Fünf
Der Landstreicher

Stunden nach dem Mord an Eugénie Delhomme wusch Joseph Vacher seine blutbespritzten Kleider in einem Bach, grub sich eine Höhle in einen Heuhaufen auf einem Hügel oberhalb des Tatortes und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen fiel die Behausung dem Grundstückseigentümer auf. Er vermutete, dass ein Landstreicher die Nacht darin verbracht hatte.

Vacher wanderte etwa 65 Kilometer nach Osten bis Grenoble. Nachdem er dort mehrere Tage lang erfolglos versucht hatte, Arbeit zu finden, ging er wieder hinaus aufs Land und bat auf Bauernhöfen um etwas Geld, einen Schlafplatz oder einen Job. Er sah allerdings nicht gerade vertrauenserweckend aus, weil er beim Sprechen fürchterliche Grimassen zog, zudem floss ein übel riechendes Sekret aus seinem Ohr. Wenn Leute misstrauisch oder ängstlich wirkten, zeigte er ihnen seine Regimentspapiere, was sie manchmal beruhigte.

Vacher war für ein Leben auf der Straße ausgerüstet. Er trug braune Velourshosen, einen schwarzen Filzhut und robuste Schuhe. Sein Wandersack war mit Kochgeschirr, Essen und Kleidern gefüllt. Außerdem trug er eine Börse mit Kleingeld bei sich, eine Feile, eine Pistole und gelegentlich ein Messer oder Rasiermesser. Irgendwo besorgte er sich ein Akkordeon, auf dem er bisweilen – schlecht – spielte, während er um milde Gaben bat. Irgendwann schleppte er dann auch noch zwei große, tödliche Holzknüppel mit.

Im Mai oder Juni 1894 stellte Jules Cartier, ein Landbesitzer in der Nähe von Genf, Vacher als Mäher ein. Der Neue war nicht annähernd so freundlich oder gesprächig wie die anderen Wanderarbeiter. Er hielt den Kopf meist gesenkt und schwang die Sense in düsterem Schweigen. Einmal passte er nicht auf und mähte bis in ein Spargelfeld hinein weiter. Zurechtweisungen nahm er mürrisch auf. »Wo haben Sie diesen Trottel denn her?«, fragte einer der Männer den Vorarbeiter. »Ich habe Angst vor ihm.«

Eines Tages zog Vacher sein Bett ab, versteckte die Laken in seinem Sack und beschuldigte einen Kollegen, sie gestohlen zu haben. Die Polizei deckte den Schwindel jedoch schnell auf und befahl ihm, sofort aus der Gegend zu verschwinden. Daraufhin machte er sich auf den Weg zurück nach Frankreich.

Da er auf Wanderschaft ging, gehörte auch er zu der Gruppe von verwahrlosten Menschen, die in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts das ländliche Frankreich überschwemmten. Diese »Vagabunden« waren etwa 400.000 Dauerarbeitslose, die Unterkunft und Arbeit suchten, bettelten und Verbrechen begingen. Diese Herumtreiber waren ein internationales Phänomen, das den Europäern Angst einjagte – sie brachten die Landstreicher mit allen sozialen Übeln in Verbindung.

Bettler hatte es in Europa immer gegeben, doch die rasche Modernisierung hatte gewaltige wirtschaftliche Veränderungen ausgelöst und das Problem enorm vergrößert. Die Mechanisierung der Landwirtschaft hatte zu einem weltweiten Preisverfall geführt und in den Neunzigerjahren zu einem regelrechten Kollaps. Frankreich wurde besonders schwer getroffen, weil die Weinberge damals von Rebläusen befallen waren, die eine Art Beulenpest der Weinindustrie darstellten. Ganze Dörfer leerten sich. Tausende von Familien verloren ihre Arbeit und ihr Land und strömten nach Paris, Lyon, Grenoble und in andere Städte, wo sie auf einen Neuanfang hofften. Viele waren auf Unterstützung von öffentlicher Seite angewiesen. Anstatt aber diese Hilfe auszubauen, um die Not zu lindern, verschärften viele Stadträte die Bedingungen für die Zuwanderung, weil sie nicht noch mehr Vagabunden anlocken wollten. Viele forderten sogar, die Sozialhilfe abzuschaffen, weil sie Faulheit fördere.

Mitte der 1890er-Jahre wanderte etwa ein Prozent der Bevölkerung Frankreichs mittel- und wurzellos umher. Zu dieser Gruppe zählten auch geistig Kranke, die aus den überfüllten Anstalten stammten, vereinsamte ältere Menschen und alle möglichen anderen, die niemanden hatten, der sich um sie kümmerte.

Im Jahr 1899 veröffentlichte der Untersuchungsrichter Émile Fourquet eine Monografie über Vagabunden, die sich auf Gespräche mit Dutzenden von Menschen in seiner Obhut stützte. Er war humaner als manche seiner Kollegen und verglich diese Leute nicht mit einer ansteckenden Krankheit, sondern mit Zugvögeln, die dem Wetter und dem Erntezyklus folgten, um Unterschlupf und Essen zu finden. Fourquet unterschied mindestens zwei Migrantengruppen, deren Zickzackrouten sich kreuzten und überschnitten. Eine Gruppe verbrachte den Winter in Südfrankreich und wanderte das Rhonetal hinauf, wenn das Obst und Gemüse erntereif war. Die andere Gruppe blieb im Winter in der Bretagne, wo der Golfstrom die Winter milderte, dann wanderte sie in das Gebiet nördlich von Lyon, um Getreide und Gemüse zu ernten. Im Spätsommer zog diese Gruppe nach Norden in die Normandie und nach Belgien und fand Arbeit in kleinen Fabriken und bei der Zuckerrübenernte.

Im August trafen sich beide Gruppen südlich von Paris zur Getreideernte, danach wanderten sie weiter in die Weingärten des Rhonetals und Südfrankreichs. Im Oktober zogen sie in die Provence, um Kastanien und Oliven zu ernten. Im Spätherbst durchquerten viele dieser Menschen das Land und wanderten zurück in die Bretagne, während andere den Weg nach Lourdes an der spanischen Grenze einschlugen. Wer vor Einbruch des Winters zu schwach für den Fußmarsch nach Süden war, ließ sich verhaften, um die übliche drei- bis sechsmonatige Freiheitsstrafe in einem der speziellen Bettlergefängnisse des Landes zu verbringen. Dort musste wenigstens niemand verhungern oder erfrieren.

Fourquets Beschreibung war weder präzise noch umfassend – immerhin warf er Hunderttausende von Migranten in einen Topf, dabei gab es manche mit Familie, einige waren alt, andere jung und viele geisteskrank. Ihm fiel auf, dass Vagabunden bestimmte Orte nicht wegen des Klimas bevorzugten, sondern wegen der Einstellung der Bürger. Die Einwohner mancher Regionen, zum Beispiel des Dauphiné und des Savoyen – der bergigen Gebiete nahe der Schweizer Grenze –, waren für ihre Gastfreundlichkeit bekannt, während andere, etwa die Bewohner der Touraine mit der Hauptstadt Tours, sich eher ablehnend verhielten.

Vacher schrieb über diese Unterschiede in einem Brief an Louise:

Vor zwei Jahren war ich mit einem Paar Stiefel, die ich für 40 Sous gekauft hatte, in der Bretagne, wo ich alles sah … und in der Normandie große Städte und üppige Felder und Apfelwein, der genauso gut war wie in der Bretagne. Ich war auch in Marne [einer Region östlich von Paris], wo die Leute wirklich gläubig und menschlich sind … und vor allem im Savoyen, wo sie besonders treu und bescheiden sind. Dieses Jahr sah ich auch die Touraine, die man den Garten Frankreichs nennt. Aber keine Spur von Menschlichkeit … Ich bin nicht der einzige Reisende, der diese Beobachtung gemacht hat.

Früher hatten die Dorfbewohner diese Vagabunden willkommen geheißen. Wer Handwerker war, wurde wegen seiner Fertigkeiten gebraucht, und die anderen fanden Arbeit bei den Bauern. Aber die Industrialisierung hatte den Bedarf an manueller Arbeit verringert, und die Wirtschaftsflaute traf die Bauern sehr hart. Jene, die es sich leisten konnten, Wanderarbeiter zu beschäftigen, schickten sie fort, sobald die Arbeit getan war, weil sie keine Lust hatten, Bettler zu versorgen.

»Früher waren die Leute nett zu uns, aber heute ist der Empfang eisig«, erzählte ein Mann, der wegen Landstreicherei verhaftet worden war, Fourquet.

Aber wie sehr kann man jemandem vertrauen, der so arm und abgerissen aussieht … der mit Schmutz bedeckt und nass vom Regen ist, nicht viel isst und weder anziehend ist noch gute Laune hat? Früher mussten die Bauern selbst so arbeiten, und da sie sich daran erinnerten, hießen sie uns als ihresgleichen willkommen. Jetzt sind die Bauern, die uns Arbeit geben, selbst unglücklich. Die Klöster haben uns einst untergebracht, aber das tun sie heute nicht mehr. Wir stoßen überall auf Misstrauen, aber nicht mehr auf Mitleid.

Und die Vagabunden konnten sich nicht einmal mit ihren Leidensgenossen zusammenschließen. Denn sie wussten, wie die Leute reagierten, wenn gleich ein Dutzend Arbeitslose ins Dorf einzog. Sie bekamen eher Arbeit, wenn sie allein waren. Also zogen sie als einsame Landstreicher durchs Leben – hungrig, verzweifelt, misstrauisch gegenüber anderen Vagabunden und ein Ärgernis für die Sesshaften.

Vacher fand Arbeit auf einem Bauernhof bei Grenoble. Dann ging er zur Weinernte ins Rhonetal. Eine Weile nannte er sich Carpentier. So hieß ein Vagabund, mit dem er sich angefreundet und dem er die Papiere gestohlen hatte. (Ermittler äußerten den Verdacht, Vacher könne den Mann ermordet haben.) Er wanderte südwärts die Rhone entlang und arbeitete dann kurz in einer Ziegelfabrik. Nirgendwo blieb er lange. Als erprobter Wanderer legte er über 30 Kilometer am Tag zurück und schlief auf dem Feld oder in primitiven steinernen Hütten von Hirten.

Im Herbst 1894 kam er in den Bezirk Var, zwei Tagesmärsche von der heutigen Riviera entfernt. Es war eine geheimnisvolle Gegend mit trockenen, zerklüfteten Bergen, dichten Kiefernwäldern und tiefen Schluchten. Ein Mensch konnte in diesen düsteren Tälern leicht verschwinden. Manchmal tauchte er dann in einem Dorf auf, um in der Kirche eine Kerze anzuzünden, und verschwand wieder.

Am 20. November 1894 machte sich Louise Marcel auf den Rückweg aus einem Nachbardorf, in dem sie nach ihrem entlaufenen Hündchen gefragt hatte. Obwohl sie erst 13 war, galt sie als besonders hübsch und körperlich ungewöhnlich reif. Als sie zum Mittagessen nicht zu Hause war, suchten ihre Eltern nach ihr und stellten schließlich eine Suchmannschaft zusammen.

Zwei Tage später fand man die Leiche des Mädchens in einer alten Scheune. Eine Autopsie enthüllte, dass sie nach ihrem Tod wahrscheinlich anal vergewaltigt worden war. Ein Felsvorsprung in der Nähe war mit Blut beschmiert. Dort musste der Mörder sich die Hände abgewischt haben.

Seit seiner Jugend beherrschten Joseph Vacher zwei entgegengesetzte Neigungen: Einerseits wollte er ein gottgefälliges Leben führen, andererseits aber auch seinen Drang nach sexueller Gewalt befriedigen. Als 15. von 16 Kindern – der Vater hatte zweimal geheiratet – wuchs er in einem Haus mit einem einzigen Raum, einem roten Ziegeldach und dicken Steinmauern auf. Da er ziemlich klug zu sein schien, sorgten seine Eltern dafür, dass er zur Schule gehen konnte.

Er hätte alles in allem eine für die damalige Zeit und Situation ganz normale Kindheit verbracht, wenn es da nicht einige ihn negativ prägende Vorkommnisse gegeben hätte. Als Baby hatte er eine Zwillingsschwester namens Eugénie. Eines Tages legte die Mutter Joseph und Eugénie auf ein Bett und deckte sie mit einem leichten Tuch zu, um sie vor Ungeziefer zu schützen. Dann backte sie Brot im Ofen der Familie, der im Freien stand – riesige, schwere Laibe, die sie an Nachbarn verkaufte, um das Einkommen der Familie aufzubessern. Als das Brot fertig war, trug sie einem der älteren Kinder auf, einen Laib ins Haus zu bringen, aber nicht auf den Fußboden zu legen. Als das Kind die Decke auf dem Bett sah, legte es das Brot zum Abkühlen darauf, ohne die kleinen Geschwister zu bemerken. Als die Mutter hereinkam, war Eugénie bereits tot.

Joseph war später davon überzeugt, dass Gott ihn gerettet hatte. Und schon in jungen Jahren wollte er Priester werden. Als er zehn Jahre alt war, machte seine Klasse einen Ausflug zu einer Kirche in einem Nachbardorf. Der Lehrer entfernte sich für ein paar Minuten von der Gruppe, um einige Freunde zu begrüßen. Als er zurückkam, hatte Joseph die Klasse bereits in die Kirche geführt und auf die Bänke setzen lassen. Dann hielt er eine Predigt.

Im folgenden Jahr leckte ein Hund, den die Familie für tollwütig hielt, Joseph ab. Da seine Mutter panische Angst bekam, besorgte sie sich ein Volksheilmittel und gab es dem Jungen zu trinken. Es ist unklar, was der Trank genau enthielt, und vielleicht schadete er Joseph auch gar nicht, aber in den Monaten danach veränderte er sich. Mit 14 zog er einmal mit einem seiner Brüder eine Schubkarre. Da dieser sich seiner Meinung nach nicht genügend anstrengte, begann er ohne Vorwarnung, ihn zu würgen, und hätte ihn wahrscheinlich getötet, wenn nicht ein Nachbar eingegriffen hätte. Ein andermal hatten Klassenkameraden einen Stolperdraht über einen Weg gelegt, und Joseph fiel darüber. Anstatt aber über den Streich zu lachen, lief er weg, holte ein Gewehr und begann um sich zu schießen.

Als Fünfzehnjähriger verließ er schließlich sein Dorf und schloss sich den Maristenbrüdern in Saint-Genis-Laval an. Die asketische Atmosphäre im Kloster gefiel ihm, und er war sehr erfreut, als seine spirituellen Brüder seine schöne Handschrift lobten. Einige Male schickten sie ihn zum Unterrichten in andere Gemeinden. Zwei Jahre später forderten sie ihn jedoch auf, die Gemeinschaft zu verlassen. Erst viel später, als ein Zeitungsreporter nach dem Grund dafür fragte, erklärten sie, dass er unfähig gewesen sei, »gewissen Versuchungen des Fleisches zu widerstehen«. Man hatte ihn bei sexuellen Übergriffen gegen seine Kameraden erwischt.

Der achtzehnjährige Vacher kehrte nun in seine Heimatstadt Beaufort zurück und fing wieder an, auf Bauernhöfen zu arbeiten. Im Juni 1888 versuchte er, einen zwölfjährigen Jungen zu vergewaltigen, doch ein Nachbar verhinderte es. Daraufhin floh er nach Grenoble, wo er bei einer Schwester wohnte und in einem Restaurant arbeitete. Nach nur einem Monat Arbeit wurde er wegen einer Geschlechtskrankheit in ein Krankenhaus eingewiesen. »Wir nannten ihn den Jesuiten«, erinnerte sich ein anderer Patient später und begründete dies mit Vachers religiösem Getue. »Er war hinterhältig und versuchte immer wieder, die Nonnen zu betatschen.« Nach zweimonatiger Behandlung zog er zu einer anderen Schwester in ein Dorf, das knapp 50 Kilometer entfernt lag, aber ihr Mann warf ihn nach sechs Monaten hinaus.

Als Josephs Krankheit wieder aufflackerte, meldete er sich selbst im Krankenhaus Antiquaille in Lyon an. Im Rahmen der Therapie, die zwei Monate dauerte, entfernten die Ärzte einen Teil seines linken Hodens. Anschließend reiste Vacher nach Genf, wo er mehrere Woche bei einem Bruder wohnte, ehe auch dieser ihn wieder wegschickte. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, sagte er zu seinem Bruder. »Mir ist, als wäre ich von etwas Bösem besessen. Ich fürchte, dass ich etwas anstelle, wenn ich jemandem begegne.«

In den folgenden Jahren wanderte er von Stadt zu Stadt und suchte Arbeit bei Bauern. 1889 besuchte er die Weltausstellung in Paris, wo er wie zig Millionen andere Menschen aus der ganzen Welt gewiss über den neu erbauten Eiffelturm staunte, das höchste Bauwerk der Welt, vielleicht auch über die Maschinenhalle, den weltgrößten umbauten Raum, dessen Konstruktion aus Glas und Stahl über den gewaltigen Dampfmaschinen und Dynamos zu schweben schien. Möglicherweise schlenderte er auch durch die beliebte Kairo-Ausstellung – eine rekonstruierte Straße der ägyptischen Hauptstadt – oder durch die Dörfer, die zu Ehren der neuen Wissenschaft der Anthropologie geschaffen worden und mit »Primitiven« aus den Kolonien besiedelt worden waren. Es kann sogar sein, dass Vacher einen Blick in die Ausstellung über die Kriminalanthropologie warf, wo Alexandre Lacassagne, Cesare Lombroso und andere Experten Schädel, Tätowierungen und Schaubilder zeigten und versuchten, damit die steigende Verbrechensrate zu erklären.

Aber solche Vergnügungen waren nur von kurzer Dauer. Im Allgemeinen fristete er ein eher mühevolles Dasein: Er wanderte zu einem Bauernhof, bekam eine Arbeit zugewiesen und benahm sich bald so aggressiv oder verrückt, dass man ihn wieder fortschickte. Während eines seiner letzten Vollzeitjobs auf einem Bauernhof im Rhonetal ließ er sich lautstark über Anarchismus aus und forderte, den Reichen die Gurgel durchzuschneiden. »Eines Tages wird mein Name Geschichte schreiben!«, schrie er, als der Bauer ihn auszahlte und ihm die Tür wies.

Da es im Mordfall Louise Marcel keine ernsthaften Verdächtigen gab, nahm die Polizei Charles Roux fest, den Nachbarn, der die Leiche entdeckt hatte. Die Ermittler behaupteten, er müsse den Tatort gekannt haben, um die Tote an einem so verborgenen Platz zu finden. Außerdem hatte man Abdrücke von Schuhen mit Holzsohlen in der Nähe gefunden – und Roux trug solche Schuhe. Es kümmerte die Polizei nicht, dass vermutlich die halbe Einwohnerschaft diese traditionellen Schuhe mit Holzsohlen trug. Letztlich wurde Roux jedoch freigelassen, aber die Eltern und Nachbarn des Mädchens beschuldigten ihn weiterhin.

Zwei Wochen später wurde etwa zehn Kilometer entfernt ein älteres Ehepaar in seinem Haus ermordet. Als die Polizei das Verbrechen rekonstruierte, kam sie zu dem Schluss, dass die Frau die Tür geöffnet hatte und mit nicht weniger als neun Stichen getötet worden war. Ihr Mann, der eben zu Bett gehen wollte, hatte einen Schnürsenkel aufgebunden, als der Mörder hereinplatzte. Er versuchte, sich zwischen dem Bett und der Wand in Sicherheit zu bringen, und hob den rechten Arm, um sich zu schützen, wie die Wunden belegten. Auch er wurde getötet und mit 15 kraftvollen Stichen verstümmelt. Der Mörder stahl 600 Francs und floh mit einem Sack Weizen. Zeugen berichteten, sie hätten in der Gegend einen Mann gesehen, auf den Vachers Beschreibung passte, und ein großer Blonder habe ihn begleitet. (In den nächsten paar Jahren sagten Zeugen wiederholt aus, diese zwei Männer zusammen gesehen zu haben. Aber der blonde Mann wurde nie vernommen oder festgenommen.)

Nachdem Vacher drei Morde in zwei Wochen begangen hatte, war ihm wohl bewusst, dass er die Gegend verlassen musste. Es war Ende Dezember, und Vagabunden zogen normalerweise nach Süden, um der Kälte und dem Schnee zu entfliehen. Vacher fühlte sich hingegen in Isère und Savoyen, seiner Heimat, wohler und wanderte nach Norden. Ende 1894 stellte ihn ein Bauer außerhalb von Grenoble als Kuhhirte ein, aber Vacher kündigte nach der Hälfte der vereinbarten Zeit. Als der Bauer ihn nicht auszahlen wollte, bedrohte Vacher ihn. Der Mann lief daraufhin weg, um Hilfe zu holen, doch als er zurückkam, war der Vagabund verschwunden.

Eine Gesellschaft, in der viele Benachteiligte leben, hat zwei Möglichkeiten. Sie kann den Notleidenden helfen oder sie als »die anderen« abstempeln, die ihr Schicksal verdienen. Wie andere Länder entschied Frankreich damals, die Vagabunden seien »die anderen« – sie unterschieden sich von der sesshaften Bevölkerung und bedrohten die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft. (Amerikas Vagabunden ging es in der Blütezeit der Wirtschaft nicht besser. Eine Zeitung in Chicago schlug vor, einige von ihnen zu vergiften, um die anderen abzuschrecken. Der Dekan der juristischen Fakultät von Yale nannte sie »unverbesserliche, feige, durch und durch verdorbene Wilde«.) Die Beschäftigung mit den Vagabunden wurde in ganz Europa zur Besessenheit, aber man studierte sie ähnlich wie Braunfäule oder ansteckende Krankheiten. Es gab internationale Konferenzen über das Problem, und Gelehrte schrieben Dutzende von Arbeiten darüber. In einer Sprache, die wir heute als rassistisch empfinden, bezeichnete man die Vagabunden nicht als unglückliche Menschen, sondern als gefährliche oder minderwertige Schichten oder als sozialen Müll.

»Landstreicherei liegt im Blut«, versicherte ein prominenter Sozialkritiker der damaligen Zeit, »und das gilt für Kinder ebenso wie für Erwachsene.« Die meisten Experten teilten seine Meinung. Niemand bestritt zwar, dass das Phänomen entstanden war, als die wirtschaftlichen Bedingungen sich verschlechtert hatten, doch nach der allgemein vorherrschenden Meinung hatte die Wirtschaftsflaute die Situation nicht hervorgerufen, sondern nur angeborene Neigungen verstärkt. Es gab eben den geborenen Verbrecher Lombrosos, und es gab geborene Vagabunden, deren Zahl anschwoll, wenn es mit der Wirtschaft bergab ging. Sicher gab es eine kleine Zahl von »schicksalhaften« Vagabunden, deren Familien ihre überschuldeten kleinen Bauernhöfe verloren hatten, aber die »echten« Landstreicher wurden mit einem Drang zum Umherschweifen geboren und verachteten die Werte der Sesshaften. Die meisten seien geisteskrank, behaupteten Dr. Armand Marie und Dr. Raymond Meunier, die führenden Experten für Landstreicherei in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Hysterie, Epilepsie, Alkoholismus, Mystizismus, Demenz und unstillbare Wanderlust seien einige dieser Krankheiten.

In Übereinstimmung mit der damals populären Degenerationstheorie betrachteten viele die Vagabunden als Unfall der Evolution, als Rückfall in ein primitiveres Stadium der menschlichen Entwicklung. Alexandre Bérard, eine Autorität aus Lyon, beschrieb die Landstreicher als »wilde Bestien, die in einer zivilisierten Gesellschaft keinen Platz haben«, als Opfer eines uralten Wandertriebes. Dieser Trieb sei einst nützlich gewesen, versicherte er, weil er »primitive Menschen durch Steppen, Wälder und Wüsten führte, um die Erde zu bevölkern, Nationen zu formen und Reiche zu gründen«. Doch die Zeit für ein solches Verhalten sei vorbei. Da dieser Drang in einer zivilisierten und stabilen Gesellschaft fehl am Platze sei, drücke er sich als Wurzellosigkeit und fehlende Anpassung aus, und die Betroffenen bevölkerten die Seitenstraßen und jagten anständigen Leuten Angst ein.

Da man den Landstreichern primitive Neigungen unterstellte, war es unvermeidlich, dass sie auch als Kriminelle abgestempelt wurden, vor allem weil Arbeitslosigkeit und Sensationsjournalismus sich zur gleichen Zeit entwickelten. Lacassagne, der ansonsten eher zu ausgewogeneren Aussagen neigte, beschrieb Vagabunden als schlichte, impulsive Menschen, die auf zwei primitive Reize reagierten: »Hunger und sexuelles Verlangen«. Dies sei der Grund dafür, dass Diebstahl und Vergewaltigung ganz oben auf der Liste der von Landstreichern begangenen Verbrechen stünden. Er ignorierte mögliche andere Faktoren und behauptete, dass die Zahl schwerer Verbrechen zunehme, wenn die Menge der Vagabunden in einer Region ansteige. Die Furcht war so weit verbreitet, dass Frankreich 1885 ein Gesetz erließ, das für Vagabunden und Gewohnheitsverbrecher lebenslange Freiheitsstrafen vorschrieb. Viele von ihnen wurden in die Strafkolonie auf der Teufelsinsel vor der Küste von Guyana geschickt. Die Polizei nahm Tausende von Bettlern fest und sperrte allein im Jahr 1900 40.000 Menschen wegen Landstreicherei ein. Wer nicht ins Gefängnis oder in die Strafkolonie kam, erhielt Fahrkarten für eine Reise von der Stadt zurück aufs Land.

Am Ostersonntag 1895 verließ Antoinette-Augustine Marchand, eine sechsundzwanzigjährige Obstverkäuferin und Mutter von vier Kindern, gegen Mittag den Bauernmarkt ein paar Kilometer südlich von Lyon, um nach Hause zu gehen. Sie hatte am Morgen Orangen verkauft, und ihre Einnahmen wölbten ihre rechte Tasche. Als sie ihren Handkarren einen Weg nahe der Rhone hinaufschob, bemerkte sie einen Landstreicher, der am Wegrand schlief. Sie hatte schon oft Gerüchte über einen frei herumlaufenden Verrückten gehört und musterte den Schläfer ängstlich, als sie an ihm vorbeiging. Als sie gerade eine Eisenbahnschiene überqueren wollte, packte sie plötzlich jemand von hinten. Sofort warf sie sich gegen eine Steinmauer, um ihre rechte Tasche zu schützen, aber sie merkte schnell, dass der Angreifer andere Absichten hatte.

»Ich spürte, wie er mit dem Knie meine Unterwäsche bis zu meinem Bauch hinaufschob«, berichtete sie später. »Er hatte seine Hose geöffnet, hielt mich mit dem rechten Arm fest und berührte mit der linken Hand meine Geschlechtsteile. Er befahl mir stillzuhalten.«

Sie roch den üblen Ausfluss aus Vachers Ohr und sah jedes Detail seiner Narbe und seines Gesichts. Er umklammerte sie so stark, dass ihr rechter Arm taub wurde. Sie kreischte und strampelte heftig, dann stieß sie ihm die Fingernägel in die Augen, worauf er seinen Griff kurz lockerte. Als er sein Messer zückte, riss sie sich mit einer Drehbewegung los, lief auf die andere Seite der Gleise und begann ihm Steine ins Gesicht zu werfen. So hielt sie ihn in Schach, bis zwei Männer vorbeikamen und Vacher wegrannte. »Ich habe noch acht Stunden lang gezittert«, sagte sie.

»Ich reichte eine Beschwerde [im Rathaus] ein«, fügte sie hinzu, »aber nichts geschah.«