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In weniger als einem Jahr kam die Marianne-Bergen-Stiftung auf die Beine. Ich habe widerstanden. Monatelang rutschte Paul vor mir auf den Knien, aber solange er mir Arbeit besorgte, konnte ich ihn zappeln lassen, ich hörte nur noch mein lieber Dan hier, du störrischer Esel da, du hast es nicht anders gewollt, du verdammter Idiot. Ich lachte ihnen ins Gesicht, allen, die da kamen, und geleitete sie höflich zur Tür, dankte ihnen gleichwohl, daß sie an mich gedacht hatten.
Ich wußte nicht genau, was ihnen Paul über mich erzählt hatte, aber sie tauchten stets in Grüppchen bei mir auf oder drängten sich um meinen Tisch, wenn ich auf einen Schluck im Durango eingekehrt war, und dann war es aus damit, Musik zu hören, aus damit, etwas anderes zu bereden als diese verfluchte Stiftung, und das in einem Maße, daß mich Elsie nach einer Weile sitzenließ und sich in eine ruhigere Ecke verzog und mich mit Blicken tötete. Ich würde nie so weit gehen, zu behaupten, daß es mir vollkommen mißfiel, soviel Interesse zu erwecken, im Gegenteil, ich hatte kein reines Herz, und so genoß ich es von Zeit zu Zeit, das erinnerte mich an die Zeit, wo meine Bücher weggingen wie Toilettenseife und unbekannte Verehrerinnen Pullover für mich strickten, die mir bis zu den Knien reichten.
- No sea pendejo …. flüsterte mir Enrique zu. Auch er war der Meinung, ich müßte einwilligen. Alle waren sich einig. Aber ich hielt stand.
- Ja, Herrgott nochmal …! japste Paul. Wem willst du eigentlich weismachen, daß es dir Spaß macht, diese mickrigen, beschissenen Drehbücher zu schreiben und dich in dieser Art von Literatur zu suhlen …??!!
- Werd nicht ordinär, Paul.
- WAS IST IN DICH GEFAHREN …?! Versuchst du dich zu kasteien …? Dauert das noch lange?
- Klar. Demut lernt sich nicht von heute auf morgen.
- AH! Mach dich bitte nicht über mich lustig! Schon gut, sag mir wenigstens, was dir daran nicht gefällt …
- Puh, ich hab keine Lust … Das ist alles.
- Wie bitte, du hast keine Lust …?! Ja, träum ich denn …?! Wir geben Bücher raus, wir verteilen Stipendien, wir organisieren Ausstellungen, wir beherbergen Künstler, die aus allen Ecken der Welt anreisen, es wird Aufführungen geben, Begegnungen, Seminare …
- Mamma mia, mir dreht sich alles.
- Dan … Du brauchtest dich nur um das kümmern, was dich interessiert.
- Das einzige, was mich interessiert, ist mein Seelenfrieden.
Ich wollte mich mit diesem ganzen Zinnober nicht abgeben. In puncto Demut hatte ich die ganz große Klasse noch nicht erreicht, und ich konnte mir nur schwer vorstellen, daß ich mir den Kopf zerbrach, um die Bücher anderer Leute herauszugeben. Daß ich unfähig war, wieder in den Ring zu steigen, hieß noch lange nicht, daß ich als nächstes einen Trainerjob übernahm. Zudem, was wäre wohl, wenn ich diese jungen Künstler in meinem Büro empfing und tröpfchenweise, nach Lust und Laune, einige dieser erbärmlichen Stipendien verteilte, um die sie mich in aller Bescheidenheit ersuchten? Wo bliebe auch nur der Anschein von Gerechtigkeit, wenn ein Mädchen in schwarzen Strümpfen, um nicht zu sagen, ohne Höschen, in der Lage wäre, mir zwei auf einmal abzuluchsen …?
Es war ratsam, daß ich mich von all dem fernhielt, das war besser für alle Beteiligten.
Was mich nicht daran hinderte, regelmäßig vorbeizugehen, um zu gucken, was sich da zusammenbraute, um einen Hauch vom Geist der Zeit mitzukriegen und nebenbei ein paar Freikarten einzustreichen, wenn mir eine Aufführung zupaß kam. Mit einer besonderen Vorliebe fürs Theater, seit Hermann damit angefangen hatte, eine Sache, die er offenbar sehr ernst nahm.
- Und …? Wie kommt er zurecht? fragte mich Andrea.
- Bestens! Morgens übt er ganze Serien von Grimassen vor dem Spiegel. Mit Kieselsteinen im Mund habe ich ihn allerdings noch nicht gesehn …
- Ah, ich bewundere ihn! Ich bin überzeugt, er hat Talent …!
- Soso. Das muß er von seiner Mutter haben.
- Und Sie, Dan …? Immer noch unentschlossen …?
Es war Usus in der Stiftung, mich jedesmal zu fragen, ob ich meine Meinung noch nicht geändert hätte, als sei das bloß eine Frage der Zeit, als müßte ich ihnen über kurz oder lang wie eine überreife Frucht in den Schoß fallen. Anscheinend war Marianne entschlossen, uns alle beieinander zu haben, woraus sie überdies kein Hehl machte, sie behauptete, die Stiftung sei eine große Familie, und das sei der Grund, weshalb alles so gut klappte.
Nach Paul und Andrea war Max als nächster in ihr Lager übergewechselt. Naja, man muß zugeben, im Grunde hatte er keine Wahl. Als Gladys’ Team zum drittenmal nacheinander im Finale Prügel bezog, hatte man ihn schleunigst in die Wüste geschickt, man wollte nichts mehr davon hören, und die angewiderte Miene, mit der ihn der stellvertretende Bürgermeister bedacht hatte, davon hatte er sich nicht erholt.
- Auf mir liegt ein Fluch, Dan. So ein Pech hat noch keiner gehabt. Ich tauge höchstens noch dazu, durch die Bude zu tigern und zu beten, daß man mich vergißt.
Vormittags fuhr ich bei ihm vorbei, um ihn aufzurütteln, damit er mit mir eine Runde lief, aber er knurrte bloß, er frage sich, was er davon habe, aufzustehen, ob es etwas Sinnloseres gebe, als in seiner Situation in Form bleiben zu wollen. Ich sah schwarz für ihn. Eines Morgens jedoch fand ich ihn hellwach vor, er hatte sich in Schale geworfen und verkündete mir, man habe ihm einen Job bei der Stiftung angeboten.
- Eine Art Mädchen für alles, verriet er mir lächelnd. Wenn ich bedenke, daß man mich gefeuert hat, weil man meinte, ich taugte nichts mehr …!
Sarah war die nächste. Pauls Angebot war finanziell so attraktiv, daß sie keine Sekunde zögerte. Bei all den Aufführungen fand sich immer ein Gesicht, das zu schminken war.
- Um so mehr, fügte Paul hinzu, als wir eine Frau wie Sie brauchen können, die darauf achtet, daß in dieser Richtung ein wenig Ordnung herrscht, das vor allen Dingen.
Und Sarah machte ihre Sache großartig.
Paul sagte mir ein ums andere Mal, nur ich fehle noch. Gab es denn keine einzige Person, die sich nicht der gängigen Meinung anschloß und mir recht gab? Daß das Leben in erster Linie eine lange, einsame Reise und schier zum Verzweifeln ist, nun ja, das war nichts Neues.
Ich ahnte, worauf Marianne hinauswollte, doch nicht, um ihr die Stirn zu bieten, weigerte ich mich, der Stiftung beizutreten. Sie hatte ihre Gründe und ich die meinen. Wir sahen uns regelmäßig, es kam sogar vor, daß ich sie in ihrem Rollstuhl schob, wenn wir uns in der Eingangshalle begegneten oder in den gleichen Flur einbogen, aber es ereignete sich nichts Neues zwischen uns, unsere Beziehungen waren total eingefroren, und wir hatten uns nichts zu sagen. Sie hatte nie wieder mit mir über ihr Drehbuch gesprochen. Ich hatte es nicht mehr angerührt, es war noch so, wie wir es bei unserer letzten Sitzung belassen hatten, und faulte nun seelenruhig in einer meiner Schubladen vor sich hin. Es störte mich nicht. Und wenn sie schon kein Wort darüber verlor, war es nicht mein Bier, mich damit zu beschäftigen.
Ich hatte andere Sorgen. Da war vor allem diese Geschichte mit Hermann und Gladys, die sich im Laufe der Monate immer, deutlicher abzeichnete und die durch Richards Gegenwart getrübt wurde. Im Gegensatz zu der weitverbreiteten Vorstellung, daß ein Vater einigen Stolz, zumindest einige Erleichterung verspürt, wenn sein Sohn flügge wird, fühlte ich überhaupt nichts. Ich wollte gar nicht wissen, was sie trieben, wenn sie sich in seinem Zimmer einschlössen, ich quetschte mich nicht hinter die Tür, ich stellte keine Fragen, ich erlaubte mir lediglich, das obere Stockwerk aufzusuchen, auch wenn sie sich dort befanden, das schien mir nun doch das mindeste.
Es hatte mich erheblich mehr berührt, als Hermann seinen ersten Zahn bekommen hatte oder als er zum erstenmal seinen Namen hatte schreiben können.
Weniger gefiel mir da schon, daß ich Richard ständig irgendwelche Märchen erzählen mußte, ebenso das unglückliche Gesicht, das er machte, wenn er bei uns vorbeikam und ich ihm antwortete, ich wisse nicht, wo Hermann sei, wo er doch, zusammen mit Gladys, genau über meiner Rübe steckte. Ich war mir nie ganz sicher, ob er wirklich nach Hermann fragte, obwohl sie die meiste Zeit zusammenhockten und man, je größer sie wurden, mehr und mehr hätte meinen können, einer halte es ohne den anderen nicht aus.
- Ich kann es ihm aber nicht erzählen …! erklärte mir Hermann. Sobald ich nur Gladys’ Namen erwähne, seh ich, wie sich sein Gesicht verfärbt, das ist kein Witz. Er guckt mich auf eine Weise an, daß ich mich frage, ob er mich überhaupt erkennt …!
- Paß auf … Weißt du, was passieren wird? Halt ihn nicht für einen Trottel, früher oder später wird er etwas merken, und dann fällt er ohne Vorwarnung über euch her. Merk dir, jedesmal, wenn du dich heimlich mit Gladys triffst, sinken eure Chancen, ungeschoren davonzukommen.
- Ja, aber was soll ich tun …?
- Ich weiß nicht … Ich hab das Gefühl, gar so viele Lösungen gibt es da nicht. Wenn du mich fragst, du hättest dir für den Anfang ruhig eine etwas weniger komplizierte Geschichte aussuchen können.
Letztlich beschränkte sich meine Rolle darauf, die Augen zu verschließen und mich um Richard zu kümmern, und besonders stolz war ich darauf nicht. Ich verspürte ein Unbehagen, für das ich bislang noch keine Muße gehabt hatte und das ich mir gern erspart hätte, aber noch war mir nicht eingefallen, wie ich anders hätte handeln können, dabei grübelte ich unentwegt darüber nach. Wenn ich mich auf meine eigene Erfahrung verließ oder mich objektiv umsah, konnte ich mich des sehr klaren Eindrucks nicht erwehren, daß die Dinge so etwas wie eine natürliche Neigung hatten, langsam zu verfallen, langsam im Chaos zu versinken. Und im Innersten meiner finstersten Gedanken fand ich, daß wir diesen Weg einschlugen, und das nicht nur, Was die Episode Hermann-Gladys betraf. Das war eher ein Gesamtbild, gegen das schwer anzukämpfen war.
Davon abgesehen waren da die kleinen Scherereien des Alltags, die mich aufrüttelten, und obwohl wir von der Strömung eines breiten Flußes fortgetragen wurden, hörten wir nicht auf zu zappeln.
Sarah faßte mich an der Hand, und wir gingen nach oben in Richards Zimmer. Die Tür war abgeschlossen, aber sie zog einen Schlüssel aus der Tasche und machte mich darauf aufmerksam, im ganzen Haus funktioniere kein einziges Schloß, er aber habe es geschafft, seines wieder in Ordnung zu bringen.
- Guck dir das an …! meinte sie zu mir. Es kommt mir vor, als hätte ich einem Fremden ein Zimmer vermietet.
- Mmm … Wehe, er merkt, daß du einen Schlüssel hast …
- Na, ich werd ihm schon klarmachen, warum ich einen hab …
Ich kannte Richards Zimmer. Es unterschied sich nicht wesentlich von Hermanns Bude, höchstens der Geruch war anders, nichts weiter als ein ganz normales Jungenzimmer, die persönliche Note war noch unterentwickelt. Sarah zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine Schuhschachtel. Wir setzten uns auf das Bett.
- Ich hab in meinem Leben schon angenehmere Dinge gefunden …. seufzte sie und hob den Deckel hoch.
Das wollte ich ihr gern glauben. Es handelte sich um einen Stoß Fotos, auf denen Mat Bartholomi zu sehen war, allein oder mit seinen Kindern, und auf einigen Bildern war eine Person entfernt worden, fein säuberlich mit der Schere ausgeschnitten.
- Dan, ich nehme an, ich brauche mich nicht zu wundern, nicht wahr …?
Mir war, als starrten uns die Mauern an.
- Vermutlich muß ich das mit vergnügtem Gesicht wegstecken und mir eintrichtern, daß ich nichts Besseres verdient habe …?! Nun ja, ich kann dir trotzdem sagen, da hat man schwer dran zu knabbern … Weißt du, ich hab schon noch das Gefühl, ich bin seine Mutter …
Auch für Sarah wußte ich keine Lösung. Ich begnügte mich damit, die Schachtel schweigend wieder zu schließen, und erhob mich, um sie an ihren Platz zurückzulegen.
Zum Glück war das ein wundervoller Tag, und wir hatten jede Arbeit. Jetzt war nicht der Augenblick, sich gehen zu lassen und mit den Zähnen zu knirschen, wir konnten den alten Fotos nicht viel Zeit widmen. Es war dermaßen heiß an diesem Spätnachmittag, daß selbst die Trauer einen beinahe zuckersüßen Geschmack hatte. Ich schloß sie eine Sekunde in meine Arme, bevor ich wieder hinunterging, ich sagte ihr, wir müßten uns beeilen.
Es ging darum, einen alten Kühlschrank aus der Garage zu holen. Sarah zufolge war er noch funktionstüchtig, aber im Laufe der Jahre hatte er sich in eine Art Rumpelschrank verwandelt, und mittlerweile war er gerammelt voll mit irgendwelchem Kram, so daß niemand mehr auf die Idee kam, ihn zu öffnen. Also hatte sich mit der Zeit ein ganzer Berg von Sachen vor seiner Tür aufgetürmt, Kisten, Kartons, Farbtöpfe, und ihn da rauszuholen war bestimmt alles andere als ein Klacks. Aber das war noch nicht alles. Das Ding gehörte darüber hinaus zu einem besonders fein ausgetüftelten Regalsystem, dessen wesentliches Element – um nicht zu sagen einziger Halt – er selbstverständlich war, und der ganze Klumpatsch rankte sich Schulter an Schulter bis zur Decke und grinste einen herausfordernd an. Ich trat zögerlich näher, ich blinzelte.
- Bist du sicher, daß du ihn wirklich loswerden willst …? Es ginge fixer, wenn wir ihm ‘nen gebrauchten kaufen würden …
- Nein, auf keinen Fall. Ich will schon seit langem ein wenig Ordnung in der Garage schaffen, und wenn ich’s jetzt nicht tu, dann nie.
Jedesmal, wenn ich mit einem Karton in den Armen auf den Bürgersteig trat, bemerkte ich, daß der Himmel die Farbe gewechselt hatte. Vom Zartrosa waren wir inzwischen zu einem ungemein leuchtenden Rotorange übergegangen, und ich hatte den Eindruck, vor der sperrangelweit offenen Tür eines Backofens vorbeizugehen, es war praktisch niemand mehr auf der Straße, zumindest niemand, der sich noch körperlich ertüchtigte. Man fragte sich glatt, ob die Nacht je kommen würde, ob es irgendeine Möglichkeit gab, das da auszulöschen.
Sarah hörte drinnen in der Garage nicht auf, Sachen auszusortieren. Ich war zusätzlich damit betraut, ihr die dicken Pakete, die Koffer, die unten aufgeplatzten Kartons und alles, was ihr zu schwer war, herunterzuholen, das ganze Zeug, das Mat in all den Jahren herbeigeschafft und abgestellt und gestapelt hatte, lauter Dinge, deren Nützlichkeit einer Frau entgehen mochte. Sie war fähig, sich mit einer Handbewegung einer Kiste voller Kugellager zu entledigen oder den Programmregler einer Waschmaschine über ihre Schulter fortzuwerfen. Versuchte ich sie daran zu hindern, meinte sie nur, ich solle mir keinen Zwang antun, ich brauchte alles nur mit nach Hause zu nehmen, sie jedenfalls wolle von diesem ganzen Kram nichts mehr wissen, der immer mal zu gebrauchen sei und nie wieder gebraucht würde, allein der Gedanke sei bedrückend. Manchmal hob ich die Sachen auf und drehte sie zwischen meinen Händen, dann ließ ich sie wieder fallen.
Schließlich war es uns gelungen, den Kühlschrank vollkommen freizulegen, und im Gedenken an all die Mühe, die er uns gekostet hatte, kippte ich ihn brutal um und leerte ihn auf den Boden und rüttelte ihn ordentlich durch.
- He, mach ihn nicht kaputt …! sorgte sich Sarah.
Das war nicht ihr Ernst, die Kiste war ein echtes Museumsstück. Wenn dieses Ding da noch am Leben war, würde es uns alle unter die Erde bringen, das war meine Meinung. Ich zog mir das T-Shirt aus der Hose, um mir das Gesicht abzuwischen, dann machte ich mich auf in die Küche, Bier holen.
Gerade schleppte ich meine letzte Kiste voll Schrott auf den Bürgersteig und stellte sie ordentlich zu den anderen, als ein Kleinbus, der mit Volldampf von der Straßenecke angeschossen kam, neben mir anhielt. Elsie stieg als erste aus, während der Typ am Steuer seine Sonnenbrille ins Handschuhfach räumte.
- Oh, Dan …! Ich hatte nicht erwartet, dich hier zu treffen …! verkündete sie mir mit einem solch strahlenden Lächeln, daß ich für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl hatte, sie trage zu dick auf. Sie küßte mich auf die Wange.
- Darf ich dir Marc vorstellen, meinen neuen Bassisten … Marc, das ist Dan …
Sie gab ein leises, dämliches Kichern von sich, was nur zu verständlich war.
Ich drückte die Hand des Bassisten, der überdies keinen schlechten Eindruck auf mich machte. Er wirkte wie einer, der sich recht wohl in seiner Haut fühlt, ein Typ um die dreißig, dunkelhaarig mit interessantem Blick.
- Ich glaub, wir sind ein bißchen spät dran, meinte er zu mir.
- Ach … Das macht nichts.
Sarah wischte ein letztes Mal mit dem Lappen über den Kühlschrank, sie wollte auf gar keinen Fall, daß sich jemand bei ihr bedankte, schließlich habe sie auf die Tour mehr Raum, und wenn ich recht verstand, hatte sie es nur ihnen zu verdanken, daß sie all diesen Platz gewonnen hatte, ich fand das großartig. Im übrigen war sie dermaßen entzückt, daß sie besagten Marc am Arm packte und mit dem Bescheid, es sei Zeit, einen Schluck zu trinken, ins Haus schleppte.
Ich nahm die Gelegenheit wahr, Elsie in eine Ecke zu zwängen und ihr voller Neugier einen Zungenschlag zu verpassen, indes - gebrach es mir an Schwung, waren meine Sinne nicht hinreichend geschärft, griff sie auf irgendwelche ungeahnten Reserven an Raffinesse zurück, um mich hinters Licht zu führen …? Wie dem auch sei, ich entdeckte nichts, was faul war, alles schien in bester Ordnung. Nun ja, ich mochte mich täuschen. Alles in allem machte mich dieser Kuß ratlos.
- Ich verlang ja nur, daß er Eiswürfel produziert, mehr nicht, sagte Marc, als wir reinkamen. Er hatte sich in dem Sessel breitgemacht, den ich sonst bevorzugte, aber das war nicht weiter schlimm, ich stützte mich mit den Ellbogen auf die Kante des Kamins. Es wurde Abend und die Temperatur ein wenig milder. Marc erklärte uns, er sei von einem langen Auslandsaufenthalt zurück und habe den Fehler begangen, seine Wohnung einem Freund zu überlassen.
- Das einzige, was er nicht mitgenommen hat, ist der Sicherungskasten! machte er uns lachend klar.
Die Mädchen fühlten mit ihm. Sie hatten nur noch Augen für ihn, aber ich war groß genug, das nachzuvollziehen. Niemand konnte leugnen, daß der Kerl Charme hatte.
Kurz darauf trafen die Kinder ein. Sie traten auf eine etwas merkwürdige Weise ins Haus, Hermann und Gladys vornweg, Schulter an Schulter, Richard hingegen versuchte sich, quasi in ihrem Windschatten, Richtung Treppe zu verdrücken, nachdem er ein kaum vernehmbares »‘n Abend zusammen« hervorgebracht hatte, was sonst nicht seine Art war, wenn ein Fremder im Haus war. Die beiden anderen rückten im gleichen Moment ins Wohnzimmer vor und beeilten sich, mit allen möglichen Faxen unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Doch Sarahs Blick hatte alles registriert.
- He, Richard, komm doch mal her …! rief sie ihm nach. Er erstarrte auf der Treppe.
- Hörst du, du sollst herkommen …
- Du bist geliefert! sagte ich.
Die beiden anderen blickten sich mit betrübter Miene an, während ein zartes Schweigen das Haus erfüllte. Richard senkte den Kopf. Dann entschloß er sich, in unsere Richtung zu schwenken.
- Herr im Himmel! Was ist das denn …?! rief Sarah aus.
- Naja, das ist eine kleine Katze …. sagte er und hob sie vorsichtig in Augenhöhe. Das heißt, ich glaube nicht, daß das eine Katze ist …
- Meine Güte, das sieht doch jeder, daß das ‘ne Katze ist …!
- Ich meine, es ist wahrscheinlich ein Kater.
- Gib mal her, sagte Marc. Das ist leicht festzustellen.
- Wir haben sie auf der Straße gefunden, erklärte Richard, während er die Treppe hinunterstieg. Sie ist uns den ganzen Weg gefolgt.
- Soso, ich hoffe, du hast nicht vor, sie hierzubehalten …
- Och, Mama …! meinte Gladys.
- O nein, kommt nicht in Frage.
- Er hat recht, das ist ein Kater.
- Ich kümmere mich um ihn, Mama. Gladys und ich, wir kümmern uns beide um ihn …
- Ja, ein paar Tage lang … Ich weiß, was danach kommt.
- Aber nein, ich verspreche es dir.
- Hör mal, mir wäre lieb, ihr würdet vorher mit mir darüber sprechen, wenn ihr auf solche Ideen kommt …! Findet ihr nicht, ich hab dabei auch ein Wörtchen mitzureden?
Die Katze sprang von Marcs Knien und rannte durch das Zimmer, doch Richard und Sarah ließen sich keine Sekunde aus den Augen.
- Glaubst du, die ist herrenlos? fragte Elsie.
- Puh, naja, ich kann nur sagen, sie stand mitten auf der Straße, anwortete Gladys. Und wir haben mit einer Frau in einem Garten gequatscht, und die hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehn, sie hatte noch nie was von ihr gehört …
- Na klar ist die herrenlos … Das sieht man doch, fügte Hermann hinzu.
- Bitte, ich möchte sie behalten …
Sarah schüttelte den Kopf, ohne die Augen von ihrem Sohn abzuwenden.
- Ich hatte die gleiche, als ich in New York war, meinte Marc. Sie war ganz genauso, pechschwarz, bloß ein wenig älter …
- Wir können sie doch nicht einfach wegschicken …! sorgte sich Gladys.
- Das Lustigste ist, sie ist uns einfach gefolgt, den ganzen Weg. Richard hat sie bloß hochgehoben, als sie vor dem Garten anfing zu miauen, oh, Scheiße, ihr hättet sie hören sollen …!
- Bei mir ist eine, die spaziert übers Dach und guckt zum Badezimmerfenster rein, erklärte Elsie.
Richard gab zuerst nach. Er schlug die Augen nieder und steckte die Hände in die Taschen, so daß sich sein Rücken rundete und sein Hals zwischen den beiden Schultern verschwand. Ich verstand nur zu gut, daß sich Sarah nicht mit einem Tier im Haus herumärgern wollte, trotzdem war ich überzeugt, daß sie einen Fehler machte, wahrscheinlich hatte sie das Für und Wider nicht abgewogen. Während die anderen mit ihren Geschichten weitermachten, drehte sich Richard wortlos um und ging los, die Katze einzufangen, die sich unter dem Tisch vergnügte. Eine Mischung aus Stille und Geräuschen erfüllte das Zimmer, wie ein Löffel voll Öl in einem Glas Wasser.
Sarah saß in einem Sessel, beide Arme der Länge nach auf den Lehnen, und sie klammerte sich fest, als wollte sie aufspringen. Vielleicht kämpfte sie auch gegen eine Kraft, die sie in die Polster drückte, oder dieser Sessel war dabei, sie zu verschlingen. Ihre Augen waren auf den Rücken ihres Sohnes gerichtet, man hätte meinen können, sie sitze einer Brillenschlange gegenüber.
Als Richard die Tür öffnete, stieß sie einen tiefen Seufzer aus, und eine ihrer Hände flog in die Luft.
- Na schön … Einverstanden, Richard … Du darfst sie behalten …
Später half ich Marc dabei, den Kühlschrank in den Kleinbus zu verladen. Ich stellte mich dabei so geschickt an, daß mir plötzlich ein Blitz in den Rücken fuhr. Herrgott! Ein Anflug von Panik schoß mir durch den Kopf. Ich richtete mich langsam wieder auf, sehr langsam, mit offenem Mund horchte ich in meinen Körper, regelrecht in Furcht und Schrecken bei dem Gedanken an den Dolchstoß, der nicht säumen würde, mich von einer Sekunde auf die andere an Ort und Stelle festzunageln, sollten sich meine Wirbel verklemmen.
- He, stimmt was nicht? erkundigte sich Marc.
Zum Glück schaffte ich es, in die Vertikale zu kommen, ohne daß die Hölle über mich hereinbrach. Ich war derart glücklich darüber, daß ich vor Vergnügen laut quiekte.
- Ich glaube, ich bin haarscharf einem Hexenschuß entgangen, anwortete ich ihm. Du bist noch zu jung, um zu verstehen, was das heißt.
Ich war dermaßen froh, noch einmal davongekommen zu sein, daß mir für den Rest des Abends nichts mehr etwas anhaben konnte. Meist müssen erst solche Sachen passieren, damit einem dieses absolute Wunder bewußt wird, dieses Wunder, einen völlig intakten Körper zu haben, nicht leiden zu müssen, laufen, springen, tanzen zu können, imstande zu sein, auf einen Baum zu klettern, seine Schnürsenkel zuzubinden, vor Vergnügen zu kreischen, wenn man einen Hügel hinunterstürmt. Daß Elsie neben ihm Platz nahm, während er den Zündschlüssel suchte, ließ mich kalt. Sie sah mich verärgert an, aber ich ging sogar so weit, ihr mit einem großartigen Lächeln um die Lippen freundlich die Tür zu schließen. Ich hatte Lust, ihr zu sagen, es sei mir völlig schnurz, was in ihrem Kopf vorgehe, ich wolle es gar nicht wissen, so sehr war ich von dem unendlich sanften Gefühl erfüllt, am Leben zu sein. Kein Wässerchen konnte in diesem Augenblick meine Freude trüben, einen strahlenden Körper mein eigen zu nennen.
Ich wußte nicht, ob die Luft so mild war oder ich. Ich wartete eine Weile auf dem Bürgersteig, nachdem die Lichter des Busses um die Straßenecke verschwunden waren, ich spürte, daß sich eine Flut von Bildern über meinen Kopf ergoß. Ich lächelte, als ich Richards Gesichtsausdruck wieder vor mir sah, wie er sich zu seiner Mutter umgedreht hatte, ich hob ein Kugellager auf und ließ es geschickt den ganzen Bürgersteig entlang flitzen. Wie ihm die kleine Katze aus den Händen gefallen war. Und Sarah, die den Schlüssel aus der Tasche genommen hatte und ihn ihm gereicht hatte:
- Hier, Richard … Ich nehme an, sie wird sich in allen Räumen des Hauses tummeln wollen …! Ich hörte das Lager über den Asphalt sausen, doch ich sah es nicht mehr. Ich sah ohnehin nicht viel, das war kein sehr hell erleuchtetes Viertel.
Ich schickte noch einige hinterher, um das Maß voll zu machen, dann raffte ich mich auf und ging ins Haus zurück. Es hatte nicht viel gefehlt, und ich wäre in eben diesem Moment ein armer Elender gewesen, vornübergebeugt, das Gesicht schmerzverzerrt und die Stirn bleich wie im Todeskampf, wem also hatte ich zu danken, wohin mußte ich mich wenden, auf daß ihm der gebührende Dank zuteil wurde, auf daß man mir die Füße reichte, die ich küssen mußte, denn alles hienieden war wunderbar.
Sarah war allein, als ich wieder im Wohnzimmer aufkreuzte.
Sie hatte sich nicht von ihrem Sessel gerührt, und sie wirkte ein wenig müde. Sie starrte ins Leere, während sie die Spangen zurechtrückte, die in ihren Haaren steckten.
- Du hast dich achtbar geschlagen, sagte ich ihr, nachdem ich mich über eine Armlehne des Sofas geschwungen hatte. Klar, wenn sie anfängt, in alle Ecken zu pissen … Aber das Risiko mußtest du eingehen.
- Hmm … Weißt du, ich verlang ja nicht wer weiß was von ihm … Auch wenn wir nicht einer Meinung sind, sollten wir doch einen Weg finden, daß wir miteinander reden, daß wir uns nicht vollkommen gleichgültig sind. Es ist schrecklich, sich einzugestehen, daß man es nicht einmal geschafft hat, von seinem eigenen Sohn geliebt zu werden.
- Tja, das ist gar nicht so einfach, meine Liebe. Ein Erwachsener hat immer etwas Verachtenswertes an sich, und meistens kriegen sie es mit der Zeit heraus. Das bringt uns in eine heikle Lage.
Über uns hörten wir sie rumoren und reden, ohne jedoch zu wissen, was genau los war.
Die Katze wurde Gandalf getauft, und ihr Einzug in das Haus der Bartholomis bewirkte eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Mutter und Sohn. Es bestand sicher kein Anlaß, in lauten Jubel auszubrechen, aber wenn man bedenkt, meinte Sarah zu mir, daß er mir neuerdings guten Morgen wünscht, wenn er aufsteht, naja, glaub mir, das ändert alles für mich, selbst wenn er für den Rest des Tages keinen Ton mehr sagt. Es verstand sich, daß ich den feinen Unterschied haargenau erfaßte. Hätte sie mir nichts davon erzählt, eine gewisse Mäßigung in Richards Betragen wäre mir trotz allem aufgefallen, und das war der helle Wahn. Zum Beispiel konnte er Hermann und Gladys allein lassen, zumindest für ein paar Minuten, und sich wieder zu ihnen gesellen, ohne wie ein Inquisitor dreinzuschauen. Hin und wieder gelang es ihm sogar, ein Lächeln aufzusetzen, an einem Gesprächsfetzen teilzunehmen oder drei Schritte neben einem her zu gehen. Das sah nach nichts aus, zumal er sich das Vergnügen, derart aufzublühen, keineswegs tagtäglich gönnte, aber wer ihn kannte, wer sich die Mühe machte, ihn zu beobachten und gewisse Kleinigkeiten zu registrieren, dem war klar, daß es sich um eine kleine Revolution handelte.
Sarah behauptete, inzwischen könne sie abends ausgehen, ohne daß er ihr einen dieser zornigen Blicke zuwarf oder irgendeine kränkende Bemerkung fallenließ, wenn sie gerade zur Tür hinaus ging.
- Naja, ich hab nicht den Eindruck, daß es ihm egal ist, weißt du, wir wollen es nicht übertreiben … Trotzdem, letztens, als er mich aufbrechen sah, hat er lediglich gefragt, ob ich daran gedacht hätte, Dosenfutter für seine Katze zu kaufen.
Seine Katze! Ah, daß man sich nur ja vorsah, sie nicht von den Polstern zu scheuchen, daß nur ja kein unvorsichtiger Schritt einen der Gefahr aussetzte, ihr auf den Schwanz zu treten! Keine Katze war je in so gute Hände gefallen. Er streichelte sie wieder und wieder, er küßte sie und herzte sie und spielte mit ihr, stundenlang, und dann nahm er sie mit in sein Heiabett, um ihr Märchen zu erzählen und seine kleinen Sorgen. Gladys fand, er werde noch total blöd mit seiner Katze, worauf ich ihr geantwortet hatte, wenn ich sie wäre, würde mich das eher kaltlassen, es sei denn, ihr wäre lieber, er kümmere sich wieder mehr um sie.
Sie verstand sehr gut, was ich meinte. Eines Morgens stürzte sie sich in Unkosten und stiftete Gandalf sein erstes Halsband. Wie es schien, ließ Richard seitdem, wenn er aus der Schule kam und die beiden allein im Wohnzimmer vorfand –
- Äh, weißt du, Hermann ist zum Glück da, um mir die Matheaufgaben zu erklären …! – ,
nur noch ein undeutliches Knurren vernehmen und begnügte sich damit, den Kopf zu schütteln, um anschließend in die Küche zu flitzen und sich eine Tüte Milch zu schnappen.
Ob er sich über die Art der Beziehungen, die Hermann und Gladys klammheimlich unterhielten, ganz im klaren war, wußte niemand zu sagen. Dabei ging das jetzt schon eine ganze Weile so, aber man mußte den beiden lassen, daß so gut wie nichts in ihrem Verhalten ihr kleines Geheimnis verriet. Keine Aussicht, sie engumschlungen in der Küche oder mit unter dem Tisch verhakten Füßen zu erwischen, keine Aussicht, sie dabei zu ertappen, daß sie zärtliche Blicke austauschten, sich in einer Ecke flüchtig berührten, das Essen stehenließen oder seufzten oder tuschelten oder die Hände rangen. Was nicht hieß, daß sie so taten, als ignorierten sie einander, im Gegenteil, sie lachten zusammen, amüsierten sich königlich, schmissen sich irgendwelches Zeug ins Gesicht und schnauzten sich auf die natürlichste Weise der Welt an, aber man spürte gar wohl, daß zwischen ihnen ein tiefes geheimes Einverständnis war, daß sie sich zumindest seit vielen Jahren kannten, wenn nicht gar gemeinsam aufgewachsen waren.
Mit der Zeit machte ich es mir zur Gewohnheit, vor die Tür zu gehen, wenn sie sich in unserem Haus trafen. Ich glaubte nicht, daß Richard noch eine ernsthafte Gefahr darstellte, und ich war es leid, ihn anzulügen, zumal ich ständig das Gefühl hatte, meine Stimme versage und die Wahrheit stehe mir im Gesicht geschrieben. Also düste ich auf ein Glas ins Durango und hörte mir eine Stunde lang den neusten Tratsch an, ehe ich mich wieder auf den Heimweg machte. Enrique informierte mich regelmäßig über die Liebesaffären, die sich querbeet in unseren Kreisen zutrugen, und es kam selten vor, daß er mir von einem Besuch zum ändern nicht irgendeinen neuen Klatsch unter die Nase zu reiben hatte.
- Ay Dios mio! lamentierte er. Ja, weißt du denn nicht, daß die beiden nicht mehr zusammen sind …?!!
Meistens wußte ich nicht so genau, von wem die Rede war, aber ich ließ mir kein Fitzchen entgehen, jedes noch so geringe Detail fand ich spannend.
-Amigo, zur Zeit zieht sie mit seinem besten Kumpel los, aber nur, um ihn eifersüchtig zu machen. Si hombre, das scheint aber nicht ganz zu klappen …
Es bereitete mir wahrlich Vergnügen, ihm zuzuhören. Seit Marc in der Gegend war, lief es nicht besonders mit Elsie und mir, aber dank Enrique hatte ich nicht die Absicht, mir sämtliche Haare auszuraufen. Geschichten wie meine hätte er mir drei Tage lang ohne Unterbrechung auftischen können. Ich kam mir ziemlich blöd vor.
In meiner Vorstellung bumste sie mal mit diesem, mal mit jenem, doch als ich ihr den Kern meiner Gedanken enthüllte, schwor sie, das stimme nicht, und schmollte einige Minuten lang. Als ich damals den Verdacht hatte, Franck betrüge mich, hatte ich zugesehen, daß ich mir schleunigst Gewißheit verschaffte, und wenn man sich Mühe gibt, ist das so schwer auch wieder nicht. Bei Elsie hingegen versuchte ich gar nicht, mehr zu erfahren. Vielleicht war ich mit der Zeit lahmer geworden, oder ich hatte ein wenig Weisheit erlangt. Ich beschränkte mich darauf, Enrique von Zeit zu Zeit ein wenig auszuquetschen, aber seine Antworten waren recht vage, und ich gab mich damit auch gern zufrieden. In jener Nacht, in der ich Franck und Abel im gleichen Bett erwischt hatte, da hatte ich Abel quer durch die Glastür geschmissen und alles demoliert, was mir in die Finger kam. Ich war weit davon entfernt, mich erneut in dieser Richtung zu betätigen.
Mehrere Tage lang haben wir uns gefragt, Hermann und ich, was wohl im Haus nebenan vorging. Man hörte Lärm, Türenschlagen, Möbelrücken, Nägel, die in die Wand geklopft wurden. Dann eines Morgens klingelte der Typ, um sich einen Vierkantschlüssel zu leihen, und teilte uns mit, er ziehe um. Ich hatte ihn so gut wie nie gesehen, und in all der Zeit, die wir Nachbarn waren, hatten wir höchstens drei Worte gewechselt, mehr auf keinen Fall. Meistens ging ich gerade hinaus, wenn er mit seinem Hund zurückkehrte.
- Hermann, alter Junge, ich hoffe, die vermieten das nicht irgendwem …! Was hieltest du von ein paar Studentinnen …?
Er fing an zu lachen, dann vergrub er seine Nase seelenruhig wieder in seiner Kaffeetasse. Offensichtlich war das seine geringste Sorge. Ich fragte mich, ob er sich ab und an auch umsah, ob er im Bilde war, daß es auf der Welt noch andere Mädchen gab.
Ich hatte mich mit Paul für den Vormittag verabredet. Ich setzte Hermann vor dem Gymnasium ab, dann rauschte ich in einem herbstlichen Licht zur Stiftung, ich nutzte die Pause vor einer roten Ampel, um mir Handschuhe anzuziehen.
Im Eingang stieß ich auf Max.
- Sehen wir den Dingen ins Gesicht, sagte ich zu ihm. Nach all der Zeit, die deine lymphatische Drainage nun schon dauert, ist mein Kreuz noch genauso anfällig wie früher. Beim ersten Kälteeinbruch bin ich wieder reif, das spür ich schon …!
- Meine Güte …! Du hast Knoten, das ganze Rückenmark entlang, was soll ich noch dazu sagen …?!
- Ach, Scheiße, soll ich dir mal was sagen … Ich glaub, ich hab kein Vertrauen mehr zu deinen Behandlungen. Wir sollten besser damit aufhören.
- Ach! Du hast doch keine Ahnung …!
In eben diesem Moment fuhr Marianne Bergens Wagen vor. Max’ Gesicht verkrampfte sich. Ohne zu zögern, packte er das Vehikel mit den Rollen und stürmte auf den Bürgersteig, während der Chauffeur die Beifahrertür öffnete. Max beugte sich in den Wagen, hob Marianne hoch und setzte sie in ihren Rollstuhl. Danach stellte er sich hinter sie, und nachdem er kurz mit einer Hand an seinen Gürtel gefaßt hatte, um zu prüfen, ob sein Hemd an Ort und Stelle war, schob er sie zum Eingang.
- Hallo, Dan …. meinte sie zu mir und winkte mir mit den Fingerspitzen zu, während ein kleiner Elektromotor sie gemächlich durch die Halle trieb.
- Ah! Herrgott nochmal! murmelte er. Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen. Ich krieg ‘ne Gänsehaut, wenn ich dieses Mädchen seh.
Ich gab keine Antwort, aber ich war nicht seiner Meinung, ich fand, Marianne war eher angenehm anzuschauen. Sie kleidete sich einfallsreich, schminkte sich dezent und hatte stets ein Lächeln um die Lippen. Daß sie ständig eine Sonnenbrille trug, wirkte für meinen Geschmack gar nicht einmal zu finster, zumal das obendrein in Mode war und ein Schuß Rätselhaftigkeit noch keinem geschadet hat. Ihre Gegenwart löste in mir keinerlei Unbehagen aus, sie redete, sie rührte sich auf ihrem Stuhl, und sie steckte überall ihre Nase rein, sie war stets emsig zugange, sie machte die Fenster auf und zu, und abgesehen von Max kannte ich niemanden, der nicht im Laufe der Zeit vergessen hatte, daß sie nicht mehr in der Lage war, auf ihren Beinen zu stehen. Und das in einem Maße, daß manche Neuankömmlinge sich zunächst gefragt hatten, ob die Sache mit dem Rollstuhl womöglich nur ein geschmackloser Auswuchs eines exzentrischen Geistes war.
Niemand vermochte zu sagen, was sie wirklich empfand, und wenngleich man sich darauf einigen konnte, daß sie nicht jeden Tag lachte – wer da behaupten wollte, er habe Marianne über ihr Los jammern hören, mußte schon böswillig sein.
- Setz dich …. sagte Paul zu mir. Eins solltest du trotz allem begreifen, vertraute er mir mit sanfter Stimme an. Diesmal geht es nicht um die Stiftung, es geht um dich, um deinen Job. Kannst du mir folgen …?
- Nur schwer.
- Natürlich … Also, ich werde versuchen, dir zu erklären, was los ist, denn ich möchte nicht, daß du dich der Vorstellung hingibst, es stünde alles zum besten.
Nach dieser Einleitung zog er eine der Schubladen seines Schreibtischs auf. Er holte ein Bündel zusammengehefteter Blätter hervor und schob es bedächtig vor mich hin. Dann blickte er melancholisch zum Fenster hinaus.
- Es gab eine Zeit, da war ich mitten in der Szene, fuhr er in müdem Tonfall fort. Du brauchtest bloß zur Tür reinzukommen und konntest dir von all den Projekten, die uns angeboten wurden, eines aussuchen, und weißt du, warum …? Weil ich damals wirklich mittendrin war, ich kannte weiß Gott jede Menge Leute, weiß Gott, wenn ich nur in die Stadt fuhr, um zu Abend zu essen, mit leeren Händen kam ich nie zurück …
Er faltete die Hände auf seinem Schreibtisch und beugte sich zu mir herüber, dabei schaute er mich zärtlich an. Zuweilen mußte er sich einbilden, ich sei sein Sohn. Dank ihm hatte ich mein erstes Buch publiziert, und es gab gewisse Dinge, die selbst ein Exschriftsteller wie ich nicht vergessen konnte.
- Dan … Du sollst wissen, diese Zeiten sind vorbei. Hörst du? Ich hab hier viel zuviel Arbeit, als daß ich meine Beziehungen zu all diesen Leuten aufrechterhalten könnte, ich hoffe, du verstehst das, und je mehr die Zeit vergeht, um so mehr Kontakte verliere ich, weißt du, die warten nicht auf mich, das kannst du mir glauben. Das sind Kreise, da kann man es sich nicht leisten, hinterdreinzuzockeln. Danny, da bist du schneller wieder draußen als du reinkommst, da kannst du Gift drauf nehmen …!
Er sagte mir nichts Neues. Meine Illusionen über die Welt im allgemeinen, die hatte ich samt und sonders schon lange verloren. Ich wußte, was den Schwächsten unter uns blühte, all denen, die nicht mitkamen. Darauf brauchten wir nicht näher einzugehen. Im übrigen war ich aus dem Alter heraus, mich mit Typen herumzuschlagen, die halb so alt waren wie ich und nur einen einzigen Gedanken im Kopf hatten. Nein, nicht dafür.
Ich gab keine Antwort. Ich überlegte, warum er mich so anglotzte.
- Weißt du, was das ist …? fragte er mich und faßte mit spitzen Fingern nach den Blättern, um sie mir wie einen Stoß Damenunterwäsche unter die Nase zu halten. Nein …? Nun denn … Das ist alles, was ich anzubieten habe, mehr gibt’s nicht, und ich hab auch seit vierzehn Tagen nichts Neues reinbekommen. Ich glaube, es geht darum, noch eine Folge an Ich folge dir bis ins Grab dranzuhängen, ich glaub, die haben keine Lust, den Kerl am Ende sterben zu lassen …
- Das dürfte schwierig sein …. antwortete ich, nachdem ich einige Sekunden überlegt hatte.
Paul schrumpfte auf seinem Stuhl zusammen und musterte mich durchdringend.
- Oh …! Und ob …! zischte er. Das ist ein Problem allerersten Ranges! Wie kriegt man eine dämliche Geschichte noch dämlicher hin, ich kann mir vorstellen, das ist bestimmt nicht einfach …
Er pfefferte die Blätter quer durch sein Büro. Ich blickte ihnen nach und dachte mir, das ist mein Job, der da davonfliegt. Er sprang auf und flitzte zum Fenster, um sich dort aufzubauen. Ich hatte bereits festgestellt, ein Typ, der in einem Büro lebt, wird magisch vom Tageslicht angezogen.
- Tja, kurz und gut … Ich glaub nicht, daß du mir vorwerfen kannst, ich hätte dich nicht früh genug darauf hingewiesen, seufzte er. Dan, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich betrübt, daß du dich auf diesem Weg derart sperrst, aber glaub mir, wenn ich könnte, ich würde dir weiterhin helfen, trotz allem, ich würde dich diese Dinger da bis ans Ende deiner Tage schreiben lassen. Jedenfalls, das Ganze ist ein heilloser Schlamassel.
Sie waren nur mehr eine ganz kleine Handvoll, die da dachten, ich hätte noch Talent, aber wenn einer wußte, daß sie im Irrtum waren, dann ich. Leider finden sich immer Leute, die alles besser wissen als man selbst und die einem das Leben schwer machen. War das denn so schwer vorstellbar, daß ein Typ mitten in seinen besten Jahren zu schreiben aufhörte, ohne daß er einen besonderen Grund dafür hatte? Würde man mich noch lange damit anöden? Durfte ich hoffen, mich eines Tages dieser stupiden Last entledigen zu können …?
Paul kehrte mir den Rücken zu. Da ich nichts zu sagen hatte, stand ich schließlich auf und ging zur Tür.
- Dan … Weißt du, daß du noch fünfundzwanzig, dreißig Jahre vor dir hast?
- Verdammt, das will ich hoffen.
- Nun denn, merk dir eins …
- Schieß los, hier zieht’s.
- Wenn du soweit bist, dich arbeitslos zu melden, dann bin ich da und warte auf dich.
Es war lange her, daß eine so dunkle Wolke über meinem Haupt geschwebt hatte. Das erinnerte mich an so manche Episode, an ganze Abschnitte meines Lebens, wo ich hatte lernen müssen, den Gürtel enger zu schnallen, aber mittlerweile blickte ich mit einer gewissen Melancholie auf das zurück, was John Fante den Wein der Jugend nennt.
Aus einer Distanz von gut zwanzig Jahren betrachtete ich amüsiert die Vielzahl von Jobs, die ich ausgeübt hatte, ehe ich zu schreiben begann. Ich glaube felsenfest, zu dieser Zeit strich der Wind der Freiheit über mein Leben. Sobald mir ein Chef mit der Hand über den Rücken fuhr und anbot, mein Gehalt aufzubessern, rannte ich Hals über Kopf davon, manchmal sogar in eine andere Stadt. Wenn ich diese Typen sah, die von der Schulbank hüpften, um sich im nächsten Augenblick mit einem Seufzer der Erleichterung in irgendeinem Laden einsperren zu lassen, brach mir der kalte Schweiß aus, und ich betete zum Himmel, daß mir das so spät wie möglich passieren möge.
Einen Moment lang versuchte ich mir vorzustellen, ob ich erneut als Kellner, Nachtwächter oder Hilfsdocker arbeiten könnte, und ich kam zu dem Schluß, daß mich nicht mehr der gleiche Mut wie einst beseelte und daß mich, der ich stramm auf die Vierzig und ein paar Zerquetschte zuging, eine solche Aussicht nicht verlocken konnte.
Auf dem Nachhauseweg machte ich eine Bestandsaufnahme dessen, was mir blieb. Ich hatte noch eine ganze Serie zu verfassen sowie einen Fernsehfilm und ein wenig Kleinkram, der meines großen Genies unwürdig war. Alles in allem, wenn in der Zwischenzeit nichts Neues dazukam, hatte ich also noch ein paar Monate zu tun, bevor ich am Rande des Abgrunds stand. Das war zum Glück weit genug entfernt, um mich daran zu hindern, gleich wie Espenlaub zu zittern. Ich kippte ein Glas und nahm mir fest vor, wachsam zu bleiben und mir all diese Fragen im Schütze meiner weiterhin schlaflosen Nächte durch den Kopf gehen zu lassen.
Ich beschloß, Hermann nichts davon zu erzählen. Ich wußte ohnehin nicht, was ihn, abgesehen von Gladys und seinen Theaterkursen, hätte bekümmern können. Mitunter war es an mir, ihn zu fragen, ob er Geld brauche. So wie ich ihn von Zeit zu Zeit losschicken mußte, damit er sich was kaufte, wenn Sarah mal wieder meinte, ich glaub, er braucht ein Paar Schuhe, du solltest ihm eine Hose kaufen, seine Jacke taugt nur noch für die Mülltonne … Ich geb zu, daß mir diese Dinge zuweilen überhaupt nicht auffielen, ich guckte nicht nach, was sich in seinem Schrank tat, und er half mir seinerseits auch nicht sonderlich. Wenn man ihn hörte, brauchte er nie etwas, oder aber er wußte nicht genau, was eigentlich.
- Ich hab ‘nen Horror vor neuen Klamotten …. sagte er zu mir. Ich fühl mich da drin nicht wohl.
Meine Aufgabe war alles andere als einfach. Ist ein Vater gehalten, regelmäßig den Zustand der Schuhsohlen seines Sohnes zu kontrollieren? Wie lange hatte ich gebraucht, um festzustellen, daß er mit zwei Paar Socken herumlief, hatte er mir nur ein Sterbenswörtchen gesagt …?
Wenn er sich feinmachen wollte, lieh er sich eins meiner Hemden, und damit war die Sache für ihn erledigt. Er brauchte sich bloß noch mit ein wenig Wasser übers Gesicht zu gehen und mit dem Kamm durch die Haare. Das hatte er allerdings, glaube ich, von mir, von seiner Mutter konnte er das nicht haben. Ich hatte eines Abends mit Gladys darüber gesprochen, ich hatte sie ein wenig zur Seite gezerrt und einen Ton angeschlagen, der klipp und klar war.
- Hör mal, du müßtest doch als erste mitbekommen, wenn mit seinen Klamotten etwas nicht stimmt, nicht wahr …? Nun ja, ich weiß nicht, du brauchtest mich bloß unauffällig zu warnen, bevor die Dinge ausarten, du weißt doch, auf ihn kann man sich da nicht verlassen, und ich, ich scharfe es nicht immer, nachzusehen, ob seine Sachen bereits völlig verschlissen sind … Du kennst ihn, ihn kratzt das nicht … Kurz und gut, ich brauche einen Beobachter, der immer in vorderster Front steht.
- Na schön, einverstanden. Wenn du willst. Aber weißt du, mich stört das nicht, ich finde, er sieht ganz gut aus …
- Soso … Das ist nicht das Problem. Versuch ihn mit anderen Augen zu sehen, bitte, tu mir den Gefallen … Ich muß gestehen, daß mir einige Kleinigkeiten vollkommen entgehen.
- Oh … Naja, dann kann das so schlimm auch nicht sein.
- Nein, das habe ich auch nicht behauptet … Ich sprech dich nur darauf an, weil ich das Gefühl hab, Frauen haben für so etwas einen Blick. Das heißt, wer weiß, vielleicht ist dir das ja ganz egal …
- Eh … Jetzt übertreibste aber, sehr nett …
Ich prostete ihr lächelnd zu und kippte meinen Martini-Gin zum Zeichen der Reue. Nichts zu machen, sie ließ den bösen Dan in seiner Ecke stehen und gesellte sich wieder zu den anderen.