der Flüssigkeit mit losgelösten Köpfen von Spermazellen zu verwechseln oder winzige Fäden für ihre Schwänze zu halten.
Wenn das Opfer oder seine Kleider gewaschen worden waren, erwies es sich als nahezu unmöglich, intakte Spermazellen zu finden. »Ich verbrachte drei Wochen damit, in einem Vergewaltigungsfall, bei dem es um ein vierjähriges Kind ging, einige vollständige Spermatozoen zu isolieren«, schrieb Dr. Albert Florence, ein Kollege von Lacassagne im Institut für Rechtsmedizin. Lacassagne machte ähnliche Erfahrungen und forderte Florence auf, einen Spermatest zu entwickeln, der ebenso einfach, schnell und zuverlässig war wie van Deens Bluttest. Florence stürzte sich daraufhin auf das Problem und legte bald eine ebenso umfangreiche wie tiefgründige Studie vor. In einer Reihe von Abhandlungen ging er auf das Wissen über Sperma im Laufe der Geschichte ein (erst 1824 fanden Wissenschaftler heraus, dass neues Leben durch die Vereinigung von Samen- und Eizellen entsteht) und beschrieb die Spermatozoen genau – ihre Struktur, ihre Chemie und die Farben, die sie unter dem Mikroskop besser sichtbar machten. Dann suchte er nach einfachen chemikalischen Tests und probierte zahlreiche Substanzen aus, die ausschließlich mit Sperma reagierten. Eines Tages machte er eine Entdeckung: Wenn er eine Lösung aus einem Teil Kalium und drei Teilen Jod (Kaliumtrijodid) kühlte und auf Sperma träufelte, bildeten sich bräunlich rote Kristalle. Er glaubte, damit eine Patentlösung für die Aufklärung von Sexualdelikten gefunden zu haben. Es war »unbestreitbar das einzig brauchbare Verfahren, auf das man in allen schwierigen Fällen zurückgreifen muss«, schrieb er. Leider stellte ein deutscher Wissenschaftler einige Jahre später fest, dass die rhombenförmigen Kristalle sich auch dann bildeten, wenn er die Lösung anderen Substanzen hinzufügte, die zerfallenes Albumin enthielten, zum Beispiel verfaultem Eiweiß. Dennoch – nichts produzierte die Kristalle schneller oder üppiger als Sperma, und darum blieb Florences’ Lösung ein nützlicher vorläufiger Test, bis ihn Mitte der 1940er-Jahre ein besserer ersetzte.
Fußspuren waren ebenfalls wichtige Hinweise auf die Identität eines Verbrechers, vor allem in einer Zeit, als Schuhe noch maßgefertigt wurden. Da keine zwei Nagelmuster identisch waren, entwickelten Forscher verschiedene Methoden, um mit Gel oder Gips Abdrücke von Fußspuren zu machen, nicht nur im Boden, sondern sogar im Schnee (Salz überzog die Spur mit einer Eisschicht, sodass ein Abdruck gemacht werden konnte). Erstaunlich viele Mörder gingen zu dieser Zeit barfuß. Die Form des Fußes, die Höhe des Spanns und Unregelmäßigkeiten an den Sohlen ermöglichten eine Identifizierung. »Es gibt eine Physiognomie des Fußes, so wie es eine des Gesichts gibt«, schrieben Lacassagnes Kollegen Coutagne und Florence. Lacassagne riet, nicht nur Abdrücke von Fußspuren im Boden anzufertigen, sondern diese zusätzlich auch mit einem Pantografen nachzubilden. Dieses Instrument war ein Rahmen aus Parallelogrammen, mit denen man die Umrisse von Objekten und Dokumenten festhalten konnte. Außerdem dachte er sich ein Verfahren aus, mit dem er unsichtbare Fußspuren auf hartem Boden sichtbar machen konnte. Er bestrich verdächtige Stellen mit Silbernitrat (das auch für Fotoplatten benutzt wurde) und ließ mehrere Tage lang Licht darauf einwirken. Das Salz im Fußschweiß reagierte mit der Chemikalie, und ein Abdruck wurde sichtbar.
Die Deutung von Fußabdrücken wurde zu einer raffinierten Kunst. Ermittler bestimmten so Größe, Statur und den emotionalen Zustand von Menschen an Tatorten (aufgeregte Menschen gingen beispielsweise schneller und machten größere Schritte). Gross stellte fest, dass ein tieferer Fußabdruck nicht unbedingt auf Übergewicht zurückzuführen war. In normalem, festem Boden machten 20 Kilogramm mehr oder weniger keinen Unterschied, was die Tiefe der Fußspur anbelangte. Gross wies jedoch darauf hin, dass die Zehen bei Übergewichtigen oft nach außen zeigten. Ein deutscher Experte behauptete, nach außen zeigende Fußspitzen sprächen für einen »Mann von Rang«, nicht für einen gewöhnlichen Mann. Französische Kollegen widersprachen ihm jedoch.
Fingerabdrücke wurden für die Polizeiarbeit erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bedeutsam, obwohl ihre charakteristischen Merkmale in England, Indien und Argentinien bereits erforscht wurden. Bertillon begann, Fingerabdrücke in seine anthropomorphen Karten aufzunehmen, änderte seine Klassifikationsmethode allerdings nicht. Zudem arbeitete er immer häufiger mit Fotos. Er entwickelte eine Technik, die »metrische Fotografie« hieß. Dabei montierte er eine Kamera auf einen großen Dreifuß, sodass sie auf den Tatort hinabschaute, dann grenzte er das Areal mit Messbändern ab. Später baute er Rahmen mit Maßeinheiten, in die er Fotos von Tatorten einfügte. Auf diese Weise, glaubte er, könne er das Problem lösen, dass »das Auge nur sieht, was bereits im Kopf ist«.
Wenn man bedenkt, wie viele Methoden Lacassagne und seine Kollegen anwandten, muss man sie einfach mit einem fiktiven Detektiv vergleichen, der ihr Zeitgenosse war. Arthur Conan Doyle schrieb 1887 den ersten Roman über Sherlock Holmes, Eine Studie in Scharlachrot, und blieb dem Detektiv 40 Jahre lang treu – obwohl er 1893 versuchte, ihn am Reichenbach-Wasserfall umzubringen. Im selben Jahr erschien das Buch von Hans Gross. Holmes faszinierte die realen Ermittler. Lacassagnes Schüler Edmond Locard sagte zum Beispiel, dass neben seinem Mentor die Geschichten über Sherlock Holmes seine Berufswahl entscheidend beeinflusst hätten. Doyle ließ sich seinerseits von Dr. Joseph Bell inspirieren, seinem Professor an der Universität Edinburgh, dessen Fähigkeiten als medizinischer Diagnostiker er auf seinen Amateurdetektiv transferierte. Auch andere zeitgenössische Experten dienten ihm als Vorbild. Holmes erwähnt Bertillons Arbeit mehrere Male. In der Kurzgeschichte Der Flottenvertrag zitiert Watson aus einem Gespräch mit Holmes: »Ich erinnere mich daran, dass er über Bertillons Maßsystem sprach und seiner enthusiastischen Bewunderung für den französischen Gelehrten Ausdruck gab.« Im Hund von Baskerville berichtet Watson von einem Gespräch zwischen einem Klienten und Holmes:
»Ich bin davon überzeugt, dass Sie der zweitbeste Experte in Europa sind …«
»Ach? Darf ich fragen, wer die Ehre hat, der beste zu sein?«, fragte Holmes etwas schroff.
»Ein Mann mit scharfem wissenschaftlichen Verstand dürfte wohl die Arbeit von Monsieur Bertillon sehr bewundern.«
»Wäre es dann nicht besser, ihn zu konsultieren?«
»Sir, ich sagte: für den scharfen wissenschaftlichen Verstand. Aber für einen praktisch denkenden Mann sind Sie nach allgemeiner Ansicht unerreicht. Ich hoffe, Sir, dass ich Sie nicht unabsichtlich …«
»Nur ein bisschen«, sagte Holmes.
Lacassagne bewunderte zwar das Werk von Conan Doyle, doch wie seine Kollegen war er skeptisch, was Holmes’ Methoden und ihre irreführende Wirkung auf die Öffentlichkeit betraf. Holmes arbeitete mit atemberaubendem Tempo, äußerte niemals Zweifel und präsentierte seine Ergebnisse mit »mathematischer« Gewissheit (ähnlich wie in der modernen Fernsehserie CSI). Im Gegensatz dazu konnten Lacassagnes Untersuchungen wochenlang dauern, und er legte großen Wert darauf, sich bis zum Abschluss der Ermittlungen gerade nicht festzulegen. Berühmt ist seine Aussage vor Studenten: »Man muss zweifeln können.«
Dennoch war Lacassagne wie viele Kollegen von der Figur fasziniert. Er besprach sogar zwei Holmes-Geschichten in seiner Zeitschrift und betreute eine Dissertation eines seiner Studenten, der Holmes’ Methoden mit denen echter Forensiker verglich. Dieser Student, Jean-Henri Bercher, nannte Holmes »einen veritablen Robinson Crusoe der Gerichtsmedizin«, weil er allein erreichte, was normalerweise eines ganzen Teams von medizinischen Experten bedurft hätte. Seiner Meinung nach hatten Holmes und Lacassagne einiges gemeinsam: Sie legten Wert auf sorgfältiges Beobachten, glaubten, dass man jeden Fall logisch und planvoll angehen müsse, waren davon überzeugt, dass selbst winzige Spuren zur Lösung eines Falls beitragen konnten, und es war ihnen wichtig, einen unberührten Tatort vorzufinden. In einer Geschichte rügt Holmes einen Beamten, der seinen Männern erlaubt hatte, über den Schauplatz eines Mordes zu trampeln: »Selbst eine Büffelherde hätte keinen größeren Schaden anrichten können.« Wie reale Ermittler hielt Holmes Fußspuren für aussagekräftig und benutzte Gips, um Abdrücke anzufertigen. »Kein anderer Zweig der Kriminalistik ist so wichtig und wird derart vernachlässigt wie die Kunst, Fußspuren zu lesen«, sagte Holmes. »Zum Glück habe ich immer großen Wert darauf gelegt.«
Manchmal vertraten Holmes und Lacassagne überraschend ähnliche Auffassungen.
Holmes (zitiert von Bercher): »Es ist ein großer Irrtum, sich für eine Theorie zu erwärmen, ohne alle notwendigen Fakten gesammelt zu haben. Das kann zu falschen Schlussfolgerungen führen.« Lacassagne: »Vermeiden Sie voreilige Theorien, und verzichten Sie auf Höhenflüge der Fantasie.«
Dennoch waren die Unterschiede größer als die Ähnlichkeiten. Holmes schloss beispielsweise aus der Länge der Schritte auf die Größe eines Verdächtigen. Forensiker wussten aber, dass die Schrittlänge variierte, je nachdem, wie schnell eine Person ging und in welchem emotionalen Zustand sie sich befand. Holmes konnte ein einzelnes Objekt einer Person in die Hand nehmen – etwa eine Uhr – und darauf eine ganze Lebensgeschichte aufbauen. Echte Forensiker würden Schlussfolgerungen jedoch niemals auf ein einziges Beweisstück stützen. Sie sammelten und analysierten jedes Stückchen Material, das sie fanden, bewahrten es auf und formulierten ihre Schlüsse in der nüchternen Sprache der Wissenschaft. Holmes kannte den Aschegehalt jeder beliebten Zigarre oder Zigarette – im wahren Leben ein nutzloses Wissen. Mit der Medizin ging er recht unbekümmert um, und seine anatomischen Kenntnisse bezeichnete Watson als »korrekt, aber unsystematisch«.
Bercher fand es besonders ärgerlich, dass Holmes nie Autopsien vornahm, die ja der Grundpfeiler der Rechtsmedizin waren. Zum Beispiel gelangt Holmes in Eine Studie in Scharlachrot nach einer Untersuchung, die nur ein paar Minuten dauert, zu der Schlussfolgerung, dass das Opfer vergiftet wurde, wahrscheinlich mit Strychnin. »Holmes trifft am Tatort ein, macht ein paar vorbereitende Untersuchungen, um die Verhältnisse, die Gewohnheiten des Opfers … zu erkunden, und sucht dann nach verdächtigen Gegenständen oder Giftspuren«, schrieb Bercher.
Dann geht er zur Leiche und fertigt eine Zeichnung an. Diese enthält die Position der Leiche, deren Kleidung, Flecken, Anzeichen für Schläge und Wunden … Er bewegt die Arme und Beine, prüft das Ausmaß der Leichenstarre und nennt den ungefähren Todeszeitpunkt. Danach nähert er sich den Nasenlöchern des Opfers und erkennt sofort einen typischen Geruch.
Der Vorhang fällt, der erste Akt ist zu Ende. Die Leiche wird weggebracht, eine Autopsie ist unnötig!
Es ist keine Rede davon, Leichenflecken zu inspizieren, um die Position des Körpers zum Zeitpunkt des Todes zu bestimmen, der von erheblicher Bedeutung ist. Wen kümmert das Ausmaß der Verwesung? Ein Sherlock Holmes braucht alle diese Informationen nicht, um zu einer Schlussfolgerung zu gelangen! Er hat es auch nicht nötig, sich mit einer Autopsie abzuplagen und sich die Hände an Wunden schmutzig zu machen, die im Brust- und Bauchraum vorhanden sein könnten. Und warum sollte er eine Eingeweide- oder Blutprobe entnehmen, um Spuren eines Giftes zu entdecken?
Wie der Zufall es wollte, untersuchte Lacassagne im gleichen Jahr, als Eine Studie in Scharlachrot erschien, ebenfalls einen plötzlichen Tod, der, wie sich herausstellte, auf Strychnin zurückzuführen war. Eine Schwangere, die auf dem Land in der Nähe von Lyon lebte, nahm eine Medizin gegen Bronchialverschleimung und starb einen schnellen, schmerzhaften Tod. Anders als Holmes schnupperte der Professor jedoch nicht nur an den Lippen des Opfers. Er rief zwei andere Ärzte als Zeugen herbei und notierte sorgfältig die Position der Leiche, die Leichenflecken und die Leichenstarre. Dann nahm er eine gründliche Autopsie vor und achtete auf innere Blutungen, Blutklumpen und andere Anzeichen für die Todesursache. Er entnahm das Gehirn, den Magen, die Leber, die Nieren, die Gebärmutter sowie Teile des Darms und der Milz, steckte alles in Gläser und ließ diese in sein Labor bringen. Weitere Gläser, die Magensaft, Fruchtwasser, Urin und Blut enthielten, gingen ebenfalls ins Labor. Im Institut injizierte er, unterstützt von einem Professor für Physiologie, Proben der Magenflüssigkeit in zwei Frösche und in einen mittelgroßen Laborhund. In einen dritten Frosch injizierte er destilliertes Wasser als Kontrolle. Dieser Frosch überlebte, aber alle anderen Tiere starben. Dabei zeigten sie Symptome wie Krämpfe, Kontraktionen der Kiefermuskeln, Magenschwellung, Ersticken und ein rasches Einsetzen der Leichenstarre – typische Anzeichen für eine Strychninvergiftung. Die gleichen Symptome waren bei der Frau aufgetreten. Lacassagne brachte die Flüssigkeiten einem Chemieprofessor, der im Magensaft Strychnin feststellte. Insgesamt nahmen fünf Ärzte an der Untersuchung teil, die länger als zwei Tage dauerte. Schlussendlich wurde der Apotheker wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, weil er ihre Medizin versehentlich verunreinigt hatte.
In Berchers Doktorarbeit finden sich hier und da Anmerkungen in Lacassagnes verschnörkelter Handschrift, die den Eindruck vermitteln, dass auch er sich mit den Methoden und der Philosophie von Holmes beschäftigte. Von einem streng akademischen Standpunkt aus betrachtet, stellte er die Frage, ob Holmes »deduzierte« (vom Allgemeinen auf das Besondere schloss) oder »induzierte« (vom Besonderen auf das Allgemeine schloss). Aber er stellte auch die Frage, ob die Forensik jemals die exakte, fast mathematische Wissenschaft sein könne, von der Conan Doyle sprach. Seiner Meinung nach waren auch Kunstfertigkeit und Intuition beteiligt. Lacassagne war überzeugt, dass die Gerichtsmedizin auf drei wichtigen Komponenten beruhte: handwerklichem Geschick, wissenschaftlichen Kenntnissen und Kunstfertigkeit. »Handwerkliche Fertigkeiten kann man erlernen«, schrieb er. »Mit Geduld und Fleiß kann man wissenschaftliche Kenntnisse erwerben. Aber die Kunstfertigkeit ist eine natürliche Begabung.« Er bezweifelte, dass die kühle, distanzierte Analyse, die Holmes bevorzugte, immer ausreichte, um die Wahrheit herauszufinden. »Gibt es zwischen Geometrie und Raffinesse … nicht auch Inspiration, ein spontanes Element, ein quid divinum?«
Seine Fähigkeit, einfühlsam neue Wege zu entdecken und zu gehen, trieb Lacassagne voran und führte zu seiner erstaunlichen Erfolgsquote. Seiner Auffassung nach wurden die Verbrecher immer schlauer und verworfener. Darum musste der moderne Ermittler neue Mittel finden, um sie zu bekämpfen. »Alle stummen Zeugen – der Ort, die Leiche, die Abdrücke – können sprechen, wenn man ihnen die richtigen Fragen stellt.«
Die »Befragung« der Beweismittel erwies sich als schwierig, als Lacassagne den Mörder von Madame Foucherand suchte, die man neben einer Weinflasche tot auf dem Boden vorgefunden hatte. Er bemerkte Blutflecken am Türrahmen in einer Höhe von mehr als anderthalb Metern und auf einer Zeitung, die auf der Bar lag. Die Form und die Positionen der Flecken verrieten Lacassagne, dass die Leiche nicht transportiert worden war. Jemand hatte das Opfer mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen, und zwar mit solcher Gewalt, dass Blut herumgespritzt war.
Die Untersuchung der Leiche im Labor ließ auf mindestens zwei Täter schließen. Leichenflecken belegten, dass man sie nach dem Mord auf dem Rücken liegen gelassen hatte. Lacassagne entdeckte deutliche Hämatome an den Handgelenken, am Bauch und am Brustkorb. Die innere Untersuchung enthüllte schwere Verletzungen. Sogar Muskeln und Organe bluteten, und mehrere Rippen waren gebrochen. Das alles sprach dafür, dass ein Täter das Opfer mit Gewalt auf den Boden gedrückt und dabei auf seinem Brustkorb gekniet hatte. Irgendwann hatte er die Frau gewürgt, denn das Zungenbein über dem Kehlkopf war gebrochen, der Schilddrüsenknorpel war unten und in der Mitte eingerissen, und der Ringknorpel war ebenfalls beschädigt. Deshalb ging Lacassagne von zwei Mördern aus – denn zwei Hände hätten das Opfer nicht festhalten und gleichzeitig die vielen Brüche verursachen können. Anzeichen für eine Sexualstraftat gab es nicht. Die rechte Seite des Kopfes war eine einzige enorme Beule, die Lacassagne auf Schläge mit der Flasche zurückführte. Die linke Kopfseite wies reziproke Brüche auf, was darauf hindeutete, dass die linke Seite des Gesichts auf dem Boden gelegen hatte, als auf den Kopf eingeschlagen worden war. Die Flasche war an einer Seite blutiger als an der anderen. Wahrscheinlich war sie die Mordwaffe, obwohl keine Fingerabdrücke zu entdecken waren.
Zunächst fand Lacassagne keine Hinweise auf die Täter. Doch als er den Darminhalt untersuchte, fand er ein fadenförmiges etwa 1,25 Zentimeter langes weißes Gebilde. Als er den Darminhalt auflöste, kam ein weiteres Dutzend davon zum Vorschein. Professor Lortet, ein Experte für Parasitologie, identifizierte die Gebilde als Madenwürmer, ziemlich häufig vorkommende Darmparasiten.
Inzwischen hatte die Polizei sechs Verdächtige festgenommen, Mitglieder einer »Apachenbande«, die in Madame Foucherands Umgebung aktiv war. Lacassagne erhielt die Erlaubnis, ihre Abfalleimer zu untersuchen. »Das führte zu nichts«, berichtete er – die Verdächtigen hatten Brot und andere Speisereste hineingeworfen und den Inhalt dadurch verschmutzt. Also ging er ins Gefängnis und entnahm den Verdächtigen mit langen Tupfern Proben des Darminhalts, die er auf Objektträger strich und unter dem Mikroskop untersuchte. In der Probe des Verdächtigen Annet Gaumet fand er winzige durchsichtige Scheiben, die Lortet als Eier von Madenwürmern identifizierte.
Alle sechs Festgenommenen gestanden daraufhin, in die Wohnung eingebrochen zu sein, um Madame Foucherand zu berauben. Als sie sich wehrte, schlugen sie auf die Frau ein. Gaumet und der Bandenführer Émile Nourguier waren besonders brutal. Gaumet warf die Frau nieder und würgte sie, während Nouguier sie ebenfalls am Hals packte und mit einer Flasche auf sie einschlug. Beide Täter wurden auf die Guillotine geschickt, die anderen vier erhielten eine lebenslange Gefängnisstrafe.
Am Morgen seiner Hinrichtung schickte Gaumet eine Nachricht an Lacassagne. Er sei so beeindruckt von der Macht der Wissenschaft, schrieb er, dass er sein Skelett dem Labor des Professors schenken wolle. Seither hängt es in einem Schaukasten.