Zwölf
Zum Verbrecher geboren

Die Weltausstellung in Paris im Jahr 1889 galt als international renommierte Bühne für die moderne Technik, Wissenschaft und Kultur, aber sie war auch ein Treffpunkt für die Gelehrten und Intellektuellen der Welt. Von Mai bis November besuchten mehr als 30 Millionen Menschen die Ausstellung, und es gab 120 wissenschaftliche Konferenzen, darunter die internationalen Kongresse der Zoologen, Dermatologen, Syphilis-Experten und Hypnosetherapeuten (unter Letzteren befand sich auch Sigmund Freud).

Eine dieser Veranstaltungen war der zweite internationale Kongress für Kriminalanthropologie (der erste hatte 1885 in Rom getagt). Dieser Forschungszweig hatte sich gebildet, um wichtige Fragen zu beantworten wie etwa: Warum leben die meisten Menschen ein normales, friedfertiges Leben, während einige wenige gewalttätig werden? Auf welche Ursachen geht die Neigung zum Verbrechen zurück? Und was können die Behörden tun, um sie zu unterdrücken?

Vom 10. bis zum 17. August versammelten sich Vertreter aus 22 Ländern im Amphitheater der medizinischen Fakultät und diskutierten über die Ursachen der Kriminalität und die Möglichkeiten der Verbrechensvorbeugung, Veranstaltungsthemen waren dabei unter anderem: »Haben Kriminelle bestimmte anatomische Merkmale?«, »Die Kindheit der Verbrecher« und »Ursachen von Seriendelikten und ihre Verhinderung«.

Die Experten besuchten das Irrenhaus Sainte-Anne, in dem der Chefarzt Valentin Magnan sie einigen seiner Patienten vorstellte, und die Polizeipräfektur, wo Alphonse Bertillon ihnen zeigte, wie er Widerholungstäter identifizierte. Sie nahmen aber auch an Festen teil, und das prächtigste war ein Empfang, den Prinz Roland Bonaparte, der Großneffe Napoleons, in seinem Hotel gab. Roland, ein begeisterter Anhänger der Wissenschaften und der Anthropologie, gab sich große Mühe, seine Gäste zu unterhalten. Er überredete Thomas Edison, der auch gerade in Paris weilte, sie mit Musik aus dem Phonographen, seiner wunderbaren Erfindung, zu erfreuen und in Staunen zu versetzen.

Roland sammelte alle möglichen Kulturgüter und wissenschaftlich bedeutsamen Objekte. Einer seiner Schätze war der Schädel von Charlotte Corday, der Mörderin Jean-Paul Marats. Sie war in den 96 Jahren nach ihrer Hinrichtung eine Art Kultfigur geworden – kleiner und zarter im Mythos als im wahren Leben, eloquenter, tapferer in ihren letzten Minuten und fast eine Heilige in ihrer Bereitschaft, ihren Henkern zu verzeihen. Für Wissenschaftler, die das Verbrechen erforschten, muss das Phänomen faszinierend gewesen sein, dass ein solcher »Engel« zu einer Mörderin werden konnte. Darum waren sie auch so begeistert, als der Prinz ihnen erlaubte, die Konturen dieses einzigartigen historischen Schädels zu studieren.

Das stellte ihr kollegiales Verhältnis allerdings auf eine schwere Probe. Nachdem Cesare Lombroso den Schädel untersucht hatte, erklärte er, dass er alle physischen Kennzeichen einer »geborenen Verbrecherin« besitze. Seit mehr als einem Dutzend Jahren vertrat Lombroso die Auffassung, dass bestimmte Menschen biologisch dazu bestimmt seien, Kriminelle zu werden, und dass er sie anhand körperlicher Merkmale identifizieren könne. Diese »Stigmata«, wie er sie nannte, waren nur die oberflächlichen Indikatoren eines primitiven Gehirns, das seinen Besitzer für impulsive Brutalität prädestinierte. Als er nun Cordays Schädel begutachtete, erkannte er rasch einige solcher Stigmata: die allgemeine Asymmetrie, das einigermaßen männliche Erscheinungsbild, die breite, flache Schädeldecke und vor allem eine Mulde im Hinterkopf, die er »Okzipitalgrübchen« nannte. Dies war seiner Meinung nach zweifellos der Schädel eines Menschen, der zum Morden bestimmt war.

Dr. Paul Topinard, der Präsident der französischen anthropologischen Gesellschaft, widersprach ihm jedoch entschieden. Er fand die flache Stelle an dem Schädel und die Mulde am Hinterkopf nicht ungewöhnlich und nannte den Schädel »regelmäßig, harmonisch mit den korrekten und zarten Kurven weiblicher Schädel«. Was die allgemeine Symmetrie betreffe, so wiesen fast alle menschlichen Schädel »einen Unterschied an der einen oder anderen Seite auf«. Der Wiener Anatom Moritz Benedikt räumte zwar ein, dass an dem Schädel geringe Anomalien zu erkennen seien, jedoch keine, die mit Charakterzügen zusammenhingen. Das Okzipitalgrübchen sei ein ebenso gutes Indiz für Hämorrhoiden wie für eine Neigung zum Verbrechen.

Lombrosos kriminalanthropologische Theorie hatte zahlreiche Anhänger gewonnen, seit er sie 1876 vorgestellt hatte. Aber er hatte auch Gegner, die vor allem in diesem Sommer großen Zulauf bekamen. Angeführt von Lacassagne, behauptete die »französische Schule«, auch »Lyoner Schule« genannt, dass Kriminalität nicht auf Erbanlagen zurückzuführen sei, sondern auf das soziale Umfeld. Dieser Streit über »Veranlagung oder Umwelt« war eine Folge der Evolutionstheorie und der neuen Erkenntnisse über die Vererbung. Er dehnte sich bald auf nahezu alle anderen Merkmale des Menschen aus, von der Intelligenz bis zu den Geschlechtsunterschieden. Die Debatte brachte Lombroso und Lacassagne jahrzehntelang gegeneinander auf und wurde bei allen wissenschaftlichen Konferenzen und nach jedem spektakulären Verbrechen ausgetragen. Sie warf Fragen nach der Natur des Menschen auf, die bis heute nicht beantwortet sind.

Cesare Lombroso hatte viel mit Alexandre Lacassagne gemeinsam. Seine Familie gehörte ebenfalls der Mittelschicht an, und er hatte schon in jungen Jahren Medizin studiert und an berühmten Universitäten – Pavia, Padua und Genua – beachtliche Dissertationen geschrieben. Wie Lacassagne hatte er mehrere Jahre in der Armee gedient und in dieser Zeit die Menschen in seiner Umgebung studiert. Er hatte Tausende von Soldaten vermessen, um die körperlichen Unterschiede zwischen den Menschen der verschiedenen italienischen Regionen zu ermitteln. Außerdem leitete er eine Studie über die Tätowierungen der Soldaten, die er mit kriminellem Verhalten in Verbindung brachte. Später vermaß und untersuchte er in Pavia Patienten in Irrenhäusern, und danach studierte er als Inhaber des Lehrstuhls für Gerichtsmedizin und öffentliche Hygiene an der Universität Turin Gefängnisinsassen.

Im Gegensatz zum stattlichen und herzlichen Lacassagne war Lombroso ein kleiner, bärtiger, bescheidener und unauffälliger Mann. »Er hat ein sanftes, anziehendes Gesicht«, schrieb Arthur Griffiths, ein britischer Kollege, »runde Apfelbäckchen wie ein Kind und stille Augen hinter seiner Brille.« Mit seinem französischen Gegenspieler teilte er jedoch eine intellektuelle Selbstsicherheit. Seine Augen blitzten »strahlend, wenn er sich im Kampf für seine Prinzipien erhitzt«.

Einige neue Ideen, die die Wissenschaft beeinflussten, prägten auch Lombrosos Denken. In den 1850er-Jahren gründete Dr. Paul Broca in Paris die erste anthropologische Gesellschaft. Die Anthropologie, ein neuer Zweig der Naturwissenschaft, erklärte und kategorisierte die Kultur des Menschen mithilfe umfassender Messungen und Quantifizierungen. Brocas Arbeit ermunterte viele seiner Kollegen, den menschlichen Körper zu vermessen. Außerdem begründete er, nachdem er Patienten mit Aphasie obduziert hatte, die Theorie der zerebralen Lokalisation, nach der unterschiedliche Gehirnteile spezifische Funktionen haben.11 In dieser Zeit gab es auch einige, unter ihnen Darwins Vetter Sir Francis Galton, die auf die negativen Auswirkungen der Evolutionstheorie hinwiesen: Wenn die menschliche Spezies sich aus einer primitiven Form entwickelt hatte, schlummerte diese primitive Saat in allen modernen Menschen und konnte in dafür empfänglichen Individuen keimen. Schließlich legte Dr. Augustin Morel, der französische Psychiater, der die Demenz entdeckte, seine Degenerationstheorie vor, die besagte, dass schlechte Züge wie Einfalt sich bisweilen von einer Generation zur nächsten verschlimmern konnten, sodass bestimmte Familien nach und nach immer debiler würden.

Dieses Sammelsurium neuer Ideen und Lombrosos eigene Beobachtungen führten dazu, dass er Verbrecher nicht als Individuen mit freiem Willen betrachtete, sondern als Produkte biologischer und evolutionärer Kräfte. Er vermutete Zusammenhänge zwischen der Gehirnstruktur und dem kriminellen Verhalten. Als er im Dezember 1871 die Leiche des berüchtigten Räubers Giuseppe Villella obduzierte, machte er eine Beobachtung, die sein Denken für immer verändern sollte: Er fand eine kleine Mulde an der Schädelbasis und unter ihr einen vergrößerten Bereich des Rückenmarks. Dieses Merkmal sei bei Menschen zwar abnorm, erklärte er, komme bei niederen Affen, Nagetieren, Vögeln und einigen »primitiven Rassen in Bolivien und Peru« jedoch häufig vor. Er bezeichnete diesen Moment als den aufregendsten in seiner jungen Laufbahn: »Angesichts dieses Schädels hatte ich plötzlich das Gefühl, das Problem des Kriminellen zu sehen, hell wie eine weite Ebene unter einem flammenden Himmel: Er war ein atavistisches Wesen, in dessen Person die wilden Instinkte des primitiven Menschen und der niederen Tiere wiederauflebten.«

Er nannte diese Deformation »mediane Okzipitalfossa« (fossa bedeutet »Grube«) und entdeckte diese auch in weiteren Missetätern. Für ihn war sie das »Totem, der Fetisch der Kriminalanthropologie«, weil sie die ererbte, biologische Natur des verbrecherischen Dranges symbolisierte. Weil das Merkmal meist bei primitiven Tieren auftauchte, betrachtete er Menschen, die es aufwiesen, als evolutionäre Rückfälle, die hilflos im Griff »atavistischer« Verhaltensweisen zappelten. Dazu gehörten schwache Triebsteuerung, fehlendes Einfühlungsvermögen, Brutalität und Selbstsucht. »Die theoretische Ethik gleitet über diese kranken Gehirne hinweg wie Öl über Marmor, ohne einzudringen«, schrieb er. Nach und nach entdeckte er weitere primitive »Stigmata«, zum Beispiel einen kleinen Schädel, eine tiefe Stirn, einen großen Kiefer und ein großes Gesicht, Segelohren, lange Arme und dicke Augenbrauen, die sich oft in der Mitte trafen. Diese Züge wiesen auf eine evolutionäre Vergangenheit, die in bestimmten unglücklichen Individuen wieder zum Vorschein kam.

Im Jahr 1876 veröffentlichte Lombroso ein Buch, in dem er seine Forschungen und Hypothesen vorstellte: L’uomo delinquente (dt. Ausg.: Der Verbrecher). Es hatte zunächst 250 Seiten, wurde aber in den folgenden Jahren immer dicker. Die fünfte Auflage bestand aus drei Bänden mit insgesamt fast 2000 Seiten und war mit Fotos und Maßtabellen reich illustriert. Lombroso war unermüdlich, er schrieb über 30 Bücher und 1000 Artikel über die biologischen Wurzeln der Kriminalität. 1893 veröffentlichte er La donna delinquente (dt. Ausg.: Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte), in dem er die atavistischen Triebe beschrieb, von denen Frauen und Prostituierte beherrscht würden. (Im Allgemeinen betrachtete er Frauen als primitivere Versionen der Männer mit kleinerem Schädel und »kindlichen« Emotionen.) Später schrieb er ein Buch mit dem Titel Genio e follia (dt. Ausg.: Genie und Irrsinn). Zwischendurch versammelte er eine Gruppe brillanter junger Wissenschaftler um sich, darunter Enrico Ferri und Raffaele Garofalo. Dieser Zirkel wurde als »italienische Schule« bekannt und brachte ab 1880 die Zeitschrift Archivio di psichiatria ed antropologia criminale (Archive der Psychiatrie und Kriminalanthropologie) heraus.

Lombroso hörte nie auf, zu messen, Daten zu sammeln und zu obduzieren, und im Laufe der Jahre entdeckte er weitere vermeintliche Ursachen der Kriminalität. Während er ursprünglich Verbrecher als speziellen Typus mit bestimmten Erbanlagen gesehen hatte, teilte er sie später in mehrere Kategorien ein. Einige waren weniger gefährlich als andere. Ein Typ, den er criminaloid nannte, besaß keines der Stigmata des geborenen Verbrechers, beging jedoch später im Leben weniger schwere Verbrechen. In eine andere Gruppe gehörten Verbrecher aus Leidenschaft: anständige Bürger, die impulsiv ein Verbrechen begingen, vielleicht an einem untreuen Ehegatten, und es sofort bereuten. Eine weitere Gruppe, die er als mattoid bezeichnete, umfasste politische Verbrecher wie Anarchisten und Attentäter, die geistig instabil, aber nicht atavistisch waren. In diese Kategorie ordnete er auch Charles Guiteau ein, der Präsident James Garfield ermordet hatte. Wenn man von den weniger gefährlichen Gruppen absah, waren etwa 40 Prozent der Gesetzesbrecher geborene Kriminelle. Dazu gehörten nach Lombrosos Meinung auch alle Epileptiker.

Die Identifizierung geborener Verbrecher konnte seiner Ansicht nach dazu beitragen, das Problem der zunehmenden Kriminalität zu lösen, da man sich auf die Person und nicht nur auf das Verbrechen konzentrieren konnte. Lombroso trat oft als Gutachter auf und entlarvte die Stigmata von Angeklagten. Einmal bat ihn ein Gericht in Süditalien um Hilfe, das herausfinden musste, welcher von zwei Brüdern seine Stiefmutter ermordet hatte. Lombroso nannte die beiden M. und F. Nachdem er sie untersucht hatte, erklärte er, dass M. den Verbrechertyp eindeutiger repräsentiere, da er gewaltige Kiefer, geschwollene Nebenhöhlen, extrem ausgeprägte Wangenknochen, eine dünne Oberlippe und große Schneidezähne habe. Außerdem sei er Linkshänder. M. wurde verurteilt.

Für Lombroso war es wichtig, dass die Gesellschaft seine Theorie für die Prävention nutzen konnte. Er schlug vor, Kinder mit atavistischen Neigungen umzuerziehen und Gefängnisstrafen auf die Täter zuzuschneiden. Die übliche Praxis, Strafen allein nach der Schwere der Tat zu bemessen, lehnte er ab. Stattdessen empfahl er, sich beim Urteil auf den Täter zu konzentrieren, was den Richtern natürlich große Freiheiten gegeben hätte. Wer kein geborener Verbrecher sei, könne eine mildere Strafe bekommen oder von der Gemeinschaft resozialisiert werden. Geisteskranke Täter sollten in Nervenheilanstalten eingewiesen werden. Wer aber von Natur aus kriminell sei, müsse strenger bestraft und nach der Entlassung überwacht werden. Die schlimmsten Verbrecher solle man hinrichten, lebenslang einsperren oder ins Exil schicken.

Es war kein Wunder, dass Lombrosos Ansichten internationale Unterstützung fanden, denn er lebte in einer Ära, die von Zahlen besessen und von der dunklen Seite des Menschen fasziniert war. Fast über Nacht wurde die »Kriminalanthropologie« zu einer angesehenen Wissenschaft. Sie lieferte nicht nur die lang ersehnte Erklärung für das Verbrechen, sondern befriedigte auch den latenten Wunsch, Kriminelle als »die anderen« zu betrachten.12 »Es ist wohlbekannt, dass Verbrecher selten ein schönes Gesicht haben«, schrieb Henry Havelock Ellis, der bekannte britische Arzt und Gesellschaftsreformer (später auch Eugeniker) in seinem Buch The Criminal, in dem er viele Thesen Lombrosos übernahm. »Das Vorurteil gegen die Hässlichen und Missgebildeten entbehrt nicht einer soliden Grundlage.« Er räumte zwar ein, dass auch normale Menschen einige Anomalien aufweisen konnten, aber für Degenerierte sei »nicht das bloße Vorhandensein solcher Anomalien« typisch, »sondern ihre ausgeprägtere Form und ihre Häufigkeit«.

Francis Galton, der den Begriff Eugenik prägte (und in Großbritannien das Fingerabdruckverfahren einführte), bewunderte Lombrosos Arbeit sehr und stellte ein Handbuch über Verbrecher zusammen. Darin sammelte er Fotos von Dutzenden von Kriminellen und ordnete sie nach Kategorien, zum Beispiel »Bankräuber« und »Taschendiebe«, damit man sie leicht identifizieren konnte. Zudem erfand er eine Maschine, die Fotomontagen anfertigen konnte. Diese Technik benutzte er, um aus allen Fotos von Missetätern, die er gesammelt hatte, eine Fotomontage des »Oberschurken« herzustellen, der zu vielen verschiedenen Verbrechen fähig sei. Das verzerrte Bild zeigte einen Mann mit dicken Augenbrauen – das Gesicht der Verderbtheit selbst.

In den Vereinigten Staaten waren die Experten besorgt über die steigende Verbrechensrate, und Rückfalltäter sorgten für eine weitere Anerkennung von Lombrosos Ideen. Da Amerika sich als klassenlose Gesellschaft verstand, war es praktisch, die negativen Auswirkungen des Goldenen Zeitalters mithilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse vertuschen zu können. Später griffen die Eugeniker diese Gedanken auf und forderten, geborenen Verbrechern die Ehe zu verbieten oder sie »einen sanften, schmerzlosen Tod« durch Kohlensäuregas sterben zu lassen, wie ein Strafrechtler es formulierte. Arthur MacDonald, ein amerikanischer Kriminologe, der sein Buch Criminology Lombroso widmete, drängte den Kongress und Präsident Roosevelt jahrelang, ein Labor einzurichten, um die »kriminellen, armen und mit Fehlern behafteten Klassen« im Sinne Lombrosos zu studieren. Er hoffte, dadurch geborene Verbrecher identifizieren und sie dann, wenn nötig, in Vorbeugehaft nehmen zu können. William T. Harris, der Bildungsbeauftragte, sprach jedoch von einer »teuflischen Methode, bedauernswerte Menschen zu behandeln«, und MacDonalds Vorschlag wurde entschieden abgelehnt.

Alphonse Bertillon, der mehr Kriminelle vermessen hatte als jeder andere, widersprach Lombroso. »Ich bin nicht davon überzeugt, dass ein Mangel an Symmetrie im Gesicht oder die Größe der Augenhöhle oder die Form des Kiefers einen Menschen zum Bösewicht machen«, erklärte er gegenüber der Journalistin Ida Rarbell. »Ein bestimmtes Merkmal hindert ihn vielleicht daran, seine Pflicht zu erfüllen, und benachteiligt ihn daher im Lebenskampf. Dann wird er kriminell, weil er ganz unten ist.« Er meinte:

Lombroso würde zum Beispiel sagen: Da die meisten Verbrecher einen Fleck im Auge haben, sind Flecken im Auge ein Zeichen für eine Neigung zum Verbrechen. Das ist aber ganz falsch. Der Fleck ist ein Zeichen für einen Sehfehler, und ein Mensch, der schlecht sieht, ist ein schlechterer Arbeiter als einer, der gute, scharfe Augen hat. Er gerät daher beruflich ins Hintertreffen, verliert den Mut, kommt auf Abwege und wird kriminell. Der Fleck im Auge macht ihn also nicht zum Verbrecher, er verhindert nur, dass er die gleichen Chancen hat wie seine Kollegen. Das Gleiche gilt für andere sogenannte Zeichen für Kriminalität. Wir sollten mit anthropologischen Deduktionen sehr vorsichtig sein.

Der Fairness halber sollte erwähnt werden, dass Lombrosos Ansichten durchaus auch fortschrittliche Entwicklungen beförderten. Da er sich auf den Verbrecher und nicht nur auf das Verbrechen konzentrierte, ermutigte er andere Wissenschaftler, die Grundsätze der Kriminalpsychologie zu erforschen. Zudem drängte er die Politiker, über eine Gefängnisreform nachzudenken. Dennoch ist es erstaunlich, wie stark seine Ideen die Gesellschaft beeinflussten. Als der ungarische Philosoph Max Nordau die moderne Kunst und Kultur in seinem Buch Degeneration als Rückschritt verdammte, widmete er das Werk Lombroso. Und Schurken nach Lombrosos Vorstellung bevölkerten die Literatur. Die Hauptcharaktere in Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1886) symbolisieren den Kontrast zwischen dem zivilisierten und atavistischen Menschen, und das im selben Körper. Zolas Die Bestie im Menschen übernimmt viele Gedanken Lombrosos, obwohl Zola dessen Philosophie ablehnte. Und Bram Stokers Roman Dracula (1897) stützt sich stark auf Lombrosos Thesen. Einmal bittet van Helsing, der fiktive niederländische Professor, der Graf Dracula verfolgt, die Heldin des Buches, Mina Harker, den Bösewicht zu beschreiben.

»Der Graf ist ein Verbrecher und der Typ eines Verbrechers«, sagt sie. »Nor­dau und Lombroso würden ihn so klassifizieren.« In einer kommentierten Version des Romans aus dem Jahr 1975 stellte der Gelehrte Leonard Wolf die Beschreibung, die Mina Harker von Dracula gibt, Lombrosos Darstellung des Verbrechers gegenüber:

Harker: »Sein Gesicht war … adlerähnlich, und die dünne Nase hatte einen hohen Rücken und eigentümlich gebogene Nasenlöcher.«

Lombroso: »Die Nase [des Verbrechers] hingegen … ist oft wie der Schnabel eines Raubvogels gebogen.«

Harker: »Seine Augenbrauen waren sehr dick und trafen sich beinahe über der Nase.«

Lombroso: »Die Augenbrauen sind buschig und begegnen sich oft über der Nase.«

Harker: »… seine Ohren waren blass und oben extrem spitz.«

Lombroso: »… mit einem Vorsprung am oberen Teil des hinteren Randes … ein Relikt des spitzen Ohres.«

Im Jahr 1885 erreichte Lombrosos Einfluss seinen Höhepunkt, als er und seine Anhänger in Rom den ersten internationalen Kongress für Kriminalanthropologie veranstalteten. Sie schlugen vor, alle vier Jahre in einer anderen europäischen Stadt ein solches Treffen stattfinden zu lassen. Die erste Konferenz wurde vom 17. bis 23. November im Palazzo delle Belle Arti abgehalten und »eröffnete eine neue Epoche in der Geschichte des Verbrechens«, wie ein Beobachter der Smithsonian Institution bemerkte. »Man regte an, das Verbrechen wissenschaftlich, biologisch, fundamental zu untersuchen, seine Ursprünge und Ursachen zu erforschen.« Die große Halle im Palazzo war mit anschaulichen und beängstigenden Ausstellungsstücken vollgestopft und für Frauen und Kinder gesperrt. Hunderte von Schädeln lagen auf Tischen, neben ihnen Körperteile von Verbrechern, Epileptikern, Prostituierten, Geisteskranken und anderen als unerwünscht geltenden Menschen. Forscher zeigten Gehirne, die in Alkohol, als Gipsabdruck oder nach einem neuen Verfahren in Gelatine konserviert waren. Die Exponate in Gelatine konnten, in dünne Scheiben geschnitten, unter dem Mikroskop untersucht werden. Die Gefängnisärzte aus Genua stellten die Körperteile des Räubers und Mörders Giona La Gala aus: eine bronzene Totenmaske seines Gesichts, einen Gipsabdruck seines Schädels und einige Objekte, die im Rahmen der Autopsie in mit Alkohol gefüllte Gläser gesteckt worden waren, wie sein Gehirn sowie Tätowierungen und Gallensteine.

Auch Lombroso brachte eine eindrucksvolle Sammlung mit. Er zeigte 70 Schädel von italienischen Kriminellen, 30 Schädel von Epileptikern und das ganze Skelett eines Diebes mit einem zu kleinen Kopf auf einem stämmigen Körper. Außerdem noch Gipsabdrücke von den Köpfen zweier Verbrecher, 300 Fotos von Epileptikern, weitere 300 Fotos von deutschen Kriminellen, 24 lebensgroße Zeichnungen von Verbrechern, Schriftproben und Hautstücke mit Tätowierungen. Das alles sollte belegen, dass der Verbrecher einem bestimmten Typus entsprach.

Lacassange hingegen präsentierte weder Schädel noch Skelette. Er beschränkte sich auf 26 Karten und Schaubilder mit Farbkodierung. Sie gaben Auskunft über die Verbrechensraten in verschiedenen Teilen Frankreichs, die Zahl der eigentums- und personenbezogenen Straftaten sowie ihre Korrelation mit der Jahreszeit, dem Alkoholkonsum und dem Getreidepreis. Damit wollte er zeigen, dass Kriminalität kein biologisches Phänomen war, sondern mit dem gesellschaftlichen Milieu zusammenhing. Außerdem stellte er rund 2000 Tätowierungen aus – manche auf konservierter Haut, die meisten jedoch auf Stoff übertragen –, nicht um eine biologische Tendenz zu belegen, sondern um die kriminelle Kultur zu illustrieren.

Am Anfang seiner Karriere hatte Lacassagne Lombrosos Ansichten »mit Begeisterung« übernommen. Er besuchte Lombroso sogar 1880, ließ sich fasziniert seine Atavismustheorie erläutern und richtete sich, was seine eigenen Forschungen anbelangte, nach Lombrosos Ratschlägen. Beispielsweise vermaß er die Arme von 800 Verbrechern und stellte fest, dass sie ähnlich lang waren wie die Arme von Affen. »Vom Standpunkt der Kriminalanthropologie aus können wir sagen, dass Kriminelle hinsichtlich ihrer Armlänge den primitiven Rassen gleichen«, berichtete er. »Diese Beobachtung ist ein weiterer Beitrag zur Theorie unseres Freundes Lombroso.«

Doch Lacassagne hatte immer schon ein zwiespältiges Verhältnis zu Lombrosos Thesen gehabt, und während Lombroso diese immer hartnäckiger verteidigte, zog Lacassagne sich immer mehr von ihm zurück. Ihm war Lombrosos System zu starr, außerdem leugnete es den freien Willen und die Chance auf Rehabilitierung. Seiner Meinung nach war aber das Gehirn ein flexibles Organ, das sich entwickelte, wenn man es trainierte. In einer Studie verglich er Hunderte von Gehirnen, die Ärzten, wenig gebildeten Menschen, Analphabeten und Häftlingen gehört hatten, und suchte nach einem Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Gehirngröße. Wie bei vielen Studien jener Zeit, die auf Messungen basierten, war der Ausgangspunkt abstrus, und die Methoden waren lächerlich – es gab zum Beispiel keinen Kausalitätsnachweis. Außerdem gibt es innerhalb bestimmter normaler Parameter keinen Zusammenhang zwischen Gehirnvolumen und Intelligenz, wie Lacassagne und seine Kollegen später einsahen. Immerhin war diese Studie ein Beleg für seine wachsende Überzeugung, dass die Physiologie nicht über das Schicksal bestimmte. Im Laufe der Jahre nahm Lacassagne zahlreiche Autopsien vor, sprach mit vielen Verbrechern und untersuchte Dutzende von Kriminalfällen. Danach betrachtete er die Entwicklung zum Verbrecher als Prozess mit vielen Ursachen. Ein Mensch mochte seinem Temperament nach zu kriminellem Verhalten neigen, aber diese Tendenz setzte sich nur unter bestimmten sozialen Bedingungen durch. Meist waren Alkoholismus und Armut beteiligt. Insgesamt war das Verbrechen keine Folge der Biologie, sondern des Milieus, in dem der Verbrecher lebte.

Die Unterschiede zwischen den beiden Kollegen verschärften sich während der Konferenz in Rom drastisch. Damals war Lombroso ein Held der Wissenschaft und wurde so verehrt, dass kein Kriminologe ihm zu widersprechen wagte. Und Lacassagne war noch nicht wegen seines Beitrags zum Fall Gouffé berühmt. Zu Beginn der Konferenz hielt Lombroso einen langen Vortrag, in dem er den Stand der Kriminologie beschrieb. Er habe nicht nur die Physiognomie des geborenen Kriminellen identifiziert, behauptete er, sondern auch sensorische Eigenheiten. Seinen Forschungen zufolge seien der Geruchssinn, der Tastsinn und die Schmerzempfindung des geborenen Verbrechers reduziert, das Sehvermögen sei scharf wie bei einem Tier, und der Betreffende sei unfähig zu erröten. Lombroso hatte für seine Forschung ausgefallene neue Geräte benutzt, zum Beispiel das Zwaardemaker-Olfaktometer für den Geruchssinn, das Sieveking-Ästhesiometer für den Tastsinn und das Nothnagel-Thermästhesiometer für den Temperatursinn. Er hatte die Schmerzempfindlichkeit getestet, indem er »normalen« Freiwilligen mit einer Ruhmkorffschen Induktionsspule Elektroschocks am Zahnfleisch, an den Brustwarzen, an den Augenlidern, an den Fußsohlen und an den Genitalien versetzt hatte. Dabei hatte er festgestellt, dass sie die Schocks deutlicher spürten als Häftlinge und Insassen von Nervenkliniken. Die Unempfindlichkeit der Verbrecher erinnerte ihn an Stammesvölker, »denen bei Pubertätsriten Schmerzen zugefügt werden, die ein Mensch der weißen Rasse niemals ertragen könnte«. In Lombrosos Augen war der geborene Verbrecher ein Wilder, der in der falschen Zeit und am falschen Ort lebte und im zivilisierten Europa frei herumlief.

Lacassagne hörte geduldig zu, als ein Redner nach dem anderen die körperlichen Unterschiede zwischen Verbrechern und ehrlichen Bürgern vorstellte. Einmal warnte er davor, mit der »verführerischen Hypothese« der natürlichen Selektion die Ursachen des Verbrechens übermäßig zu vereinfachen. Am dritten Konferenztag konnte er sich dann nicht länger zurückhalten. Er erklärte, dass er seit zehn Jahren Verbrecher studiere und zu dem Schluss gelangt sei, dass Lombrosos Theorie »eine Übertreibung und eine falsche Interpretation« der Evolution sei. »Was ist denn ein Atavismus?«, fragte er. »Eine zufällige Erbanlage, die vielleicht von unserem Großvater beeinflusst ist.« Die Theorie sei nicht bewiesen und wissenschaftlich unhaltbar. Zudem finde er Lombrosos Auffassung durch und durch entmutigend. Sobald ein Mensch als atavistisch gebrandmarkt sei, sagte er, »wird dieses Etikett eine Art dauerhafte Narbe, eine Ursünde … gegen die man nichts tun kann«. Außerdem spreche diese Theorie die niedersten Instinkte der Gesetzgeber an. »Gelehrte können vermessen und Winkel bestimmen, aber die Gesetzgeber würden nur die Arme verschränken oder Gefängnisse und Heilanstalten bauen, um diese missratenen Geschöpfe einzusperren.« Lacassagne benutzte Pasteurs Arbeit als Metapher, so wie Lombroso Darwins Theorie benutzt hatte, und bezeichnete die Neigung zum Verbrechen als Keim, der sich nur in einem geeigneten Milieu vermehren könne. »Das soziale Milieu ist der Nährboden der Kriminalität. Der [geborene] Verbrecher ist unauffällig, bis er den Nährboden findet, auf dem er gedeihen kann.«

Die Italiener waren schockiert, denn sie hatten nur die höfliche Kollegialität erwartet, die bei wissenschaftlichen Tagungen üblich war. Lombrosos Kollege Giulio Fioretti war daher »äußerst überrascht« von Lacassagnes »heftiger« und »ungerechter« Kritik. »Der kriminelle Typ ist eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache«, behauptete er. »Weitere Diskussionen erübrigen sich.« Lombroso beklagte die »Geringschätzung« seines französischen Kollegen für seine Theorie, und sein Schüler Garofalo meinte, wenn das soziale Milieu die Ursache des Verbrechens sei, »wären wir alle kriminell«.

Er bedauere es, wenn seine Ausführungen falsch verstanden worden seien, versicherte Lacassagne daraufhin. »Ich will keinen Mann angreifen, vor dem ich größten Respekt habe.« Aber für ihn sei klar, dass soziale Faktoren die größere Rolle spielten, selbst wenn es gewisse biologische Einflüsse gebe. Und wenn behauptet werde, er habe die italienische Schule der Kriminalanthropologie beleidigt, müsse er darauf bestehen, »dass es keine Schulen gibt – es gibt nur die Wahrheit«.

Wenn die Konferenz in Rom die Fronten geklärt hatte, dann schürte die Tagung in Paris den Konflikt. Für die wissenschaftliche Presse war sie ein »Duell« zwischen Lombroso und Lacassagnes Kollegen Léonce Manouvrier. Dieser vertrat die Meinung, Lombrosos krimineller Typ sei nichts weiter als ein »Harlekin«, auf den man die Fehler der Gesellschaft abwälze. Er kritisierte Lombrosos selektive Auswahl statistischer Daten und verglich seine Arbeit mit Galls entlarvter Phrenologie. Der französische Anthropologe Paul Topinard bezweifelte, dass die mittlere Schädelgrube, Lombrosos Schlüssel zur Kriminalität, überhaupt eine anatomische Bedeutung habe. Während des Besuchs in der Nervenklinik Sainte-Anne stellte es der Chefarzt Magnan infrage, dass Lombroso Anzeichen für Atavismus bei jungen Tätern erkennen könne. Nach Lacassagnes Ansicht sahen Verbrecher nur missgestaltet aus, weil sie »Not und Entbehrung erlitten« hatten. Lombroso und seine Anhänger verteidigten sich unbeholfen, vielleicht weil ihre Statistiken selektiv und schwer zu belegen waren. Schließlich vereinbarten beide Seiten, eine internationale Kommission zu gründen, die 100 Kriminelle und 100 ehrliche Männer untersuchen und ihren Bericht beim nächsten Kongress vorlegen sollte.

Die Kommission erfüllte ihre Aufgabe jedoch nicht. Sie empfand es als unmöglich, eine Studie durchzuführen, die Zusammenhänge zwischen Körpermaßen und der Kriminalität untersuchen sollte, ohne dabei auch Variablen wie ethnische Herkunft, psychische Verfassung und Ernährung zu berücksichtigen. Für Lombroso war dies ein Affront. Er und die italienische Delegation boykottierten daraufhin 1892 die Konferenz in Brüssel und behaupteten, es fehle an »ausreichend belegten Tatsachen«. 1896 meldeten sie sich dann lautstark in Genf zurück. »Man sagt, ich sei tot und begraben«, erklärte Lombroso. »Sehe ich etwa so aus?« Ein französischer Beobachter, der die Ausführungen Lombrosos und seines Schülers Enrico Ferri verfolgte, verglich die beiden mit Don Quixote und Sancho Panza, die verzweifelt gegen die soziale Theorie kämpften. Auf der Konferenz in Turin im Jahr 1906 erlebte Lombroso erneut starke Aufmerksamkeit, aber hauptsächlich deswegen, weil seine wissenschaftliche Karriere vor 50 Jahren begonnen hatte. Von da an ging es auf den Konferenzen allerdings ruhiger zu. Jede Schule hatte ihre eigenen Theorien, und jedes Land ging mit Verbrechern auf seine Art um. Die Konferenzen kümmerten daher bis zum Ersten Weltkrieg vor sich hin, dann löste sich das intellektuelle Leben in Europa im Chaos auf.

Aber die Konferenzen waren nicht das einzige Schlachtfeld der Ideen. Jedes Mal, wenn ein Verbrechen Aufsehen erregte, begann der Streit in der Presse von Neuem. Während des Falles Gouffé schickte ein Korrespondent der Zeitung Le Gaulois Lombroso im Dezember 1890 eine Akte mit Fotos und der Handschrift des Beschuldigten. Der Fall fand großes Interesse in der Öffentlichkeit. Gabrielle Bompard hatte sich als Opfer eines Melodramas dargestellt, als Geisel ihres willensstarken Gefährten Michel Eyraud. Während ihrer Verhöre wunderten sich die Polizisten jedoch über ihre Kaltblütigkeit, ihr Selbstmitleid und ihre unangemessene Koketterie. Sie glaubten keine Minute lang an ihre Opferrolle. Aber sie hatte etwas an sich, das die Öffentlichkeit faszinierte. Als die Polizei sie im Zug nach Lyon brachte, damit sie ihr zeigen konnte, wo sie sich der Leiche entledigt hatte, jubelten zahlreiche Anhänger ihr auf dem Bahnhof zu. »Seht mal, so viele Leute«, rief sie aus. »Selbst die Königin von England wäre nicht so begrüßt worden!«

Lombroso prüfte die Informationen, die er vom Gaulois bekommen hatte, und behauptete, Michel Eyraud habe zwar den Mord begangen, aber die wahre geborene Mörderin sei die Frau. Eyraud habe schlimmstenfalls die Gesichtszüge eines Hochstaplers. Gewiss, er besitze mehrere »degenerative« Merkmale – große Ohren, ein unsymmetrisches Gesicht und dicke, sinnliche Lippen (besonders die untere) –, doch keines dieser Kennzeichen sei besonders ausgeprägt. »Ihm fehlen die Züge, die meiner Meinung nach für Kriminelle typisch sind«, schrieb Lombroso. »Ich bin fest davon überzeugt, dass er ohne Bompard nur ein einfacher Gauner wäre.« Ganz anders verhalte es sich jedoch mit Bompard. Ihr dickes Kraushaar, der große Unterkiefer, das unsymmetrische Gesicht und die eher »mongolische« Gesichtsform seien typisch für eine geborene Verbrecherin. Ihre bekannte Sinnlichkeit und ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer entlarve sie als den Typus, dem ein Mord »sehr leicht« falle, meinte Lombroso. Ihre Bereitschaft, ihren Komplizen zu verraten und das Opfer zu spielen, sei eine Verhaltensweise des geborenen Verbrechers, denn sie spreche für den Überlebensinstinkt einer Ratte. Lombroso empfahl nicht, die Urteile umzukehren – Eyrauds Todesurteil und Bompards zwanzigjährige Gefängnisstrafe. Er wollte nur aufzeigen, dass Bombard trotz der Sympathie, die sie in der Öffentlichkeit genoss, »biologisch gesehen«, krimineller war als Eyraud.

Lacassagne veröffentlichte Lombrosos Analyse ohne Kommentar im Journal of Criminal Anthropology. Vielleicht hielt er es nicht für notwendig, eine bereits im Niedergang befindliche Pseudowissenschaft zu kritisieren.

Im Jahr 1896, sieben Jahre nach dem Wirbel um den Schädel von Charlotte Corday, machte ein Pariser Arzt namens Augustin Cabanès eine erstaunliche Entdeckung. Er hatte sich gefragt, wo dieser Schädel herkam. Wie war er vom Friedhof Madeleine in Paris, wo er 1793 begraben worden war, fast ein Jahrhundert später in Prinz Rolands Sammlung gelangt? Der Prinz gab an, dass ein Freund namens George Duruy ihm den Schädel gegeben habe, nachdem er von seinem Interesse an der Anthropologie erfahren hatte. Von Duruy erfuhr Cabanès, er habe den Schädel von einer Verwandten, Madame Rousselin de Saint-Albin. Sie habe ihn wiederum von ihrem Mann geerbt, der ihn von einem Kuriositätenhändler gekauft habe. Cabanès fand den Händler, der erklärte, dass er den Schädel aus dem Nachlass des Barons Dominique Denon erworben habe. Denon war ein angesehener Gelehrter, Sammler und Freund Napoleons. Cabanès besorgte sich daraufhin die Auflistung des Denon-Nachlasses, in der jedoch der Schädel nicht erwähnt war, während andere interessante Relikte durchaus aufgezählt waren, darunter Knochenfragmente von El Cid, Héloïse und Abelard und Molière, ein Haarbüschel vom Bart König Heinrichs IV. von Frankreich, ein Stück vom Turiner Leichentuch und ein halber Zahn aus dem Mund Voltaires. Doch von Corday war nicht die Rede. Cabanès wusste, dass es während der französischen Schreckensherrschaft einen lebhaften Handel mit Körperteilen hingerichteter Adliger gegeben hatte und dass die Familie von Cordays Henker Charles-Henri Sanson plötzlich reich geworden war. Allerdings gab es keine Beweise dafür, dass Sanson oder jemand anderes die Leiche vekauft hatte. Daher kam Cabanès zu dem Schluss, dass der Schädel, der auf der Konferenz so viel Aufsehen erregt hatte, möglicherweise »ein gewöhnliches Exemplar aus einer Sammlung oder einem anatomischen Museum« war.

Auf Nachfrage eines Reporters räumte der Prinz ein, dass er die Echtheit des Schädels nicht nachweisen könne. »Ein sicherer Beweis ist unmöglich, daher müssen wir uns mit der Überlieferung zufriedengeben«, sagte er. Er erinnerte sich daran, dass er den Schädel 1889 fünf Anthropologen gegeben und sie gefragt habe, ob es sich um einen Menschenschädel handle. »Drei von ihnen bejahten, die beiden anderen verneinten. Wem sollen wir glauben?«