Neun
Das
Verbrechen in Bénonces
Vacher fühlte sich im Hochland stets am wohlsten. Da er in einem kleinen Dorf geboren worden war, zog es ihn immer wieder in verschlafene Siedlungen an Berghängen und an rauschende Gebirgsbäche. Dort konnte er in den Wiesen und Wäldern herumstreifen, sich hinter Bäumen verbergen und vor neugierigen Blicken schützen. Zwar fand er dort weniger Opfer, um seine Lust zu stillen, aber es gab auch weniger Zeugen. Er konnte hier den Jüngsten und Schwächsten nachstellen und zuschlagen, wenn er wusste, dass sie allein waren.
»Wehe denen, die den Weg dieses schrecklichen Vagabunden kreuzten«, schrieb Albert Sarraut, ein Reporter der La Dépêche de Toulouse, später über Vacher. »Wo immer er hingeht, durchbricht ein Schmerzensschrei die ländliche Stille.«
In den Monaten nach dem Mord an Augustine war Vacher nicht in der Umgebung Dijons geblieben, sondern nach Paris aufgebrochen. Dann hatte er plötzlich die Richtung geändert und war in den folgenden Wochen südwärts marschiert, auf Lyon zu. Er hielt sich von der viel befahrenen Saône fern und zog stattdessen durch die Dörfer im Flusstal. Dann durchquerte er das Rhonetal und wandte sich nach Osten, wo die Ausläufer der Alpen begannen.
Überall, wo er auftauchte, wehte der Hauch des Bösen. Ende Mai überfiel er ein Hausmädchen, das nach einem Besuch bei ihren Eltern nach Hause ging. Sie zerkratzte ihm jedoch das Gesicht und entkam. Einige Wochen später packte er ein anderes Mädchen, das aber ebenfalls fliehen konnte. Ende Juli fanden dann Nachbarn im kleinen Bergdorf Chambuet die Leiche einer vierundsechzigjährigen Frau, der mehrmals in den Kopf und in den Hals gestochen worden war. Anfang August versuchte er, zwei Jungen in den Wald zu locken, aber sie liefen weg, als ihre ältere Schwester nach ihnen rief.
Am 21. August, einem Samstagmorgen, kam ein junger Mann im Dorf Saint-Ours, nördlich des Kurortes Aix-les-Bains, der die einzige Kuh der Familie auf die Weide gebracht hatte, nach Hause und fand seine ältliche Mutter tot auf dem Küchenboden vor. Ihre Kehle war aufgeschlitzt und ihr Kleid bis zur Brust hochgeschoben.
»Wenn es je ein Verbrechen gegeben hat, das mir leidtut, dann dieses«, schrieb Vacher später. »Denn die Menschen in dieser Region sind so zuverlässig und gastfreundlich.«
Das Dorf Bénonces liegt auf einer schrägen Hochebene in den Ausläufern der Alpen, östlich der Stelle, an der das flache Rhonetal auf hohe Felsvorsprünge trifft. Hier beherrscht die Vertikalität das Bild der Natur. Wiesen, die im Tal breit und eben sind, sind winzig klein und stehen in verrückten Winkeln zueinander, sodass sie von den Feldern im Tal aus einen wunderbaren Anblick bieten. Die Steinhäuser haben steile Dächer mit roten Ziegeln.
Wie viele Dorfbewohner im Hochland lebten die 450 Einwohner von Bénonces in friedlicher Abgeschiedenheit. Es gab keinen Telegrafen, keine Elektrizität und keine Zeitung, und das Dorf war nur über eine gewundene Straße zu erreichen. Die Einwohner waren rau, aber gastfreundlich – vor allem gegenüber Fremden, die bereit waren zu arbeiten. Als Vacher in der letzten Augustwoche des Jahres 1895 ins Dorf kam, schickte ihn die Frau im ersten Haus fort. »Wir verteilen unseren Eintopf an unsere Arbeiter«, sagte sie. »Für dich ist nichts übrig.« Dann ging er zu einem anderen Bauernhof und fragte einen Jungen vor dem Haus, ob er Arbeit bekommen könne. »Bestimmt«, antwortete der Junge. »Fragen Sie einfach.« »Muss man denn hier arbeiten?«, wollte Vacher wissen. »O ja«, meinte der Junge, »wer nicht arbeitet, der kann nicht hierbleiben.«
Schließlich kam er zum Haus der Familie Babola und bat die Frau, die er dort antraf, um Milch. Doch sie hatte keine. Er stöhnte auf, verwünschte sie und ging weiter.
»Was mich am meisten beeindruckte«, berichtete Madame Babola später, »waren seine Hände. Als ich sie sah, fiel mir auf, dass sie klein waren im Vergleich zu anderen Bauern seiner Größe. Und seine Nägel waren so lang … sie erinnerten mich an die Krallen eines Raubvogels.«
Eine Frau hatte Mitleid. »Ich bin nicht sehr reich«, entschuldigte sie sich, als sie ihm ein wenig Suppe gab.
»Die Reichen geben nicht am meisten«, erwiderte er.
Nun wanderte er auf einem Feldweg anderthalb Kilometer weiter und erreichte den Weiler Onglas. Auf dem Bauernhof von Pierre Guiffray wollte er für ein paar Münzen etwas Milch haben. Guiffray bat ihn herein und schaute misstrauisch zu, wie er sein Brot in die Milch tunkte und verspeiste.
»Warum arbeiten Sie nicht?«, fragte Guiffray. »Sie sind doch bestimmt kräftig genug.«
Vacher erklärte, dass ihn ein Leiden daran hindere, hart zu arbeiten, und zeigte Guiffray sein Handgelenk, als wäre damit alles erklärt.
»Woher kommen Sie?«
Vacher dachte kurz nach. »Seillons«, erwiderte er dann. Das war ein Dorf in der Nähe. Guiffray beobachtete ihn stumm.
Am nächsten Tag traf Guiffray auf Vacher, als der an einen Kastanienbaum gelehnt am Weg von Bénonces nach Onglas saß. »Scheint Ihnen gut zu gehen hier im Schatten.«
»Nicht lange«, meinte Vacher.
Die Bauern von Ain, der Region, zu der Bénonces und Onglas gehören, züchten seit Langem eine Rinderrasse namens Charolais. Die grauweißen Tiere sind sehr muskulös, robust und haben einen langen Körper. Die Kühe wachsen schnell und liefern reichlich Milch. Es sind derb aussehende Kreaturen mit einem dicken Fell, das ihnen hilft, das raue Klima zu ertragen.
Der Rhythmus der Kühe bestimmte das Leben auf den Bauernhöfen. Bei Tagesanbruch molken Mädchen die Kühe, und gegen sieben Uhr führten Hirtenjungen ihre kleinen Herden auf die Bergwiesen, etwa anderthalb Kilometer entfernt, hüteten sie dort mehrere Stunden und brachten sie um halb elf in den Stall zurück. Am Spätnachmittag führten sie dann die Herde noch einmal für drei oder vier Stunden auf die Weide.
Auch wenn dies nach einer friedlichen Idylle klingen mag, war das Leben eines Hirten keineswegs leicht, und das Landleben war keine einfache Sache. Die meisten Menschen waren ziemlich arm und mussten hungern, wenn eine Ernte vertrocknete. Fleisch war Luxus und wurde nur wenige Male im Jahr gegessen. Bei reichen Bauern kam es immerhin einmal in der Woche auf den Tisch. (Der durchschnittliche Pariser aß fast viermal so viel Fleisch wie der durchschnittliche Dorfbewohner.) Grundnahrungsmittel waren grobes Brot oder Pfannkuchen und Suppe – eine Brühe oder ein Eintopf, in den alles geworfen wurde, was gerade vorhanden war. Suppen waren die Hauptmahlzeit des Tages und enthielten meist nur pflanzliche Nahrungsmittel. Mais, Buchweizen, Kastanien, Kohl, Steckrüben und Kartoffeln wurden in Salzwasser oder mit etwas Schweineschmalz gekocht. Dazu trank man Milch oder Wasser, da der Wein zu teuer war.
Fast niemand auf dem Land hatte fließendes Wasser. Tuberkulose, Typhus und Cholera waren verbreitet, und die medizinische Versorgung war schlecht. Leben bedeutete arbeiten, fast wie bei den Bauernhoftieren.
Viele Hirten lebten monatelang bei ihrer Herde, ohne Kontakt zu anderen Menschen zu haben. Ein Wanderer in den Pyrenäen beschrieb 1888 eine Hirtenhütte: Es handelte sich um eine steinerne, einen Meter hohe Hütte, in deren Innerem sich der gesamte Besitz des jungen Mannes befand, ein Haufen Stroh als Schlaflager, ein kleiner Vorrat Kartoffeln und ein Sack mit einem halben Brotlaib, etwas Fett und ein wenig Salz. Jene, die bei den Bauernfamilien lebten, hatten es ein klein wenig besser. Sie konnten sich immerhin in der Scheune, in der Küche oder vor dem Ofen schlafen legen. Wie ihre umherziehenden Berufsgenossen verbrachten sie ihre Tage allein mit ihren Tieren und waren vielen Gefahren ausgesetzt, zum Beispiel Räubern, Wölfen und tollwütigen Hunden.
»Eine so traurige Existenz führt der Hirte!«, schrieb ein Journalist des Petit Parisien. »Wir mögen sie romantisieren, aber in Wirklichkeit haben Hirten einen der anstrengendsten und am schlechtesten bezahlten Berufe … Hirten … müssen viel wissen, brauchen einen sanften Charakter und ein hoch entwickeltes Pflichtgefühl.«
Obwohl das Leben eines Hirten hart war, war es immer noch besser als das, das Victor Portalier sonst geführt hätte. Er wurde in Trévous geboren, einer Stadt am Fluss gleich nördlich von Lyon. Seine Mutter hatte einen viel älteren Mann geheiratet, und Victor verlor seinen Vater im Alter von zwölf Jahren. Zu der Zeit begann er seine Karriere als Kleinkrimineller. Seine Mutter, angeblich eine moralisch minderwertige Frau, kümmerte sich kaum um den Jungen, daher brachte ihn der Ortspfarrer zum Kinderschutzbund nach Lyon. Dort wurde ihm Jacques Berger, ein Bauer in Onglas, rund 65 Kilometer entfernt, als Pflegevater zugewiesen. Die Maßnahme erwies sich als Erfolg. Im Alter von 15 Jahren hatte Victor Freunde unter den anderen Hirten und galt als freundlicher und fleißiger Junge.
Am Nachmittag des 31. August 1895 machte er sich um halb zwei, eine halbe Stunde vor den anderen Jungen, mit seinen Kühen auf den Weg. Er brach gerne früh auf und führte seine Herde auf die »große Wiese« an einem Abhang, etwa anderthalb Kilometer vom Bauernhaus entfernt. Dort setzte er sich dann unter den großen Walnussbaum am Rand der Wiese und genoss den Blick auf die Wälder und Felsen im Luizettal. In der Ferne befanden sich eine Schlucht und ein über 90 Meter hoher, stufenförmiger Wasserfall. Im Sommer spielten die Jungen gerne am Wasserfall und tollten in dem klaren See herum, der sich darunter bildete. Es war ein ungewöhnlich heißer Tag, und nichts rührte sich.
Doch dann hörte er ein Geräusch …
Die anderen Jungen stiegen gerade aus dem Tal nach oben, als eine von Victors Kühen ihnen entgegenkam. Jean-Marie Robin, ein Freund, trieb das Tier wieder den Berg hinauf zur großen Wiese. Komisch, dass Victor eine seiner Kühe weglaufen lässt. Etwa 70 Meter von dem Baum entfernt, unter dem Victor gewöhnlich wartete, entdeckte Jean-Marie eine Blutlache. Dann stieß er auf eine zweite … und fand ein blutiges Hemd. Da er Angst hatte weiterzugehen, rannte er schreiend davon. Mehrere Menschen eilten herbei, darunter auch der Feldhüter, der Victors Leiche schließlich fand und die Behörden verständigte. Am nächsten Morgen trafen Polizisten aus der Stadt Villebois ein, die etwa acht Kilometer entfernt lag. Begleitet wurden sie von zwei Ärzten, die sie als Gerichtsmediziner rekrutiert hatten. Da die Leiche für einen Transport zu stark verstümmelt war, nahmen diese die Autopsie vor den Augen der entsetzten Dorfbewohner gleich auf der Wiese vor.
Ein derart scheußliches Verbrechen hatte noch niemand in der Gegend jemals erlebt. Die Ärzte folgten den Spuren durch die Wiese, rekonstruierten die Ereignisse und sammelten Fakten über den Täter und die Tat.
»Wir kamen an einen riesigen Walnussbaum auf einer Lichtung in der Nähe einer Kleewiese«, notierten die Ärzte. »Zwei Meter vom Baum entfernt entdeckten wir eine große Blutlache.« In zehn Meter Entfernung fanden sie eine zweite Blutlache. 60 Meter weiter lag die Leiche von Victor Portalier bei einem Wacholderbusch. Er lag auf dem Rücken, seine Hose war bis zu den Knöcheln hinuntergezogen worden.
Der Mörder hatte das Opfer vom Brustbein bis zum Schambein aufgeschlitzt, als hätte ein Jäger ein Tier ausgeweidet. Die Ärzte fanden mehrere nicht tödliche Stichwunden. Die Geschlechtsorgane waren mit einem scharfen Werkzeug abgetrennt worden. Die Wundränder waren glatt – ein Detail, das später für die Beurteilung des Verbrechers wichtig werden sollte.
Vacher meinte später, dass Victor Portalier von allen seinen Opfern am meisten gelitten habe. Letztlich sollte dieses Verbrechen auch sein eigener Untergang werden.
Das ganze Dorf war in Aufruhr. In der Gemeinde gab es keine Polizei, und die einzigen Sicherheitsvorkehrungen waren Hunde und einfache Schlösser. Einst gastfreundliche Menschen verschlossen jetzt ihre Türen, wenn Fremde auftauchten, und sahen überall Mörder. Die Bürger von Onglas konnten sich anders als jene in den Städten, die Vacher heimgesucht hatte, nicht mit der Festnahme Verdächtiger trösten, denn es gab keine.
»Welcher Dämon hat diesen monströsen Mörder dazu getrieben, seine Opfer so zu zerfetzen?«, fragte ein Reporter aus Lyon später, als Vachers Verbrechen in ihrem ganzen Ausmaß bekannt wurden. »Die Leiche war derart abstoßend verstümmelt, dass man kaum glauben mag, dass es sich um einen Einzeltäter gehandelt hat. Man hat eher den Eindruck, dass ein Stier den Jungen getötet und dann mit den Hörnern zerrissen hat.«
Innerhalb von wenigen Stunden versammelten sich mehr als 150 bewaffnete Männer aus benachbarten Gemeinden und durchsuchten Wälder, Berge und Schluchten. Sie wussten genau, wie der Mörder aussah. Denn es musste der Landstreicher sein, der um Milch gebettelt hatte. Nach Onglas kamen nur sehr wenige Fremde, und an diesen erinnerten sich alle. Aber sie fanden Vacher nicht. Denn gleich nach dem Mord war er durch eine enge Schlucht ins Tal hinabgestiegen, und wenige Tage später wurde er dabei beobachtet, wie er die Rhone auf einer Eisenbahnbrücke überquerte.
Nach diesem abscheulichen Verbrechen versprach die Polizei höchste Einsatzbereitschaft. Der Generalstaatsanwalt von Lyon kümmerte sich persönlich um den Fall, denn er war aktives Mitglied im Kinderschutzbund. Er befahl seinen Untergebenen, alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um das Verbrechen aufzuklären. Der Regionalbeamte, dem der Fall zugewiesen wurde, ein Ersatzrichter aus einer Nachbarstadt, besuchte die Gegend in den folgenden Tagen mehrere Male und fragte die Leute nach Fremden aus, die sie gesehen hatten. Schließlich schickte er eine erstaunlich genaue Beschreibung an alle Bezirke, Städte und Krankenhäuser in der Umgebung:
Alter: 30 bis 35 Jahre
Größe: 1,56 Meter
Dicke schwarze Augenbrauen
Hautfarbe: blass und kränklich
Weiße Hände deuten darauf hin, dass er nicht an harte Arbeit gewöhnt ist.
Kopfbedeckung: Strohhut, angeblich ein Panamahut, den er über die Augen zieht. Manchmal trägt er eine Baskenmütze.
Sonstige Kennzeichen: Narbe quer über dem rechten Auge. Trägt einen kleinen Werkzeugkasten und einen Knüppel bei sich.
Die Polizei ging jedem Hinweis nach. Am 5. September erhielt sie ein Telegramm von ihren Kollegen in Trévoux, der Stadt, in der Victor geboren war. Dort sprachen anonyme Zungen einen Verdacht aus, an den die Behörden nicht gedacht hatten: Es ging um Victors Mutter, Marie Pinet.
Die meisten Leute mochten sie nicht. Und es hatte vielen auch missfallen, dass sie Lazare Portalier geheiratet hatte, einen zwergwüchsigen alten Mann, und dass sie während der Ehe Affären gehabt hatte. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie sich sofort mit einem Maurer eingelassen, der einen schlechten Ruf hatte. Ihre Feinde erzählten der Polizei, dass Portalier, der eine Schneiderwerkstatt geführt hatte, seinem Sohn ein kleines Vermögen von 10.000 Francs hinterlassen habe, was Marie dem Jungen aber verschwiegen habe. Die Leute verwiesen darauf, dass sie ihn sehr bereitwillig in Pflege gegeben und seine Briefe nie beantwortet habe. Da der Junge bald volljährig geworden wäre, glaubten manche, dass sie ihn von einem Vagabunden hatte ermorden lassen, um das Geld behalten zu können.
Die Polizei forschte daraufhin in Trévoux nach. Einige Gerüchte erwiesen sich als wahr: Marie war tatsächlich eine lockere Frau. Aber die Geschichte von der Erbschaft war stark übertrieben. Der Vater hatte der Familie nur einen bescheidenen Geldbetrag hinterlassen, den Marie fast gänzlich für einen Prozess gegen seinen Bruder ausgegeben hatte. Sie fristete ein kümmerliches Leben als Wäscherin und verdiente zwei Francs am Tag. Die Briefe ihres Sohnes hatte sie nicht beantwortet, weil sie nicht schreiben konnte, aber sie hatte sie wie einen Schatz gehütet. Als sie das Briefbündel der Polizei übergeben musste, flehte sie: »Bitte geben Sie mir die Briefe wieder zurück. Sie sind alles, was mir von ihm geblieben ist.«
Die überzeugendste Entlastung lieferten jedoch Zeugen, die ihre Reaktion auf Victors Tod gesehen hatten. Zunächst hatte Marie nur Gerüchte über die Ermordung eines Hirten gehört, ohne zu wissen, um wen es sich dabei handelte. Als sie Claudine Suchet, eine Zeitungsverkäuferin, fragte, ob sie jemanden kenne, der eine kranke Verwandte versorgen könne, erkundigte sich Claudine nach dem Namen des Dorfes, in dem Victor arbeitete, und nach dem Namen seiner Pflegefamilie. Sie hatte die Nachrichten über den Mord an einem noch unbekannten Hirten gelesen. »Ich muss wohl blass geworden sein«, erinnerte sie sich, »denn die arme Frau begann zu zittern und heftig zu schluchzen. Sie schien untröstlich zu sein.« Als die Polizei sie befragte, hatte sie sich noch nicht erholt. Von da an galt sie nicht mehr als verdächtig.
Wochen vergingen. Am 30. September schrieb der medizinische Leiter des Irrenhauses Saint-Robert den Behörden, dass einer seiner Insassen zwei Tage vor dem Mord geflohen sei. Dieser Patient namens Jean-François Bravais war wegen Depressionen und Verfolgungswahn behandelt worden, und die Beschreibung im Steckbrief passte gut auf ihn. Er hatte auch eine Narbe im Gesicht, weil er einmal selbst auf sich geschossen hatte. Die Polizei fahndete daraufhin nach Bravais, und fünf Wochen später nahm sie ihn fest, als er etwa 80 Kilometer südlich von Bénonces aus einem Zug stieg. Er leugnete jedoch alles, und ein sehr glaubwürdiger Zeuge bestätigte schließlich sein Alibi: ein Polizist.
Am 22. November 1895 wurden die Ermittlungen offiziell eingestellt, weil es keine Beweise und keine neuen Spuren gab. Die Bürger von Bénonces, Onglas und den umliegenden Gemeinden mussten weiterhin in Angst leben. In der Zwischenzeit streifte Vacher weiter durchs Land und griff Unschuldige, Schwache und Junge an.
Louis-Albert Fonfrède, der vergeblich versucht hatte, den Fall Augustine Mortureux zu lösen, las vom Mord an Victor Portalier und begann daraufhin, eine Akte anzulegen.