Drei
Der erste Mord

Als Joseph Vacher vor der Irrenanstalt stand, war er sich sicher, dass Gott ihn liebte. Wie sonst war zu erklären, dass er und Louise die Schüsse überlebt hatten, dass er die schreckliche Zeit in Dole heil hinter sich gebracht hatte und dass sein Sprung aus einem schnell fahrenden Zug ihn nicht umgebracht hatte? Auch in seiner Aussage und in seinen Briefen behauptete er später, nur Gott könne ihn nach Saint-Robert geführt haben, wo freundliche Ärzte ihn verstanden hätten, und nur Gott könne die Ärzte veranlasst haben, ihn schon nach drei Monaten freizulassen. Jetzt, nach seiner Entlassung aus der Anstalt, glaubte er fest daran, dass Gott ihm schon mitteilen würde, was er tun sollte.

Zunächst aber musste er eine Unterkunft und Arbeit finden. In der Tasche hatte er 170 Francs – den Lohn für seine Feldarbeit in der Anstalt – sowie eine Bescheinigung über seine ehrenhafte Entlassung aus der Armee, ein Messer und eine Pistole. Er ging erst einmal auf Wanderschaft, übernahm Gelegenheitsarbeiten und schlief auf Heuböden. Als er nach ein paar Wochen dieses Leben satthatte, kaufte er eine Zugfahrkarte nach Menton, einer Kurstadt am Mittelmeer, wo seine Schwester Olympe im »Café Monte Carlo« arbeitete. Olympe hatte ihren jüngsten Bruder schon immer äußerst sonderbar gefunden. Sie erinnerte sich noch gut daran, dass er wie ein Wilder auf den Feldern herumgelaufen war und einen Knüppel geschwungen hatte.

Dennoch war sie bereit, ihn aufzunehmen. In den nächsten Tagen blieb er meist in seinem Zimmer und schrieb. Manchmal kam er zu ihr und erzählte verstörende Geschichten über die Irrenanstalten. Nach einer Woche bat sie ihn höflich darum, sich eine andere Bleibe zu suchen – vielleicht wieder bei den Mönchen. Sie brachte ihn zum Bahnhof und kaufte ihm eine Fahrkarte nach Saint-Genis-Laval, wo er einst im Kloster gelebt hatte. Und sie versprach, ihm Geld zu schicken, wann immer er es brauchen sollte.

Nachdem er gegangen war, bemerkte sie einige zerknüllte Blätter Papier im Kamin. Sie glättete sie und sah, dass es leidenschaftliche Briefe an Louise Barant waren, die Frau, die er angeschossen hatte. Er ist wirklich total verrückt, dachte sie. Sie verbrannte die Briefe und hoffte, ihn nie mehr wiederzusehen.

Während Vacher nach Norden in Richtung Lyon fuhr, wich das Mittelmeerklima allmählich gemäßigteren Temperaturen. Palmen machten Eichen und Kiefern Platz, trockene, zerklüftete Landschaften wichen schattigen Tälern und Wegen, die undurchdringliche Hecken säumten. Zehn Kilometer vor Lyon stieg er in Saint-Genis-Laval aus, einem alten, von einer Mauer umgebenen Dorf in der Nähe der Rhone. Er hatte angenehme Erinnerungen an die Jahre, die er damit verbracht hatte, durch die gewölbten Gänge des Klosters zu wandern und über das Mysterium der Dreifaltigkeit nachzudenken. Die Mönche hatten ihn bestimmt nicht vergessen und würden ihn sicher aufnehmen.

Aber die Mönche hatten an Vacher ganz andere Erinnerungen und schickten ihn fort.

Daraufhin nahm er einen Zug nach Lyon, wo er ein paar Gelegenheitsjobs bekam. Da ihm das Leben in der Stadt nicht gefiel, schrieb er seiner Schwester und bat sie um Geld für eine Fahrkarte. Sie lehnte jedoch ab, woraufhin er Lyon zu Fuß in Richtung Beaufort verließ, seiner Heimatstadt. Er ging die Rhone entlang nach Süden und benutzte kleine Pfade und Droschkenwege, die zwischen dem Ufer und den mit Reben bedeckten Hängen verliefen. Der Mai war ein Monat der Hoffnung am Rhoneufer: Die Aprikosen- und Pfirsichknospen versprachen reife Früchte, die Lavendel- und Rosmarinbüsche dufteten, und das Krächzen der Elstern durchbrach die Stille. Als er die Kleinstadt Vienne erreichte, wandte er sich nach links und überquerte die eiserne Brücke. Jetzt führte sein Weg hinauf in die Berge, wo er sich ein paar Tage mit Betteln und Stehlen durchschlug, bis er in Beaurepaire war. Da Gott über ihn wachte, war er überzeugt davon, dass alles sich zum Guten wenden würde.

Eugénie Delhomme war eine attraktive einundzwanzigjährige Frau, die in der Seidenfabrik von Monsieur Perrier am Stadtrand arbeitete. Es gab Hunderte Fabriken dieser Art in den verschiedenen Dörfern, und alle belieferten die blühende Textilindustrie in Lyon. In der Fabrik drehten sich Hunderte von mechanischen Seidenspulen und wickelten die Stränge auf. Mitten im Geratter beobachtete eine Armee von Frauen die Apparate und griff bei Bedarf ein, um verhedderte Fäden geschickt zu straffen. Es war eine anstrengende Arbeit, die um fünf Uhr morgens begann und bis halb neun Uhr abends dauerte, unterbrochen von einer Mittagspause. Eugénie bekam 24 Sous am Tag, kaum genug, um anderthalb Pfund Brot zu kaufen. Einen Teil ihres Lohnes schickte sie ihrem alten Vater in einer anderen Stadt.

Es war ein hartes, aber anständiges Leben, das Eugénie und ihre Kolleginnen führten. Sie waren alle im Wohnheim der Firma untergebracht, aßen im Speisesaal und gingen abends in die Stadt, um im »Café Dorier« miteinander zu plaudern. Viele von ihnen hatten Liebesaffären mit den Männern im Dorf, und vor allem Eugénie war dafür bekannt, sogar mehrere zu haben. Die Leute erzählten, dass man im Vobeigehen an der Fabrik auf der anderen Seite der Hecke oft Küsse hören könne.

Am Samstag, den 19. Mai 1894, verließ Eugénie ihren Arbeitsplatz etwa eine Stunde vor Feierabend und eilte zum Fabriktor. Sie hatte eben ein Essen verzehrt, das die Firma bereitgestellt hatte. Eugénie trug einen rot-weiß gestreiften Arbeitskittel und Molières – beliebte, oben offene Schuhe mit plumpen Absätzen, nach oben gebogener Spitze und modischen Schnürsenkeln. Sie waren nach dem Theaterschriftsteller benannt, dessen geckenhafte Figuren ähnliche Schuhe trugen. »Wohin gehen Sie?«, fragte die Aufseherin. »Es wird gleich regnen.«

»Ach, ich gehe nur etwas auf der Straße spazieren. Ich bin gleich zurück.«

Niemand wusste, ob Eugénie ein Rendezvous hatte oder ob sie nur etwas frische Luft brauchte. Jedenfalls kehrte sie bis zum Ende der Schicht nicht an ihren Arbeitsplatz zurück, und ihre Freundinnen sahen sie in dieser Nacht auch nicht im Wohnheim. Am nächsten Morgen bemerkte Monsieur Perrier, dass sie immer noch fehlte, was ihn überraschte, weil sie immer sehr zuverlässig gewesen war.

An diesem Nachmittag hütete eine Dorfbewohnerin ihre Schafe in der Nähe der Fabrik. Auf einmal sah sie ein Paar Molière-Schuhe unter einer Hecke hervorragen. Sie wusste, dass sich häufig Pärchen zu einem Stelldichein an diesem Platz trafen, fand es aber ungewöhnlich, dass sie nur zwei Schuhe sah. Also ging sie zur Hecke, um sich das Ganze genauer anzusehen.

Eugénies Leiche, die knapp 200 Meter vom Fabriktor entfernt lag, sah aus, als habe ein wildes Tier sie angegriffen. Die Schreie der Frau lockten die Arbeiterinnen nach draußen. Sie erkannten das Opfer sofort. Unter den entsetzten Augen der Umstehenden nahm die Polizei den Tatort in Augenschein und brachte die Tote dann ins Krankenhaus nach Beaurepaire, wo ein Arzt namens Claude Brottet sie sezierte.

Nach dem französischen Gesetz konnte jeder lokale Arzt eine Autopsie vornehmen, wenn die Behörden ihm dazu den Auftrag erteilten. Es gab nur wenige echte Leichenhallen im Land und nur ein paar moderne Anatomielabors. Auf dem Land waren die Verhältnisse besonders primitiv. Die Polizei trug Leichen meist zum nächsten Bauernhof oder in ein städtisches Gebäude. Dort versuchte ein Arzt dann, sie so zu sezieren, dass die Befunde vor Gericht anerkannt wurden. Dabei arbeitete er ohne Handschuhe auf einem Küchentisch oder auf dem Schreibtisch eines Beamten und atmete den stechenden Geruch einer verwesenden Leiche ein.

»Ich kann mich an keine dieser Autopsien erinnern, ohne dabei Abscheu und Verzweiflung zu empfinden«, schrieb Dr. Henri Coutagne, ein Kollege und Freund von Lacassagne, der manchmal aufs Land gerufen wurde, um Leichen zu sezieren.

Wenn die Temperatur nicht zu niedrig war, mussten wir die Leiche wohl oder übel in einem Hof oder in einer Scheune auf ein paar Bretter legen, die ihrerseits auf Fässern ruhten. Wir holten Wasser … Leintücher … und sezierten langsam, allen Temperaturschwankungen ausgesetzt, ohne Hilfe. Wir konnten von Glück reden, wenn uns ein Polizist assistierte. Aber wenn es kalt war, wurde alles noch komplizierter. Die Leiche wurde irgendwie (Tragbahren gab es auf dem Land nicht) in ein Gemeindegebäude geschafft, zum Beispiel ins Rathaus, ins Polizeirevier oder in die Schule … Einmal mussten wir auf dem Konferenztisch des Gemeinderates sezieren … Hinterher sah sich der Bürgermeister mit einer regelrechten Rebellion der Gemeinderäte konfrontiert.

Manchmal hatte er keine andere Wahl, als die Autopsie im Haus des Opfers selbst vorzunehmen, oft sogar auf dem »eigenen Esstisch des Opfers«.

Für diese armselige, gefährliche Arbeit bekamen die Ärzte 25 Francs, wenn es eine gewöhnliche Autopsie war, 35 Francs, wenn eine Exhumierung notwendig war, und 15 bis 25 Francs für ein neugeborenes Kind, je nachdem, ob es exhumiert werden musste oder nicht. (Diese neuen Gebühren wurden 1893 festgesetzt, nachdem Lacassagne und seine Kollegen sich dafür eingesetzt hatten. Vorher hatten die Ärzte nur etwa ein Zehntel dieser Beträge erhalten.) Die ganze Prozedur musste schrittweise durchgeführt werden. Wenn der Arzt am Tatort eintraf, trug er zunächst seinen Namen, die Namen der anwesenden Beamten und seine Kenntnisse über den Fall auf einem Formular ein. Er beschrieb die unmittelbare Umgebung: Gab es Blutspuren? Zerrissene Kleider? Zertrampelte Büsche oder andere Zeichen eines Kampfes? Dann hielt er die Position und den Zustand der Leiche fest. Anschließend studierte er jeden Quadratzentimeter der Leiche – die er immer noch nicht berührt hatte –, notierte alle identifizierenden Merkmale und beschrieb und vermaß jede Wunde. Dann drehte er die Leiche um und setzte die genaue Untersuchung fort. Er musste aufschreiben, welche Insektenlarven die Leiche besiedelten und wie weit sie entwickelt waren – das konnte ein Indiz für den Todeszeitpunkt sein. Erst dann wurde die Leiche zur Autopsie an einen geschützten Platz gebracht.

Dort legte man sie auf einen Tisch oder auf den Boden, und der Arzt öffnete und untersuchte den Kopf, den Hals, den Brustkorb, den Bauch und den Magen. Da Lacassagne den unterschiedlichen Ausbildungsstand seiner Kollegen kannte, setzte er keine Kenntnisse voraus, als er eine Anleitung für Autopsien veröffentlichte. Zum Schluss musste der Arzt alle Tatsachen und seine Schlussfolgerungen in einem schriftlichen Protokoll festhalten.

Im Großen und Ganzen befolgte Brottet die Anleitung. Er vermerkte den Fundort der Leiche und die Spuren, die zeigten, dass jemand sie vom wenige Schritte entfernten Tatort weggezerrt hatte. Dort entdeckte er zertrampeltes, blutiges Gebüsch und aufgewühlten Boden. Sorgfältig beschrieb er die äußeren Wunden und Hautabschürfungen. Während der Autopsie notierte er Schäden an inneren Organen.

Nach der Untersuchung zog Brottet den Schluss, dass Eugénie gegen sieben oder acht Uhr abends in der Gasse überfallen worden war, also etwa eine Stunde nach ihrer letzten Mahlzeit (er hatte teilweise verdaute Brot-, Buchstabennudel- und Käsereste in ihrem Magen gefunden). Der Täter hatte sie am Hals gepackt, zu Boden geworfen und mit zwei Händen gewürgt, wie die Fingerabdrücke an beiden Seiten der Kehle zeigten. Sie musste sich heftig gewehrt haben, denn das Gebüsch war zertrampelt, und an ihren Handflächen waren Schürfwunden. Der Angreifer hatte versucht, ihre Schreie abzuwürgen, indem er ihr die Hand auf den Mund gelegt hatte (die Schneidezähne hatten die Innenseite der Unterlippe zerfetzt). Sie hatte wahrscheinlich kaum noch atmen können, als er mehrere Male auf sie eingestochen hatte, um ihren Tod zu beschleunigen. Wunden an der rechten Seite ihres Halses belegten, dass der Mörder mit der rechten Hand zugestochen und sie mit der linken weiter gewürgt hatte. Eugénie musste nun bereits tot gewesen sein, aber der Täter befand sich in Rage. Er stach sie wiederholt in den Oberkörper, in die Brust und in den Schambereich. Dann schnitt er ihr die rechte Brustwarze ab und warf das blutige Gewebestück weg. Anzeichen für eine Vergewaltigung gab es nicht. Zum Schluss zerrte der Mörder sein Opfer vom Tatort weg und ließ es hinter der Hecke liegen.

Einige wichtige Ratschläge aus Lacassagnes Handbuch hatte Bottet allerdings nicht berücksichtigt. Er hatte nicht untersucht, ob ein analer Missbrauch vorlag – das hätte mehr über den Charakter des Täters enthüllt. Und weder er noch die Polizei hatten von den Fußspuren Gipsabdrücke gemacht, weil der Regen den Boden in einen Sumpf verwandelt hatte. Die Spuren begannen und endeten bei der Leiche.

Die Polizei wandte die Untersuchungsmethoden an, an die sie seit Jahrzehnten gewöhnt war. Dabei verließ sie sich auf Denunziationen und Gerüchte, selbst wenn physische Beweise für das Gegenteil vorlagen. Sie nahm Männer beim leisesten Verdacht fest und steckte sie so lange ins Gefängnis, bis einer von ihnen redete. Da die Polizisten von einem Verbrechen aus Leidenschaft ausgingen, verhafteten sie zunächst den letzten Liebhaber des Opfers, einen jungen Mann namens Eugène Dorier. Es gab zwar keinerlei Beweise für seine Schuld, und er verfügte über ein Alibi, dennoch hielt die Polizei ihn 29 Tage lang fest.

Dann verhaftete sie einen jungen Mann namens Louis François, der ihrer Meinung nach ein Motiv hatte. Eugénie hatte eine Zeit lang behauptet, dass ihr uneheliches Kind von Louis stamme, und als die Polizei einen Koffer durchsuchte, der Eugénies Sachen enthielt, fand sie einige Briefe von Louis, in denen er ihre Behauptung wütend bestritt. Einige Zeugen wollten ihn auch in der Nähe des Tatorts gesehen haben, waren sich aber uneinig, was den Zeitpunkt betraf. Seine Kleider wiesen jedoch keine Spuren von Schmutz oder Blut auf, und Freundinnen von Eugénie sagten aus, dass diese längst zugegeben habe, dass Louis nicht der Vater ihres Kindes war. Dennoch wurde er festgenommen und blieb vier Monate ohne Gerichtsverhandlung im Gefängnis.

In der Zwischenzeit hatte jemand am Tatort ein blutiges Messer und eine Mütze gefunden, aber die Polizei bemühte sich nicht darum, den Besitzer zu ermitteln.

Der letzte Verdächtige war Louis Lacour, ein Diener des Fabrikbesitzers. Er hatte einige Tage vor dem Verbrechen seine Uhr verloren, und man fand sie nicht weit vom Tatort in einem Bach. Es interessierte die Polizei nicht, dass Lacour ein Alibi hatte – die Verhaftung sollte beweisen, dass sie aktiv war. In einem unbeholfenen Versuch, Lacour zu überführen, besuchten Polizisten die Eltern von François und behaupteten gegenüber der Mutter, sie könne ihrem Sohn nur helfen, wenn sie jemand anderen beschuldige.

»Könnte es Lacour gewesen sein?«, fragte ein Beamter. »Ja oder nein? Beschuldigen Sie Lacour?«

Das wollte die Frau zunächst nicht. Daraufhin drohte die Polizei, ihren Sohn im Gefängnis sitzen zu lassen. Schließlich gab sie nach, und die Polizei verhaftete auch Lacour.

Jetzt saßen drei Verdächtige ohne Beweise im Gefängnis. Hätte die Polizei sich mehr Mühe gegeben, hätte sie Victorine Gay, eine fünfundfünfzigjährige Frau in einer benachbarten Stadt, befragen können, die von einem Fremden belästigt worden war, als sie am Tag des Verbrechens ihre Schafe gehütet hatte. Sie hatte noch die Narbe an seiner Wange und sein herabhängendes rechtes Auge gesehen, ehe sie geflohen war. Am gleichen Tag hatte ein entstellter Vagabund einer Frau namens Eydan aus Beaurepaire aufgelauert, aber ihr Mann hatte sie gerettet, bevor der Landstreicher ihr etwas antun konnte. Eine dritte Frau, Mélanie Pallas, hatte denselben Mann in einer Entfernung von knapp 30 Metern auf sie zukriechen sehen. Doch sie war weitergegangen und hatte sich laut mit einem imaginären Begleiter unterhalten, sodass der Fremde annehmen musste, dass sie nicht allein war.

Alle drei Frauen beschrieben denselben Fremden, und der letzte Vorfall hatte sich nur wenige hundert Meter vom Schauplatz des Mordes entfernt abgespielt. Und obwohl die halbe Einwohnerschaft am gleichen Abend den mysteriösen Landstreicher suchte, stellte die Polizei nie eine Verbindung zwischen diesen Ereignissen und dem Mord her. Sie hatte ja ihre Verdächtigen. Erst als 3000 Einwohner eine Petition unterschrieben, setzte man François und die anderen jungen Männer auf freien Fuß. Da der Mörder jedoch noch nicht gefunden worden war, galten die jungen Männer nach wie vor als verdächtig. Dadurch wurde ihr Leben so unerträglich, dass sie die Stadt verlassen mussten. Lacour fand Arbeit in der Kleinstadt Vienne im Rhonetal, etwa auf halbem Weg zwischen Beaurepaire und Lyon. François und Eugène meldeten sich freiwillig zum Militärdienst in Algerien.

Eugénie Delhommes alter Vater war fast 30 Kilometer zu Fuß von Charmes nach Beaurepaire gegangen, um an der Beerdigung seiner Tochter teilzunehmen. Unterwegs sammelte er Blumen und verwob sie liebevoll zu einem Strauß. Während der Beerdigung, an der alle Fabrikarbeiterinnen teilnahmen, legte er den Strauß auf das einfache Holzkreuz, das für Eugénies Grab bestimmt war. Dann warf er sich in die offene Grube und weinte. Tagelang blieb er auf dem Friedhof und klagte mitleiderregend. So wurde er in der Stadt zu einer nahezu geisterhaften Erscheinung, die laut nach Eugénie rief, Rosenkränze verteilte und Fremde bat, für sie zu beten. Schließlich brachte ihn seine Familie in ein Irrenhaus, wo er wenige Monate später starb.

Dieser erste Mord Joseph Vachers hatte auch ihn selbst überrascht. Er erinnerte sich daran, den Weg entlanggewandert zu sein und eine junge Frau getroffen zu haben. Irgendetwas – ein dumpfes Geräusch, ein Lichtblitz – löste ein seltsames Gefühl in ihm aus.

»Eine Art Fieber überkam mich … Abscheu und Wahnsinn«, erklärte er später. »Ich versuchte, mich zu beherrschen, aber die Wut machte mich stärker. Ich vergaß alles um mich herum und stürzte mich auf das Opfer.«

Nachdem er die Leiche hinter eine Hecke geschleift hatte, wusch er sich in einem Rinnsal und ging weiter. Bald befand er sich in einem anderen Departement, wo niemand von dem Verbrechen gehört hatte.

So begann »dieses schreckliche, unstete und rätselhafte Leben. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte«, sagte er. »Von da an habe ich diesen Sack voller Gräuel, den man mir in Dole mitgegeben hatte, in allen vier Ecken Frankreichs ausgeleert.«