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Ich wurde buchstäblich mit Komplimenten überschüttet und einhellig für meine Initiative gelobt, mit einer Gegenstimme, der von Harold, der an irgendeiner Kleinigkeit etwas auszusetzen fand, Harold, dieser armselige Nörgler. Mit anderen Worten, so gut wie alle fanden es vollkommen. So daß unsere Abende mit den Bartholomis – trotz aller Veranlassung, die Hermann und ich hatten, uns zu beklagen – ohne den geringsten Zwischenfall verliefen und wie verklärt, beinahe heiter wirkten.
Als der Tag kam, war ich dennoch froh, daß ihr Heizkessel wieder in funktionstüchtigem Zustand war, denn heikel war das Gleichgewicht, schmal und somit gefährlich der Pfad, auf dem wir wandelten, so funkelnd er uns erscheinen mochte. Ich für mein Teil hatte befürchtet, Sarah entfleuche uns ein zweites Mal. Glücklicherweise blieb mir das erspart.
- Aber wie lange noch …?! hatte ich mich unablässig gefragt. Bis morgen abend, vielleicht bis übermorgen …?!
Auf die Dauer war das nicht erträglich.
Danach kamen die Feiertage im Eiltempo näher, und Schnee gab es überhaupt keinen mehr. Dafür purzelten die Temperaturen grausam in den Keller. Jedesmal, wenn wir auf das Motorrad stiegen, dachte ich an den kleinen Fiat 500 meiner Träume, und Tränen der Rührung gefroren in meinen Augenwinkeln.
Wir sagten uns beide, so eine kleine Mühle wäre wundervoll. Wir lagen jedem damit in den Ohren, der es hören wollte.
Hermann war über unsere finanziellen Schwierigkeiten im Bilde, aber das war seine geringste Sorge. Wenn er Interesse heuchelte, wußte ich nur zu gut, daß er das einzig meinetwegen tat, weil er sah, daß ich aus diesem Anlaß bekümmert war, und so redete er mir sanft zu, er sei überzeugt, das werde sich regeln. Daß ich mir Vorwürfe machte, ihn mit dieser Sache zu behelligen, ist gelinde untertrieben. Ich hatte nicht den Eindruck, viel für die Entfaltung seiner Seele zu bewirken, wenn wir unseligerweise auf dieses leidige Thema zu sprechen kamen. Ich dachte an all die Dinge, die er noch zu entdecken hatte, an die ganze verrückte Schönheit dieser Welt, an die großen Geheimnisse, und ich, sein Vater, in welche Kloake schleifte ich ihn mit meinen schmutzigen Geschichten, mit welch ordinärer Nahrung versah ich ihn! Auch wenn er mir nur mit halbem Ohr zuhörte, ich fand, das war zu viel, und manchmal mußte ich mich zusammennehmen, ihn nicht anzuknurren:
- Hermann … Ich will nicht, daß du dich damit abgibst, hörst du …?!
Er war recht guter Dinge aufgrund eines Details, das mir während des letzten Abends, den wir mit den Bartholomis verbracht hatten, entgangen war. Anscheinend war sie während einer Runde Karten seine Partnerin gewesen.
- Und halt dich fest … Sie selbst hat es so gewollt!
Ich pflichtete ihm bei, daß die Sache von Bedeutung war, und ich freute mich, daß sich in dieser Richtung endlich ein Hoffnungsschimmer abzeichnete.
- Ich hab immer gesagt, daß sie dir schließlich verzeiht. Naja, ich geb zu, bisweilen muß dir die Zeit lang vorgekommen sein …
- Nein … Das macht nichts. Ich bin ihr nicht böse. Meine Güte, ich hab es schon fast vergessen.
Ich wußte nicht, ob da ein Zusammenhang bestand, jedenfalls frühstückte er morgens für zwei und wurde ein wenig gesprächiger. Wir hatten vereinbart, daß er während der Ferien ins Bett gehen und aufstehen konnte, wann es ihm paßte, und es machte den Eindruck, als wollte er das weidlich ausnutzen. Weiterhin von meiner Schlaflosigkeit verfolgt, traf ich ihn morgens gegen elf am Frühstückstisch an, und ich trank einen Kaffee mit ihm. Nur daß ich bereits lange vor Morgengrauen aufgestanden war. Ich fand, das unterteilte ganz angenehm den Vormittag.
Die Nächte brachen so schnell herein, daß der Tag wie eine kurze Aufhellung erschien. Es kam mir vor, als wäre ich auch in Ferien. Meine Kerzen flackerten vierundzwanzig Stunden am Tag, und es betrübte mich, wenn ich bedachte, daß der Moment kommen würde, wo ich sie ausmachen müßte, denn was würde dann aus der leichten Euphorie, die einen bei ihrem Anblick befiel? Mir war, als hielte ich mir sämtliche Scherereien vom Leib, solange ihr kleines Herz zuckte.
Das hinderte Elsie nicht daran, mich eines schönen Morgens anzurufen und als Hurensohn zu beschimpfen, bevor ich dazu kam, den Hörer aufzulegen. Aber das war nicht weiter schlimm. Ich hatte im Moment andere Sorgen. Und wenn ich auch von Natur aus nicht besonders nachtragend war, konnte ich doch den Keulenschlag nicht vergessen, den sie meinem Kopf verpaßt hatte. Hermann mochte sie, er fand, ich sei ziemlich hart zu ihr. Ich mochte sie auch, aber so einfach war die Sache nicht. Von Zeit zu Zeit passierte es mir, daß ich an die Lächerlichkeit meiner Liebesbeziehungen und meiner Amouren dachte. Im Grunde wollte nichts mehr so recht klappen, seit mich Franck verlassen hatte. Die Fakten waren nicht zu bestreiten. Es blieb einem nur, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und die Hoffnung auf das Eldorado fahren zu lassen.
Zum Glück zählten solch bittere Gedanken nicht zu meinen täglichen Gästen, sonst hätte ich gleich das Handtuch werfen können, und noch war ich so gespannt auf das Leben, daß ich einen ganzen Tag lang für nichts und wieder nichts lächeln konnte. Daß mir der totale Absturz erspart blieb, hatte ich Hermann zu verdanken, schlicht und einfach, weil er an meiner Seite war, ein Kinderspiel, das war der Grund, weshalb ich, acht Jahre nachdem sie mich hatte fallenlassen, noch auf den Beinen war, zwar bis zum Hals in der Scheiße, aber nur zu bereit, mich über die geringste Kleinigkeit zu freuen.
- Sanctuary! Sanctuary …!! hätte ich meinerseits brüllen können, so sehr schützte mich seine Gegenwart vor allem ändern. Ich fand, daß er viel zu wenig Ferien bekam an diesem Scheißgymnasium.
Wir schleppten uns einige Nachmittage in die Stadt, um die übliche Geschichte mit den Geschenken zu erledigen. Die Geschäfte platzten aus allen Nähten, und ich war ein wenig beruhigt, ich hatte das Gefühl, mein Bankier hätte Schwierigkeiten, mich in der Menschenmenge ausfindig zu machen, und meine lumpigen Schecks würden in der Lawine unerkannt durchgehen. Hermann zerbrach sich unterdessen den Kopf. Er wiederholte alle naslang, er dürfe sich nicht vertun, gewissermaßen hinge der Endsieg davon ab. Ich hoffte, daß er darüber nicht aus den Augen verlor, daß einzig die Geste zählte.
Heiligabend waren wir bei den Bartholomis zum Essen eingeladen. In der geistigen Verfassung, in der ich mich befand, war ich hocherfreut, daß andere das Heft in die Hand nahmen, ehrlich gesagt hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht. Es war nicht zu bestreiten, daß ich dieses Jahr stehend k.o. beendete und so gut wie unfähig, mich um irgend etwas zu kümmern. Allein der Gedanke an Gladys’ Geschenk war eine beschwerliche Last, die ich nicht länger als eine Minute ertrug. Überdies fragte er mich nicht um Rat, er begnügte sich damit, laut nachzudenken. Ich hatte seine Mutter in einem Maße geliebt, daß ich stricken gelernt hatte, um ihr heimlich einen dreifarbigen Pullover anzufertigen, und das zu einer Zeit, da ich ihr ganze Schränke voll hätte kaufen können. Ich kann mir vorstellen, daß so etwas die meisten vom Hocker haut, auch wenn die Ärmel ein wenig zu lang geraten waren. Ich war vielleicht kein besonders umgänglicher Typ, aber deswegen gleich alles hinzuschmeißen, wozu sie sich letztlich entschloß, war doch ein starkes Stück, war das nicht der dickste Schlamassel, in dem ich jemals gesessen hatte?
Eines Nachmittags schneiten wir bei Max herein, aber ich fand, er war nicht so recht in Form, auch wenn ich ihm das Gegenteil versicherte. Wir nutzten trotz allem die Gelegenheit, um die Vorhänge aufzuziehen und ein wenig zu lüften, obwohl er dabei eine Fratze zog wie ein Vampir. Er hatte auch nicht die Absicht, sein Telefon reparieren zu lassen, wozu ich ihm erneut gratulierte, und das Fest mit uns zu verbringen, ob das mein Ernst sei, ob ich ihm vollkommen den Rest geben wolle? Er war so charmanter Stimmung, daß wir schleunigst abzwitscherten, nachdem wir noch ein paar Einkäufe für ihn erledigt hatten, unter anderem einen Miniweihnachtskuchen, den ich in seinen Kühlschrank schob.
Bei den Bartholomis war man nicht übermäßig verstimmt ob seiner Absage. Allerdings, um die Wahrheit zu sagen, Hermann und mir ging es nicht anders. Gladys war sogar erleichtert. Wahrscheinlich hatte sie ihm noch längst nicht verziehen, daß er sich dazu hatte hinreißen lassen, unter ihrem Rock zu schnüffeln. Ich war wie Hermann, ich fand, sie sah zur Zeit blendend aus, und ich fragte mich, ob das an den Vitaminen lag, die sie schluckte, oder an dem bevorstehenden Fest und dem ganzen Tralala.
Jesses! Was war es kalt, und wie schnell wurde es dunkel …! Kaum heimgekehrt, kippte ich als erstes ein Glas und rieb mir das Kreuz an einem Heizkörper. Ich riß mich zusammen, wenn ich abends mit Hermann allein war, ansonsten ließ ich mich ein wenig gehen, ohne daß man dessen gewahr wurde, da ich es nie zu bunt trieb. Ich hatte an diesem sonderbaren Jahresende ebensoviel Grund, fröhlich zu sein, wie ich Sorgen hatte, es war nicht der rechte Zeitpunkt, mich auf Diät zu setzen. Zudem trank ich nur kleine Gläser. Ich spürte, daß ich mich mit meiner Lesebrille hinters Licht führte. Ich gaukelte mir etwas vor mit meinem Buch auf den Knien. Was ist schon natürlicher als ein Typ, der mit dem Kopf wackelt, wenn er in Gesellschaft von Henry Miller ist, ich meine voller Glück, voller Bewunderung …?
Ich schwebte diese letzten Tage auf einer Wolke, durchquerte eine dunstige und schwer zu fassende Szenerie, mit der ich mich jedoch bestens abfand, muß ich sagen. Diese sanfte Narkose paßte mir blendend, fast hatte ich das Gefühl, ich verdiente sie, eine Gnade werde mir erwiesen.
Am letzten Tag hatte ich glatt den Eindruck, alle Welt wirbele wie wild herum und quer durch die ganze Stadt, ohne daß mir das etwas anhaben konnte. Mit welchem Gleichmut ich mir das ansah, welch angenehme Distanz …! Sarah hatte mich angerufen, danach hatte sie gemeint: oh, und dann: nein, bleib, wo du bist, mir ist lieber, du tanzt mir nicht zwischen den Beinen herum. Sie schien mir mehrere Sachen auf einmal zu machen, und du meine Güte, ich hatte keine Lust, mich daran aufzureiben, man sollte mich vergessen, mehr verlangte ich nicht. Der kleine Danny wollte bloß das Wunder verlängern und weiter mit den Füßen im Leeren baumeln, sonst nichts. Wenigstens bis ins Neue Jahr, wenn es gestattet war.
Ich zog mich recht früh am Nachmittag um, dann verdrückte ich mich in meinen Sessel. Mit meinem Buch. Ich beobachtete Hermanns ständiges Hin und Her und ging ans Telefon, während die Stunde nahte und die Spannung ihren Höhepunkt erreichte. Bei Bernie brannte Licht, ich sah sie die Treppe rauf und runter flitzen, wie damals, als sie Krach hatten, nur daß man weder ihr Schreien noch sonst was hörte, sondern nur Musik, und hier im Haus zog sich Hermann zum zweitenmal um, ich traute meinen Augen kaum, und ich hoffte, daß Gandalf bei den Bartholomis daran dachte, seine Krallen einzuziehen.
Als sie fertig waren, kamen Bernie und Harold bei uns vorbei, um zu sehen, wie weit wir waren, was mir Gelegenheit gab, mein Lächeln zu testen und mich ein wenig zu schütteln. Als ich sie sah, hatte ich wirklich Angst, mein Jackett sei leicht zerknittert und mein Bart seit dem Morgen verdammt gesprossen, aber Bernie versicherte mir, ich sähe glänzend aus. Befriedigt spendierte ich eine Runde, um mich aufzupeitschen. Worauf wir zum Aufbruch rüsteten.
Auf der Türschwelle erwartete uns ein eiskalter Kuß. Mich dünkte, mit leerem Magen würden wir nicht sonderlich weit kommen, aber ich schlug mir den Gedanken aus dem Kopf, umzukehren und noch einen zu kippen. Ich wäre doch niemals betrunken auf mein Motorrad gestiegen, wenn Hermann hinter mir saß, und Bernie konnte uns in seinem MG nicht mitnehmen, weil da die Geschenke waren. Kurz und gut, die Kälte zernagte uns von allen Seiten. Mir gefiel auch nicht, daß er sich nicht an mir festhielt und die Hände in die Taschen steckte.
- Ach du Schande, wir gäben vielleicht ein Bild ab …! meinte er zu mir. Und er ließ sich auch nicht davon abbringen, zumindest, solange wir in der Stadt waren. Zum Glück hatte ich längst eingesehen, daß in diesem Leben nicht alles so laufen konnte, wie ich es wollte, und so verzichtete ich darauf, mir sinnlos die Zunge abzufrieren.
Wir trafen als letzte ein, halbtot, was mich betraf, aber Gott, was war es angenehm bei Sarah, und wie tröstend, sogleich – nur durch das Wunder seines simplen Erscheinens – auf allen Gesichtern ein Lächeln aufflackern zu lassen. So daß mir husch, husch das Blut wieder durch die Adern schoß. Ich küßte Sarah auf den Hals, flüsterte ihr zu, sie sei die Schönste und ich ein schöner Schweinehund, daß ich nicht gekommen sei, ihr zu helfen.
- Meine Güte, ich hatte kaum Zeit, in mein Kleid zu schlüpfen …! sagte sie, während ich sie bewunderte, aus meinem Mantel stieg und mich fragte, ob sie es noch geschafft hatte, etwas darunter anzuziehen.
Erneut wußte ich, daß es mich umbringen würde, wenn ich nicht eines schönen Tages mit ihr bumste. Ich hatte nicht vergessen, was sie mir versprochen hatte, aber für einen Kerl in meinem Alter war das allmählich ganz schön lang, in zwanzig Jahren. Sie lief Gefahr, mich nicht mehr in Hochform zu erleben.
- Ich bedaure, daß ich nicht da war, um mich um den Reißverschluß zu kümmern …! antwortete ich ihr und schenkte ihr einen lüsternen Blick, der sie zumindest so sehr amüsierte, daß sie mich entschlossen um die Taille packte und stante pede ins Wohnzimmer führte.
Eine Menge Leute nahmen am Festmahl der Bartholomis teil. Ein rascher Blick aufs Büffet bestätigte mir, daß ich noch einmal Glück gehabt hatte, zumal in der Küche noch eine gewisse Aktivität zu verzeichnen war. Ich verzichtete darauf, sämtliche Leute zu grüßen, schüttelte lediglich die ersten Hände, die sich mir entgegenstreckten, küßte einige parfümierte Frauen und wartete, daß mir jemand ein Glas brachte. Paul erdrückte mich geradezu an seinem Herzen:
- Danny, meine Güte …! Altes Haus …! gluckste er und guckte mich an, als hätte er mich für tot gehalten. Ah, für ihn würde ich stets ein wenig wie ein Sohn sein, auch wenn das letzte meiner Bücher längst eingestampft wäre.
- Sag ehrlich, Andrea … Wie findest du ihn …?! fuhr er mit vor Freude krauser Stirn fort, ohne meine Arme loszulassen. Wie lang hab ich dich jetzt nicht gesehn …?!?
Ich küßte Andrea, die hinter ihm mit einem Glas für mich aufgetaucht war.
- Oh, naja, vielleicht einen Monat …. sagte ich. Aber lange hätte ich es nicht mehr ausgehalten …
Die Art, wie sie sich beide anguckten, entlockte mir ein richtiges Lächeln. Als ich sie kennengelernt hatte, war ich nur ein junger, etwas nervöser Typ mit einem Manuskript unter dem Arm gewesen, und sie hatten mich auf den Gipfel getragen, sie hatten keine Mühe gescheut. Und als ich Franck geheiratet hatte, war Paul mein Trauzeuge gewesen. Unsere Wege liefen schon seit langem parallel. Mein Leben vom Erfolgsautor zum Serienschmierer barg nicht viel Geheimnisse für sie. Sie waren stets dabeigewesen. Es tat mir aufrichtig leid, daß sich ihr Schützling mitten im schönsten Schwung kaputtgemacht hatte, ich schätzte, das hatten sie nicht verdient.
- Na denn, frohe Weihnachten …. sagte ich und hob mein Glas.
Wir stießen alle drei mit den Gläsern an. Ich wußte nicht, wie lange die beiden schon da waren, aber Paul schien mir bereits recht angeheitert zu sein, da er sein Glas fast an meinem zertrümmert hätte.
- Ach, Danny …!
Dann, plötzlich von einem Schwall von Zuneigung übermannt, legte er mir einen Arm um die Schultern. Ich ließ alles bereitwillig über mich ergehen, dachte jedoch, in dem Trott würde er das Fest auf meinen Knien beenden, bevor es überhaupt begonnen hatte.
Nun, ich hatte noch nicht die Absicht, mich zu setzen. Ich hatte gerade meinen ersten Tequila Sunrise ausgetrunken, und an den Boxen schien mir ein fürchterliches Gedränge zu herrschen. Ich hatte bereits einige ernstzunehmende Ellenbogenrempler erblickt, und Herbert Astringart, einer der stellvertretenden Direktoren der Stiftung, hatte das Heft in die Hand genommen, und bei der Geschwindigkeit, mit der er die Gläser füllte, war abzusehen, daß mir keine Zeit zum Luftholen bleiben würde, wenn ich nicht ins Hintertreffen geraten wollte.
- Rühr dich nicht fort, Paul. Ich bin gleich wieder da …. murmelte ich.
Ich versuchte mich zur Bar vorzukämpfen, aber Sarah versperrte mir den Weg und zog mich erbarmungslos auf eine kleine Tuschelrunde zur Seite.
- Ich hoffe, du benimmst dich nicht wie ein Idiot …. sagte sie.
- Hmm, das ist ein immerwährender Kampf …
- Oh, verdirb mir bitte nicht den Abend …! Versuch nur einmal nett zu sein …
- Aber, meine Liebe, ich bin von Natur aus nett, was redest du denn für einen Unsinn …?!
Sie konnte mir ruhig in die Augen blicken, ich hatte ein reines Gewissen. Ich war sogar in einer geradezu engelhaften Stimmung, wenn sie es genau wissen wollte, und hegte keinerlei Groll gegen wen auch immer inmitten dieser sympathischen Runde. Natürlich war ich darauf gefaßt, daß sie mir einen dieser Typen hinter einem Schrank hervorzauberte, aber welch Pech, ich hatte mich im Laufe des Nachmittags darauf vorbereitet. Sie regte sich unnötig auf. Es sei denn, der Betreffende wäre schlimmer noch als die anderen, und sie gedächte mich weich zu stimmen, indem sie mich auf diese Weise davon in Kenntnis setzte.
- Beruhige dich …. fügte ich hinzu. Ich habe nicht die Absicht, irgendwem irgend etwas zu verderben, ich habe nicht die geringste Lust dazu.
- Schön, paß auf … Elsie ist da.
- Sehr gut, ich haue ab …!
Tatsächlich hielt ich bereits nach einer Ecke Ausschau, um mein Glas abzustellen, aber ihre Hand schloß sich prompt um meinen Arm. Einige Sekunden lang sahen wir uns stumm an, nur daß ich es mir verkniff, ihr ins Gesicht zu springen. Das Dumme war, daß sie keine Angst vor mir hatte und es vergebliche Liebesmüh war, ihr Blitze entgegenzuschleudern, so daß ich mich doppelt ärgerte.
- Herrgott …! Du bist wirklich der unmöglichste Typ, den ich kenne …!
Als einzige Antwort riß ich meinen Arm los.
- Niemand fällt einem stärker in den Rücken als ein Freund …. bemerkte ich schließlich, denn ich befürchtete, daß mein Schweigen weniger beredt war, als ich mir wünschte.
- Ach, ich bitte dich … Hör auf …! seufzte sie.
Man hätte meinen können, ich sei es, der ihr auf den Senkel ging, ich mochte es kaum glauben.
- Meine Güte, Dan … Sie ist ganz allein …
- Wirklich …!? unterbrach ich sie. Wo steckt denn der Schwachkopf …?!!
Ich hatte natürlich nicht das geringste Verlangen, es zu erfahren, doch so konnte ich mir das verächtliche Lächeln zulegen, das meinem Groll geziemte.
- Sag mal, Sarah … Was für ein Spiel treibst du eigentlich …?! Als sie sah, daß ich mich versteifte und eine uneinnehmbare Stellung einzunehmen drohte, brach sie gewandt ihren Angriff ab und änderte die Taktik, tauchte auf, wo ich sie nicht erwartete. Sie faßte zärtlich meine Hände. Ehe ich verstand, was vorging, war ihre Klinge bereits in mein tölpelhaftes Herz gedrungen.
- Oh, komm, Dan … Bitte, es ist doch Weihnachten …!! wisperte sie in einem Ton, der einem Tränen der Rührung entlocken konnte.
Zudem schien ringsum alle Welt vergnügt, ich war der Floh im Kleid der Prinzessin, wenn ich recht verstand. Ich kniff die Augen zusammen, während ich mich entschloß, meine Wut hinunterzuschlucken.
- Ich hoffe, du wirst mich pflegen, wenn ich mir ein Magengeschwür zuziehe …! murmelte ich.
Sie drückte mir einen raschen Kuß auf die Lippen, einen, bei dem mir nach Gähnen war und den sie gefahrlos einem jungen Priester hätte verabreichen können.
- Ich glaube, sie traut sich nicht aus der Küche …. enthüllte sie mir.
- Wunderbar. Soll sie dort bleiben …!
Ah, aber jetzt schmiegte sie sich an mich. Das war schon besser. Bat mich um einen letzten Ruck. Ich konnte der Verlockung nicht widerstehen, meine Mühe zu versilbern.
- Dann aber keine zwanzig Jahre …. sagte ich. – Fünfzehn …? schlug sie vor.
- Zehn, und du hast gewonnen …!
Sie biß sich auf die Lippen. Ich hoffte, daß das zum Scherz war. Oder sollte es für sie eine regelrechte Qual sein, mit mir zu schlafen? Es hätte mir einen ungeheuren Schlag versetzt, wenn dem so gewesen wäre, doch ich weigerte mich strikt, dergleichen in Betracht zu ziehen. Außerdem erklärte sie mir, sie sei einverstanden. Ah, mochte Gott mir die Gnade gewähren, in zehn Jahren noch Funken zu sprühen …!
Bevor ich mich in die Küche begab, blieb ich, obwohl Sarah an meinen Fersen klebte, an Herbert Astringarts Box stehen und plauderte eine Weile mit ihm. Ich mußte noch mit einer Menge Leute reden, beschloß jedoch, mir als erstes diesen Dorn aus dem Fuß zu ziehen, da mir ansonsten kein Seelenfrieden möglich war. Alle wirkten so fröhlich, so entspannt, daß ich es kaum erwarten konnte, mich zu ihnen zu gesellen und mir ein Fest mit allem Drum und Dran zu gönnen, das Ganze auszunützen, solange diese unsichere und verblüffende Unbekümmertheit anhielt, die mich in dieser letzten Zeit so schwerelos machte und die ich bis zum Ende genießen wollte.
Also eilte ich mit zwei Schritten dorthin, präsentierte mich mit finsterem Gesicht und erfaßte den ganzen Raum mit einem Blick.
- Hello, Marty …! rief ich dem Kerl zu, der ein ganzes Sortiment Appetithäppchen auf einem Tablett von einem Meter Länge anordnete. Was er schrieb, gefiel mir nicht besonders, aber ich fand, er taugte mehr als seine Romane, und er, er hatte Glück, denn seine Frau fand ihn genial, ein Glück, das mir leider nicht vergönnt gewesen war.
- Hello, Josy …! rief ich sofort hinterher, denn natürlich wich sie ihm keinen Schritt von der Seite, und niemand sonst zählte in ihren Augen.
Ich kann mir vorstellen, daß unsere Geschichte der ganzen Stadt bekannt war, denn erstens verzogen sie sich alle im nächsten Moment mit der Beteuerung, wir würden uns später noch sehen, und zweitens unterstand sich niemand mehr einzutreten.
Der Augenblick war gekommen, mich ihr zuzuwenden. Ich schenkte ihr ein Lächeln, das dazu angetan war, einem Mark und Bein auf der Stelle gefrieren zu lassen:
- Nur kurz … Ich habe Sarah versprochen, dich nicht zu fressen. Du kannst dich frei in der Bude bewegen …
- Oh, Dan …
- Dein ›O Dan‹ kannst du dir sparen.
Jessesmaria, dachte ich. Was mußte man hart sein, einem so hübschen Mädchen eine Abfuhr zu erteilen, vor allem in meiner Lage, wenn ich bedachte, daß mein letztes Abenteuer bis zu meiner Italienerin zurückreichte und sich kein Silberstreif am Horizont abzeichnete, nichts, rein gar nichts …!
Sie machte einen Schritt auf mich zu, aber ich wich einen zurück.
- Daß kein Mißverständnis entsteht. Ich habe nicht die Absicht, mit dir zu reden.
- Aber Dan …
- Nichts da, es hat sich ausgedant …!
Und damit ließ ich sie stehen, ohne sie weiter zu beachten. Einmal mehr spendete ich mir bedingungslos Beifall, denn ein attraktiveres Mädchen hätte man in der ganzen Stadt nicht aufstöbern können, und auch keines, das mich derart aufgeilte.
- Ah, Danny …! Mir wird ganz warm ums Herz …! Hast du gesehn, wie du ihr den Schnabel gestopft hast …?!
Und ob, ich hatte mir nichts entgehen lassen, auch nicht das reizende Erglühen ihrer Wangen. Offen gestanden, ich war ziemlich stolz auf mich, ich war sicher, ein anderer an meiner Stelle wäre schwach geworden, zumal ihr Kleid auf die denkbar unredlichste Art bis zum Bauchnabel ausgeschnitten war. Ich war einfach großartig, und ich wußte es. Also flitzte ich schnurstracks zur Bar und bat Herbert Astringart mit strahlendem Lächeln, mich umgehend zu bedienen.
Ein Seitenblick verriet mir, daß sie die Küche verließ. Natürlich hatte mein Panzer eine Schwachstelle, und dieser erbärmliche Fehler verwehrte es mir, meinen Sieg voll auszukosten: In sexueller Hinsicht war Elsie das schönste Geschenk, das mir der Himmel in meinem Leben je gesandt hatte. Und das, nicht wahr, das ging mir gegen den Strich, vor allem wenn sie in meiner Gegend war, es machte mich nervös. Ich hatte es nie leicht gehabt mit den Frauen, und manchmal fragte ich mich, woran es bei mir haperte und weshalb ich nicht eine fand, die ganz einfach nett war, ein Mädchen, das ich ohne große Scherereien in den Arm nehmen konnte, und es war auch nicht nötig, daß sie eine hinreißende Schönheit war oder über außergewöhnlichen Esprit verfügte, ach, gebt mir doch nur eine mit einem Quentchen Charme und einem angenehmen Lächeln, ich trete auf der Stelle aus dem Glied. Es verging keine Woche, in der mein Blick nicht auf ein, zwei Unbekannte fiel, die mir a prima vista vollkommen genügt hätten, mit anderen Worten: ich verlangte nichts Unmögliches. Was ging eigentlich vor, machte ich ihnen Angst, war es verboten, sich ihnen zu nähern, stand geschrieben, daß ich mich damit bis ans Ende meiner Tage rumzuschlagen hatte …?! Manchmal machte mich der bloße Anblick eines turtelnden Paares todunglücklich. Das, und Elsies Brust. Nach der ich unauffällig schielte, wenn sie am anderen Ende des Zimmers stand und mich Marty über sein neustes Buch aufklärte. Ich war fast soweit zu glauben, daß dieser Kerl da im Grunde alles begriffen hatte. Wenn ich mir seine Josy ansah, die wie gebannt an seinen Lippen hing, vor Liebe und Bewunderung erbebte und jedes seiner Worte in sich aufnahm, dann sagte ich mir, sie ist zwar nicht hübsch, aber hat das irgendeine Bedeutung? Ich hörte ihm kaum zu, diesem verdammten Glückspilz, gedankenverloren lotete ich die grausame Unordnung meines Lebens aus. Ich ärgerte mich über mich selbst, daß ich sie beobachtete, ich schämte mich, daß ich mich nach allem, was sie mir angetan hatte, immer noch von ihr angezogen fühlte, und ich senkte den Kopf wie ein Typ in Ketten. Ich konnte nur dem Himmel Preis und Dank sagen, daß er mir ein Minimum an Kraft verlieh, sonst wäre ich ihr zu Füßen gekrochen. Ich bedauerte bereits, daß ich nicht die Tür hinter mir zugeknallt hatte. Wofür hatte ich mich eigentlich gehalten, für eine Art Supermann? Wie hatte ich bei dem Notstand, in dem ich mich befand, nur eine Sekunde lang glauben können, sie sei mir schnurzpiepegal und könne mir nichts anhaben?! Im übrigen gelangte ich allmählich zu der Einsicht, daß ich alles in allem zu hart mit ihr umsprang und ein paar freundliche Worte mich zu nichts verpflichteten, denn obwohl es nichts Wundervolleres gab, was ich mir auf der Welt hätte wünschen können, als die letzten Tage dieses Jahres in ihren Armen zu verbringen, klafften Traum und Wirklichkeit doch weit auseinander, zum Glück war ich noch nicht soweit, mir irgend etwas vorzumachen. Doch als ich den Blick auf Josy richtete, wurde mir jäh bewußt, auf welch gefährliche Bahn ich mich begab.
- Du gehst in den Tod, nicht mehr und nicht weniger, sagte ich mir, du weißt doch, es gibt solche, die einen Mann verhätscheln, und solche, die ihn zertrampeln.
Ich nickte, während ich durch Marty hindurchschaute. Zertrampeln war vielleicht ein wenig stark, ich durfte auch nicht übertreiben. Sie suchte mich schon eine ganze Weile zu erreichen, und sicher nicht, um mich leiden zu lassen. Zumindest nicht am Anfang. Und genau da war der Haken. Wieviel Zeit hätte ich, bis mir das Dach über dem Schädel zusammenkrachte …? Welche Frist würde mir gewährt, bis sie abermals dem Drängen eines Typen in ihrem Alter nachgab …? Ein paar Monate, ein paar Tage vielleicht? Ah, ich fragte mich, ob sich das lohnte. Darüber mußte man nachdenken. Selbst wenn es sich nur um ein paar Stunden handelte … Ah, du widerst mich an, Danny!
- Natürlich, ich weiß, was du wieder sagen wirst …. eröffnete mir Marty und harpunierte mich flugs mit seinem Ellbogen. Ich fuhr beinahe in die Höhe.
- Aber diesmal krieg ich dich …! setzte er mit schalkhafter Miene hinzu.
- Ach was, Marty … Das fiele mir im Traum nicht ein …
- Na gut, ich bin gleich fertig. Ich habe eine Art Verfremdungseffekt vorgenommen, der es mir voll und ganz ermöglicht …
- Sicher …. fiel ich ihm mit meinem entwaffnendsten Lächeln ins Wort. Das heißt, mute mir nicht zuviel zu, du weißt, ich bin schon ewig nicht mehr im Rennen …
- Na komm …
- Hmm, das ist kein Witz. Ich hab leider nicht mehr genug Puste, um dir zu folgen. Ach, Marty, seien wir ehrlich, ich bin nur noch der Schatten von einem Schriftsteller, und selbst das … Sei so nett, streu nicht noch Salz in die Wunden …
- Herrjemine, Dan, ich wollte dich nicht …
- Pah, schon vergessen, beruhigte ich ihn. Weißt du, sag dir einfach, niemand steht aus seinem Bett auf, um auf dem Boden zu schlafen.
Ich verließ sie mit einem melancholischen Augenzwinkern und kehrte an die Bar zurück. Ich war wild entschlossen, einen angenehmen Abend zu verleben. Im Grunde war das reine Willenssache. Wenn ich es schaffte, mich von einem Schriftsteller loszueisen, konnte ich ohne allzugroße Schwierigkeiten auch mit dem Rest fertigwerden, und darunter fiel auch, daß ich voll und ganz in der Lage war, mir eine Exfreundin vom Leibe zu halten. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, die ich ergriff, begegneten sich unsere Blicke zuweilen, doch der meine hätte eine Nymphomanin in der Schwüle einer Sommernacht abgeschreckt. Ah, wie wohl tat es der Seele, der Versuchung nicht zu erliegen, und wie freute ich mich, daß ich mich ihr verweigerte, daß ich jemand war, den sie mitsamt all ihren Reizen nicht erweichen konnte. Ich jubelte beinahe. Hätte ich mir ein unglaublicheres Weihnachtsgeschenk ausmalen können als ein so schönes Mädchen, das geil auf mich war?! Mir war, als lächelte mir das Leben wieder zu und heischte nach nichts anderem, als meinem Charme zu erliegen. Ach, wie wenig bedeutete es mir, mein erbärmliches Verlangen zu stillen, jetzt, da ich mir diese Augenblicke reinen Optimismus’ gönnte.
- Tanzen wir! sagte ich zu der erstbesten Frau, die mir in die Hände geriet, zufälligerweise Jeanne Flitchet, ein Mädchen, das von Anfang an mit Sarah zusammengearbeitet hatte und das gleiche Studio wie Gladys aufsuchte, ohne deshalb muskulöser zu werden. Ich ergriff ihren schlaffen Körper und enthüllte ihr, sie scheine mir in blendender Verfassung zu sein.
- Oh, ich dachte, du tanzt nicht gern …! rief sie aus.
Das stimmte nicht ganz. Im allgemeinen graute mir davor, aber mitunter packte es mich, wenn ich allein zu Hause war, dann hüpfte ich wie ein Bekloppter kreuz und quer durch die Bude, bis mich die Kräfte verließen. Seltsamerweise war mir das stets ein einsames Vergnügen, und auch jetzt brauchte ich dazu keineswegs Jeanne Flitchet, ich wollte lediglich meine Freude nicht vor aller Augen kundtun und konnte somit nicht umhin, mich mit einer Partnerin abzugeben. Ich hatte Lust, an die Decke zu springen, aber ich hielt mich zurück, ich biß mir auf die Lippen, damit mein Lächeln nicht zu sehr auffiel, aber im Innern, da frohlockte ich. Ich pißte auf meine versammelten Widerwärtigkeiten, ein giftiger, glühend heißer Strahl, mit dem ich provozierend meinen Namen und mein Alter schrieb. Zum Glück gelang es mir, meinen Feuereifer zu mäßigen und mithin die Katze nicht aus dem Sack zu lassen. Außerdem waren wir nicht die einzigen, die tanzten, so langsam kam Stimmung auf, und ich hatte den Eindruck, alle Welt lachte sich kaputt. Wow, Jeanne Flitchets Körper war echter lebendiger Nougat!
Als ich sie losließ, waren wir beide schweißgebadet, aber ich hatte es geschafft, die überschüssige Energie zu verbrennen, die mich plötzlich mitgerissen hatte. Völlig außer Atem, dankte ich ihr von ganzem Herzen und ließ sie wissen, wir könnten noch einmal loslegen, wenn sie wolle. Sie konnte es nicht fassen, und auch Elsie nicht, die mich beobachtete, als ich von der Bahn ging-- Ah, hör auf …! bat ich sie innerlich, fast zitternd vor Wonne. Oder meine Freude wird so, daß ich nicht mehr weiß, was ich mit mir tun soll. Ah, hör auf, das ist wirklich zu schön …! Und ich sagte mir, Alter, ist dir klar, daß das schönste Mädchen der Stadt zu deinen Füßen liegt, begreifst du, was das heißt …?! Ich küßte die Füße des Herrn, wieder und wieder, ich benetzte sie mit meinen Tränen, ich wollte, daß er mir meine Undankbarkeit an diesem heiligen Abend verzieh, ob, ich wälze mich im Staub, schütte Asche auf mein Haupt.
Ich rieb mir die Hände, als ich mir die ganze Wonne ausmalte, die mich nach diesem Abend erwartete. Würde sie vielleicht damit drohen, sich die Kehle durchzuschneiden, oder würde sie versuchen, mir sämtliche Kleider vom Leib zu reißen, würde man größte Mühe haben, mich aus ihrer Umklammerung zu befreien, wenn sie sich in ihrer Ohnmacht mit einem herzzerreißenden Schrei an meinen Hals warf? Vor Freude schnürte sich mir die Kehle zusammen, ich betrachtete die runden beschlagenen Stellen auf den Fenstern, als wären es große weiße Vögel, die Rücken an Rücken saßen.
Ich winkte Herbert Astringart zu, ich sei unterwegs. Wie zur Zeit meiner Jugend stimmte Roy Orbinson Pretty Woman an und übertönte das Stimmengewirr. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer das aufgelegt hatte. Als wir zum erstenmal miteinander geschlafen hatten, hatte ich sie bei diesem Stück ausgezogen, und danach hatten wir es beide nicht mehr hören können, ohne daran zu denken. Ich spürte ihren Blick, der sich in meinen Nacken bohrte. Aber ich stockte nicht. Das war nicht schlecht von ihr eingefädelt, und es war ihr gutes Recht, ich war neugierig, was sie sich noch einfallen ließ.
Auf meinem Weg begegnete ich Hermann, der es liebenswürdigerweise übernommen hatte, die Tabletts von einer Gruppe zur nächsten zu reichen. Er machte ein erbärmliches Gesicht.
- Also nein …! sagte ich mir. Was ist denn jetzt schon wieder …?!
Ich stibitzte ein paar Liliputanerpizzen von seinem Tablett und beugte mich unauffällig zu seinem Ohr:
- Sag bloß nicht, bei dir läßt es sich schlecht an, sag das bloß nicht …!
- Nein, nein … Es ist alles in Ordnung …. stammelte er.
- Na prächtig …! atmete ich auf. Was bekümmert dich denn …?
Ich hatte wahrhaftig nicht den Eindruck, daß mir ein Trumpf auf der Hand fehlte, jetzt, da ich auf dem Weg zum Grand Slam war. Er konnte sagen, was er wollte, seine Miene beunruhigte mich. Und auf welche innere Heiterkeit hätte ich unter diesen Umständen pochen können, was für ein Vater wäre ich gewesen, wenn Hermanns Sorgen nicht vollauf gereicht hätten, mir jeglichen Seelenfrieden zu untersagen? Merkte er wenigstens, daß ich an seinen Lippen hing, daß ich ihn mit wahrem Schrecken aushorchte …
- Herrje …! verkündete er schließlich. Ich glaube, es wird ihr nicht gefallen, ah, ich bin mir fast sicher …!
Ich kapierte nicht sofort, daß er von seinem Geschenk redete. Dann plötzlich fühlte ich mich von einem güldenen Licht überflutet. Er konnte sich rühmen, mir Schiß eingejagt zu haben, ich hatte immer noch ganz weiche Knie. Ich hätte ihn küssen können, doch ich wußte, daß er einen solchen Überschwang nicht mehr sonderlich schätzte – vor allem in der Öffentlichkeit, vor allem, wenn es keinen guten Grund gab –, daher begnügte ich mich damit, zu lachen und ihm flüchtig über die Schulter zu streichen:
- Wirklich …? Und deshalb quälst du dich so …?!
- Ach, du weißt ja gar nicht …! ächzte er.
- Menschenskind, Hermann …! Sie wird verrückt sein vor Freude, verdammt, das garantier ich dir …! Sei unbesorgt … Und sonst, wie ist sie, wie sieht’s aus …?
- Eben deshalb habe ich Angst, es sieht nämlich gut aus. Vielleicht schmeißt das alles über den Haufen …!
Ich warf einen raschen Blick in die Runde, um mich zu vergewissern, daß kein indiskretes Ohr um uns herumschlich, und fischte mir eine dieser winzigen Pizzen, um keinen Argwohn zu erwecken.
- Paß auf, jetzt ist es zu spät, dir Gedanken zu machen. Du hast getan, was du für das Beste hieltest, laß jetzt den Kopf nicht hängen. Vergiß nicht, du hattest die Neun auf zweitem Platz: Wenn man wahrhaftig ist, so ist es fördernd, ein kleines Opfer zu bringen. Kein Makel. Herrgott, was konntest du Besseres erhoffen als »Das Empordringen« …?
- Ach, keine Ahnung … Trotzdem habe ich keine Ruhe …! O Gott … Das wäre wirklich zu dämlich …
Seine Lippen verzogen sich schmerzlich. Er sah aus, als werde er von einer Horrorvision befallen, zum Beispiel der Vorstellung einer Welt ohne Gladys, mit anderen Worten: nichts Besseres, dachte ich, als eine kalte und finstere und stille und von fauligem Wasser zerfressene Zelle.
- An deiner Stelle würde ich dieses verflixte Tablett abstellen und ein wenig um sie herumschwirren, das wäre schlauer, denn im Grunde, überleg doch mal, will sie nichts anderes, und da halte ich jede Wette, Hermann, ich glaube, du bist wirklich ganz kurz vor dem Ziel. Denk nur daran, daß das Hexagramm häufig den Begriff der Leistung rückgängig macht, und ich vermag dir nicht zu raten …
- Scheiße, du hast gut reden … Ah, ich möchte dich gern mal sehen, ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll …!
- Bald wird es dir leid tun, Blut und Wasser geschwitzt und nicht auf deinen Vater gehört zu haben. Sohn, es ist soweit, du hast das Schlimmste hinter dir …. glaube mir …. aber noch mußt du ein wenig die Augen aufhalten …!
Sicher, ich hoffte nicht, daß er vollkommen überzeugt aus einem so kurzen Gespräch hervorging, aber auch wenn er sich weiterhin sehr ernstlich grämte, stellte ich doch fest, daß ich klammheimlich einen leisen Hoffnungsschimmer in seine finsteren Gedanken gestreut hatte. Ich nahm ihm sanft das Tablett aus den Händen und gebot ihm mit einem Blick, in den Sattel zu springen.
- Jaja, das ist leicht gesagt …! jammerte er und preßte die Fäuste in die Taschen.
- Nur Mut! sagte ich, während er loszog, dann begab ich mich unverzüglich zur Bar.
- Ah …! Wo hast du denn gesteckt …! empfing mich Herbert und streckte die Hand aus, damit ich ihm mein Glas reichte.
- Gott, ich dachte schon, ich schaffe es nie, die Bahn war voller Hindernisse.
Ich mischte mich friedlich in das Gespräch, informierte mich über den neuesten Tratsch, der in der Stadt kursierte, und dämpfte durch mein erschrecktes Rufen die Hast, mit der mir Herbert nachzuschenken suchte. Ich fühlte mich zu gut, als daß ich der Versuchung erlegen wäre, die Dinge zu überstürzen. Ich kratzte ein paar Sachen von den Tellern, um nicht mit leerem Magen dazustehen, und lachte mit den anderen, gab Kommentare zum besten, wenn es mir gelang, einen anzubringen.
Aus dem Augenwinkel verfolgte ich Elsies Vorgehen, die sich auf Schleichwegen an meine Wenigkeit heranpirschte. Bei dem Tempo, das sie anschlug, hatte ich noch Zeit, bis ich meine Sachen packen mußte, und ich war fest entschlossen, ihr den ganzen Abend durch die Finger zu flutschen, ich war schon im voraus ganz aufgeregt. Im Moment quatschte sie mit Harold und Richard und gab sich derart entspannt, daß ich boshaft gluckste. Ich lachte lauthals, wenn mir jemand einen guten Witz erzählte, denn ich, ich hatte nichts, was mich bedrückte, ich wollte nichts, ich hatte ein ruhiges Gewissen und amüsierte mich königlich, wie sie sehen konnte. Ihrem Gesicht entnahm ich sehr wohl, daß es ihr lieber gewesen wäre, ich hätte in einer Ecke Trübsal geblasen und die Zunge meterweit zum Hals raushängen lassen, aber da konnte ich nur sagen, tut mir leid. Vielleicht war ich die Sorte von Kerl, die man sitzenließ – Elsie war nicht die erste, und Franck war nur die Spitze des Eisbergs –, aber deshalb war ich doch keiner, den man herbeipfiff. Hoffentlich sah sie das allmählich ein. Ich wollte sie nicht entmutigen, aber es stand zu befürchten, daß sie noch einiges vor sich hatte, wenn sie, wie ich vermutete, den Versuch machte, mich zurückzugewinnen. In einem gewissen Sinn bedauerte ich sie, denn im Grunde meines Herzens bin ich trotz allem gut, und ihr verdankte ich, daß ich mich begehrenswert fühlte. Nun ja, ich hätte nicht an ihrer Stelle sein mögen. Wie bitte? Schön, um einen Heiligen rasend zu machen, und dann in einen Typen verknallt sein, der ihr kaum einen Blick schenkt …?!
Ich fühlte mich zwar, als hätte ich ein Kindergemüt, aber es tat mir gut, mich ein wenig zu zerstreuen, meine Sorgen mit dem Schmutz meiner Sohlen an der Tür zurückzulassen und dieses Mädchen ein wenig zu triezen, das meine wilden Blicke, mein frostiges Lächeln wahrlich verdient hatte. Es war wirklich schade, daß Hermann meine Begeisterung nicht teilte, zumal ich für zwei davon hatte, während er so schlecht damit versorgt schien. Ich beobachtete ihn zwischen zwei Glucksern und fragte mich, welche Taktik er wohl bei Gladys anwandte. Ich glaubte nicht, daß sich die Sitten so sehr gewandelt hatten, daß man neuerdings eine Frau verführte, indem man dümmlich hinter ihr rumstand und ein Gesicht machte, als warte man auf den Autobus. Jeanne Flitchet wollte nochmal.
- Kein Problem …! beruhigte ich sie. Ich unterbrach meinen Gedankenfluß, faßte sie um die Taille und schob sie unkeusch in die Gegend, in der getobt wurde. Aus purer Bosheit ging ich haarscharf an Elsie vorbei, aber so knapp, daß es fast um mich geschehen wäre, denn ich zuckte heftig zusammen, als wir uns wiedersahen, ihr Parfüm und ich. So sehr, daß Jeanne fragte, ob ich mir weh getan hätte, und ich sagte ihr, ich hätte mir auf die Zunge gebissen, ich kam kaum darüber hinweg. Zum Glück hatte Elsie nichts gemerkt. Mein Herz klopfte noch vor Aufregung.
- Selbst schuld, beklag dich nicht …! wies ich mich zurecht, während ich vor J. Flitchet in Stellung ging.
- Puh! Was für eine finstere Miene! bemerkte sie sogleich.
- Ich schag, ich hab mir auf die Schunge gebischen …! antwortete ich ihr, bevor ich losstürzte.
Ich war gerade dabei, mich zu der Melodie von I want to take my baby now alle zu machen, als mich Harold aufstöberte.
- He, ich glaube, du wirst draußen verlangt …. sagte er und grinste zufrieden.
Ich hatte so sehr gelernt, mich vor diesem Kerl und seinem merkwürdigen Humor in acht zu nehmen, daß ich meinen Schwung nur wenig zurücknahm.
- Und ich, ich glaube kaum, daß ich draußen verlangt werde …! erwiderte ich und zwinkerte ihm zu.
- Und ob, Dan, ich schwor’s dir!
- Komm, komm … Ich versteh nicht, warum du ausgerechnet mich aussuchst. Du weißt doch, daß …
- Scheiße, ich mach keinen Quatsch …!
Ich blickte zur Decke, ohne mich aus dem Takt bringen zu lassen, und faßte gerade den Entschluß, mich hüftwackelnd von ihm zu entfernen, als ich hörte, daß mich jemand rief. Es war Sarah, und das kam von der Haustür. Leicht konsterniert starrte ich Harold an.
- Alter, denkst wohl, ich spinne nur …! seufzte er.
Und so schleppte ich mich schließlich zum Eingang und entdeckte im Türrahmen Hans, den Chauffeur von Marianne Bergen, der in der Tat auf mich wartete, seine Mütze in der Hand und steif wie ein Stock, und der, als er meiner gewahr wurde, zur Seite trat, um wortlos auf die finstere Straße zu weisen, in der ich zuerst rein gar nichts sah. Daraufhin forderte er mich auf, ihm zu folgen, und ging mir in den Garten voraus, ohne daß ich irgend etwas in Erfahrung bringen konnte, zumal ich ihn – bis ins Mark erstarrt, kaum daß ich einen Fuß vor die Tür gesetzt hatte, und insofern unfähig, irgendeinen sinnvollen Gedanken zu fassen -auch nicht fragte. Ich drehte mich nicht um, aber ich spürte, daß uns welche folgten, eine ganze Bande von Neugierigen, die unter dem hübschen Sternenhimmel drängelten, verdammt begierig, des Rätsels Lösung zu erfahren, dachte ich mir, oder auch einfach entzückt, sich aufraffen und bei der Gelegenheit Luft schnappen zu können.
Hans hielt mir das Törchen auf, und als ich hindurchschritt, sah ich ihn endlich.
- Madame wünscht Ihnen fröhliche Weihnachten …! sagte er und hielt mir die Schlüssel hin.
Ein paar bewundernde Pfiffe ertönten, während ich, fürwahr verdutzt, aus allen Wolken fiel. War es die bittere Kälte der Nacht, die mich derart lahmte …?
- Wer zögert, erreicht niemals Jerusalem, raunte mir Hans mit ungeheucheltem Vergnügen und sichtlicher Freude über meine Ölgötzenmiene ins Ohr, während er darauf wartete, daß ich ihm die erwähnten Schlüssel abnahm.
Ich streckte lasch die Hand aus, ohne nachzudenken. Ringsum waren alle vollkommen aufgekratzt, und ich trieb seit einigen Stunden in einer derart verblüffenden Atmosphäre, daß meine Sinne erschlafft waren und ich ein wenig schwer von Begriff.
- Meinst du, das ist das neuste Modell …? fragte Richard, alldieweil Hans seinen pelzgefütterten Mantel zuknöpfte und mit langen Schritten wortlos von dannen ging.
- Verdammt, was soll das heißen …?! knurrte ich außer mir, denn endlich hatte ich erfaßt, was vorging.
Und das gefiel mir ganz und gar nicht, nein, das gefiel mir immer weniger. Man hätte meinen können, sie hätten noch nie einen Fiat 500 gesehen, alle, die sie da waren, man hätte meinen können, sie beugten sich über das Jesuskind.
- Herrgott sapperlot …! zischte ich durch die Zähne, spürte, daß ich erbleichte, dann rasend schnell vor Wut grün wurde, als ich unverhofft Pauls Blick auffing und sein widerwärtiges Lächeln entdeckte.
Ich spürte die beißende Kälte nicht mehr, auch nicht das Glück einer winzigen Spur Trunkenheit, mir blieb nur eine dumpfe Wut im Bauch, als sich alle anderen um mich herum lustig machten, ein Schleier tanzte vor meinen Augen, ich preßte den erbärmlichen kleinen Schlüssel in meiner Hand zusammen.
- Komm da raus! knurrte ich Harold an, der sich kurzerhand hinters Steuer gequetscht hatte und mir an sämtlichen Knöpfen herumfummelte. Ob meiner Grobheit fragten sich manche, ob etwas nicht stimmte, aber ich ließ sie rätseln und setzte mich auf den Platz dieses Schwachkopfs, ohne auch nur ein Wort der Erklärung zu liefern. Ich schlug die Tür zu. Ließ den Motor an und winkte ihnen zu, sie sollten zur Seite gehen, und das galt für alle. Wahrscheinlich glaubten sie, meine Schroffheit gehe ganz natürlich meiner Begeisterung voraus und ich platzte nur so vor Lust, ihn auszuprobieren, ich sei wie ein kleines Kind. Es war mir völlig egal, was sie glaubten.
Ich kam in einem Hagel von Kieselsteinen vor Marianne Bergens Haus zum Stehen. Einige Sekunden lang knetete ich das Lenkrad und hörte mir, umgeben von dem Geruch neuen Plastiks, die Stille an, dann raffte ich mich auf und ging auf die Freitreppe zu. Erneut fuhr mir die Kälte unter die Haut, der Himmel war glänzend und glatt und von einer so furchteinflößenden Schwärze, daß ich unwillkürlich erschauderte. Ich nahm die Steinstufen im Laufschritt, dann – zum Glück war ich allein – rannte ich sie wieder hinunter und mit Volldampf mehrmals wieder hinauf, um mich aufzupeitschen.
Eine laute, unwirsche Stimme rief mich an, als ich gerade am unteren Ende in die Kurve ging, aber ich blickte nicht einmal hoch und raste im gestreckten Galopp auf die Bude zu. Ich erkannte den Kerl, der sich einst darum gerissen hatte, mein Motorrad abzustellen, um es anschließend auf die Erde zu pfeffern, Gott sei Dank, indem er sich selbst darunter gelegt hatte. Ich stellte fest, daß ich in seiner Achtung nicht gestiegen war, setzte mich jedoch darüber hinweg und schickte ihn los, mir Marianne auf der Stelle herbeizuholen, nein, nein, ich wolle nicht reinkommen, er solle sich bloß sputen, mehr nicht …
Ich schluckte meinen Ärger hinunter, als ich mit großen Schritten über die Terrasse tigerte, die der Mond blank putzte. Die Gliedmaßen starr vor Kälte, aber brennenden Herzens fühlte ich mich einem Eisbecher ähnlicher als einem Lebewesen, und ich brachte meine Beschwerden mit halblauter Stimme vor, um die Elastizität meiner armen Lippen aufrechtzuerhalten, denn um meine Nase und meine Ohren war es bereits geschehen, ich konnte ihnen Lebewohl sagen, ich traute mich nicht mal mehr, sie zu berühren, aus Angst, sie zu pulverisieren.
Als sie endlich erschien, hatte mich eine Art von Traurigkeit ergriffen, eine rein physische Traurigkeit, wie mir schien, die direkt vom Himmel fiel in dieser eisigen Nacht, und die Luft, die ich atmete, war in einem Maße mit ihr getränkt, daß ich mich ihr nicht entziehen konnte und nur mehr daran dachte, mich auf die Erde zu setzen und den Geist aufzugeben. Sie schien so froh, mich zu sehen, daß mein Verdruß noch wuchs.
- Dan …! Bist du denn verrückt …? rief sie mir zu. Warum stehst du denn da draußen …!
Sie lächelte, war aber offenkundig nicht gewillt, sich zu mir zu gesellen, obwohl sie einen prachtvollen schwarzen Pelz um ihre Schultern schlang.
- Glaub mir, hier drinnen sitzen wir besser …. fuhr sie in belustigtem Ton fort, als handele es sich um eine extravagante Laune von mir. Ich hielt sie mit einer Handbewegung zurück, bevor sie in ihrem Rollstuhl den Rückwärtsgang einlegte:
- Nein, warte einen Moment …!
Leider empfand ich nicht mehr eine solch reine Wut, wie sie mich auf dem gesamten Weg beseelt hatte – mir fiel ohnehin auf, daß mich alles in allem, je mehr mein Leben dahinfloß, die Dinge immer rascher erschöpften –, aber dies vorausgeschickt, brauchte ich ob meiner Schwäche nicht zu erröten, denn ich ließ nichts davon durchschimmern, und es gelang mir, umgehend ein unfreundliches Gesicht zu machen.
- Hör mir gut zu … Ich bin nicht gekommen, um mich bei dir zu bedanken …. fauchte ich und schleuderte ihr einen finsteren und unbarmherzigen Blick entgegen, der mir noch besser glückte, als ich gehofft hatte.
Innerhalb weniger Jahre hatte dieses Mädchen eine solche Selbstsicherheit gewonnen, daß ich nicht umhin konnte, die Art und Weise zu bewundern, wie sie diese Eröffnung hinnahm. Sie neigte leicht den Kopf, und ihr Lächeln verlor nur ein wenig an Glanz, so wenig, daß ich zweimal hinsehen mußte, um den Unterschied zu erfassen. Dennoch, dem überschwenglichen Empfang nach zu urteilen, den sie mir bereitet hatte, hätte ich schwören können, daß sie nicht darauf gefaßt war, wie sich die Sache entwickelte, und wenn man sich vorstellte, wie sie jetzt wohl innerlich zurücksteckte, mußte man ihre bemerkenswerte Gewandtheit, ihre wunderbare Haltung um so höher schätzen.
Nun gut, ich war nicht gekommen, um sie mit Komplimenten zu überschütten. Ich bohrte meinen Blick in ihre Augen, und obwohl weiterhin eine vermaledeite Kälte herrschte, spürte ich, daß sich mein Körper aufwärmte.
- Herrgott, du kannst mich doch nicht kaufen, NIEMAND kann mich kaufen …!! stieß ich hochmütig hervor, fegte das ganze Land mit der Hand beiseite.
Mir zitterten noch die Knie von diesen wenigen Worten, meine Kehle war vor Erregung wie zugeschnürt, und ich fand mich beinahe schön, und ich glaubte wirklich, ich hätte die Wahrheit gesagt, obwohl die Sache vielleicht nicht so einfach und auch nicht so klar war, sagen wir so: tief in meinem Herzen war etwas, das nicht käuflich war, und ich nahm mir die Freiheit, jede Menge Aufhebens davon zu machen. Aber wie soll man auch klarkommen, wenn man sich nicht von Zeit zu Zeit für unschlagbar hält, wie die Hoffnung nicht ganz fahren lassen, wenn man nichts Heiliges in sich hat, wenn man nicht gelegentlich in seinem Innersten den Hauch einer göttlichen Essenz wahrnimmt …?
Ich war bereit, an Ort und Stelle zu sterben. In diesem Augenblick bedauerte ich, daß es sich nur um einen Fiat 500 handelte, ich wollte, sie hätte mich mit Geschenken überschwemmt und mit Gold überhäuft, damit ich ihr zeigen konnte, was für ein Kerl ich war und wie gewaltig sie sich in den Finger geschnitten hatte.
- Also hör mal, Dan … Wie kommst du denn darauf …?! hörte ich wie in einem Traum, ganz damit beschäftigt, mich in meinem makellosen Glanz zu sonnen.
Ich hatte keine Lust zu diskutieren. Ich kehrte ihr den Rücken zu und stieg ein paar Stufen hinab.
- Ich wüßte nicht, daß ich irgend etwas von dir verlangt hätte …! fuhr sie in gleichgültigem Ton fort.
Ich blieb abrupt stehen. Erneut spürte ich die Kälte, und auch dieses Gefühl der Niedergeschlagenheit, von dem ich mich einige Minuten lang befreit hatte, ergriff mich wieder.
- Der beste Weg, jemanden in die Enge zu treiben, besteht darin, ihn glauben zu lassen, er habe die freie Wahl, sagte ich zu ihr.
- Oh, ich bitte dich …! seufzte sie. Wie soll man es bei dir denn anstellen …?!
- Gott, es gibt wenige Dinge, an denen einem im Leben wirklich liegt … Es ist nur normal, daß man versucht, sich daran zu klammern.
Urplötzlich ließ sie ihren Rollstuhl mitten auf den Treppenabsatz vorfahren, vielleicht sah sie mich von da, wo sie war, nicht gut genug. Langsam hatte ich es satt, ihr in die Augen zu schauen, langsam tat es mir leid, daß ich meine Brille nicht mitgenommen hatte.
- Eins sollten wir dennoch klarstellen …. meinte sie mit spöttischer Miene. Verflixt nochmal, Dan, mit dir hat man es wahrlich schwer … Habe ich etwa verlangt, daß du mir deine Seele verkaufst, komm, sei nicht lächerlich …!
- Lächerlich zu sein in einer lächerlichen Welt, ich wüßte nicht, wo das Problem ist …
Sie blickte mich noch eine Weile scharf an, eine Prüfung, der ich mich bereitwillig unterzog, denn ich hatte nichts zu verbergen, und was ich auf dem Herzen hatte, mußte mir im Gesicht geschrieben stehen, es sei denn, es war völlig erfroren oder auf dem besten Wege dazu. Als sie mit mir fertig war, warf sie einen Blick gen Himmel, dann zitterte sie leicht und ließ mich da stehen, ohne noch einen Ton zu sagen. Ich wartete nicht ab, bis sie zurückkam, um mich meinerseits zu entfernen, aber kaum unten angekommen, wurde mir, während ich oben die Tür schlagen hörte, jäh bewußt, daß ich plötzlich zu Fuß war, um Mitternacht, Kilometer von Sarahs Haus entfernt, völlig aufgeschmissen in einem menschenleeren Viertel und einer Kälte wehrlos ausgeliefert, die mir auf einmal in den Ohren zu kreischen schien, und da dachte ich, der arme Dan, sieht man von seiner Ehre ab, ist verloren.
Ich machte also kehrt und setzte mich ans Steuer des Fiat. Wie Nietzsche schon sagte, man muß den Mut haben, die Dinge so zu sehen, wie sie sind: tragisch.
Während ich gedankenverloren durch die Stadt zurückfuhr, versetzte mich die mollige Wärme, die im Innern des Wagens herrschte, in einen solchen Gemütszustand, daß ich in der Nähe des Gymnasiums beschloß, kurz bei Max hereinzuschauen. Wenn er noch nicht schlief, würde ihm, vermutete ich, ein kleiner Besuch bestimmt Freude machen, und so hielt ich mit einem Lächeln um die Lippen vor seinem Haus an. Ich hatte zwar Lust, zu den anderen zurückzukehren, mein Spielchen mit Elsie wieder aufzunehmen, mich zu amüsieren und weiter zu trinken, aber es war gut, diesen Augenblick hinauszuzögern, solange meine Vorfreude noch wuchs, und wie sanft war die Dunkelheit, die mich umhüllte, und je mehr ich meine Schritte zurückhielt, um so heller würde das Licht strahlen, in dem mein Heil gedieh.
Max war noch auf. Ob Tag oder Nacht, erklärte er mir geduldig, das mache für ihn keinen großen Unterschied, er schlafe, wenn er könne, und für kurze Zeit, aber so oft, daß dabei zehn, zwölf Stunden rumkämen, da brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Schön und gut, sagte ich, trotzdem ziehe sich diese Grippe für meinen Geschmack ganz schön in die Länge, und daß es einen so heftig erwischt habe, hätte ich noch nie gehört, er solle mir bloß keinen Quatsch erzählen. Ob er wenigstens etwas dagegen tue, ob er zum Arzt gegangen sei, ob er sich endlich entschlossen habe, dieses verdammte Telefon reparieren zu lassen …?
- Du gehst mir auf die Eier, Danny, kümmer dich um deinen Kram …!
Wir beschlossen, den Weihnachtskuchen zu verzehren, auf einer Ecke des Bettes, einen Teller auf den Knien und bei einer Flasche Weißwein, die ich im Gemüsefach aufgestöbert hatte.
Obwohl er nur ein Glas trank, hatte ich den Eindruck, daß sich seine Wangen ein wenig röteten, und es gelang mir sogar, ihm ein Lächeln zu entlocken, als ich ihm von meinem Clinch mit Elsie erzählte und wie sie mich auf offener Straße beinahe erschlagen hätte, allerdings bauschte ich die Sache ein wenig auf.
- Ah! Immer haste Scherereien mit den Mädchen …! gluckste er leise. Ich hab sowas leider nie erlebt …!
Ich versicherte ihm sogleich, er wisse nicht, wovon er rede, und wenn er das lustig finde, für mich sei es das noch längst nicht, was immer er sich vorstelle. Sein Blick wurde zu Stahl.
- Weißt du, Danny … In meinem ganzen Leben hat nicht eine Frau ein Auge auf mich geworfen … Ich glaube kaum, daß du das nachvollziehen kannst.
Zum Glück hatte ich mein Stück Kuchen noch nicht auf. Ich konzentrierte mich darauf, obwohl es widerlich nach Kühlschrank schmeckte und innendrin noch völlig gefroren war, aber angesichts des Elends, das so manchen widerfuhr, hätte ich alles mögliche gegessen, ohne mit der Wimper zu zucken.
- Weißt du, ich glaube, wenn mich eine Frau niedergeschlagen hätte, ich hätte vor Freude geheult …! setzte er von neuem an.
Ich zwang mich dazu, ihn anzusehen, und nickte.
- Tut mir leid, daß ich dich mit meinen Geschichten betrübt habe …. murmelte ich.
Er beruhigte mich, es sei halb so schlimm, verstummte jedoch für eine ganze Weile, um seinen Kuchen genau unter die Lupe zu nehmen, ihn mit der Spitze seines Löffels umzuwenden und träge, mit ausdruckslosem Gesicht zu piesacken. Er war fast schon ein Greis, diese verdammte Grippe hatte ihn ganz schön tatterig gemacht, auch wenn sein Leiden im Grunde älter war, denn alle Welt war sich einig, daß sein Niedergang begonnen hatte, als man ihn vom Gymnasium gefeuert hatte, aber das, das hätte selbst ein Blinder mit zurückgebliebenem Denkvermögen gemerkt.
Ich verließ ihn kurz darauf, als ich sah, daß ihn meine Unterhaltung einschläferte. Ich klopfte ihm notdürftig die Kissen zurecht und machte mich auf Zehenspitzen davon, nachdem ich der Katze die Reste des Kuchens gegeben und einen letzten hilflosen Blick auf ihr Herrchen geworfen hatte.
Die Straßen waren wie ausgestorben. Das war natürlich nicht das gleiche Fahren wie mit dem Aston Martin, aber ich hatte so lange keinen Wagen mehr gehabt, daß mein Vergnügen ungetrübt war, und so wenig ich mich auf der Hinfahrt darum geschert hatte, so sehr interessierte ich mich jetzt dafür, ich konnte es kaum fassen, daß dieses Ding fuhr und daß man eine solche Schlichtheit, eine solche Strenge der Innenausstattung erreichen konnte, mich erfaßte eine belustigte Verwunderung, nicht zuletzt wegen des Armaturenbretts, das der Zelle eines Mönchs glich. Ich hatte diesen Wagen fast adoptiert, als ich bei Sarah anhielt. Ich rieb mir die Hände, als ich ausstieg. Nicht daß ich, was diese Angelegenheit betraf, zu irgendeinem Entschluß gekommen wäre, aber nicht alles in diesem Leben durfte eine Quelle von Ärgernissen sein. Und die Hoffnung zu verlieren, war die einzige echte Sünde, die man begehen konnte.
Als ich zu den anderen stieß, fragte man mich, wo ich abgeblieben sei und wie sich die Kiste fahre und was ich so lang getrieben hätte und ob ich Hunger hätte oder Durst und ob ich mich gut amüsiert hätte. Ich beschloß, nichts von meinem Treffen mit Marianne zu erzählen, und verriet ihnen, ich käme geradewegs von Max, ich sei die ganze Zeit bei ihm gewesen, ich sei ganz plötzlich auf den Gedanken gekommen, und ich hätte es nicht übers Herz gebracht, mich zu verdrücken, mehr sei nicht gewesen, jeder andere hätte an meiner Stelle genauso gehandelt. Sarah meinte zu mir, weißt du, ich war richtig traurig, während sie mich zum Tisch führte, auf dem man mir etwas zu essen aufbewahrt hatte.
Manchmal hielt sie sich für meine Freundin oder Gott weiß was, man durfte dem keine Beachtung schenken, und daß uns dieses Verhältnis, in dem wir zueinander standen, eines Tages gänzlich meschugge machen würde, davon war ich ohnehin überzeugt, ganz gleich, wie sie darüber dachte, die Mädchen, die halten sich immer für schlau genug, mit dem Feuer zu spielen. Nichtsdestotrotz ließ ich mich von ihr verhätscheln und hängte mich weiter bei ihr ein, während ich vor mich hin knabberte, denn ich hatte beobachten können, daß Elsie derlei Sachen nicht sonderlich schätzte, eines besseren Beweises als des finsteren Blickes, den sie mir zuwarf, als ich Sarahs Hals küßte, bedurfte es nicht.
Paul schlängelte sich alsbald zu mir durch.
- Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich freue …! flüsterte er mir zu, dabei stieß er mich mit dem Ellbogen an.
Ich lächelte und überlegte, ob er vielleicht ein Duett mit Sarah einstudiert hatte.
- Na, freu dich nicht zu früh …! sagte ich und ließ einen wohlwollenden Blick über die Versammlung streichen. Noch habt ihr mich nicht …!
Man hätte meinen können, ich hätte ihm den Tod seiner Mutter verkündet. Er zog die gleiche Grimasse wie damals, als ich ihm erklärt hatte, ich würde keine Zeile mehr schreiben, das sei vorbei. Man hätte meinen können, ich ließe ihn im Stich. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, daß Herbert Astringart die Ohren spitzte und ein paar Brocken unseres Gesprächs aufzuschnappen suchte.
- Ah …! Du willst mich nur auf den Arm nehmen …! ächzte Paul.
- Nein …. bestimmt nicht. Meine Güte, findest du es nicht schön, wenn sich ein Typ wehrt …?!
- Wogegen denn, großer Gott …? Wogegen …??!!
- Ach! Wogegen, ist doch egal …! feixte ich. Wie heißt es so schön: Totgesagte leben länger.
Ich verzog mich, um der Sache ein Ende zu machen. Ich wollte nicht mehr daran denken. Also stellte ich mich nah an die Bar und fing an, rechts und links zu palavern, um auf andere Gedanken zu kommen. Das waren belanglose Gespräche, Geschichten, bei denen man im Stehen einschlief, der letzte Blödsinn, Tratsch, Geschwätz, aber Gott, was für eine Ruhe, was für eine erholsame Tätigkeit für den Geist, ah, was war es angenehm – und zwerchfellerschütternd –, sich die Frage zu stellen, ob der Roman tot war, was war es unterhaltsam, über Mahlers Zweite zu diskutieren – die meisten hielten es mit Slatkin, ich hielt eher zu Inbal –, und selbst der neusten Modethemen wurde man nicht überdrüssig, ah, das war Manna, eine wahre Wohltat, die beruhigende Gewähr, auf keinen Fall an irgendein Thema von Interesse zu geraten.
Ich weiß nicht, was mich mehr besoffen machte, die Worte oder der Alkohol, jedenfalls hatte ich gegen drei Uhr morgens das Gefühl, ein leichter Nebel ziehe durch die Bude, allerdings nichts Schlimmes und bei genauerer Überlegung auch nicht unangenehm. Soweit ich das beurteilen konnte, war ich nicht der einzige, dem dieses merkwürdige Phänomen auffiel.
Astringart, der versucht hatte, mir den Todesstoß zu versetzen, war bleich wie die Wand und hatte sich in einen Sessel zurückgezogen, ich hingegen war noch auf den Beinen und grüßte die Frühschläfer, die die Arena in kleinen Gruppen verließen. Sicher, ich war auch nicht mehr ganz auf der Hut, Elsie war zwei-, dreimal unversehens neben mir aufgetaucht und hatte Gelegenheit gehabt, mir ganz leise ein paar Worte zuzustecken, von denen ich zum Glück rein gar nichts mitbekam, da ich geistesgegenwärtig genug war, mich zu entfernen, wenn auch nicht so schnell, wie ich mir gewünscht hätte. Ich war mir bewußt, daß die Gefahr wuchs, je dichter der Nebel wurde. Vor einigen Minuten erst war es ihr gelungen, mich in der Ecke neben dem offenen Kamin festzunageln. Keine Ahnung, was ich da trieb, jedenfalls hatte sie mit einemmal, als ich den Kopf hob, wenige Zentimeter vor mir gestanden. Erschrocken war ich zurückgewichen, aber hinter mir erhob sich die Mauer. Ich hatte mich auf das Schlimmste gefaßt gemacht, das Blut stockte mir in den Adern, und ich rüstete zum großen Zoff. Doch sie hatte kein Wort gesagt, und ihr Gesicht blieb friedlich. Bloß ihren Blick hatte sie auf mich gerichtet. Bei dem Zustand, in dem ich war, hatte ich mich nicht gerade behaglich gefühlt. Andererseits hypnotisierte mich die Milde ihrer Augen, ich fühlte mich in einem unsichtbaren Netz gefangen. Ich befürchte, während dieser wenigen Sekunden war ich ihr wehrlos ausgeliefert, aber hatte sie es wahrgenommen? Sicher nicht, es sei denn, sie hätte beschlossen, die Dinge nicht zu überstürzen. Kurzum, ich bemerkte zwar die Flasche Wild Turkey, die sie in der Hand hielt, aber ich spürte, daß mir wider Erwarten keine Gefahr drohte. Sie hatte den Blick gesenkt, ohne einen Ton zu sagen, und sich darauf beschränkt, das Glas zu füllen, das ich ihr wie versteinert hinhielt.
Während sie sich entfernte, hatte ich festgestellt, daß ich die gesamte Aktion hindurch den Atem angehalten hatte. Herr im Himmel, nie zuvor hatte ich sie so schön gefunden. Sang sie in der Stadt, beugten sich alle Typen in den vorderen Rängen vor, selbst wenn sie in Hosen auftrat, und ich nicht anders als die andern, obwohl ich zwanzig Jahre älter war als der Durchschnitt. Aber an diesem Abend – und von Stunde zu Stunde mehr- übertraf sie alles, was man sich erträumen konnte, es fiel mir schwerer und schwerer, mir dies zu verhehlen, und ich hatte eine bittere Ahnung der morbiden Faszination, die das Opfer beim bloßen Anblick seines Henkers erfüllt.
Ich erklärte Bernie, was ich empfand. Er mußte nicht lange nachdenken, um mir zu antworten, das Leben sei kurz. Das war leider genau das, was ich nicht hören wollte. Ich hatte gehofft, er würde mir ein wenig Mut machen, mich freundlich schütteln und mich auf den rechten Weg zurückweisen, doch so war er mir keine Hilfe. Nach und nach fiel mir wieder ein, daß die großen Kämpfe allein ausgefochten werden. Also untermauerte ich unverzüglich meinen wankenden Entschluß. Aber daß ich seit so vielen Monaten keine Frau mehr angerührt hatte, das war schwer beiseite zu wischen, das bedeutete ein schweres Handicap. Und mochte ich mir dessen ungeachtet auch wenig Sorgen machen, so war mir doch bewußt, daß ich schon einen weitaus leichteren Stand in meinem Leben gehabt hatte.
Paul war mir böse, er hatte eine Grimasse geschnitten, als ich ihm vorschlug, von etwas anderem zu reden. Zur Zeit quatschte er mit Marty und tat so, als hätte er mich vergessen. Ich sagte mir gerade, unsere Freundschaft werde es überleben, als Hermann, der sich endlich darauf besann, nachzusehen, wie es seinem Vater ging, an meine Seite kam und einen Arm um meine Taille schlang. Ich fühlte mich ermächtigt, ihm meinen Arm um den Nacken zu legen.
- Alles klar …? fragte er mich.
Ich sparte mir die Mühe, ihm zu antworten. Ich wollte nur, daß er damit nicht aufhörte, denn wie immer stimmte mich das Glück traurig, und der Abend war noch nicht vorüber. Er war noch keine siebzehn Jahre alt, und seine Schultern waren bereits so hoch wie meine, ich hatte kein Verlangen, in den kommenden Jahren zusammenzusinken. Ich hatte Lust, ihn in meine Arme zu schließen, zugehe jedoch meine niederen Instinkte, ich wußte, daß er mir bereits so ziemlich das höchste der Gefühle gewährte. Ich war besoffen, strahlte jedoch in diesem Augenblick eine absolute, fast schmerzliche Klarheit aus.
- Wann kommen die Geschenke dran …? fragte er mich und neigte leicht den Kopf zu mir herüber, ohne jedoch die Ecke, in der sich Gladys aufhielt, aus seinen schmachtenden Augen zu lassen, worauf ich ihm erwiderte, er habe keinen Grund, sich den Kopf zu zerbrechen, und alles komme zu seiner Zeit, wann genau, wüßte ich nicht, wahrscheinlich müßten wir abwarten, bis Sarah grünes Licht gab.
Ich hatte nicht den Eindruck, daß er mir richtig zuhörte. Ein dämliches Lächeln verklärte seine Züge, und fast hätte er mich damit angesteckt, wäre nicht gegenüber der Spiegel gewesen, der mich warnte und mir zu der Einsicht verhalf, daß ein glückseliger Schwachkopf in der Familie vollauf reichte, daß es besser war, dergleichen nicht auszuwalzen.
- Meine Güte, guck nicht so …! schimpfte ich ihm ins Ohr. Mach mir keine Schande, mein Junge, reiß dich zusammen …
Lachend schüttelte er den Kopf, den Blick auf seine Füße gerichtet.
- Ah! Ich weiß … Ich kann aber nicht anders …! Stell dir vor, sie hat mich angesprochen …!! Aahh, ich kann es immer noch nicht fassen …!
Ganz hingerissen von dieser schlichten Erinnerung, ließ er mich los und rieb sich die Hände. Unter diesen Umständen, darauf bedacht, die Grenzen nicht zu überschreiten, nahm ich meinen Arm von seinen Schultern.
- Hmm, ich hoffe, das hast du nicht von mir, sinnierte ich. Das Glück braucht mich nur zu streifen, schon schnürt mir ein Funke Ungläubigkeit das Herz zusammen … Naja, ich stimme dir zu, besagtes Glück ist eines der seltsamsten Gefühle, die einen ergreifen können, insofern ist es voll und ganz verständlich …
- Weißt du, unterbrach er mich, ich habe trotzdem den Eindruck, als Geschenk ist das ein wenig riskant. Vielleicht war das doch keine so blendende Idee, wie ich dachte. Wer weiß, vielleicht gefällt es ihr am Ende überhaupt nicht …!
Ja, es war unbestreitbar, daß er ebensoviel Mühe hatte, Ruhe zu bewahren, wie ich, mich auf den Beinen zu halten. Und nichts ging mir mehr ans Herz. Kein Zweifel, in unseren Adern floß das gleiche Blut, leitete ich schlicht daraus ab. Waren wir nicht ein Herz und eine Seele …? Zum Glück brauchte man nicht unbedingt nüchtern zu sein, um eine solch offenkundige Tatsache festzustellen, eine solche Selbstverständlichkeit konnte einem nicht entgehen, ganz gleich, wie voll man war.
- Merk dir eins, Hermann … Es ist wichtig, sich davon zu überzeugen, daß ein Mädchen ein wenig Humor hat … Naja, jedenfalls nachher.
Ich hoffte, er würde darüber nachdenken. Was das anging, hielt ich es mit dem berühmten Prinzip von Montaigne: Ein Kind zu unterweisen, heißt nicht, ein Gefäß zu füllen, sondern ein Feuer zu entfachen. Nebenbei bemerkt: ich muß gestehen, daß ich die Schriftsteller, die meine Reisegefährten waren, nicht mehr zählen konnte, jene, die plötzlich – und sei es nur für ein Wort – neben mir auftauchten, jene, die mein Leben erhellten, oh, und jene, die mir die Hand gereicht hatten, jene, die Worte gefunden hatten, mich aufzumuntern, jene, deren Stimme mich leitete, wenn ich mich verirrt hatte, und jene, die nicht mehr von meiner Seite wichen, die mir Tag für Tag neue Kraft gaben. Während Hermann, von gräßlichem Zweifel geplagt, von einem Bein aufs andere hüpfte und ich im Begriff war, mein Glas zum Gedenken an meine Lieblinge oder auf das Wohl einiger weniger zu leeren, brach Harold, wandelndes Unheil in Person, über uns herein:
- Na, was habt ihr euch Schönes zu erzählen, ihr zwei …?!
Ich warf ihm einen drohenden Blick zu, ohne daß ihn das im mindesten berührte, er hatte etwas unendlich Zartes zerstört, etwas, das er mit seinem stumpfsinnigen Kalifornierkopf nicht verstehen konnte, vermute ich. Und es war, als hätte er eine teuflische Maschinerie in Gang gesetzt, denn nach ihm kamen andere, um unser Tete-ä-tete zu zertrampeln, und so wurden Hermann und ich von zwei entgegengesetzten Strömen davongetragen, und ich blickte ihm nach, verzichtete aber darauf zu kämpfen und ließ mich ohne einen Schrei des Protests verschlingen.
Armer Hermann, es dauerte noch eine Weile, bis die ersehnte Stunde schlug. Wie eine Zwillingsblume, so wuchs seine Angst im Rhythmus meines Zusammenbruchs, aber wie dem auch sei, wir waren beide noch an Deck, ungemein pflichtgetreu, der dumpfen Heftigkeit der Aufgabe zum Trotz. Was mich betraf, grenzte es an eine Art von Wunder, daß mir immer noch eine relative Form beschieden war, versteifte ich mich doch halsstarrig und beinahe unbewußt darauf, weiter zu picheln.
Die Reihen waren wieder dicht gedrängt. Ich liebte diese späten, etwas vagen Stunden über alles, die ersten Zeichen der Erschöpfung, die leicht zerknitterten Kleider, das Durcheinander der Räumlichkeiten und die Verlangsamung der Dinge, ich war der Kerl, der sich darum kümmerte, die etwas zu grellen Lichter zu dämpfen, der von einer Gruppe zur anderen irrte wie eine Biene, die ihren Honig aus unwägbaren Partikeln zusammenstellte hier eine Geschichte, dort irgendein Unsinn, und wenn ich auch keine Bücher mehr schrieb, dieses Vergnügen war mir ebenso geblieben wie die Faszination, die meine Mitmenschen und alles, was mit dem Großen Theater der Welt zusammenhing, auf mich ausübten.
Elsie und Sarah unterhielten sich, und mir rauschten die Ohren. Da ich sie kannte, sorgte ich mich ein wenig, was bei einem solchen Gedankenaustausch herauskommen konnte, denn es sprang selten etwas Gutes heraus, wenn zwei Mädchen die Köpfe zusammensteckten. Ich trat für einen kurzen Moment in den Garten hinaus, um Luft zu schnappen, und die Kälte erschien mir weniger klirrend als noch gegen Mitternacht, aber ich hätte nicht sagen können, ob das an ihr lag oder an mir. Ich tränkte meine Trommelfelle in dem reinen Wasser des Schweigens, dann füllte ich meine Lungen mit einem Schwall frischer Luft. Ich erblickte den Fiat auf der anderen Straßenseite, weiß wie eine Lilie und ohne einen Kratzer, und ich dachte ein wenig darüber nach. Aber für den Augenblick blieb der Himmel stumm wie ein Fisch, und ich mußte mich hüten, meine Aufmerksamkeit zu sehr darauf zu konzentrieren, wenn ich nicht der Länge nach hinfliegen wollte, denn mittlerweile gaben meine Beine nach und sträubten sich gegen ihre Aufgabe, und mein ganzer Körper schwankte, von Zeit zu Zeit kippte ich hintenüber, vermied nur mit knapper Mühe einen Sturz, so daß ich auf dem gefrorenen Rasen taumelte, ihn mit meinen Füßen zertrat wie einen Teppich aus Eiswaffeln.
Einen kurzen Moment wäre ich fast der Versuchung erlegen, hätte ich mich beinahe auf den Boden gelegt, überzeugt, dies sei mein wahrer Platz, im Grunde verdiene ich nichts Besseres. Das hatte ich mitunter, daß ich urplötzlich in den tiefsten Brunnen purzelte, verbittert feststellte, daß ich nicht viel taugte. Dieser Gefahr setzte ich mich ganz besonders aus, wenn ich zuviel getrunken hatte. Dann konnte ich nur zu gut verstehen, warum mich Franck verlassen hatte und warum in meinem Leben nichts so recht klappte. Ich war darüber dann so betrübt, daß mir die Tränen in die Augen stiegen. Was diese traurigen Gemütszustände hervorrief, wußte ich nicht genau, aber ich nannte es einen üblen Suff, wenn es mit mir nicht aufwärts gehen wollte, ich vertrieb mir dann die Zeit damit, sämtliche Leute abzuklappern, die ich kannte, um nur ja niemand zu finden, der so beklagenswert war wie ich. Wie viele unnütze Mühe hatte ich nicht darauf verschwendet, mich selbst zu erforschen, in der verzweifelten Hoffnung, wenigstens eine gute Eigenschaft in mir zu entdecken, nur einen einzigen Grund, noch einen Funken Achtung vor mir zu haben. Dabei war ich geneigt, auch nur den geringsten Schimmer willkommen zu heißen, mich sogar anzuspornen, wenn ich endlich etwas in der Hand hatte, aber nichts hielt einer eingehenderen Prüfung stand, und die Zweige brachen einer nach dem ändern ab, und mein Sturz nahm kein Ende. Dann blieb mir nichts anderes übrig, als in einem letzten Aufbäumen darauf bedacht, mir einen tristen Morgen zu ersparen, möglichst früh die Hand nach meinem Röhrchen Alka Seltzer® auszustrecken.
Doch in diesem Augenblick der Verwirrung, die ständig schlimmer wurde – ich hatte eben beschlossen, bis zehn zu zählen und mich dann auf die Erde zu werfen –, kam jemand herbei, um mich mit sanfter Stimme aus der trostlosen Betrachtung meiner Seele zu reißen, deren ganze Erbärmlichkeit ich wieder einmal ermaß. Es war Elsie, die mich, meine Entrücktheit nutzend, am Arm faßte, um mir zu eröffnen, man warte auf mich, und ob ich verrückt sei, draußen herumzustehen. Fast hätte ich sie an Ort und Stelle gefragt, was sie an mir fand. Ich verzichtete jedoch darauf, denn was immer sie vorgebracht hätte, ich machte mich anheischig, ihr zu beweisen, daß sie sich irrte, in Nullkommanichts hätte ich ihn ihr demoliert, ihren Dan.
- Schon gut, ersparen wir uns beiderseits überflüssige Enttäuschungen, sagte ich mir. Kümmere dich um deinen Kram.
Ich mied ihren Blick und schwankte einen Moment, dann teilte ich ihr mit, ich käme. Ich sei aber groß genug, allein zu gehen. Erst spürte ich ihre Hand zögerlich auf meinem Bizeps, sie sagte keinen Ton, doch dann spürte ich an der Art, wie sie meinen Arm losließ, sehr deutlich ihre Enttäuschung, ihren Kummer, ihre Erniedrigung und die darauf folgende Verärgerung. Gefesselt von der unendlichen Feinheit des Phänomens, das um so wundervoller war, als es nicht die Frucht einer Umklammerung, sondern einer Lockerung war – anders gesagt, ich wäre weniger entzückt gewesen, wenn sie meinen Arm befummelt hätte –, kehrte ich den Kopf gen Himmel und ertappte mich bei einem Lächeln, während sie sehr schnell ins Haus zurücklief. Ah, sämtliche Nuancen ihrer Aufregung hatte ich wahrgenommen, als sie ihre Hand zurückzog …! War ich denn gar so erbärmlich, wie ich behauptete, wenn ich derart feine Wunder erfassen konnte, war das einem jeden Dahergelaufenen vergönnt …? Das war schwer zu sagen, dennoch, ich fühlte mich besser.
Ich ging also ins Haus zurück und kredenzte mir ein Glas, ich postierte mich neben Gladys, auf der Armlehne ihres Sessels, und beobachtete das unwiderstehliche Stapeln der Geschenke, die man zu Füßen des Baumes trug. Sarahs Tannenbaum war nur ein schwacher Abglanz des meinen, aber er nahm Gestalt an, je mehr man ihn beehrte, so als wären diese Geschenke für ihn bestimmt, und beinahe alle Blicke waren auf ihn gerichtet – sollte sie sich ruhig entsinnen, was sie mir angetan, und bloß nicht darauf bauen, meinem Gesicht nach all den Nächten, die sie mir verdorben hatte, das geringste Zeichen von Versöhnung zu entnehmen, sollte sie sich ruhig in Gedanken an mich wichsen, o ja, wer weiß, vielleicht war das schon geschehen, sagte ich mir, plötzlich angeregt, wer weiß, vielleicht hatte sie sich längst angewöhnt, meinen Namen zu murmeln, wenn sie sich wienerte.
Entzückt ob dieser Vermutung, zugleich grausam gestimmt, erhob ich mich, legte Pretty Woman auf und kehrte mit Unschuldsmiene an meinen Platz zurück. Der Alkohol haute mich buchstäblich um, aber eine dunkle Kraft bewahrte mich davor, zusammenzubrechen, und mein Verstand vermochte die Dinge weiterhin irgendwie zu registrieren. Ich fühlte mich ein wenig matt, aber daß man sich bloß nicht darauf verließ, daß man sich sogar in acht nahm, denn mir entging nichts, und mein Blick wanderte gelassen über die Versammlung und fuhr mit einer Sicherheit, die man mir bei meinem Anblick nur schwer zugetraut hätte, in die Herzen hinein. Stehenbleiben, geradeaus gehen, jede noch so geringe Bewegung bereitete mir allmählich Probleme. Aber mein Unbehagen war harmlos, ach, wie lächerlich erschien mir zuweilen der Preis der Dinge in diesem Leben, und wie leicht ging mein Atem!
Daß ich mich so gut hielt, daß ich noch die Kraft hatte, diesen Körper aus Blei zu manövrieren, lag daran, daß mir noch eine Sache zu sehen blieb, etwas, das ich um nichts in der Welt hätte verpassen wollen. Diese Nacht war genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte, die letzte einer langen Reihe, und ich war entschlossen, sie bis zum Schluß zu begleiten, ich wollte sie enden sehen, mich vergewissern, daß sie sich nicht mehr rührte, bevor ich zur Tür hinaus ging. Nicht, daß ich mir eine dieser wunderbaren und endgültigen Morgenstunden erhoffte, die man im Leben nur selten zu sehen bekommt, aber ich ahnte den Duft des Neuen, das Zittern des jungen Tages, und das reichte mir vollauf. Ich wußte, daß das nicht das Ende meiner Sorgen war, ich wußte, welch Schlamassel meiner harrte, doch trotz allem überflutete mich ein Lächeln. Ich wünschte mir nur, daß Hermann seinerseits zu Rande kam. Bevor ich besoffen umfiel, wollte ich sehen, wie sich die Sache für ihn entwickelte. Ich hatte ihn nicht entmutigen wollen, ich hatte ihm nicht gesagt:
- Was immer du tust im Glauben, ihnen zu gefallen, ein Risiko besteht immer.
Als es soweit war, stand ich auf, um meine Geschenke einzusammeln. Ich mußte mich fürchterlich zusammenreißen, um diese simple Aktion durchzuführen, erheblich mehr, als ich gedacht hätte.
- Ah, nur ein wenig mehr, sagte ich mir, und du hättest den Bogen überspannt …!
Die Welle der Benommenheit überwindend, die dumpf sich abzeichnete, ließ ich mich, als könnte ich kein Wässerchen trüben, an Hermanns Seite nieder, ohne daß er dessen gewahr wurde, so sehr war er damit beschäftigt, nach Gladys zu linsen, wie wild jede ihrer Bewegungen zu verfolgen.
Jeder außer ihm lächelte und zwitscherte und zerriß Geschenkpapier. Ich hatte meine noch nicht erspäht, zögerte aber, mich vorzuwagen, schwach, wie ich war, kraftlos wie ein Blatt im Herbst und ernstlich steif in den Beinen, dem geringsten Windhauch wehrlos ausgeliefert. Ich versuchte Würde zu bewahren. Zum Glück wirkten sie alle sehr beschäftigt, und mein Zustand wie auch meine Zurückhaltung blieben unbemerkt, und auch über den anbrechenden Tag, den ich einen Augenblick am Fenster beobachtete, verlor niemand ein Wort, es drehte sich alles um den wunderhübschen Kugelschreiber, um die wunderbare Nudelmaschine, um die herrliche, ah, einfach tierische Turnhose! Das Ganze hatte etwas Beruhigendes an sich. Aber nach einer Weile merkte ich, daß Hermann aufgehört hatte zu atmen.
Ich wandte mich also Gladys zu und erkannte sogleich das kleine Paket, das sie gerade aufgehoben hatte. Sie zögerte einen Moment, dann betrachtete sie das fragliche Objekt mit einem schwachen Lächeln. Es sah aus, als hätte sie Zeit en masse, als wollte sie das Ding eine ganze Weile untersuchen, ohne es zu öffnen. Hermann schenkte mir eine schmerzliche Grimasse. Ich stellte erfreut fest, daß er wieder atmete. Plötzlich baute sich Elsie vor mir auf. Ich trat einen Schritt zur Seite, ohne einen Ton zu sagen, ohne davor zurückzuschrecken, die Spitzen ihrer Brust zu streifen, jedoch mit Eiseskälte. Wahrscheinlich war ihr die Zeit lieber gewesen, wo ich sie in den Mund nahm oder mit meinen Händen umschloß und mich eine Viertelstunde lang darum kümmerte, bis sie von Kopf bis Fuß anfing zu zittern, aber wer war schuld daran?
- Du schaffst es nicht, mich wütend zu machen …. flüsterte sie mir zu und schob mir ein paar Päckchen unter den Arm, die für mich bestimmt waren.
- Freut mich zu hören …. erwiderte ich, um meine Aufmerksamkeit sogleich wieder auf Gladys zu konzentrieren, und das just in dem Augenblick, da sie sich endlich dazu durchrang, es aufzumachen, ihr famoses Geschenk. Natürlich wußte sie haargenau, von wem es war, und während sie vorsichtig an dem hübschen Bändchen zupfte, das sich darum schlang, strahlte ihr ganzes Gesicht, wie es nur in tiefster und innigster Wonne erlaubt ist, fürwahr, ein Sieg auf der ganzen Linie. Dennoch, trotz der himmelschreienden Klarheit des Phänomens, gab es einen, der noch nicht kapiert hatte, was das bedeutete, der beinahe zitterte und immer noch Blut und Wasser schwitzte. War ich denn so ein erbärmlicher Lehrer, blieb denn nichts von all dem, was ich ihm beigebracht hatte …?!
Ein Hauch von Bestürzung wehte für einen Moment über mein Haupt, lang genug, um mich dem Gedanken nahezubringen, daß ich alles von Anfang bis Ende verpfuscht hatte.
- Du hast wohl nie einen Fehler gemacht …?
- Reden wir nicht mehr davon … Ich hab dich aus meinem Leben gestrichen, brummte ich, ohne deshalb die Kraft aufzubringen, ihr meinen Arm zu entreißen.
- Ah, ich bitte dich … Schau mich an …!
Ich hatte ganz und gar nicht den Eindruck, daß sie das verdiente, und im übrigen hatte ich nur Augen für Gladys, die so langsam wie irgend möglich mit ihrem Auspacken fortfuhr. Ich an ihrer Stelle hätte Angst gehabt, Hermann schlafe ein, aber sie war sich ihrer Sache verdammt sicher. Und damit ihm nur ja nichts entging, rückte sie merklich näher an ihn heran. Es war ein Wunder, daß niemand seine Nase dazwischen steckte, daß ein Typ wie Harold am anderen Ende des Zimmers beschäftigt war.
- Ich glaube dir nicht …!
- Elsie, laß mich in Frieden. Jetzt ist nicht der rechte Moment. Sie preßte sich an mich. Ich seufzte und betete, daß sie stillhielt, denn Gladys’ Werk näherte sich seiner Vollendung.
Hermann war wie versteinert. Der lässige Stil, den er ansonsten mit Bedacht pflegte, war nur noch eine blasse Erinnerung, und es war sicher das erste Mal, daß ich ihn nicht infolge einer körperlichen Anstrengung schwitzen sah, zudem mitten im Winter, höchstens noch, wenn er Fieber hatte. Ich hatte größte Lust, ihm einen Tritt zu verpassen, damit er wach wurde, aber ich brauchte beide Beine, um nicht umzufallen, und in gewisser Weise mußte ich zugeben, daß auch Elsie nicht ganz überflüssig war, ich war froh, mich auf sie stützen zu können. Also versuchte ich in geistigen Kontakt mit ihm zu treten, aber vergebens, ich brüllte wütend vor seiner Tür, doch er hörte mich nicht.
Gladys hatte inzwischen ein kleines, durchsichtiges Fläscchen in Händen, das sie mit vergnügtem Lächeln betrachtete. Einst hatte es ein Parfüm enthalten, das mich gewiß bis an mein Lebensende verfolgen wird. Hermann hatte es zwei Tage lang mit Geschirrspülmittel gefüllt und anschließend an der frischen Luft trocknen lassen, bevor er es sich wieder vorgenommen hatte. Zuweilen wehte Francks Geist mit unglaublicher Deutlichkeit durch unser Haus, und ich mußte aufstehen, um die Fenster zu öffnen, oder ich ging vor die Tür. Kurz und gut, Gladys hielt es also in der Hand. Und fing an, sich Fragen zu stellen.
Hermann hatte den Gedanken, seinem Geschenk einen Brief beizulegen, sehr schnell wieder aufgegeben. Nach einigen unbefriedigenden Versuchen, bei denen offenbar nichts Gescheites herauskam, sobald er mehr als drei Worte aneinanderreihen wollte, hatte er mich hinzugerufen, damit ich meinen Finger auf das Band hielt, während er den Knoten fabrizierte, und mir mitgeteilt, daß er darauf verzichte, ihr zu schreiben, er finde das ohnehin ziemlich bekloppt.
- Nein, ehrlich, ich habe darüber nachgedacht … Ich glaube, es ist viel einfacher, es ihr zu sagen, weißt du …
Ich hatte ihm keine Antwort gegeben. Ich hatte mir gedacht, daß er im Grunde vielleicht recht hatte und daß seine Schauspielerei endlich zu etwas gut war.
Ich war mir bewußt, daß sich Elsie eng an mich schmiegte, daß sie mir arg zusetzte, wenn sie eines meiner Beine beinahe zwischen ihre preßte und ihren Unterleib an meinem Oberschenkel rieb. Und ich sagte mir, Herrgott nochmal, warum hat er ihn nicht geschrieben, diesen verflixten Brief?
Als Gladys das Fläschchen öffnete und sich anschickte, den Duft tief einzuatmen, brachte Hermann es fertig, die Augen niederzuschlagen.
- Ah, immer besser …! knurrte ich.
- Oh, Dan, Liebling … Es ist so lang her …!
Sie war auf dem Holzweg. An diesem Gefühl des völligen Ausgelaugtseins, an dieser Weltuntergangsstimmung, die mich am Ende dieses schmerzlichen Jahres erfaßt hatte, war sie nicht ganz unschuldig. Zusätzlich zu den Sorgen, die mir meine Umgebung bereitete, und zu meiner finanziellen Notlage hatte sie mich durch eine große emotionale Wüste und ein sexuelles Nichts tappen lassen, die allein ausgereicht hätten, mich flachzulegen. Ich wimmerte nicht, man solle mir den Gnadenstoß geben, aber ich fühlte mich am Ende dieser langen Prüfung furchtbar kraftlos und sogar sehr schwach auf den Beinen. Ich war also nicht mehr imstande, ein Lächeln aufzusetzen, zumal im Augenblick eine dringendere Angelegenheit eine ganz andere Aufmerksamkeit erforderte.
Während sie das Fläschchen wieder unter ihre Nase hielt, überlegte Gladys von neuem. Es war unschwer zu erraten, was ihr durch den Kopf ging, sie dachte:
- Verflixt, ich will gehängt sein, wenn das kein Wasser ist …! Sie versuchte es, indem sie die Augen halb schloß, dann gab sie auf.
- Puh, ich passe! schien sie zu sagen.
Dann richtete sich ihr Blick auf Hermann. Ihr Gesicht war nur mehr eine sanfte Frage, was ihm sicher gefallen hätte, wenn er seine Augen weniger stur auf den Boden geheftet hätte.
- Soll ich’s dir sagen …? Naja, das sind seine Tränen! informierte ich sie mit samtener Stimme, indem ich, so behende ich in meinem gehemmten Zustand nur konnte, hinter ihr aufkreuzte.
- Seine was …?!
Sie hatte die Augen aufgerissen und starrte uns an, Elsie und mich, als wollte sie fragen, ob wir sonst noch was auf Lager hätten. Für einen Augenblick gab ich mich der Illusion hin, Hermann werde sich bei diesen Worten einen Ruck geben und mir zu Hilfe eilen, aber diese verzweifelte Hoffnung mußte ich sehr schnell fahren lassen. Da maß er fast einsachtzig, hängte einen im Laufen ab und machte auf abgebrüht, aber daß ich nicht lache, bei der geringsten Herzensangelegenheit war das alles wie unter den Teppich gekehrt.
Ich war dermaßen am Ende, daß ich fast zusammenbrach. Ich hatte den Eindruck, als wäre ich verschüttet, als lastete die Decke auf meinen Schultern, Elsie war vollkommen weggetreten, sie klammerte sich an mich, schmiegte sich an meinen Hals und versuchte mir ihre Zunge ins Ohr zu schieben. Mein ganzer Körper war steif, so viel Anstrengung kostete es mich, aufrecht stehen zu bleiben. Die finstere Lawine der Leiden, über die ich unsinnigerweise nachgrübelte, zerriß mir das Herz.
- Ach, Dan …! sagte ich mir. Wird dein Martyrium jemals enden …?!
- Paß auf, Gladys …
- Also nein, Dan … Das ist doch ein Scherz …!
Es war klar, daß sie diesem Elendsfläschchen inzwischen lebhaftes Interesse entgegenbrachte. Daß sie die Sache zugleich amüsierte, rührte und aufregte. Und daß mein schönes Schweigen folglich nicht ewig währen konnte.
- Glaub mir, ich wollte, es wäre ein Scherz, ich wünschte aufrichtig, ich wäre woanders, und um dir die Wahrheit zu sagen …
- Dan, würdest du bitte wiederholen, was du …
- Ja. Seine Tränen, ich sag’s dir …! Herrgott … Ich habe sie fließen sehen, während er deinen Namen murmelte … Ich war dabei, Gladys, ich war Zeuge all dieser Dinge … Ich will verdammt sein, wenn ich dir nicht die Wahrheit sage … Tränen, größer als Apfelsinenkerne, ehrlich … Er hat nur die schönsten aufgefangen … und nur einige pro Sitzung … Ah, verflixt … Ich versichere dir, das war kein schöner Anblick … Ach, weißt du, eigentlich wollte ich mich nicht mehr in diese Geschichte einmischen … Ich denk lieber nicht mehr daran, du verstehst schon … Aber guck ihn dir an, ich kann nicht umhin, an seiner Stelle zu reden … Ich bin todmüde, meine Liebe, ich merk schon, ich stell mich dumm an … Ich weiß nicht, wie er es vorgebracht hätte, aber er denkt seit zig Tagen darüber nach … Vielleicht hätte er dich im gegebenen Moment in seine Arme geschlossen … Ach, und im Grunde geht mich das alles nichts an … Du solltest mich besser zum Teufel schicken … Außerdem, was für eine Idee …! Für mich war die Sache von Anfang an völlig idiotisch … Stell dir vor, deine Tränen als Weihnachtsgeschenk … Ogottogott, was er sich davon wohl erhofft hat … Ich würde sagen, das ist fast schon widerlich, sich so zu grämen …
- Dan, tut mir leid, aber das möchte ich lieber selber beurteilen …
- Ja, natürlich … Sicher …. seufzte ich.
Ich hatte das Gefühl, der Schweiß lief mir in Strömen. Es hatte dermaßen Konzentration gekostet, diese Rede zu schwingen, mein Wanken zu unterbinden und trotz der ernstlichen Beinchen, die ich mir stellte, artikuliert zu sprechen, daß ich unwillkürlich anfing zu hecheln. Mit einem schlichten Blick stellte ich fest, daß eine glückliche Fügung die anderen immer noch von uns fernhielt. War das ein Zeichen, daß ich meine Sache nicht zu schlecht gemacht hatte, eine Aufforderung, auf dem Weg fortzuschreiten, den ich so stürmisch eingeschlagen hatte?
Soweit ich das beurteilen konnte, war Gladys angeschlagen. So daß ich im Grunde nur noch mit dem Messer in der Wunde herumzuwühlen brauchte.
- Naja, es ist sonnenklar, was er damit sagen wollte …. hob ich mit einem gräßlichen Lächeln von neuem an. Aber sowas von ungeschickt … Ah, weißt du, diesmal bin ich überhaupt nicht stolz auf ihn … Bis zum Schluß habe ich gehofft, er würde auf diese Seelenschau verzichten … Ich habe gehofft, in einem Anflug von Schamgefühl würden ihm die Augen aufgehen … Aber du siehst ja das Resultat … Hermann, habe ich ihm gesagt, sei kein Trottel …. gib diese Idee auf …. mach ihr ein richtiges Geschenk, daran mangelt es doch nicht … Ach, verflixt und zugenäht, wenn er sich einmal was in den Kopf gesetzt hat …!
Ich hatte fast gewonnen, sie hing an meinen Lippen, und ihr kleines Herz klopfte mittlerweile für diesen verrückten Kerl, während sie sich offenkundig zusammenriß, mir nicht zu sagen, daß ich Vollidiot mich bitte aus Sachen herauszuhalten hätte, von denen ich nun rein gar nichts verstand. Mich überkam ein richtiges Glücksgefühl. Und die Anwandlung, diesen unbestreitbaren Erfolg in einen glorreichen Sieg umzumünzen.
- Nun denn …! Die Einzelheiten erspare ich dir lieber … Weißt du, ich bin wütend auf ihn …! (und ich nutze die Gelegenheit, meine Päckchen loszuwerden und ihr vorsichtig das Fläsch-chen aus der Hand zu nehmen, um es sogleich in die Lufl zu schleudern) Unglaublich …! (und ich fange es auf, kopfschüttelnd, seufzend) Meine Güte, sag schon, daß ich träume (sage ich, während sie beschließt, mir wieder abzunehmen, was ich mit scharfem Blick schon betrachte) Herr im Himmel, was gibt’s da schon zu sehen …? Ah …. welch unsichtbarer Kreuzweg …. so eine verflixte Ungeschicklichkeit …! (du meinst, was für eine geniale Idee, welch meisterhafter Schachzug …!) Man muß wirklich früh aufstehen, um zu wissen, woher das kommt … (und ich schiele mit mitleidigem Blick nach dem Ding) Ehrlich, es fehlt ihnen nur die Sprache … (es ist soweit, ich schneide Fratzen) Ah, diese Rolle hatte ich weiß Gott nicht verdient …! Mist, verdammter … (Elsie ist dabei, meine Päckchen aufzuheben, ich werfe einen kurzen Blick zwischen ihre Beine, ich habe keine Zeit) Ja, Mist, verdammter …! Wenn ich bedenke, er ist mein Sohn und ich muß dir all das erzählen …! (worauf ich ihr das Fläschchen unversehens in die Hände knalle, und wir gucken uns an, und sie haßt mich) Bedenke, das ist nur eine Kostprobe … Die meisten sind danebengefallen, ah, das ist ein schwieriges Unterfangen … (ich bleibe todernst, ich verbreite eine zartbittere Stimmung) … Trotzdem, glaub mir – darauf habe ich höchstpersönlich geachtet –, niemals haben wir deinen Namen in unserer Bude erwähnt, aber das war vergebliche Liebesmüh … (ich versuche, ihr das Fläschchen wieder zu stibitzen, aber sie ist schneller als ich, und ich gebe mich geschlagen, ich weiß, was ich wissen will) Ich habe ihm sogar gesagt: Am besten, du weinst JEDESMAL, wenn du an sie denkst, dann bekämst du es schneller voll …! (und genau in diesem Moment schaltet sich Hermann ein)
Das trifft mich so unvorbereitet, daß mein Herz einen Satz macht, als er zwischen uns auftaucht. Eigentlich sollte ich froh sein, ihn zu sehen. Nun, mich befällt sogleich ein merkwürdiges Unbehagen. Seine griesgrämige Miene stört mich weniger, es ist etwas anderes, jedenfalls ist mir seine Gegenwart entschieden unangenehm. Dann, während ich noch überlege, überkommt mich urplötzlich die Ahnung eines unmittelbar bevorstehenden Desasters, einer gottverfluchten Sintflut, obwohl er noch keinen Ton gesagt hat. Aber ich kann nichts dagegen tun, ich bin nicht geistesgegenwärtig genug, und das Blut gefriert mir in sämtlichen Adern.
- Nein, hör nicht auf ihn, Gladys … Spuck mir lieber ins Gesicht …! sagt er.
Mir wird nicht einmal übel, als ich mir diese Schändlichkeiten anhören muß. Ich habe das Gefühl, etwas Vergiftetes gegessen zu haben, und so weiche ich vorsichtig, nach Luft ringend, einen Schritt zurück. Stumpfsinnig starre ich Hermann an. Inständig, aus tiefster Seele bitte ich ihn zu schweigen, um Himmels willen, Kleiner, halt die Klappe, ich flehe dich an …! Aber meinen Lippen entringt sich nur ein schwaches, trübseliges Krächzen, die Andeutung eines Röcheins, ein in Anbetracht der Eindringlichkeit meiner Bitte blasphemisches Kullern.
Gladys, die Ärmste, steht völlig verdutzt da. Ich erwäge einen Augenblick, mich auf sie zu stürzen, um ihr die Ohren zuzuhalten, aber ich bin die Reglosigkeit in Person. Hermann wirft mir einen betrübten Blick zu. Erbost gucke ich in die Luft. Um ihn alsbald mezza voce sagen zu hören:
- Glad, ich bin nur ein elender Lügner …!
Für den angenehmen Bruchteil einer Sekunde vergesse ich vollkommen den Schlamassel, in dem wir sitzen, und ich sage mir, guck an, ich wußte gar nicht, daß er sie Glad nennt, das ist gar nicht so übel …! So daß ich nicht sofort die ultrakomische Seite der Sache erfasse, aber da bin ich nicht der einzige. Die Windstille hält jedoch nicht lange an, denn schon fährt er verbissen fort:
- Wenn ich jetzt schweigen würde, glaub mir, ich könnte dir nicht mehr in die Augen schauen … Gib mir das Fläschchen zurück, damit ich es verschwinden lasse … Bitte …!
Ich betrachte sie erneut, es ist nicht das erste Mal, daß hienieden einem Typen, der sich selbst aufgibt, die Decke auf den Schädel knallt oder daß es ihm die Sprache verschlägt. Es fällt mir immer noch schwer zu glauben, daß einen derart unfaßliche Schicksalsschläge ereilen können.
- Ah, Elsie, kneif mich …! sage ich mir, während Gladys, gänzlich verunsichert, herauszurücken zögert, was sie zwanzig Sekunden zuvor noch so aufgewühlt hat. Allein Hermann läßt sich in seinem Schwung nicht aufhalten und streckt ihr eine unerbittliche Hand entgegen:
- Menschenskind, gib mir dieses Scheißding …! ächzt er tonlos. Wenn du wüßtest, wieviel Zwiebeln ich geschält habe …
Ich warte nicht einmal ab, bis er zu Ende gesprochen hat. Ich verliere auf einmal jedes Interesse an dem, was folgen wird.
- Na schön, das reicht … Gehen wir! knurre ich abwesend, um sogleich einen fürchterlichen Schlenker in Richtung Flur vorzunehmen. Mir geht nur noch eins durch den Kopf: nichts mehr sehen, nichts mehr hören, keinen Gedanken mehr an diese Geschichte verschwenden. Man muß sich seiner Grenzen bewußt sein, wenn einem an seiner Gesundheit liegt.
- Dan, was ist los mit dir …?! sorgt sich Elsie, die wie ein Schatten an mir klebt.
Ich antworte nicht, ich verlange nichts, ich gehe weiter und schleife sie mit, da sie sich nun mal an meinen Arm klammert.
Bis ich auf einen Stuhl treffe. Zuerst pralle ich mit den Beinen dagegen, doch dann, wie ich ihn entdecke, schenke ich ihm einen gerührten Blick. Dann belege ich ihn mit Beschlag.
- Allmächtiger Gott, was tut das gut …! stoße ich schnaufend hervor, dieweil ich mechanisch die Szenerie ringsum betrachte.
Es stellt sich heraus, daß wir in der Küche gelandet sind. Aber das ist mir ganz egal, solange man mich in Ruhe läßt. Der Tag bricht gerade an, und es herrscht ein angenehmes Halbdunkel. Der Raum ist so leer, wie ich es mir nur erträumen kann. Mit der Fußspitze stoße ich die Tür an, um das Gemurmel aus dem Wohnzimmer noch mehr zu dämpfen. Mir ist vage bewußt, daß ich damit meine letzten Kräfte vergeude, aber ich schöpfe daraus einen trüben Seelenfrieden. Kurzum, ich werde erhobenen Hauptes fallen. Die Morgendämmerung läutet die letzte Runde ein, aber tapfer habe ich die Nacht durchgekämpft, und ich habe keine Mühe gescheut. Drum sei ich erlöst, nun ende meine Prüfung, beschließe ich und beuge mich zum Tisch hinüber.
- O Dan, Liebling, du hast doch genug getrunken …!
Ach wo, was kümmert es mich …! Den Verstand zu einer Fratze verzerrt, greife ich seelenruhig nach der Flasche und führe sie mit müdem Armschwung an meine Lippen.
Ich zeige nicht die geringste Reaktion, als mit beiden Händen, ohne Vorwarnung, Elsie ihr Kleid zu schürzen beginnt. Ich kann ihr nur stumm zusehen, unfähig einzuschreiten. Sie daran hindern, sich rittlings auf meinem Schoß niederzulassen …?! Woher die Kraft nehmen? Wahre Tränen möchte ich vergießen ob dieses geschwächten Körpers, oh, dieser kleine Finger, unmöglich, ihn krumm zu machen, diese armen wackeligen Beine und diese völlige Lähmung, welche mich beim Anblick dieser langen, seidenweichen Schenkel befällt, die quer auf den meinen ruhen.
- Komm, steh auf! Schmeiß sie runter …! sporne ich mich an. Allein die Flasche an die Lippen zu setzen macht mir tierisch zu scharfen. Na gut …. sage ich mir. Wenn sie nur so bleibt, ohne sich zu bewegen, wenn sie stillhält, kein Problem … Meine Ehre ist gerettet, solange wir uns nicht auf mehr einlassen … Sie kann ruhig auf meinem Schoß sitzen, das heißt nichts … Wir können uns einen Moment zusammen ausruhen, ihr Kopf an meiner Schulter, das hat nichts weiter zu bedeuten … Sie soll bloß nicht glauben, ich hätte kapituliert … Sie soll brav sitzen bleiben, dann ist alles bestens … Ich bitte dich, Elsie …. einigen wir uns auf Remis …!
Wir rühren uns nicht. In dem zarten Halbschatten, den das langsame Heraufziehen des Tags nicht zerstört, gelingt es mir, einen Augenblick reiner Ruhe zu genießen. Es gibt nur noch diese Küche, der Rest der Welt ist zusammengebrochen, und ich will nichts, ich verlange nichts, nur das, was mir geschenkt ist, oh, wie heiter erscheint mir auf einmal das Licht des anbrechenden Tages.
Doch da wird sie auch schon wach. Nicht einmal eine Minute hat sie es ausgehalten. Herrgott, wie hatte ich ihr nur vertrauen können, wie oft muß ich noch auf ihre Doppelzüngigkeit hereinfallen, bis ich einsehe, daß sie niemals aufgeben, daß sie sich niemals an die Regeln halten würde, daß noch nie eine Partie beendet war, bevor sie nicht unser naives Haupt schwenken durften …! Kurz und gut, da sitze ich also, und ihre Hand, die schlängelt sich unter mein Hemd, wo ich vollkommen wehrlos bin. Es macht mich ganz krank.
- He, was tust du …?! murmele ich atemlos.
Man sollte meinen, meine Frage verleihe ihr Flügel. Sie klammert sich an meinen Hals und drückt sich an mich und preßt ihren Schamberg an meinen. Und ich weiß, was das bedeutet. In einem letzten Aufbäumen versuche ich die Flasche zu leeren, aber sie entwindet sie meinen Händen, indem sie mich mit sanften Worten trunken redet. Ich wimmere in meiner Ohnmacht, was sie verkehrt interpretiert, denn flugs schält sie eine nackte Brust aus ihrem finsteren Schlupfwinkel und gibt sie mir zu lutschen. Ich mache mich steif, ich starre sie an, zu Tode betrübt.
- O nein … Was machst du denn …??! ächz ich mit matter Stimme.
Sogleich packt sie die andere aus. Ich senke den Kopf. Und ich bin heilfroh über die relative Dunkelheit, während armselige Tränen aus meinen Augen quellen.
- O Elsie …! Was machs’n du …?!!