12

Wir hatten uns vor dem Eingang verabredet. Ich holte Hermann und Richard, die Gladys kurz zuvor begleitet hatten, rasch ab, und wir warteten feixend im Schatten der Mauer auf Sarah. Sie versuchten mich zu hänseln, weil ich eine Mütze mit breitem Schirm aufgesetzt hatte, aber ich ließ mich nicht verunsichern, ich sagte ihnen, da kämen wir sehr schnell drauf zurück, dann nämlich, wenn wir erst einmal in der prallen Sonne säßen, bei etwas mehr als fünfundvierzig Grad, und ihre Schädel wie Eier brieten.

Ich hatte noch nie einem dieser Endspiele beigewohnt, ohne von einem Gluthimmel verbrannt zu werden. Man brauchte bloß den sengenden Luftzug zu spüren, der durch die Straße wirbelte, dann wußte man, was einen auf den Zuschauerrängen erwartete und welch wundersame Wirkung eine simple Mütze recht bald haben würde.

Niemand hatte erwartet, daß sie Arm in Arm mit Vincent Dolbello auftauchen würde. Wir waren bester Laune, ein wenig trunken vom Licht und nicht im mindesten auf diese unangenehme Überraschung gefaßt. Als wir sie kommen sahen, erstarb das Gespräch, und einige flüchtige Blicke wurden ausgetauscht. Das war das erste Mal, daß ihn Sarah am hellichten Tag anschleppte, zudem so ungezwungen, daß ich erschüttert war.

- Ich glaub, wir sterben gleich …! scherzte sie.

Richard hatte bereits den Blick abgewandt und zerrte Hermann zum Eingang, als mir Dolbello die Hand reichte. Tief betrübt ließ ich die Sache über mich ergehen, ich beschränkte mich auf das strikte Minimum, immerhin erleichtert, daß Richard dieser Verrat verborgen blieb.

Ich fand es widerlich, wie er Elsie küßte – er legte ihr eine Hand auf die Schulter und nahm seine Sonnenbrille ab, als enthüllte er ihr eines der Wunder dieser Erde.

- He, findste nicht, der sieht aus wie ‘ne Kopie von Burt Reynolds …? raunte ich Sarah zu, während der andere an meinem Liebchen klebte.

Sie ignorierte meine Worte völlig. Ehrlich gesagt, ich war mir nicht einmal sicher, ob sie mich überhaupt gehört hatte, sie war total meschugge, seit es diesen Kerl gab, und Teufel nochmal, ich erkannte sie manchmal nicht wieder, und das ödete mich maßlos an.

- Ich glaube, wir sollten besser gehen, seufzte ich und wich V. Dolbellos Lächeln aus.

Es war einiges los. Die Reihen, die im Schatten lagen – eine Art Dach aus Eisenträgern und lackiertem Holz überragte die Ränge, aber nur auf einer Seite der Arena –, waren bereits bis auf den letzten Platz besetzt. Wir gesellten uns zu Hermann und Richard, wo die Sonne erbarmungslos stach, aber letztlich war das gar nichts, verglichen mit dem Verdruß, den mir Dolbello bereitete. Sie hatten ihre Oberkörper entblößt, und ich setzte mich, innerlich fluchend, neben sie. Ich fand es ganz schön dreist, daß sie uns diesen Typen ohne Vorwarnung aufzwang, ich hatte die Hände in den Taschen vergraben, und ich hörte den Kerl witzeln und was weiß ich für einen Unfug erzählen, irgendein dummes Gewäsch. Hermann und Richard tuschelten auf der anderen Seite. Sie hatte wirklich Nerven.

Ich schloß die Augen und tat so, als überließe ich mich der flimmernden Hitze, aber ich knirschte mit den Zähnen, schluckte stumm meinen Ärger hinunter und wartete auf den Beginn des Spiels. Ich hatte größte Lust, aufzustehen und abzuhauen, ich sagte mir immer wieder, daß mich nichts dazu zwang, die Gesellschaft eines Menschen zu ertragen, der mir derart zuwider war, daß das ein übler Streich war, den ich meiner Seele spielte, nichtsdestoweniger rührte ich mich nicht. Wie immer war alles nicht so einfach.

Einige Tage zuvor hatte ich ausführlich mit Richard darüber gesprochen. Ich hatte versucht, ihm den gewaltigen Druck der Einsamkeit zu erklären, der mit den Jahren zunehme, und daß Sarah vielleicht jemanden brauche, daß das vielleicht eine Frage des Gleichgewichts sei, nun ja, er war mittlerweile alt genug, solche Dinge zu kapieren. Es war mir zwar nicht gelungen, ihn restlos zu überzeugen, aber zumindest hatte ich seinen Groll ein wenig gemildert, und mir selbst hatte ich den gleichen Vortrag gehalten, obwohl ich größte Mühe hatte, ihn runterzuwürgen. Außerdem, hatte ich ihn beruhigt, ich sag dir, die Zeit arbeitet für uns, weißt du, es sollte mich wundern, wenn diese Geschichte von Dauer ist.

Leider war am Horizont nicht das geringste Anzeichen von Ermüdung zu sehen, und als mir Richard mit finsterer Miene verkündete, Sarah habe ihn schon zwei-, dreimal mit nach Hause gebracht, hatte ich eine Grimasse nicht unterdrücken können, und in diesem Moment hatte mich die Furcht beschlichen, daß dieses Abenteuer womöglich ein wenig länger anhielt, als wir uns wünschten. Alle waren sie wie Sternschnuppen verblaßt, nur dieses nicht, ich verstand überhaupt nichts mehr. Um ehrlich zu sein, ich fragte mich, ob der Abscheu, den mir Dolbello einflößte, nicht schlicht mit dieser besonderen Behandlung zusammenhing, mit dem Platz, den er in Sarahs Leben erobert hatte. Wenn dem so war, dann tat es mir leid für ihn, daß er das Opfer einer bedauerlichen Ungerechtigkeit war, aber es hatte ihn auch niemand gerufen.

Die Uhr an der Vorderseite des Dachs, das den Reihen gegenüber so freundlich Schatten spendete, zeigte kurz vor drei. Eine leichte Unruhe mischte sich unter das allgemeine Gemurmel, da man sich dem Anpfiff näherte. Ich wußte nicht, wie die anderen darüber dachten, aber ich hatte den Eindruck, daß die Luft dünner wurde und das Licht greller. Ich fühlte mich weder besonders wohl, noch glaubte ich, daß Vincent Dolbellos Gegenwart gänzlich für die vage Furcht verantwortlich war, die in mir hochkroch.

Das Licht, bislang weiß, wurde gelb. Wahrscheinlich hatte ich versehentlich zum Himmel aufgeblickt und büßte nun für diese Torheit mit einer vorübergehenden Blendung, ich konnte mir keinen anderen Grund vorstellen. Und so dachte ich nicht daran, mich zu beunruhigen, und versuchte sogar, mich damit abzufinden, denn alles in allem war das nicht unangenehm. Wie durch einen unsichtbaren Wirbel hindurch, der aus heißen Schwaden aufsteigt, erkannte ich nur noch unscharfe und fließende Formen, ein höchst merkwürdiger Effekt. Ich hörte die Pfiffe und den Beifall, ein Zeichen, daß die beiden Teams den Platz betreten hatten, aber die Geräusche selbst drangen nur gedämpft zu mir vor und verloren sich in der Ferne, und darunter mischte sich das seltsame Säuseln eines Luftstroms, der durch die Sträucher pfiff.

- Was denn für ein Säuseln …?! kicherte ich, der ungeheuren Absurdität meiner Wahrnehmung voll bewußt.

Als ich meinen Blick auf den Platz richtete, erkannte ich nur grüne und gelbe Flecken, die sich verteilten und hinter einer lockeren Leinwand in Schwingung gerieten. Ich wußte, daß das die Trikots der Mädchen waren, und auch, daß die Luft stillstand und ein Basketballspiel vor mir ablief, aber ich sah etwas ganz anderes. Diese bizarre Erscheinung amüsierte mich schließlich, zumal das Bild eines gewissen Charmes nicht entbehrte und etwas von dem Schauder hatte, den eine willkommene Brise unter blühenden Ginstersträuchern hervorgerufen hätte.

Plötzlich konnte ich wieder normal sehen. Und ich war darüber nicht böse, denn das Spiel konnte jeden Moment beginnen, die Mädchen starrten einander feindselig an und brannten darauf, sich zu bekämpfen. Ich gähnte unauffällig, noch ganz aufgewühlt von meinem Wunder, als mir Hermann seinen angewinkelten Ellbogen in die Rippen knallte.

- Verdammt nochmal, siehst du ihn …?!! stieß er mit dumpfer Stimme hervor.

Ja, ich sah ihn im gleichen Moment, ich wußte, daß er es war, bevor ich ihn erkannte, und einige Sekunden lang sperrte ich den Mund auf.

- Was treibt der da …?! fügte Hermann hinzu.

- He, wer ist denn der Typ da oben …? fragte Dolbello. – He, Max …!! rief ich und stand auf.

Er war auf diese Art Dach geklettert, das die Ränge auf der anderen Seite des Platzes überschattete, er war urplötzlich da aufgetaucht, seine Gestalt stach gegen den Himmel ab, jetzt, da er sich ziemlich nah am Rand aufrichtete. Er trug einen dunklen Anzug und ein Hemd, das mir unglaublich weiß vorkam und mehr als alles andere in die Augen sprang. Die Leute auf unserer Seite des Platzes zeigten mit dem Finger auf ihn. Fünfzehn Meter tiefer blickten die beiden Teams zum Himmel.

Erneut rief ich seinen Namen, während ringsum die Unruhe wuchs, weil ein jeder anfing, Fragen zu stellen, aber er schien mich nicht zu hören. Ich war zu weit entfernt, um seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, aber ich wußte, er würde springen, und diese Gewißheit lahmte mich.

Er trat einige Schritte vor, näherte sich mit baumelnden Armen der Leere. Seine Haltung ließ keinen Zweifel, Laute, aufgeregte Schreie ertönten, als sein Schatten auf dem Platz erschien. Aus seinem zugeknöpften Jackett blitzte das blendende Weiß seines Hemdes, und mein einziger Gedanke war, er könnte es dreckig machen oder sogar zerfetzen, und diese dumme Vorstellung war mir sogleich unerträglich, aber ich schaffte es nicht, sie aus meinem Kopf zu verjagen.

Ich hörte vertraute Stimmen um mich herum. Ich begriff kein Wort von dem, was sie sagten, und auch die Hand, die sich an meinen Arm klammerte, vermochte ich nicht zuzuordnen, und ich blinzelte gegen das Licht. Die Zeit sauste davon, doch der Sekundenzeiger auf der Uhr rückte tröpfchenweise voran. Max stand genau über ihr. Die Leute gerieten in Bewegung. Niemand blieb auf seinem Platz. Mehr als jedem ändern schnürte sich mir die Kehle zusammen, aber ich rührte mich nicht vom Fleck. Es war sinnlos, irgend etwas zu versuchen, es war nichts zu machen.

Er schaute kein einziges Mal in meine Richtung. Er hatte den Kopf leicht nach vorn geschoben. Aus den Zuschauerrängen stieg inzwischen ein starker Geruch auf, die Menge stank, je mehr die Spannung wuchs, ein saurer Schweiß, eine Mischung aus Schrecken und Aufregung, die aus der drückenden Schwüle sickerte, während Max mechanisch ein letzte’s Mal prüfte, ob seine Beinkleider schicklich saßen.

Ein Aufschrei schlug ihm entgegen, als er von seinem tristen Podest purzelte, entsetzlich langsam, ohne ein einziges Wort hervorzustoßen, ohne auf heroische Art abzuspringen, er kniete sich einfach ins Leere. Er ruderte im Fallen weder mit den Armen noch mit den Beinen, er fiel wie ein Paket und prallte auf den Rand des Spielfelds.

Im gleichen Moment setzte ich über die Leute hinweg, stürzte nach unten, fegte wie der Blitz über den Platz und kam gerade noch rechtzeitig. Er lebte noch. Keuchend beugte ich mich über ihn, während die Neugierigen von allen Seiten herbeiströmten. Er lag auf dem Rücken, Blut floß aus seinen Ohren und seiner Nase, er hatte die Augen offen und sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Ich kauerte mich neben ihn, aber ich hatte ihm nichts Bestimmtes zu sagen. Ein undurchdringlicher Wald von Beinen umgab uns, zog sich nach und nach enger zusammen wie wuchernde tropische Pflanzen.

So daß ich schließlich von der vordersten Reihe umgestoßen wurde, bevor ich mir Gehör verschaffen konnte. Ich legte eine Hand auf den Boden und rappelte mich auf. »He, Was soll denn …» Ich kam nicht dazu, meinen Satz zu beenden, denn außerstande, dem Druck standzuhalten, wurde ich von der ersten Reihe umgeworfen und kippte quer über Max.

Ich stieß einen fürchterlichen Schrei aus.

Trotz des Getümmels, das sich über meinem Kopf abspielte, gelang es mir, mich auf allen vieren von ihm zu lösen. Die Leute schoben einander und riefen denen im Hintergrund zu, sie sollten aufhören zu schieben, sie seien ja verrückt. Ich hoffte, ich hatte ihm nicht weh getan. Jemand trampelte auf seine weißen Haare. Die Vorstellung, ich könnte ihn mit meinem Gewicht erdrückt haben, machte mich halb wahnsinnig. Dann lockerte sich der Schraubstock, und ich richtete mich auf, und während ich das tat, klammerte sich seine Hand an meinen Ärmel. Ich erstarrte. Er sah mich nicht an, doch seine Lippen bewegten sich, also beugte ich mich wieder zu ihm hinunter, von einer wahren Rührung ergriffen.

- Sag ihr …. murmelte er mit so schwacher Stimme, daß ich wahrhaftig glaubte, dies seien seine letzten Worte – später bedauerte ich zuweilen, daß sie es nicht waren –, doch nichtsdestoweniger lauschte ich ihm aufmerksam.

Einige Sekunden lang hörte ich nichts mehr, während sich um mich herum das Geschiebe beruhigte, und ich glaubte, er habe seinen letzten Atemzug getan. Doch er hatte sich das Beste für den Schluß aufbewahrt.

- Sag Marianne, ich hab gebüßt …. fügte er mit letzter Kraft hinzu, bevor er entschlief.

Ich mußte seine Finger einzeln lösen, um mich zu befreien. Aber ich vermied es peinlich, ihn anzuschauen. Ich stand mühsam auf und stellte fest, daß ich meine Mütze verloren hatte. Für einen Moment war ich wie vor den Kopf geschlagen, dann spaltete ich die Menge.

 

Ich behielt das einige Tage für mich, dann erzählte ich auf dem Umweg eines Gesprächs, das wir über sein nächstes Theaterstück führten, Hermann davon. Es drehte sich um das Stück eines jungen Autors, den Marianne unter ihre Fittiche genommen hatte, aber ausnahmsweise stimmte ich ihr da zu, ich schätzte, daß der Typ in einigen Jahren wirklich gut sein würde. Ich kannte ihn ein wenig, er war zwei-, dreimal bei mir zu Hause vorbeigekommen, und ich hatte ihm gesagt, was ich von seinem Werk hielt. Hermann für sein Teil war mit seiner Rolle außerordentlich zufrieden, immer wieder erzählte er mir davon und das mit einer solchen Begeisterung, daß ich ihn schließlich ernstgenommen hatte.

Am frühen Abend war ein heftiges Gewitter losgebrochen, es hatte in Strömen gegossen, und wir waren allein, Elsie und Gladys hatte es plötzlich nach einem Schaufensterbummel gelüstet. Wir quatschten miteinander, während er sich rasierte und ich mit einer Monte Christo Especial in meiner Wanne untergetaucht war. Der Regen hatte aufgehört. Der Himmel war malvenfarben mit breiten lachsrosa Einschnitten, und ich blies meinen Rauch durchs Fenster. Ich wartete, bis er das Rasiermesser von seiner Kehle entfernt hatte, ehe ich ihm die Neuigkeit verkündete.

Zum guten Schluß kamen wir überein, mit niemandem darüber zu reden. Das war nur Marianne gegenüber ein Problem. Hermann schüttelte den Kopf, er war dafür, nichts zu sagen, es sei besser, wenn Max sein Geheimnis mit ins Grab nehme. Ich hatte während der gesamten Beerdigung darüber nachgedacht. Ich fragte mich, ob ich seinen letzten Willen erfüllen mußte, ob er mir wirklich eine so fürchterliche Last aufgebürdet hatte und ob ich vielleicht übertrieben gefühlsduslig war.

Lag sein Seelenfrieden in meiner Hand? Konnte sein Tod für Marianne ein Trost sein? Lag die Entscheidung, was gut war und was nicht, bei uns? Lauter Fragen, die wir trotz der Milde des Abends ernsthaft erörterten, Rätsel, die ohne Lösung blieben und über die wir uns trotz der linden Luft, die auf die Gluthitze vom Vortag gefolgt war, Gedanken machten.

Als ich sie sah, stellte ich mir die Szene vor, Max über ihr, nachdem er sie niedergeschlagen hat, und wer weiß, sagte ich mir, ob sie sich nicht am Ende eingebildet hat, ihr Täter sei ein verdammt hübscher Kerl …?! Ich erinnerte mich an das Gesicht, das er gemacht hatte, wenn er in ihrer Gesellschaft war, oder an die finstere Miene, die er aufsetzte, wenn es darum ging, sie in ihren Rollstuhl zu heben. Ich dachte an all die Entschuldigungen, die ich für ihn gefunden hatte, wenn auffiel, daß bei ihm nichts mehr lief, an den allgemeinen Irrtum, bei ihm gehe alles schief, weil man ihn vom Gymnasium gefeuert hatte. Und ich dachte an die Empfindungen, die mich blind gemacht hatten. Was sollte ich jetzt mit den schönen Augenblicken anfangen, die wir gemeinsam erlebt hatten …?!

- Also, Dan, hörst du mir überhaupt zu …?

Ich bekam kaum mit, was sie mir erzählte. Das endete regelmäßig damit, daß ich sie, ohne mir darüber klar zu sein, nur anstarrte, und nach einer Weile unterbrach sie sich dann.

- Na schön, machen wir fünf Minuten Pause, gewährte sie mir mit wohlwollendem Lächeln.

Trotzdem, es wollte mir nicht gelingen, mich zu entspannen.

Wir hatten uns daran gewöhnt, miteinander zu arbeiten. Meist ging es dabei um Themen, die mich nicht sonderlich fesselten, aber das klappte gar nicht so schlecht mit uns beiden. Ich hatte sie monatelang beobachten können. Damals, als ich sie kennengelernt hatte, waren mir einige ihrer Qualitäten vollkommen entgangen – es sei denn, sie hatten sich erst in der Folge entwickelt –, und als sie dann Vorsitzende der Stiftung geworden war und Paul in höchsten Tönen von ihr schwärmte, hatte ich ihm praktisch kein Wort geglaubt und ihn nur mißtrauisch angeblickt. Aber ich hatte ihr unrecht getan. Inzwischen verstand ich mich ganz gut mit ihr. Es kam vor, daß ich türenknallend aus ihrem Büro stampfte und fünf Minuten später zurückkehrte, ohne daß einer von uns auf die Idee kam, sich zu wundern. Ich konnte nicht leugnen, daß ich sie wirklich mochte, auch wenn ihr Geschmack in puncto Roman rettungslos entmutigend blieb.

Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich ihr verkünden sollte, es gebe Neuigkeiten und ich wüßte den Namen desjenigen, der sie in den Rollstuhl gebracht hatte. Ich brauchte sie nur kurz anzusehen, schon verflog der geringste Elan, den ich in dieser Richtung verspürte. Hermann hatte recht. Trotzdem, ich fragte mich, ob Max droben seinen Blick auf mich richtete, ob er im Begriff war, mich zu verfluchen. Ich beruhigte mich, indem ich mir einredete, er habe ja nicht verlangt, ich müsse es ihr sofort sagen. Pah, die Welt der Lebenden ist nur ein weiter Ozean von nicht einzugestehenden Dingen, von unsäglichen Geheimnissen.

 

War in dieser Hinsicht keinerlei Fortschritt zu verzeichnen, so mußte man feststellen, daß sich im Lager der Bartholomis einiges tat. Sarahs Versuch, Vincent Dolbello in unseren Reihen zu inthronisieren, glich einer mühevollen Kleinstarbeit. Sie verstand es zunehmend, seinen Namen wie selbstverständlich ins Gespräch einfließen zu lassen, ihr ständiges Vincent denkt dieses, Vincent hat jenes gesagt, Vincent und ich wirkte in unseren Köpfen und wuchs sich zu einer kleinen Armee aus, die sie zum Endsieg führen sollte. Ich kannte sie gut genug, um den Braten zu riechen, aber ich sagte nichts und begnügte mich damit, ihr geduldiges Spiel mit einer Mischung aus Mattigkeit und Resignation zu verfolgen.

Als ich mit Richard gewettet hatte, die ganze Sache werde nicht von Dauer sein, hatte ich mich gehörig in den Finger geschnitten. Mein Gefühl, was Frauen anging, hatte sich im Laufe der Zeit nicht gebessert. Daß Franck mich sitzenlassen würde, hatte ich trotz ihrer Drohungen nicht einen Augenblick lang geglaubt, damals war ich noch ein gefeierter Schriftsteller, kein Typ, den man wie einen gewöhnlichen Sterblichen fallenließ. Ich hatte praktisch den Kopf gegen die Wand rammen müssen, um zu begreifen, was passiert war. Und jetzt täuschte ich mich erneut, man konnte meinen, je näher sie mir waren, um so undurchdringlicher wurde das Geheimnis.

Eines Morgens dann, keine vierzehn Tage nach Max’ Tod, war sich Sarah ihrer Sache sicher genug, um uns allesamt bei sich einzuladen. Ich erfuhr natürlich als letzter davon, was hieß, daß sie meiner Reaktion ein wenig mißtraute, und da hatte sie gar nicht so unrecht, denn hätte sie mir gegenüber nur zwei, drei Worte fallen lassen, bevor sie mit den anderen darüber sprach, hätte ich sofort Ränke gesponnen, um ihren blöden Plan zu Fall zu bringen.

- Das hätte zu nichts geführt, erklärte mir Elsie eines Abends, als ich wieder darüber wetterte, daß wir uns hatten übertölpeln lassen.

- Wir wären nur zurückgewichen, um einen neuen Anlauf zu nehmen …

Ich ärgerte mich schwarz, aber ich wußte haargenau, daß Sarah nicht von ihrem Plan abgelassen hätte, wäre es mir gelungen, ihren ersten Versuch zu vereiteln. Zwei-, dreimal schon hatte sie es hinbekommen, daß wir ihnen da und dort begegneten, und sie hatte Überraschung geheuchelt, daß wir uns an einer Stelle über den Weg liefen, wo sie verdammt nochmal wußte, daß das nicht ausbleiben konnte. Ich haßte dieses dumme Spiel und das perfekt verwunderte Gesicht, das sie bei diesen Begegnungen machte, ich warf ihr vernichtende Blicke zu, aber sie schien sich darüber nicht zu grämen, mir war, als betrachtete ich sie durch einen Einwegspiegel.

Anscheinend war jetzt ein weiterer Schritt fällig. Jedem von uns war, zu verschiedenen Anlässen, die Gegenwart dieses Bescheuerten schon einmal aufgedrängt worden. Sarah brauchte bloß die Einzelteile zusammenzufügen, um alles klarzustellen. Und genau das war über uns eingebrochen.

Bernie teilte meine Befürchtungen hinsichtlich der Wendung der Ereignisse. Er glaubte auch, daß das etwas Ernsthaftes war und daß man darin keine vorübergehende Liaison mehr sehen durfte. Da auch er von den zufälligen Begegnungen, die Sarah über unsere Wege streute, nicht verschont worden war, hatte er den Ernst der Sache erfaßt. Er fand Dolbello jedoch nicht besonders interessant.

- Immerhin, versetz dich in Sarahs Lage, alles in allem ist er ein recht schöner Mann …

- Tja, dann versuch ihn ihr doch auszuspannen. Ich glaube, du würdest ihr einen Gefallen erweisen.

- Trotzdem, er hat etwas an sich, das mir mißfällt … Dieser harte Blick, hast du den schon bemerkt?

- Ich sagte schon, er gefällt mir nicht.

- Andererseits kennen wir ihn kaum …

- Du meinst, wir übertreiben …?! Verdammt, der Himmel gebe, daß du recht hast, mehr verlange ich nicht …!

- Weißt du, ich denk mir, Sarah ist schließlich nicht blöd.

- Franck war auch ein schönes und intelligentes Mädchen … Du hättest Abel sehen sollen, der Typ, mit dem sie davongelaufen ist. Ich frag mich, ob du den nicht auch für einen schönen Mann gehalten hättest.

Das war morgens, der Himmel war strahlend blau, und wir leerten ein paar Flaschen Corona (El abuso en el consumo de este producto es nocivo para la salud) im Garten, während sich die anderen zurechtmachten. Obwohl wir uns bald auf den Weg zu Sarahs famoser Einladung machen sollten, war ich nicht unbedingt schlechter Laune, und wenn ich noch so sehr auf einem empfindlichen Thema herumhackte, das Gewicht der Unabwendbarkeit betäubte mich und warf mich in die Seile. Wir lagen in unseren Liegestühlen, Bernie und ich, und unter diesen Umständen hätten wir ebensogut über das Ende der Welt reden können.

Bernie schob eine Hand über den Rand und tätschelte mir freundlich den Oberschenkel:

- Dein Verhältnis zu Sarah ist ein bißchen zu kompliziert, als daß du einen objektiven Blick haben könntest …

- Täusch dich da mal nicht. Mein Verhältnis zu Sarah wird immer einfacher. Ich habe zu jedem meiner Arbeitskollegen ein intensiveres Verhältnis, seit Dolbello die Bühne betreten hat.

- Hör mal, ich geb zu, der Typ ist nicht gerade angenehm. Aber so ein Krach stand dir ins Haus, behaupte nicht das Gegenteil …

- Wie bitte, so ein Krach stand mir ins Hans …?!

- Naja … Du mußtest wissen, daß sie eines Tages jemanden finden würde … Ich hoffe doch, daß dir dieser Gedanke schon einmal gekommen ist …

- Meine Güte, da bin ich mir nicht so sicher …!

Die Pappel zitterte im Licht und bestäubte uns mit hellem Konfetti.

- Bernie, ich habe ihr jahrelang zu Füßen gelegen, ich hätte alles mögliche für sie getan … Aber das Oberste Gebot, Bumse nicht mit deiner besten Freundin, stand zwischen uns wie ein unheilvolles Schwert. Ich muß gestehen, daß das Resultat meinen Hoffnungen nicht gerecht wird … Kannst du mir verraten, was von dieser schönen Freundschaft bleibt, die wir auf meiner mühsamen Enthaltsamkeit und meinem so schmerzlichen Verzicht aufgebaut haben …? (Ich ließ meine leere Flasche los, nachdem ich sie einen Moment betrachtet hatte.) Nichts oder so wenig, daß ich mich frage, ob ich vielleicht geträumt habe …! Pah, du solltest mich lieber kneifen, Bernie, und mir nicht andauernd über den Oberschenkel streichen.

 

Dolbello hatte sich vor dem Holzkohlengrill postiert. Die Ärmel hochgekrempelt, stand er lächelnd in seiner Ecke und pinselte das Fleisch voll. Sarah lief hin und her – ich lachte mich tot – und vergewisserte sich, daß es niemandem an etwas fehlte. Sie wirkten alle beide dermaßen entzückt, daß sie sich fast in die Hosen machten, und sie wechselten triumphierende Blicke, denn alles lief wie geschmiert.

Wir waren rund zwanzig Leute, genausoviel wie vonnöten, um vor einem gar zu plötzlichen Tete-à-tete sicher zu sein und doch eine gewisse Intimität zu wahren, und daran konnte man erkennen, daß sie beschlossen hatten, uns zu übertölpeln. Ich war leicht angewidert, aber mir war noch ein Rest von Zuneigung für sie geblieben – ich wußte selbst nicht, wieviel davon noch übrig war –, und ich nutzte ihn, um ruhig zu bleiben. Trotzdem, welch trauriger Anblick, Sarah wie ein junges Mädchen erröten zu sehen, das seinen Schwärm mit nach Hause gebracht hat, und dann dieser Ochse, der selbstsicher und mit verschwörerischem Grinsen seine Steaks und Schweinekoteletts grillte.

Schließlich gab ich es auf, sie zu beobachten, und verkniff mir meine spöttischen Bemerkungen. Sie hatte jetzt, was sie wollte. Das war eines dieser Spiele, bei dem ein Bauer, der vorrückt, nicht wieder zurückweichen kann. Dolbello wanderte mit seinem dampfenden Fleisch von Gruppe zu Gruppe und markierte den Hausherrn, er durchstreifte den Garten wie ein Stück Land, das er erobert hatte, erteilte da und dort im gewinnenden Tonfall desjenigen, der im Hause ein- und ausgeht, ein paar Anweisungen, damit sich ein jeder rundum wohl fühlte. Ich hätte ihn erwürgen können, aber ich zuckte nicht einmal mit der Wimper. Wie heißt es in Nummer 33: So hält der Edle den Gemeinen fern: nicht zornig, sondern gemessen. Trotz allem, jedes »du«, das er zu mir sagte, war wie ein Dolch, den er mir ins Herz stieß.

Ich wußte nicht, ob es mir gelingen würde, mich daran zu gewöhnen. Ich wußte nicht, ob Dolbello auf lange Sicht mit der Szenerie verschmelzen würde, ob Aussicht bestand, daß ich mich der Situation anpaßte. Ich dankte dem Himmel, daß er mir Elsie geschickt hatte. Ich malte mir mein Martyrium aus, wenn ich diese traurige Prüfung allein hätte durchstehen müssen. Stell dir vor, sagte ich mir, sie verließe dich jetzt …!! Es kam vor, daß ich mich nach ihr umsah oder sie im Schlaf beobachtete, um mich zu beruhigen. Sie war der Balsam, der meine Wunden schloß, der Abstand, der mich vor einem schicksalhaften Schlag behütete, der Halt, der mein Herz davor bewahrte, in tausend Stücke zu zerspringen. Sie hatte meine Verbitterung gemildert. Ohne sie hätte mich die Welle mit voller Wucht erfaßt, und ich wäre eiskalt davongespült worden, denn nichts schien für Sarah noch Bedeutung zu haben außer diesem verfluchten Umgang mit ihm.

In welchem Metall hätte ich, wenn Elsie nicht gewesen wäre, den ernüchterten Blick schmieden können, mit dem ich gefaßt die Dinge betrachtete?

Also zeigten sich die Auswirkungen meiner Verwirrung nur noch von Zeit zu Zeit und mehr oder weniger intensiv, manchmal jedoch waren sie wie eisige Vipern, die aus dem Dickicht hervorschnellten, wie der Angriff eines Barracuda oder eine plötzliche Feuersbrunst, die ich nur mit größter Mühe zu bewältigen vermochte. Ich erhielt, was ich verdiente. Und ich hatte bislang nicht das Glück gehabt, eine kleine Sache loszuwerden, die mir von Anfang an am Herzen lag, von der ich allerdings glaubte, über kurz oder lang müsse ich damit rausrücken. Das passierte in der Küche.

Der Nachmittag dehnte sich im Garten, kleine Gruppen aalten sich leicht schlapp und gesättigt auf dem verdorrten Gras, und mir ging nichts Bestimmtes durch den Kopf. Ich hatte mich zwar auf das Schlimmste eingestellt, was Dolbello betraf, war aber nicht bereit, klein beizugeben, und ich blickte höchstens einmal zu ihm hinüber, wenn seine Stimme die der anderen übertönte. Er schien mit sich zufrieden, er legte Leuten, die er kaum kannte, die Hand auf die Schulter und mischte sich in sämtliche Gespräche ein. Wenn er in meine Nähe kam, stellte ich mich dösend. Es war sinnlos, daß er sich meinetwegen Mühe gab. Mehr als gering waren seine Chancen, mich in die Tasche zu stecken.

Irgendwann stand ich auf, ich ging in die Küche, um mich mit Eiswürfeln zu versorgen. Die Rollos waren heruntergezogen, so daß eine leichte Kühle in dem von breiten, schrägen Strahlen durchbohrten Halbdunkel schwebte. Ich hoffte einen Augenblick, Dolbello müsse sich all das Geschirr da vorknöpfen, aber ich durfte nicht träumen, es gibt keine Gerechtigkeit auf Erden. Ich nutzte die Gelegenheit, mir die Hände zu waschen. Danach besprengte ich mir das Gesicht, und als ich mich wieder aufrichtete, erblickte ich Sarah neben mir. Es war eine Spüle mit zwei Becken. Ohne einen Ton zu sagen, drehte sie ihren Wasserhahn auf und ließ das Wasser über ihre Finger laufen, um anschließend eine Karaffe zu füllen. Nie zuvor hatte ich ein derart schlaffes Schweigen zwischen uns erlebt. Wassertropfen rannen mir über den Hals, aber ich hätte schwören können, das war der Abdruck dieser elenden Stille.

Ich erkannte sogleich, daß der Moment gekommen war, mich meiner Last zu entledigen. Meine Hände schlössen sich sanft um den Rand des Spülbeckens, ich kniff die Augen zusammen und mein Mund verzog sich zu einem grausamen Lächeln, während sie mich weiter ignorierte.

- Soso … du fragst mich also nicht, wie ich ihn finde …?! raunte ich ihr im Ton einer Giftschlange zu.

- Nein, antwortete sie.

- Verdammt und zugenäht, ich finde ihn ekelhaft ….! sagte ich.

Damit ging ich zufriedenen Schritts von dannen.

 

Als sich der Sommer einnistete, befiel mich ein leichtes Herzstechen. Ich sagte nichts, aber ich fürchtete den Moment, da Hermann seine Koffer packen würde. Das war ziemlich neu für mich, jedenfalls neu genug, um mir ein wenig Weltschmerz einzuflößen und mich daran zu erinnern, wie betrüblich es war, zu zweit eine Familie zu bilden. Dieser letzte Punkt setzte mir mehr zu als alles andere. Die Zerbrechlichkeit des Gebäudes wurde mir schmerzlich bewußt, und ich wußte wohl, daß diese Ferienzeiten nur die Generalprobe für den endgültigen Zusammenbruch waren. Wiederholt fragte ich mich, wie ich es angestellt hatte, in eine solche Situation zu geraten. Das war eines meiner Lieblingsthemen, wenn ich anfing zu grübeln. Und seine volle Bedeutung würde es erst an dem Tag erlangen, an dem er für immer fortging. Ein heftiger Schauder der Verlassenheit erfaßte mich bei dieser Vorstellung, aber ich suchte mich dem nicht zu entziehen. Ich bildete mir ein, es sei besser, darauf vorbereitet zu sein. Je eher man das Ausmaß und die Absolutheit seiner Einsamkeit erfaßt, um so besser fährt man.

Sie hatten noch nicht entschieden, wohin sie verreisen wollten, aber von Zeit zu Zeit redeten sie darüber und prüften verschiedene Angebote, die sie da und dort hatten, Freunde, die ein Haus besaßen, oder welche, die mit einem ganzen Bündel guter Adressen ins Ausland düsten. Einstweilen hatten sich Hermann und Richard zu Laufburschen in der Fondation verdingt. Sie waren direkt zu Marianne marschiert und hatten ihren Charme spielen lassen, dessen unwiderstehliche Wirkung sie gern noch unterstrichen, und zum Beweis hatten sie ihr Büro mit einem Job in der Tasche wieder verlassen. Wenn man sie hörte, bekam man den Eindruck, ihre Aufgabe bestehe darin, den lieben langen Tag durch die Gegend zu radeln, was mir so schön erschien, daß ich Marianne gesagt hatte:

- Ah, wozu noch lang suchen … Das ist der richtige Job für mich!

Leider hatte sie dem nicht stattgegeben.

Jetzt, da sie ihre Prüfungen hinter sich hatten – nur Richard war mit einem Schnitt von 6,5 durchgerasselt –, leisteten sie sich alle drei eine strahlende Miene. Hermann schlief kaum noch wegen seiner Proben, von den Nächten ganz zu schweigen, die Gladys in seinem Bett verbrachte, aber trotz alldem war er groß in Form. Gladys stopfte ihn mit Pulver von portugiesischen Austern und Azerolatabletten voll, die er morgens verschlang, sobald er die Augen aufschlug, anschließend, kaum war er die Treppe hinuntergestiegen, hörte man ihn vor sich hin pfeifen oder in die Hände klatschen, so daß Elsie und ich uns fragten, ob sie nicht des Guten ein wenig zuviel tat, nun ja, wenigstens hatte er noch keine roten Flecken im Gesicht.

In diesem Jahr hatte er ein paar kleinere Rollen gespielt -Beckett, Ghelderode, Edward Albee –, aber kein Vergleich mit dem, was in den nächsten Tagen auf ihn zukam. Es war mir nicht gestattet, bei den Proben zuzusehen, alles spielte sich – bis auf das wenige, das er mir darüber erzählte – in größter Heimlichkeit ab. Richard und Gladys wichen nicht von seiner Seite. Ich wußte nicht so recht, was sie trieben, ob sie ihm den Nacken massierten, darauf achteten, daß er sich bloß keinen Schnupfen holte oder seine Kostüme wegräumten, jedenfalls hatten sie an seiner Aufregung teil, und nachts um Punkt eins hörte man sie heimkommen, alles andere als müde, und wenn ich mich ans Fenster stellte, sah ich, wie sie erst im Wagen, dann auf dem Bürgersteig miteinander quatschten, schließlich verlegten sie das in den Garten, mit anderen Worten: ich brauchte mich nicht zu beeilen, ihnen die Tür aufzumachen. Das ging so weit, daß nicht einmal mehr von Vincent Dolbello die Rede war.

- Och, der …? Keine Ahnung …. antwortete Richard, wenn ich mich danach erkundigte. Ich spürte, es hatte keinen Sinn nachzuhaken, ich konnte nur hoffen, daß das einigermaßen klappte, wenn sie in seiner Gesellschaft waren. Bekamen sie überhaupt noch etwas mit, seit sie sich in diesem verdammten Theater verkrochen hatten?

Eine Woche, bevor der Vorhang aufging, wurde Hermann schlagartig bleich, und auch die beiden anderen verloren einige Farbe. Als ich sie fragte, ob sie krank seien, antwortete mir Gla

dys, das sei nicht zum Lachen und sie wolle mich mal sehen. Ich hätte wohl vergessen, daß Hermann praktisch das ganze Stück auf seinen Schultern trug und daß der ganze Saal geschlagene zwei Stunden lang die Augen auf ihn heften würde, ob ich mir eigentlich vorstellen könne, was für ein fürchterlicher Streß das sei, welch unglaubliche Verantwortung …? Hermann bat sie mit einer müden Handbewegung, es gut sein zu lassen, und für eine gewisse Zeit, in der die beiden anderen Wache schoben, war er völlig niedergeschmettert.

Ich dachte, ich täte gut daran, den Autor des Stückes einzuladen, aber sie verbrachten den ganzen Abend damit, sich gegenseitig davon zu überzeugen, daß alles schiefgehen werde, totsicher würden sie durchfallen, und vielleicht wurden auch schon Teer und Federn vorbereitet. Der Typ gefiel mir. Man begegnet nur selten einem Schriftsteller, der sich nicht für eine Art Genie hält, einem, der an seiner Arbeit zweifelt und nicht Meilen gegen den Wind stinkt.

- Nein, nein, du bist wunderbar … Das Stück ist schlecht!

- Ach du meine Güte, sag das nicht …! Ich bin wirklich stolz, es spielen zu dürfen, doch … Aber ich glaube, du hättest einen anderen aussuchen sollen …

- Komm, Mann … Ich weiß, wovon ich rede.

Ich ging mit leichten Kopfschmerzen ins Bett. Ich fragte Elsie, ob sie so etwas glauben könne. Sie antwortete, sie sei ganz gespannt darauf. Ich nahm sie in meine Arme, und ich sagte ihr, langsam jagten mir die beiden Idioten tatsächlich Schiß ein.

 

Marianne war überzeugt, daß das Stück Erfolg haben würde, Paul liebte es, und Andrea beteuerte, sie habe immer gewußt, daß Hermann Talent habe, aber mittlerweile hegte ich gräßliche Zweifel, und es kam vor, daß ich ihr Büro betrat, nur um mich ein weiteres Mal zu vergewissern, ob das die Möglichkeit sei. Paul lachte, er behauptete, meine Unruhe mache ihn jünger, denn ich hätte, das könnte ich ihm glauben, genau das gleiche Gesicht wie er damals, wenn eines meiner Bücher herauskam, und im Grunde sei ich ein Angsthase und wüßte es nur nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie er darauf kam, daß ich es nicht wüßte. Zu Hause bekundete ich volles Vertrauen und eine offenbar zu große Gelassenheit, wenn man Gladys hörte, die mir in einem fort zuraunte, o Dan, wie kannst du nur in solch einem Moment so ruhig bleiben, nicht zu fassen, das ist fast unverschämt …! Ich gab ihr zur Antwort, daß ich ihn aufrichtig liebte, daß ich wüßte, wozu er fähig sei. Sie erwiderte, das sei gemein, und zuckte mit den Schultern. Die Ärmste, hätte ich ihr offen mein Herz ausgeschüttet, sie hätte eine Gänsehaut bekommen, daß sie Reißaus genommen hätte, die Hände auf beide Ohren gepreßt.

Um auf andere Gedanken zu kommen, versuchten sie sich zu entscheiden, wohin sie anschließend fahren sollten (wenn das Desaster perfekt war …?!), und sie falteten Karten auseinander und beugten sich darüber, Schulter an Schulter, wie ein Häuflein halb erfrorener Schiffbrüchiger. Ich wußte nicht, ob das in der Familie lag, diese Lust, sich der Öffentlichkeit zum Fraß vorzuwerfen, jedenfalls schien es uns beiden nicht zu gelingen. Ich fand es noch gut, daß er imstande war, sich frühmorgens auf ein Fahrrad zu schwingen, hatte ich doch meinerseits eine solche Angst gehabt, daß ich nicht hatte aufstehen können, so schwach fühlte ich mich.

Eines Abends knöpfte ich mir zusammen mit Gladys die Einladungskarten vor – eine Aufgabe, die ihr auf ihre Bitte hin übertragen worden war, deren Ausmaß sie jedoch einigermaßen unvorbereitet getroffen hatte –, wir setzten uns an den Tisch, und ich holte seufzend meine Brille hervor.

- Hör mal, niemand zwingt dich dazu.

- Sei nett zu mir, antwortete ich ihr. Da stehen so viele Namen auf der Liste, daß du mir die Füße küssen solltest.

Hermann und Richard waren nach dem Essen wieder ins Theater gefahren. Dem letzten Gerücht zufolge würde nichts rechtzeitig fertig sein, aber verflixt hin, verflixt her, sie waren wieder losgerauscht. Elsie war noch nicht zurück, sie war zu irgendeinem ihrer Dinners in der Stadt, und ich hatte einen Zettel vorgefunden, auf dem sie mir erklärte, der Kerl sei hellrosa und schmerbäuchig, selbst auf einer einsamen Insel etc. So daß wir allein waren, Gladys und ich, nur mit diesem Packen auf dem Schoß.

Eigentlich hatte ich es mir bequem gemacht, um Musik zu hören, aber nach der Hälfte des ersten Satzes (Andante comodo) hatte ich sie stöhnen hören, und nachdem ich sie eine Weile beobachtet hatte, beschloß ich, ihr zu Hilfe zu eilen. Es ist gar nicht so einfach, einen Moment im Leben zu finden, in dem man ungestört Mahlers Neunte hören kann – und wenn doch, dann stach Karajan alle aus –, vor allem, wenn man grausam gehalten ist, sich vierzig Stunden in einem Büro reinzuziehen. Aber sie erregte Mitleid mit ihrem Berg von Umschlägen und all diesen Adressen, die sie abzuschreiben hatte, von den Briefmarken ganz zu schweigen. Ich hatte meinerseits leise gestöhnt, dann war ich aufgestanden und hatte ihr gesagt, ich mache mit.

- Dan, was meinst du, wie lange brauchen wir …?

- Länger, als du glaubst …! sagte ich erblassend, während ich einen der Umschläge untersuchte. Schade, daß das keine selbstklebenden sind …

Sie machte uns zwei Schalen Mu-Tee – den hatte sie im Haus eingeführt, ebenso die Getreideplätzchen und die Tamarisken, sie hatte eine eigene kleine Ecke in einem Küchenschrank, eine Kollektion von Fläschchen und Pillen –, und sie bestand darauf, daß ich ihn trank, solange er noch heiß war. Ich hatte nichts dagegen, wenn uns das Kräfte verlieh. Zudem fand ich nicht mehr wie am Anfang, daß der Trank nach Maggi schmeckte, allmählich gewöhnte ich mich daran.

Die Nacht war lau und sanft, eine Sommernacht mit dem Knistern der Insekten im Garten und dem fernen Geräusch der Automobile. Ich spürte das junge Blut, das in ihren Adern floß, den perfekten Mechanismus ihres Körpers, die straffe Elastizität ihrer Haut, und ich wurde von einer Rührung ergriffen, die jener gleicht, die einen beim Anblick einer Quelle befällt. Ich dachte an all die Hoffnungen, all die Wünsche, die in ihr waren, und ich erinnerte mich, wie einfach mir das Leben erschien, als ich in ihrem Alter war und angefangen hatte, mit unbesiegbarem Feuer meine ersten Erzählungen zu schreiben, und wie fern das alles war.

- Du, Dan, ich möchte so sehr, daß das klappt …! sagte sie und schob mir einen dicken Stoß Umschläge zu.

- Mmm, das werden wir bald wissen.

Sie verschränkte die Arme und starrte zum Fenster hinaus, während ich zu schaffen begann.

- Stimmt es, daß man etwas nur wirklich wollen muß, damit es eintrifft …?

- Puh, ich weiß nicht recht, was ich darauf antworten soll … Ja und nein.

- He, komm, ich möchte, daß du mir das sagst …!

- Meine Güte, du bist lustig …! Ich bin mir wirklich nicht sicher, weißt du … Vielleicht kommt man zuweilen in den Genuß eines Glückstreffers … Das heißt, was mich betrifft, ich habe mir gewisse Dinge im Leben gewünscht …

- Aber wirklich gewollt …?!

- Ja, sehnlichst, wenn dir das lieber ist. Und einige darunter -beruhig dich, die kann man an einer Hand abzählen –, wie dem auch sei, einige sind in Erfüllung gegangen, andere nicht. Es ist schwierig, eine Theorie darüber aufzustellen. Andererseits, um auf deine Frage zu antworten, ich glaube, das kann klappen, wenn man bereit ist, den Preis dafür zu zahlen … Ganz gleich, wie hoch er ist. Leider kann man da nie im voraus Bescheid wissen. Weißt du, so ungefähr ist es mir passiert, ich spreche von einer Erfahrung, die ich selbst gemacht habe. Glaub mir …. es ist besser, etwas nicht zu sehr zu wollen. Das heißt, wenn du nicht anders kannst, dann rate ich dir, nicht nur einen Wunsch zu haben und dich daran zu halten. Normalerweise müßte das funktionieren. Nur ist das gar nicht so einfach, und merk dir, es ist schon viel, wenn man ein halbes dutzendmal erhört wird … Du solltest gut auswählen, wenn du mich fragst. Aber vergiß nicht, daß es keinen gibt, von dem man sagen kann, das ist der Weg.

- Verflixt, ich hätte mir denken können, daß du alles durcheinanderbringst … Das ist doch schrecklich!

- Pah, weißt du … Es geht um den großen Irrtum meines Lebens, versetz dich in meine Lage. Ich gebe zu, daß ich auf diesem Gebiet schnell ins Schleudern gerate …

Bei diesen Worten schaute sie mich amüsiert an. Nichts ist feinfühliger als die Neugier eines Mädchens.

- Und was ist das …? Eine Art Geheimnis …? Ich lächelte sie meinerseits an, ich beruhigte sie:

- Nein, aber ein gutes Beispiel … Weißt du, das ist eines Tages über mich gekommen, als ich ein Buch ausgelesen habe, ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich war, aber sehr alt war ich noch nicht, ich trug noch kurze Hosen, und dieses Buch war Moby Dick. Das war nicht einmal die vollständige Ausgabe, stell dir vor, aber ich erinnere mich, ich habe mein Hemd aufgeknöpft und mit geschlossenen Augen das Buch an meiner Haut gerieben. An diesem Tag habe ich Schriftsteller werden wollen, und noch am gleichen Abend habe ich mein Gebet geändert in Allmächtiger Gott, ich bitte dich um nichts anderes, aber tu mir die Liebe und mach einen Schriftsteller aus mir, alles andere ist mir egal, aber mach einen Schriftsteller aus mir! Und ich habe wie besessen Moby Dick an meine Brust gepreßt, unter meiner Schlafanzugjacke, und verdammt nochmal, mein ganzes Bett hat angefangen zu zittern, das schwör ich dir …

- He, sag mal, das ist toll …!

- Na sicher, und von diesem Moment an habe ich an nichts anderes mehr gedacht, ich habe geduldig gewartet, bis meine Stunde schlug … Aber es verging kein Tag, an dem ich nicht über meinen Wunsch nachgedacht habe, an dem ich ihn nicht wie eine Wunderlampe gestreichelt habe. Und eines schönen Tages dann saß ich an einer Schreibmaschine, meine Bücher verkauften sich, und mein Name stand in der Zeitung, und ich habe gemerkt, daß ich halb verrückt wurde und daß Franck mich satt hatte und daß ich ein erbärmlicher Vater war. Da habe ich begriffen, daß ich einen schweren Fehler begangen hatte, weil ich mich nicht um den Preis geschert hatte. Dieser Preis war viel zu hoch für mich. Ich hatte bekommen, was ich wollte, aber plötzlich erschien mir das nicht mehr wichtig. Ganz davon zu schweigen, daß ich meine Inspiration verloren hatte, naja, aber das steht auf einem anderen Blatt … Ohne mich aus den Augen zu lassen, brachte sie eine kleine, rosige und spitze Zunge zum Vorschein und fuhr damit seelenruhig über den Rand eines Umschlags. Ich machte es ihr nach. Wenn wir in diesem Tempo weitermachten, würden wir noch in zwei Tagen daran sitzen.

- Pah, aber das ist Schnee von gestern …! fügte ich mit einem schmerzstillenden Lächeln hinzu. Das ist mir eine Lehre für das nächste Mal.

Wir beschlossen, uns ein wenig ins Zeug zu legen. Es war schon spät, und sie wollte fertig sein, wenn Hermann zurückkam. Sie machte sich wirklich Sorgen um ihn. Ihre Gefühle für Hermann spönnen ein seltsames Band zwischen ihr und mir. Ich betrachtete sie ohnehin mit besonderem Interesse, denn sie wußte Dinge über mich, die für mich unerreichbar waren, und dieses Geheimnis faszinierte mich. Ich hatte nicht sehr oft die Gelegenheit, mit ihr allein zu sein, aber es machte mir stets Vergnügen. Die Gesellschaft eines Mädchens von achtzehn Jahren, dazu noch der Freundin meines Sohnes, war mehr als genug, um mich zufriedenzustellen.

- Ah, ich hoffe, die kommen trotzdem nicht zu spät zurück, seufzte sie und fächerte sich Luft zu.

- Komm, mach dir keine Sorgen … Solange er arbeitet, denkt er wenigstens nicht an andere Dinge.

- Ah, da kennst du ihn schlecht … Er ist zu beidem fähig!

Ich starrte sie einen Augenblick über meine Brille hinweg an, dann machte ich mich wieder an meine Arbeit. Ich fragte mich, wie sie sich einbilden konnte, sie kenne ihn besser als ich.

- Verflixt, setzte sie von neuem an, ich hätte Lust anzurufen, um zu hören, wie es läuft …!

- Atme tief durch. Entspann dich. Mach deinen Kopf leer.

- Hör mal, mach dich nicht über mich lustig … Ich weiß nicht, wie du so ruhig bleiben kannst, ehrlich, du verblüffst mich!

- Schon gut. Ruf an, wenn du willst …

Sie rührte sich nicht, während ich weiter wirkte. Einen Moment lang befürchtete ich, sie wolle mich sitzenlassen und losziehen, um auf der Stelle nachzusehen, ob alles in Ordnung war, denn das juckte ihr unübersehbar in den Fingern.

- Nein, du hast recht, seufzte sie. Ich bin lächerlich. Aber einfach so sitzen, ohne etwas zu tun …

- Eben, du solltest dich wieder an die Arbeit machen. Es ist noch ein hübscher Batzen übrig …

- Brrr …! Das ist, als müßte man seine Richter einberufen … Ich räkelte mich lachend:

- He, biste immer noch nicht fertig …?!

Sie kritzelte ein paar Adressen. Dann warf sie erneut einen Blick auf ihre Uhr.

- Erzähl mir lieber von euren Ferien …. meinte ich, um sie schleunigst auf andere Gedanken zu bringen, ehe sie doch noch alles liegenließ.

- Mmm, wir haben uns noch nicht entschieden. Vincent hat ein Haus am Meer, vielleicht überläßt er es uns …

- Jessesmaria, was hat der eigentlich nicht, der Kerl …?!

- Bitte nicht … Es reicht schon, wenn Richard …! Also nein, was habt ihr gegen ihn …?!

- Langsam glaube ich, wenn ich ihn mit den Augen einer Frau sähe, würde ich meine Meinung ändern.

- Ich weiß, daß es zwischen Mama und dir nicht mehr stimmt, seit sie mit Vincent zusammen ist. Herrgott, Dan, was ist denn los …?

- Das ist ganz einfach. Deine Mutter braucht mich nicht mehr, und ich mag diesen Kerl nicht besonders. Das ist nicht weiter dramatisch. Sarah scheint glücklich zu sein. Ich mache mir eher um Richard Sorgen … Ich glaube nicht, daß es ihm Spaß macht, Dolbello im Haus zu haben.

- Übertreib nicht, er ist nur von Zeit zu Zeit da …

- Aber er wird immer mehr Platz beanspruchen … Ich weiß zwar, daß Richard Fortschritte gemacht hat, aber nicht so sehr, daß er akzeptiert, daß der erstbeste Typ den Platz seines Vaters einnimmt.

- Scheiße, ich doch auch nicht!

- Okay, aber das ist etwas anderes. Hör zu, er ist dein Bruder, du weißt, wie er ist, das brauche ich dir nicht zu erklären. Erinnere dich mal, wie das vorher war, denk an den Krach, den er mit Sarah hatte, wenn sie unseligerweise ausging …! Ich glaube, sie hat ihn schon genug durcheinandergebracht.

- Ich bitte dich … Erzähl mir nicht, daß man schwul wird, nur weil man Probleme mit seiner Mutter hat …!

- Das meinte ich nicht unbedingt.

- Also was, du weißt genau, daß ich Richard liebe … Aber großer Gott, er ist nicht allein auf der Welt, sie hat auch das Recht zu leben …!

Ich nickte bloß. Ich sah keinen Sinn darin, mich auf diesem Gebiet zu verstricken. Wortlos stand ich auf, um mir etwas zu trinken zu holen.

- Habe ich nicht recht …?! hakte sie nach und rutschte im Licht hin und her, während ich in den Schatten wechselte.

- Doch, bestimmt, beschwichtigte ich sie.

Kurz darauf, als Elsie zurückkam, waren wir mit unseren Einladungen so gut wie fertig. Ich hatte dermaßen viele Briefmarken und Umschläge beleckt, daß Elsie, als sie mich küßte, einen komischen Geschmack auf meinen Lippen feststellte. Sie klagte, sie sei müde und habe einen furchtbaren Abend mit dem besagten Typ verbracht, der nicht nur rosig und fett war, sondern obendrein nach Toilettenseife roch und keine Ahnung von Musik hatte.

- Und ich bin nicht mal sicher, ob er mich in seinem verdammten Radio bringt, ich glaube, er fand mich nicht nett genug …!

Sie wirkte richtig entmutigt. Sprach davon, alles hinzuwerfen. Also führte ich sie in den Garten, um ihr den Mond und die Sterne zu zeigen, dann schloß ich sie ein bißchen in meine Arme und raspelte ein wenig Süßholz.

 

Ich sah zu, daß ich an diesem Tag nicht zu spät aus dem Büro kam, ich stürmte in die brodelnde Nachmittagshitze und ließ den Schatten der Fondation hinter mir, der mehr denn je spürbar war und mich bis zur nächsten Ecke verfolgte. Ich hatte nicht erst seit diesem Tag genug davon, diese letzten sechs Monate lasteten schwerer auf mir als zehn Jahre meines Lebens, obwohl sich jeder zerrissen hatte, um mein Leid zu lindern, aber zur Zeit erschien mir dieser Bann unerträglich. Ich hatte gleich zu Beginn voll und ganz kapiert, daß mich dieser Ort nach und nach umbringen würde, und jeder Tag erbrachte den Beweis dafür. Dieser jedoch kostete mich eine Extraportion Blut und Wasser.

Leider hatte ich noch keinen Weg gefunden, mich all dem zu entziehen, und ich war nicht wie andere Leute, die auf alles eine Antwort haben und an meiner Stelle nicht dort versauert wären. Ich hatte vielmehr das Gefühl, auf einem Floß zu hängen, und mir war nicht danach, mich ins Meer zu stürzen, solange nicht das kleinste Stück Land in Sicht war, ich hatte nicht das Glück, mich ebenso schnell aus der Affäre ziehen zu können, wie ich mit den Fingern schnippte. Wahrscheinlich war ich alt und feige, nur waren da diese enormen Scherereien, die einem auflauerten, deren Kiefer einige Taulängen entfernt aufeinanderknallten und alles, was mir an Schwung blieb, in Schach hielten, und ich wußte nicht, ob sie auch andere abgeschreckt hätten, mir jedenfalls war angst und bange, wenn ich bisweilen an sie dachte. Es heißt, der verwundete Soldat zittert, wenn er das Schilfrohr pfeifen hört.

Das Haus war menschenleer, als ich ankam. Hermann und seine Bande mußten irgendwo in der Stadt hängen, vor Sorge vergehen, obschon er mir an diesem Morgen nicht gequälter vorgekommen war als in den letzten Tagen auch. Wir hatten verabredet, uns direkt im Theater zu treffen, ich hatte ihn fast in Hochform erlebt, als wir gemeinsam frühstückten, und obwohl wir über nichts geredet hatten, hatte ich so etwas wie die Möglichkeit gerochen, daß sich der Wind in den kommenden Stunden drehen konnte. Ich hoffte, ich hatte mich nicht getäuscht und alles würde gutgehen, während ich, eine Hand auf dem Geländer, über die Treppe in mein Schlafzimmer stiefelte. Marianne hatte mich den Tag über nicht zur Ruhe kommen lassen. Je mehr sie sich damit beschäftigte, Bücher herauszugeben, um so mehr füllte sich mein Büro, der Stapel mit den Manuskripten erreichte bereits den unteren Rand des Fensters. Bei dem Tempo, in dem sie hereinkamen, gab ich mir keine zwei Monate mehr, dann war ich vom Tageslicht abgeschnitten. Es sah so aus, als wollte mich die Literatur auf die eine oder andere Weise um die Ecke bringen.

Ich streckte mich auf meinem Bett aus, über eine Stunde blieb ich reglos liegen, die Augen aufgerissen, dann merkte ich, daß der Abend nahte, und ich stand auf und machte mich langsam ausgehbereit, dabei pfiff ich And the Band Played Waltzing Matilda. Ich fühlte mich weniger vergnügt, als wünschenswert gewesen wäre, um auch das zu sagen. Irgendwie fürchtete ich mich vor dem Abend, und das wegen dieser beiden Trottel, ihre Hoffnungen waren mir nahegegangen, und ihre Zweifel hatten sich so tief eingegraben, daß ich vor dem Spiegel nicht lächeln konnte. Wo immer sie in diesem Moment waren, ich verfluchte sie.

Ich entspannte mich erst, als Elsie eintraf und sich zurechtmachte, sie kleidete sich vor meinen Augen an und erzählte mir dabei von ihrem Tag, dem ich jedoch, nebenbei bemerkt, nur ein halbes Ohr widmete, da ich mich weitaus mehr auf ihre duftigen Dessous konzentrierte, kaum geneigt, mich ablenken zu lassen, wenn mir eine Frau das ungeheure Schauspiel ihrer Waschungen bot. Meines Erachtens hätte sie auf die Bühne steigen müssen, da hätte ich mir keine Sorgen machen müssen, keine Sekunde hätte ich gezweifelt, daß dröhnender Beifall den Saal erfüllen würde. Ich hielt still, damit wir nicht zu spät kamen. Ich schaffte es nicht, mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß Elsie mit mir zusammenlebte, ich hatte in der Tat den Eindruck, daß da irgendwo ein Irrtum vorlag und daß eines Tages jemand dahinterkommen und mich beim Allmächtigen anzeigen würde wie einen gemeinen Dieb, wie einen Schuft, der sich einen aus feinem Gold genähten Mantel angeeignet hat. Mir war bewußt, daß meine Stunden gezählt waren, aber es fiel mir schwer, dieses fürchterliche Ende allzeit präsent zu haben, ich tat so, als vergäße ich es, und stellte mir vor, ich ritte auf einem Wunder, woraufhin ich mich lächerlich und zutiefst niedergeschlagen fühlte, selbst wenn sie sich an mich schmiegte und fragte, was denn los sei, selbst wenn sie mir Sachen zuflüsterte, die einen vom Hocker hauten.

Ich sah sie an und versuchte mir all diese Bilder einzuprägen, ich mühte mich mit aller Kraft. Ich bedauerte es ungemein, daß ich mich dem nicht ausführlicher hingegeben hatte, als ich mit Franck zusammenlebte, nicht daß ich mir das versagt hätte, aber ich hatte mich wahrscheinlich nicht genügend darauf versteift, ich hatte sie nicht in dem Bewußtsein betrachtet, daß sie eines Tages nicht mehr da sei, und ich hatte Angst, daß ich den gleichen Fehler mit Elsie machte, daß ich mich mit einer Flut von verblassenden Bildern abquälen mußte, daß mir nichts mehr blieb, meine alten Tage zu erhellen, als ein Haufen flüchtiger Erinnerungen, löchrig wie ein Sieb.

Ich bestand darauf, daß wir noch ein Glas tranken, bevor wir aufbrachen. Ich wußte nicht, ob das Stück auf die Schnauze fallen würde, aber eines war sicher: ich würde mit dem schönsten Mädchen der Welt am Arm dort aufkreuzen. Darauf genehmigte ich mir gleich noch ein Glas. Dann stiegen wir auf das Motorrad, ich trat auf den Kickstarter und wir flatterten im letzten Licht der Abenddämmerung davon.

 

Die Eingangshalle der Fondation war schwarz vor Menschen. Ein Typ in einer Ecke, der damit beschäftigt war, seine Brille zu putzen, bemerkte Elsie nicht, aber allgemein schien man zu denken, der Exschriftsteller läßt sich nicht lumpen. Es handelte sich um ein hautenges Lame-Kleid, das so aufreizend war, daß wir einen Moment gezögert hatten, letztlich hatte es jedoch, in Anbetracht der Kürze des Lebens, meine Zustimmung gewonnen.

Je weiter wir vorrückten, um so häufiger entdeckte ich da und dort einen Unglücklichen, der sich die Augen ausguckte, oder eine verärgerte Frau. Die Menge schnurrte unter den brennenden Kronleuchtern und lauerte gelassen. Ich kannte jede Menge Leute. Ich vereinbarte Waffenstillstand für diesen Abend, als wir auf Vincent Dolbello stießen, obwohl er bei Elsies Anblick ungeheuer elegant pfiff. Die anderen waren auch da, aber ich stahl mich schleunigst davon und flitzte hinter die Kulissen, um mich ein wenig nach der Beschaffenheit des Terrains zu erkundigen.

Gladys eilte mir entgegen, als sie mich erblickte. Sie hängte sich bei mir ein, und während wir auf ihn zugingen, flüsterte sie mir ins Ohr, alles sei in Ordnung. Im ersten Moment kam er mir leichenblaß vor, aber das lag nur daran, daß er bereits geschminkt war.

- Verflixt, du siehst blendend aus …! sagte ich zu ihm. Er pflichtete mir mit nervösem Lächeln bei.

- Ich bin gekommen, um dir viel Glück zu wünschen, fügte ich hinzu. Ich hoffe, du bist nicht abergläubisch …

- Mmm, keine Bange …. murmelte er.

- Nein, hab ich nicht … Eines weiß ich, Hermann …: Wenn man nicht mehr zurück kann, genau dann kann man alles geben, dann ist man wirklich gut.

Ich zögerte eine Sekunde, ich überlegte, ob ich ihn an der Schulter fassen sollte, aber ich hielt mich lieber zurück, um ihn nicht vor all seinen Freunden zu umarmen, und schließlich legte er seine Hand auf meinen Arm.

- Wir sehen uns später …

- Okay, wir sehen uns später …. stammelte ich ihm dümmlich nach, ganz von der schrecklichen Anstrengung beansprucht, die es schlicht kostete, mich von ihm loszureißen.

Ich rannte davon, ganz plötzlich, die Finger tief in meinem Jackett versteckt. Im Schutz einer Ecke holte ich meinen Flachmann hervor – ein Geschenk, das ich mir zu guter Letzt selbst gemacht hatte, denn niemand hatte je daran gedacht – und gönnte mir erst einmal einen tüchtigen Schluck Bourbon, um wieder auf die Beine zu kommen. Als ich die Flasche wieder senkte, erblickte ich Boris, den Autor des Stückes, er stand vor mir, beide Hände in den Taschen und mit einem angespannten Lächeln. Ich inspizierte die Umgebung und reichte ihm den Bourbon. Er stürzte sich darauf, ohne sich zu zieren.

- Ich kenn das …. sagte ich zu ihm. Das geht vorbei, wenn man aufhört zu schreiben. Mit zunehmendem Alter auch. Wenn du deine Arbeit wirklich beendet hast, dann scher dich nicht darum, was die Leute davon halten …

- Herrgott, das ist rein körperlich!

- Die meisten Schriftsteller sind leberkranke Angsthasen. Du solltest Nux Vomica 9 CH probieren. Ich hab damit gute Ergebnisse erzielt. Für die Nieren gibt es Kartoffelsaft. Wenn du dich einer Ohnmacht nahe fühlst, empfehle ich dir Soludor, du kannst bis zu vierzig Tropfen nehmen, wenn dir danach ist. Da ist Gold und Äther drin.

- Ich hab jedes deiner Bücher gelesen, sagte er.

- Gold hat eine beruhigende und wohltuende Wirkung, gab ich ihm zur Antwort.

Dann zog ich meinen Flachmann an Land und verzog mich schnellstens aus den Kulissen. Mir war nicht danach zumute, die Runde zu machen und jedes Mitglied der glorreichen Truppe aufzurichten. Mich selbst hatte in diesen Augenblicken nie jemand gestärkt.

Wieder bei den anderen, drückte ich ein paar Hände, während wir auf den Beginn des Stückes warteten. Elsie und Sarah quatschten miteinander, was mich ein wenig fuchste, zumal sie sich immer noch gut zu verstehen schienen. Ich richtete es so ein, daß wir nicht zusammensaßen, als man uns in den Saal einließ, ich wartete, bis sie Platz genommen hatten, und ging einige Reihen weiter.

- Du fragst mich, warum …? entgegnete ich Elsie mit düsterhämischem Kichern.

Wir gesellten uns zu Harold und Bernie. Ich geriet neben Harold, aber wenn ich die Wahl hatte zwischen ihm und Dolbello, zögerte ich keine Sekunde.

Während wir Platz nahmen, reckte Harold sein Kinn in Richtung der vorderen Ränge und fragte mich, wer der Typ sei, der Marianne zu ihrem Platz karre.

- Ihr Vater, sagte ich. Solltest du in den Genuß kommen, mit ihm zu reden, würde ich ihm nicht sagen, daß er seine Tochter karrt.

- Der hat doch schneeweiße Haare, du meinst wohl: ihr Großvater …?!

- Das liegt nicht am Alter … Die hat er, seit damals die Sache mit Marianne passiert ist. Als sie aus dem Krankenhaus kam, sah er so aus, ich weiß nicht, ob du dir die Szene so recht vorstellen kannst …

-Wie bitte …? Von heute auf morgen …?!

- Pssst …! antwortete ich, denn in diesem Moment wurde der Saal dunkel.

 

Der Vorhang enthüllte das Innere eines Chalets in den Bergen. Es handelte sich um die Geschichte eines jungen Kerls, der Probleme hatte mit seinem Vater, und den Vater, den bekam man nicht zu sehen, man hörte ihn nur hinter einer Tür reden oder poltern, und der junge Typ hatte von Anfang an ein Gewehr in der Hand, mit anderen Worten, es war zu sehen, daß es zwischen den beiden nicht so recht stimmte, und man fragte sich, ob sich die Sache einrenken werde. Während der ersten zehn Minuten hatte ich die Luft angehalten, aber inzwischen atmete ich normal, und ich hatte mich mit einem unerschütterlichen Lächeln, das Harold natürlich nicht entging, in meinem Sitz aufgerichtet.

- Großer Gott, findest du das lustig …?! hatte er geflüstert.

- Quatsch, ich tu nur so.

Ich hatte keine Hoffnung, daß ich ihn überzeugt hatte. Ich spürte, wie er neben mir wackelte und hin und her rutschte, ich hatte noch nie einen Typen gesehen, der so unruhig auf einem Stuhl saß, ich muß sagen, ich hatte mich fast daran gewöhnt. Außer ihm verhielt sich der ganze Saal ruhig und reglos. Ich wußte nicht, wie Boris das deutete, ob er sich immer noch Sorgen machte und sich mehr oder weniger in den Schatten drückte -

- Verdammich, mir schwant Übles, glauben Sie mir … –, aber man brauchte nur die Nase ein Stück in den Wind zu halten, um sicher zu sein, daß der Zauber seine Wirkung tat. Meine Hand ruhte auf Elsies Schenkel, wie ein alter Hund, der in der Sonne schläft. Ich fand dieses Gefühl der Erleichterung wieder, das ich einst hatte, wenn mir Paul verkündete, wir hätten die Hunderttausend übersprungen.

- Mensch, ich bin ganz platt …! setzte er von neuem an. – Hmm …

- Ah, guck ihn dir an! Nein, hör doch mal …!

Er hatte Glück, daß ich außergewöhnlich entspannt war. Um ihn seinerseits zu beruhigen, zog ich unauffällig meinen Flachmann aus der Tasche und steckte ihm ihn zwischen die Finger. Hermann schwor gerade, er werde seinen Vater umbringen, falls er sich unterstehen sollte, durch die Tür zu kommen, das war ein ziemlich ergreifender Moment für einen Normalsterblichen, ringsum saßen welche, die hielten den Atem an.

- He, was ist das denn …?! fragte er leise.

Ich wandte mich ihm eine Sekunde zu, ich erforschte sein Gesicht, dann nahm ich meine ursprüngliche Haltung wieder ein, ohne ein Wort zu sagen. Ich hörte, wie er den Verschluß abschraubte und an der Flasche schnüffelte.

- Ah, das ist Bourbon. Ich mag keinen Bourbon, das weißt du genau … Komm mir lieber mit einem guten …

- Ich komm dir mit gar nichts, ich hör nur zu.

-Ja, schon gut. Schweigen wir. Mann ist einfach großartig.

Er hatte recht. Ich zwang mich zu vergessen, daß ich sein Vater war, und fand ihn immer noch genausogut. Ich wollte, Franck hätte ihn sehen können – ich hatte fast den Eindruck, dieser Oberschenkel, den ich festhielt, war ihrer und wir hätten all diese Jahre einigermaßen hinter uns gebracht – , und vielleicht hätte ich dann einen unvergeßlichen Augenblick erlebt, vielleicht hätte ich das Gefühl gehabt, etwas vollbracht zu haben, und sei es nur, die beiden fast zwanzig Jahre meines Lebens begleitet zu haben. Aber kaum hatte ich mich diesem wunderbaren Traum überlassen, machte sich Harold wieder bemerkbar. Diesmal redete er nicht, dafür schüttelte er meinen Bourbon in Höhe seines Ohrs.

- Was ist denn jetzt schon wieder …? seufzte ich.

- He, man sollte meinen, da fehlt was …! stänkerte er.

Ich schloß aus seiner Dreistigkeit, daß sich eine gewisse Ruhe auf meinem Gesicht abzeichnete. Es bestand kein Zweifel, daß er beschlossen hatte, sich daran zu weiden. Fast hätte ich ihn angelächelt, aber ich fürchtete, das würde ihn nur anspornen. Wir hatten Glück, daß unser Murmeln noch niemand gestört hatte. Immerhin, das Stück war ziemlich ergreifend, das mußte man zugeben. Und wundervoll interpretiert.

- Es ist noch genug da …. flüsterte ich ihm zu. Versuch doch mal stillzuhalten, konzentrier dich darauf, was passiert …!

- Och, ich weiß, was passiert … Ich hab bei den Proben zugeguckt …!

- Sieh an … Trotzdem, das ist kein Grund …

- Der Schluß, wenn Mann sich eine Kugel in den Mund schießt, hat mir nicht so gefallen …

-Ja, darüber reden wir nachher …

Plötzlich, von einer bösen Vorahnung befallen, senkte ich den Blick auf meinen Flachmann, den er in der Hand drehte und wendete, ohne ihn wieder verstöpselt zu haben, aber ich kam nicht mehr dazu, ihn in Sicherheit zu bringen, denn im nächsten Augenblick war das besagte Objekt verschwunden.

- Hoppla …! machte er.

- Verdammt, was ist los?! erbleichte ich.

Als ich das entsetzliche Glucksen vernahm, hechtete ich nach vorne. Und mit mir dieser den Geburtszangen entrissene Hurensohn.

Unsere Köpfe prallten zusammen. Ein zwiefaches Stöhnen war die Folge dieser brutalen Vereinigung. Halb zerschmettert, halb verblüfft, richtete ich mich langsam wieder auf, eine Hand an der Stirn, und preßte mich in meinen Sitz. Ich war buchstäblich vor den Kopf geschlagen. Elsie fragte, was passiert sei, aber ich konnte nur mit meiner freien Hand abwinken, um ihr kundzutun, daß alles okay sei, daß einzig das Stück zähle und ich nur den einen Wunsch habe, daß man mich ein paar Minuten in Frieden ließ. Ein heftiger Schmerz zog sich von meiner Kopfhaut bis zu meinem Kinn. Das Lid des Auges, das der Einschlagstelle am nächsten war, zuckte immer noch.

Sobald ich dazu in der Lage war, beglückwünschte ich ihn. Es scherte mich wenig, daß er vorsichtig irgendein Taschentuch auf sein Gesicht drückte. Ich brauchte nur die Beule zu fühlen, die in meiner hohlen Hand pochte, um erst gar nicht auf den Gedanken zu kommen, ihn zu bedauern.

- Sehr gut. Bleib sitzen! sagte ich zu ihm, ehe ich mich bückte, um mir meinen Flachmann zu angeln. Halt dich da raus …!

Als ich die Flasche an Land zog, befand sich kein einziger Tropfen mehr darin – wenn Harold so etwas verzapft, kann man darauf wetten, daß der Flaschenhals nach unten zeigt –, aber ich freute mich trotzdem, daß er sie nicht zertrampelt hatte. Das Stärkste war, daß er es nicht geschafft hatte, mich zu ärgern, nicht richtig. Harold war nicht Manns genug, mir einen Abend wie diesen zu verderben. Weder Harold noch tutti quanti.

Alles hat auch sein Gutes. Immerhin hörte ich ihn bis zum Ende des Stückes nicht mehr, und er überließ mir seine Armlehne, ohne daß ich darum bat, er war vollauf damit beschäftigt, seinen Augenbrauenbogen unendlich behutsam zu betupfen. Ich für mein Teil ließ meine Beule lieber an der frischen Luft, auf daß Hermann sie mit seinen positiven Schwingungen bombardierte. Er hatte gerade seinen Vater mit einem Schuß durch die Tür verfehlt. Sie hatten sich noch ein paar Kleinigkeiten zu sagen. Es ist selten, daß ein Vater und ein Sohn ein Ende finden, wenn sie Lebensweisheiten austauschen.

Wir mußten warten, bis der Vorhang fiel und das Licht anging, um das ganze Ausmaß des Schadens zu ermessen. Während der Beifall prasselte, riskierte ich einen Blick auf Harolds Profil. Ich glaubte nicht, daß ich ihm jemals so spinnefeind sein konnte, ihm so etwas zu wünschen. Das sah aus wie eine allergische Reaktion auf ein mieses Medikament. Sein Auge war blau bis auf den Knochen, fürchterlich geschwollen und leuchtete geradezu gräßlich. Ich mußte ihn an einer besonders empfindlichen Stelle getroffen haben, an der sich nicht einmal eine Libelle hätte niederlassen können, ohne ein beginnendes Ödem zu verursachen. Ich klatschte, pfiff, stampfte sogar mit dem Fuß, während sie sich auf der ßühne verbeugten, aber parallel dazu überfegte ich, wo wir wohl Eiswürfel herbekommen konnten. Ich hatte ebenfalls welche nötig, denn meine Beule war zwar weniger spektakulär, aber gleichwohl nicht zu übersehen und brannte auf meiner mißhandelten Stirn.

Hermann wirkte erschöpft, aber seine Augen leuchteten, während die Gunst des Publikums auf ihn einprasselte.

- Ist das nicht gut, fühlt man sich nicht erhaben und wie von einer himmlischen Dusche erfrischt …?! Hermann, ich weiß, was du empfindest, denn ich habe auch daran gekostet, die Leute haben mir aufgelauert, um mich in ihre Arme zu schließen, Hermann, wie ich schon sagte, das ist das Beste und Schlimmste, was dir widerfahren kann, aber mach dir keine Gedanken. Zumindest nicht heute abend … Berausche dich an diesem süßen und geheimnisvollen Trank, mein Junge!

Meine Hände waren wie Bratäpfel, und der Absatz meines Stiefels ging fast flöten.

Anschließend, als wir uns langsam aufrappelten, mußten wir Elsie und Bernie wohl oder übel erklären, was passiert war. Das war gar nicht so unglaublich, wie sie zu meinen schienen, das war einfach nur die blödeste Sache, die man sich vorstellen konnte. Aber ich wollte mich darum kümmern, wir würden uns, wie vorgesehen, mit den anderen hinter den Kulissen treffen, das dauere nicht ewig und wir seien groß genug, allein zu Rande zu kommen, sie sollten den anderen Bescheid geben, wir kämen gleich.

Harold war nicht sonderlich scharf darauf, mir zu folgen. Ein Teil seiner guten Laune war nach dem Zwischenfall verflogen, und er schlurfte widerstrebend hinter mir her, als wir die Reihen in Richtung Ausgang hinaufstiegen. Anscheinend wollte er mit der Fürsorge vorliebnehmen, die ihm Bernie angedeihen ließ, der ihn hätschelte und ihm in dieser Prüfung Beistand leistete. Es gelang mir jedoch, ihn davon zu überzeugen, daß er nicht mehr wiederzuerkennen war und daß ich in erster Linie an ihn dachte, meine Güte, wenn er glaubte, das würde sich von selbst legen, das würde er schon sehen. Schließlich rang er sich durch. Nicht daß ich gesteigerten Wert darauf legte, daß er mitkam, aber es war erheblich einfacher.

- Schön, entweder finden wir eine Apotheke, oder wir gehn in eine Kneipe …. sagte ich zu ihm, als wir auf die Straße traten.

Die Nacht war mild, und die Zuschauer blieben auf dem Bürgersteig stehen und redeten miteinander. Da ich keine Lust hatte, ihnen zuzuhören, schleifte ich ihn, ohne seine Antwort abzuwarten, zu meiner Maschine, die ich an einer Laterne angekettet hatte, außerdem hatte er in der Sache keine besondere Meinung. Er wollte, daß ich langsam fuhr, da er damit keine Erfahrung habe, und gestand mir sein Unwissen, wie er sich in den Kurven zu verhalten habe.

- Pah, besser, du probierst gar nichts, antwortete ich ihm lächelnd. Du weißt, die anderen warten auf uns …!

Wir fuhren ins Durango. Wir setzten uns an die Theke, wo uns Enrique amüsiert musterte. Er glaubte zwar kein Wort von unserer Geschichte, bequemte sich aber dazu, uns einen Eimer Eiswürfel und zwei Gin-Tonic zu bringen. Während ich mich stärkte und einen raschen Blick in den Saal warf, bastelte sich Harold einen feuchten Umschlag und stöhnte vor Erleichterung auf. Ich für mein Teil war noch ein wenig verzaubert, ich dachte an Hermann, der jetzt bestimmt allerlei Angenehmes zu hören bekam und wer weiß wie strahlte. Ich war heilfroh, daß ich dem Gedränge entronnen war, ich wollte nicht mit den Ellbogen spielen, um ihm zu gratulieren, oder mich abseits halten und warten, bis er an mich dachte und sich auf meinen Blick hin einen Weg durch die Menge bahnte. Ich hätte mich also ohnehin verdrückt, aber wenn ich vermeiden konnte, daß mich jemand fragte, wo ich denn abgeblieben sei – und womöglich verdächtigte, ich sei absichtlich gefahren –, spielte ich gerne den Empfänger, mit anderen Worten, die Sache mit Harold kam wie gerufen.

Das Halbdunkel war angenehm. Das war zweifelsohne mein Glückstag, denn um die Jukebox scharte sich ein Schwärm junger Mädchen, und eine starrte mich keck an, als hätte sie einen bestimmten Hintergedanken.

- Als ich in deinem Alter war, machten mich die Frauen um die Fünfundvierzig halb wahnsinnig, ich glaubte nämlich, sie seien unerreichbar, erläuterte ich Harold. Sie waren wie ein verbotenes Königreich, im Ernst, kein einziges Mädchen übte eine solche Wirkung auf mich aus …

Ich ging meinem Gedanken nicht auf den Grund, denn das Thema schien ihn nicht zu interessieren. Wenn ich’s recht bedachte, tat es mir leid, daß ich nicht mit Bernie zusammengekracht war, denn wir beide hätten nach Herzenslust quatschen können, ich stellte mir vor, wie wir bei einem solchen Thema losgelegt hätten und fröhlich in ein lockeres Gespräch geglitten wären, als sausten wir durch eine verschneite, sonnige Landschaft, auf einem von Rentieren gezogenen Schlitten und mit ein paar dicken Pelzen über unseren Knien, ein heiteres Plaudern, begleitet vom Klang der Glöckchen. Harold taugte nicht für eine solche Übung, man hatte ständig den Eindruck, ihm sei die Zeit zu kostbar und es widerstrebe ihm, sie mit unnützem Palaver zu vertun. Aber was wußte er denn vom Leben, hatte er überhaupt eine Ahnung …?

Ich betrachtete ihn von meinem Hocker aus, als er sein Kataplasma mit einer Handvoll Eiswürfel nachlud. Sein Auge sah ein wenig besser aus, und er war stark damit beschäftigt, grimassenschneidend in den Spiegel zu gucken, den ihm Enrique zur Verfügung gestellt hatte, Que lästima, sso eine schöne Gessicht …! Ich fühlte mich vollkommen entspannt, ich verfolgte keinerlei böse Gedanken, als mir auf einmal der Gedanke kam, wir könnten in aller Ruhe über diese Dinge sprechen.

- Ich möchte dich etwas fragen, eröffnete ich ihm in freundlichem Ton. Wie stehst du zu Richard …?

Er zuckte auf seinem Hocker zusammen, aber ich beruhigte ihn.

- Keine Bange …. ich will keinen Streit anfangen. Ich möchte nur gern wissen, wie es ausschaut. Weißt du, ich kannte Richard schon, da war er keine zehn Jahre alt …

Er warf mir einen mißtrauischen Blick zu, aber ich blickte so entwaffnend drein und bemühte mich um ein so strahlendes Lächeln, daß er nach einer Weile auftaute.

- Puh, willst du das Thema wirklich anschneiden …?

- Nein, im Grunde interessiert mich vor allem deine Meinung. Lassen wir eure sexuellen Beziehungen beiseite, das stört mich weniger … Sag mir lieber, wie du Richards Zukunft siehst …

- He, Dan, Moment mal … Worauf willst du hinaus …?!

- Beruhig dich … Ich mach dir keinen Vorwurf. Du hast den Sinn meiner Frage nicht erfaßt, ich wollte schlicht wissen, ob j du glaubst, die Sache sei ernst oder nur eine vorübergehende Erfahrung …

-Wie bitte …?

- Also ehrlich, Harold, rede ich in Rätseln …?

- Verdammt, du bist lustig …!

- Komm, behaupte nicht, du wüßtest nicht, was ich meine …

- He, paß auf, das ist nicht so einfach … Richard ist dermaßen verschlossen … Glaub nicht, daß er mir mehr erzählt als dir oder sonstwem …!

- Ja, aber ich frag dich nicht, was er dir erzählt, ich frag dich, was für ein Gefühl du hast …!

- Mmm, ein ziemliches verschwommenes … Naja, ich weiß nicht, sagen wir so, das dürfte eher eine Erfahrung sein … ; Manchmal hatte ich den Eindruck, er hat sich Mühe gegeben …

Lächelnd unterbrach er sich und machte mich darauf aufmerksam, daß die ersten Takte eines Stücks von Elsie zu hören waren. Er hatte vollkommen recht. Das war eine angenehme Überraschung. Enrique zwinkerte mir vom anderen Ende her zu und erklärte mir, sie hätten die Scheibe seit einem Tag. Ich drehte mich um. Das Mädchen war mitsamt seinen Freundinnen verschwunden, aber ich blickte mich nicht nach ihm um, in dem Lied hieß es: Ich hoffe, du verblüffst mich noch oft, ich hoffe, du bist die Mühe wert …. das war nicht der rechte Augenblick, schwach zu werden, ich bekam Angst, der Titel könnte ein echter Hit werden und einen in jeden Winkel der Stadt verfolgen.

Soweit war ich mit meinen Überlegungen gediehen, als ich einen Typen sah, der aus dem hinteren Teil des Saals antanzte und sich entschlossen vor der Jukebox aufbaute. Es war Marc, und ich glaubte, ich würde Zeuge einer schmerzlichen Szene, ein Kerl, der sich über eine Art Grab beugt und mit gesenktem Haupt der Zeit nachhängt, da Elsies Stimme in seinen Ohren gurrte. Stattdessen überkam ihn eine recht unsanfte Erinnerung, er packte den Apparat mit beiden Händen, um ihn brutal zu schütteln. Es ertönte ein fürchterliches Knistern. Ich erzitterte bis in die Zehenspitzen. Du mein Held, mein Schatz, mein Diamant – ihre letzten Worte, bevor er sie meuchelte –, mein Liebster, mein Schuft …

Ich hüpfte im gleichen Moment von meinem Hocker. Harold versuchte mich zurückzuhalten, aber ich bedeutete ihm, sich da rauszuhalten. Ich holte Marc ein, als er sich einen Weg durch die Tische bahnte. Ich klopfte ihm auf die Schulter. Als er sich umdrehte, verpaßte ich ihm eine schwere Gerade in den Magen, etwas Feines.

- Ich glaub, wir sind keine Freunde mehr, sagte ich zu ihm, während er zusammensackte. Enrique kam herbeigestürmt. Marc zappelte wie ein Fisch, der frisch geangelt in den Bauch eines Kahns geworfen wird.

- Enrique, würdest du mir bitte Kleingeld geben …?

 

Auf dem Rückweg ließ ich Harold schwören, daß er Elsie kein Sterbenswörtchen von dem Vorfall erzählte. An einer Ampel fragte er mich, ob ich das öfters hätte, und als ich darüber nachdachte, fand ich meine gute Laune wieder.

Das Gratulieren hatte noch kein Ende, als wir uns wieder in die Kulissen eingliederten, aber dem größten Gedränge waren wir wahrscheinlich entkommen, so daß es mir möglich war, Hermann ohne allzugroße Schwierigkeiten zu erreichen. Natürlich war er nicht mehr der gleiche, und während wir in Gesellschaft einiger anderer miteinander quatschten, sah ich ihn drei Schalen Champagner kippen, ohne daß er es selbst merkte, und seine Augen glühten, und seine Wangen waren rot wie Tomaten. In puncto Glückwunsch hatte ich mich mit einem gut plazierten Lächeln begnügt, dann war ich in der Menge untergetaucht und hatte meinem Nebenmann die Geschichte mit meiner Beule erzählt.

Paul klammerte sich eine ganze Weile an meine Schulter, er ließ sie nicht los, während wir von einer Gruppe zur nächsten drifteten, und schmatzte mir irgendwelche Erinnerungen an die gute alte Zeit ins Ohr, an die Vergangenheit, die in diesem Ambiente des Erfolgs sozusagen wieder auferstand, ob ich die Melodie der Loblieder wiedererkannte, hatte ich denn vergessen, welche Höhen wir erklommen hatten …?! Ich brachte es nicht übers Herz, ihm eine Abfuhr zu erteilen, ich wußte, was diese Zeit für ihn bedeutete, ich hatte nichts dagegen, wenn er von Zeit zu Zeit anfing zu faseln, am besten, wenn ich entspannt war. Obwohl er nie darüber sprach, spürte ich mitunter, daß ihn die Arbeit in der Fondation bedrückte. Fürwahr, wir saßen alle im gleichen Boot.

Leitern, Rollen, Scheinwerfer hingen über unseren Köpfen. Schwere Behänge wallten von der Decke herab und verbargen in ihren Falten die einzelnen Elemente der Bühnenausstattung. Das Stück war zu Ende, doch das Schauspiel ging weiter. Was verbarg sich hinter diesen lächelnden Gesichtern, was steckte hinter all dem, was war Wahres daran, welch tief vergrabenen Geheimnissen waren sie undurchdringliche Maske …? Als Schriftsteller hatte ich damit gewuchert, aber seither behielt ich meine Gedanken für mich. Das hieß nicht, daß ich jetzt mit anderen Augen sah. Es gab Momente, da begannen meine Ohren zu rauschen, das Stimmengewirr wurde leiser, bis es nur noch ein schwaches Murmeln war, und beklommen beobachtete ich die Leute, atemlos vor soviel Geheimnissen und irgendwie auch fasziniert ob der Komplexität der Dinge und ihres dumpfen, unterirdischen Grollens. Sämtliche Menschen, die mir nahestanden, waren heute abend versammelt, aber wie stand es wirklich damit …? Hätte ich behaupten können, ich kennte ihr wahres Gesicht, bestand überhaupt die geringste Aussicht, jemals dorthin zu gelangen …?! Jedesmal, wenn man einen Schleier lüftete, verdichtete sich die Finsternis.

- Könnte es sein, daß du dich langweilst …? scherzte Marianne, während sie ihren Rollstuhl vor mir anhielt.

- Das ist die Rührung, meinte ich. Vergiß nicht, ich bin sein Vater, und schon deshalb fällt ein Teil seines Erfolgs auf mich zurück …

- Ich glaube, einige Leute waren beeindruckt … Und ich ganz besonders, weißt du …

- Mmm, schade, daß ich nur einen Sohn habe, wer weiß, was du dann erst erlebt hättest …!

Eines konnte sie jedoch mittlerweile erleben – falls sie ihn, meinem Beispiel folgend, aus den Augenwinkeln beobachtete –: besagter Sohn hatte sich auf eine gefährliche Bahn begeben. Ich für mein Teil war kein großer Champagnerfan, und wenn ich gelegentlich welchen trank, dann leistete ich mir nur selten einen Nachschlag. So war ich auch erst bei meiner zweiten Schale angelangt, und Scherz beiseite, es war sehr gut möglich, daß das für diesen Abend meine letzte war, bei Hermann indes sah die Sache anders aus.

Boris war keinen Deut besser. Es kam mir vor, als könnte ich den beiden keinen einzigen Blick zuwerfen, ohne sie auf frischer Tat zu ertappen, Schulter an Schulter und einander auf Teufel komm raus zuprostend. Ich wußte nur zu gut, wie die Sache ausgehen würde, und ich fragte mich, wer sich um mein Motorrad kümmerte, falls ich gezwungen war, ihn nach Hause zu bringen.

Ich glaubte nicht, daß er noch lange durchhielt. Es war ziemlich heiß, und bei der Anspannung, die er hinter sich hatte, gab ich ihm keine Viertelstunde mehr.

- Ich glaube, Hermann hat ein wenig zuviel getrunken …. raunte mir Sarah zu.

Keine Ahnung, welches Wunder sie an meine Seite führte, was in sie gefahren war, mich ohne Not anzusprechen, aber es war so, und im Grunde war das noch schlimmer. Wenn ich eins befürchtet hatte, dann, daß sie unsere Beziehung zu banalisieren suchte. Und doch kam ich nicht um die Feststellung herum, daß wir bereits auf dem besten Wege dazu waren.

- Jaja, antwortete ich und schaute weg.

- Vielleicht solltest du ihm Einhalt gebieten …

- Nein, sagte ich.

- Oh, naja, immerhin geht dich das was an …

-Jaja.

- Du bist keiner, der sich große Mühe gibt, nicht wahr …?

- Nein.

Ich schloß einen Moment die Augen. Als ich sie wieder aufschlug, war sie nicht mehr da. Mühe …?! Was erhoffte sie sich eigentlich …? Daß ich sie beide auf eine Runde Bridge einlud …?! Daß wir uns zu viert bei einem niedlichen Abendessen niederließen, wo mich schon bei der Vorstellung Krämpfe befielen …?! Ich schüttelte mich heimlich. Als wäre mir ein eiskalter Wind ins Gesicht gefahren.

Als Gladys zu mir kam, war Hermann hinüber.

- Sehr gut. Gehn wir …! erklärte ich und stapfte ihr nach.

Er sagte, es gehe ihm bestens, aber er lag auf dem Boden und weigerte sich aufzustehen. Richard unterstützte mich bei dem Versuch, ihn aufzurichten … Immerhin wog er inzwischen einiges, und helfen tat er uns nicht die Bohne. Wir verdrückten uns hinter einen Vorhang und verschwanden auf kürzestem Weg durch das Theater. Gladys ging voran, und sie drehte sich um, um uns zu fragen, ob wir das lustig fänden, ihn in einem solchen Zustand zu erleben, und wenn man sie fragte, sei nur dieser Boris daran schuld, der ende sowieso mal als Säufer. Hermann gluckste nur und ließ die Beine hängen. Ich wußte nicht, ob das sein erster Vollrausch war, jedenfalls war er ihm hervorragend gelungen. Als mein erstes Buch erschien, hatte ich es immerhin geschafft, allein nach Hause zu kommen.

Wir pferchten ihn in den Fiat. Bevor wir die Tür zuschlugen, schickte ich Gladys los, damit sie Elsie Bescheid gab, sie solle ihr sagen, sie könne noch bleiben, wenn sie wolle, ich sei leider gezwungen aufzubrechen. Ich zündete mir eine Zigarette an und starrte in die Nacht, während Richard darauf achtete, daß Hermann nicht auf den Bürgersteig kippte. Es war kein Mensch zu sehen, aber eine ganze Reihe von Reklameschildern harrte leuchtend der Morgendämmerung.

Ich schaute Richard an. Als er es merkte, stürzte ich mich ins kalte Wasser.

- Paß auf, Richard, erzähl mir keinen Stuß, ich will, daß du mir ehrlich Antwort gibst … Fühlst du dich imstande, mir mein Motorrad nach Hause zu bringen, ja oder nein …?

- Na sicher, kein Problem …!

- Herrgott, du sollst mir nicht irgendwas erzählen … Ich komm schon klar, wenn du nur den geringsten Zweifel hast … Weißt du, du brauchst mir nichts zu beweisen …

- Jaja, sei unbesorgt …. ich paß schon auf.

- Verdammt nochmal, Richard …! knurrte ich und reichte ihm die Schlüssel.

Elsie – in ihrem Kleid, ungelogen, eine schwarze Lilie, eine anthrazitfarbene Flamme – und Gladys tauchten in dem Moment auf, als Hermann vornüber kippte und mit dem Schädel gegen die Windschutzscheibe prallte. Sie nahmen wie bei einem Zaubertrick hinten in meiner Nuckelpinne Platz.

- Ruf mich ruhig an, wenn du dich nicht sicher fühlst …. schärfte ich ihm ein, ehe ich losfuhr. Ich bring dir den Fiat, und die Sache ist geritzt …!

 

Ich führte ihn direkt auf sein Zimmer, trug ihn beinahe, und das mit Gladys im Schlepptau, die über alles mögliche redete, während er mir die Ohren vollwimmerte. Ich legte ihn auf sein Bett und machte mich daran, ihn auszuziehen, aber sie kam mir ständig in die Quere. Ich sagte ihm, er solle mich rufen, wenn etwas nicht in Ordnung sei, es bringe nichts, wenn wir uns zu zweit genierten.

Ich trödelte unten ein wenig herum, während sich Elsie abschminkte. Ich hatte zu nichts Lust. Ich lauschte den Geräuschen im Haus und dachte an Hermann. In Wirklichkeit war keiner mehr beeindruckt als ich. Ich ging in die Küche und aß eine Aprikose über dem Spülstein. Es war nur noch eine Stunde bis Tagesanbruch, aber es war kein Licht zu sehen, von dem verdutzten Gesicht einiger Laternen abgesehen. Die Häuser zeichneten sich in der Dunkelheit ab, schwärzer als die Nacht, und nicht ein Fenster war erleuchtet. Ich dachte an nichts Bestimmtes; und wenn, war ich mir dessen nicht bewußt. Ich fühlte mich nicht müde, aber ich spürte, daß ich Ruhe brauchte. Wieder im Wohnzimmer, ließ ich mich in meinen Sessel fallen, und ich saß dort, die Beine übereinandergeschlagen und die Arme über den Lehnen und meine Lippen, die wie von selbst miteinander spielten.

Kurz darauf stieg ich nach oben, um zu sehen, was sich dort tat. Mittlerweile hatte Gladys das Badezimmer besetzt. Ich nutzte die Gelegenheit, um einen Blick in Hermanns Zimmer zu werfen. Das Licht war aus, ich sah nichts, aber ich hörte ihn atmen und sich bewegen.

- Merke dir eins …. murmelte ich, während ich sachte die Tür schloß. Je mehr Siege du in dieser Welt davonträgst, um so mehr wirst du besiegt. Henry Miller. Nexus.