9

Am nächsten Morgen zogen Hermann und ich los, um ein paar Einkäufe zu tätigen. Der Himmel war grau. Der Wind hatte aufgehört, aber die ersten Flocken tanzten reichlich früh für die Jahreszeit durch die Lüfte. Nicht daß ich unbedingt Wert darauf legte, ihn zu begleiten, aber meines Wissens führte kein Weg daran vorbei, denn wenn ich ihn allein losschickte, war er glatt fähig, mit leeren Händen zurückzukommen und mir zu verkünden, er habe unterwegs den Dingsda oder die Soundso getroffen oder ihm sei plötzlich irgendeine dringende Sache eingefallen, und im Grunde habe das ja auch keine Eile. Ich fand, es war schon eine Art Wunder, daß er sich morgens überhaupt anzog.

Ich hatte ihn mir während des Frühstücks vorgeknöpft, und es war mir gelungen, mit ihm zusammen eine Liste aufzustellen von allem, was er brauchte. Ich hatte ihn zum Schrank schleifen müssen. Ich hatte ihn zu seiner Kollektion T-Shirts beglückwünscht. Ich hatte wissen wollen, ob er die Absicht habe, sie eins über dem anderen anzuziehen, wenn wir unter Null abdrifteten, ob er es nicht auch bedauerlich finde, daß ich mich um diesen Kram kümmern müsse.

Ich wartete neben der Kasse auf ihn, die Finger krampfhaft um meine Kreditkarte gepreßt und zitternd vor Aufregung, daß nur ja niemand telefonisch um die Bewilligung nachfragte. Ich wußte nicht genau, wie es mit meinem Konto stand, denn ich sah mir meine Auszüge nicht mehr an. Ich wußte, es sah schlecht aus, das auf jeden Fall, ich hatte kein Bedürfnis, mich in die Einzelheiten zu stürzen. Ich hoffte, mein Filialleiter hatte auch Kinder und erinnerte sich an die Zeit, wo er sich auf meine Kosten gemästet hatte, ohne daß ich einen Ton gesagt hatte.

Während sich Hermann eine Jacke aussuchte, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, ein Paar Stiefel aus Straußeleder anzuprobieren, wahre Wunderdinger, unabhängig vom Preis. Der Verkäufer behauptete, sie stünden mir göttlich. Ich war nicht blind, aber das war ein hübsches Sümmchen in meiner Situation. Wir nickten einander zu und bewunderten meine Füße. Ihm zufolge durfte ich nicht länger zögern, aber ich gab keine Antwort. Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, ob man den Teufel mit Beelzebub austreiben konnte. Wie dem auch sei, nach kurzer Überlegung war ich in der Stimmung, dem Tiger auf den Schwanz zu treten. Ich hob den Kopf, und indem ich mir eine Zigarette ansteckte, bat ich den Kerl, sie mir einzupacken.

Für einen kurzen Moment zweifelte ich an der Realität meiner finanziellen Schwierigkeiten und scherzte mit dem Typ, der mich hinter seiner Registrierkasse erwartete. Ich war außerordentlich zufrieden, daß ich dieses Problem mit soviel Energie behandelt hatte. Ein leichter und köstlicher Schwindel elektrisierte mich, so daß ich allen Ernstes nach einem Paar Handschuhe aus Pekarileder unter der Scheibe des Ladentischs schielte.

Hermann riß mich aus meinen Träumen, als er mit einem superben, durchgehend gefütterten Lederblouson aufkreuzte. Ich hörte den Verkäufer unauffällig durch die Zähne pfeifen. Ein Anflug von Panik zuckte mir durch den Kopf, während ich über den Kragen der Fütterung strich, eine eiskalte Hand legte sich auf meinen Nacken. Ich erzitterte, wenn auch unmerklich, als ich gleich danach die unübertreffliche Qualität des Leders entdeckte, seine verblüffende Geschmeidigkeit. Ich hatte das Gefühl, mir einen Finger in der Tür zu klemmen.

- Wie findest du die …?

- Schön … Wirklich sehr schön … Großartig …. brachte ich mit mechanischer Stimme hervor.

- Komisch, ich hab gar keinen Preis gesehn …

- Das macht nichts, sagte ich zu ihm. Entspann dich …

Ich blickte den Verkäufer an. Er lächelte mir zärtlich zu. Statt den Preis zu nennen, ganz so, als handele es sich um etwas Schändliches, kritzelte er mir die Summe auf einen Block.

Ich stützte mich mit den Ellbogen auf den Ladentisch, um meine Beine zu entlasten.

- Besser das sehen als blind sein …! sagte ich.

- Aber ja …! gab er mir zur Antwort.

Es herrschte dichtes Schneetreiben, als wir nach Hause fuhren. Die Wagen hatten am hellichten Nachmittag die Scheinwerfer an, und die Straßen waren bereits rutschig. Genauer betrachtet, machte es nicht immer Spaß, ein Motorrad zu haben. Die Gründe, die mich nach Francks Abreise dazu bewogen hatten, den Aston Martin zu verkaufen, waren längst nicht mehr so klar. Augenklimpernd und mit der Zunge nach den Schneeflocken schnappend, liebäugelte ich einen Moment mit dem Gedanken, mir einen Kleinwagen zuzulegen, um den Unbilden der Witterung zu entgehen, einen in Richtung Fiat 500, und die Triumph für die schönen Tage aufzusparen. Ich war hocherfreut, die ideale Lösung gefunden zu haben. Der Schnee fiel wie verrückt und fing an, uns einzudecken, aber ich lachte innerlich, denn das war bestimmt das letzte Mal. Um so mehr, als mich so eine Kiste kein Heidengeld kosten würde.

- Ah, Herrgott nochmal, du armer Irrer … Armer Irrer …!! sagte ich mir im nächsten Augenblick. Wie willst du von heute an nur die geringste Ausgabe ins Auge fassen …?! Wie kannst du nur entfernt daran denken …?! Bist du krank …?!!

Kurzum, ich spürte, wie mein Herz erstarrte.

Es schneite den ganzen Abend so weiter. Von Zeit zu Zeit stand ich auf, um einen Blick darauf zu werfen, im Garten lagen gut und gern vierzig Zentimeter, und Flocken von der Größe einer Pflaume trudelten einem friedlich entgegen. Gegen acht Uhr rief Bernie an, um zu fragen, ob ich ein wenig Oregano hätte.

- Hab ich.

- O.k. Ich schick Harold rüber. Sag mal, hast du gesehn, was da runterkommt …?

- Und ob!

- Ah, meine Güte! Weißt du, ich hab das wirklich gern … Ich komm mir vor wie ein Kind.

- Jaja, so geht’s uns allen.

Ich hatte kaum aufgelegt, als ich Harold durch den Garten stapfen sah. Ein Elefant in einem Porzellanladen. Ich brauchte ihm nicht erst ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, daß er laut vor sich hin fluchte. Der Schnee reichte ihm bis zu den Knien, und er schwang die Beine in die Höhe, zog sich die Kapuze seines Dufflecoats unters Kinn und dampfte wie eine Lokomotive. Ein luziferischer Mönch, der sich unter einen Hostienregen verirrt hat, so sah er aus.

Fast hätte er meine Terrassentür aus den Angeln gerissen, als er reinkam. Ich hatte ihm schon hundertmal gesagt, daß man eine Tür nicht unbedingt mit der Schulter rammen mußte, aber schließlich hatte ich es aufgegeben, und ich wußte auch nicht, ob er es mit Absicht tat oder nicht.

- Meine Fresse …! motzte er, und ein Schneeklumpen löste sich von seiner Schulter und zerplatzte auf meinem Teppich. Sieht ganz so aus, als ging das noch ´ne Zeitlang so weiter …!

- Jaja … Gehn wir in die Küche …! entschied ich.

- Wo ist denn Mann? Nicht da …?

- Hmm, ich hoffe, er kommt zu Rande … Er räumt gerade seinen Schrank auf …

Harold fühlte sich nie ganz wohl, wenn er allein mit mir war, aber mir war das egal, das war schließlich sein Problem. Dabei hatte ich nichts gegen ihn, wir waren uns nie in die Haare geraten, und ich war sein Doppelpartner im Pingpong, er interessierte mich nur nicht besonders, auch wenn er Bernie Goldsteins Freund war. Er sah auf eine Weise gut aus, die ihn in meinen Augen transparent machte. Nun ja, das hinderte mich nicht daran, ihm von Zeit zu Zeit auf die Schulter zu klopfen, wenn es mir per Zufall gelang, sie zu lokalisieren.

Ich gab ihm seinen Oregano, eine kleine Lache hatte sich zu seinen Füßen gebildet.

- Tja, was sagt man dazu …?! feixte er, als er meinen Blick bemerkte.

- Schicksal …. meinte ich.

Erneut meldete sich das Telefon. Ich ersuchte Harold, sich keine Sorgen zu machen und die Tür in Ruhe zu lassen, ich brauchte sie noch. Ich blickte ihm nach, als er in den Garten stapfte, dann hob ich ab.

- Dan? Sarah hier …

- Ja, ich bin gerannt, weil ich wußte, daß du es bist.

- Dan, mein Heizkessel ist explodiert …!

- …Was ist er …??!!

- Ach, was weiß ich …! Ich kenn mich da nicht aus …

- Sarah, sag schon, alles klar …!??

- Alles klar …?! Das Haus ist ein einziger Eisschrank …! Wir sind halb erfroren, kein Witz …!! Ich hab doch nicht gesagt, er ist uns ins Gesicht geflogen …

- Ah, sei still …!

- Herrgott, ich klappere mit den Zähnen, kapierst du das nicht …? Kurz und gut, der Typ ist gerade weg. Sieht so aus, als müßten wir drei, vier Tage ohne Heizung auskommen. Herr im Himmel! Hast du gesehn, wie das schneit …?

- Ja, und das ist anscheinend nur der Anfang.

- Dan, hör mal, fühlst du dich imstande, uns ein paar Tage zu beherbergen …?

- Ich weiß nicht. Wir können’s versuchen.

- Vielleicht wird’s ja lustig, oder?

- Mmm … Abwarten …

Ich machte mir ein Glas, dann ging ich hoch, um Hermann die Neuigkeit zu verkünden. Er nickte, dann äußerte er leichte Bedenken wegen seines Verhältnisses zu Gladys und der Risiken einer solch plötzlichen Intimität, aber ich beruhigte ihn, ich wüßte nicht, was sie ihm noch Schlimmeres antun könne, vielleicht sei das eine gute Gelegenheit, wer weiß? Er seufzte, dann erklärte er, daran glaube er leider nicht so recht.

- Dich erwartet noch so manche Überraschung, spottete ich. Bild dir bei ‘ner Frau nie ein, es ist alles vorbei, weder im Guten noch im Schlechten.

- Naja … Hoffentlich hast du recht …

- He, guck mich an … Du kannst dich drauf verlassen, wenn ich dir was sage.

Wir beschlossen, die Mädchen sollten mein Zimmer bekommen und Richard unten das Sofa. Während wir mein Bett frisch bezogen, hörten wir, daß Wind aufkam.

 

Ah, welch eisige Gleichgültigkeit legte sie an den Tag, wenn zufällig ihr Blick auf ihn fiel! Es lief mir kalt den Rücken hinunter, und ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Offenbar war ich der einzige, den das scherte. Vermutlich hatte ich weniger oft Gelegenheit gehabt, sie nebeneinander zu erleben, und ich war noch nicht daran gewöhnt, mir war, als hörte ich eine Peitsche durch das Zimmer knallen, und was sie da traf, war der Rücken meines Sohnes.

Ah, Freunde, wie weh mußte ihm das tun, und welch trauriges und schmerzliches Lächeln setzte er auf, wenn sie ihn derart geißelte …! Ah, hatte sie nicht den geringsten Funken im Herzen …?! Hatte sie gar kein Mitleid mit dem Jungen, der ihr zu Füßen wimmerte, hatte sie sich vorgenommen, einen Engel zu vernichten …?! Hermann war von verblüffender Zurückhaltung. Er mühte sich, den Schlag unauffällig wegzustecken, und es war, als hätte niemand etwas bemerkt. Das Ganze ging in wenigen Sekunden über die Bühne, aber ich schnitt Grimassen um ihn. Das erinnerte mich an den Tag, wo ich ihn in meine Arme geschlossen hatte und Blut aus seinem Mund fließen sah, während man ihm die Polypen herausnahm. Fast hätte ich ihm eine Rippe eingedrückt.

Merkwürdigerweise warf ihr Verhalten nicht alles über den Haufen. Solange sie Hermann nicht mit Blicken niedermachte, legte Gladys eine gute Laune an den Tag, die mir nicht geheuchelt schien. Jeder wußte, daß ihm nur ein einziges Mädchen etwas bedeutete, und vielleicht nur noch mehr, seit sie sich zerstritten hatten, und wenn ich sage jeder, dann meine ich damit, daß auch Gladys bestens Bescheid wußte. Ich sah nicht ein, weshalb sie unter diesen Umständen nicht hätte strahlen sollen, und um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich fand sie noch reizender als sonst. Alle drei waren anscheinend begeistert, die Nacht bei uns zu verbringen.

- Ach, ihr Lieben, wir hatten überhaupt keine Lust, in einem Hotel zu hocken …! hatte Sarah ausgerufen.

Wir waren es gewohnt, beieinander zu sein, wir waren gut hundertmal so zusammengekommen, und jeder konnte tun, was er wollte, ohne sich um die ändern zu scheren, ohne diese Harmonie zu zerstören, die unter uns herrschte. Es hatte lange Jahre gedauert, dorthin zu gelangen, Geduld, viele Stunden, ja ganze Tage gegenseitiger Aufmerksamkeit hatte es erfordert, ohne jetzt in hochtrabende Worte auszubrechen. Und auch wenn zwischen Hermann und Gladys dicke Luft war, das Gebäude hielt stand und der Abend verlief angenehm.

Ich hörte mir über Kopfhörer die Kindertotenlieder an, während die ändern Massaker mit der Motorsäge sahen. Ich guckte nur von Zeit zu Zeit hin, die Stimme K. Ferriers in den Ohren, und nie länger als eine Minute, denn mir stand der Sinn nach ganz anderem. Ich sah viel lieber zu, wie der Schnee fiel, oder Sarah, die sich, das kleine Fläschchen zwischen den Knien, die Nägel lackierte. Ich wußte nicht, ob das am Alter lag, aber mitunter, wenn wir so zusammensaßen, überkam mich ein solch unbändiges Verlangen, eine richtige Familie zu haben, eine Frau und mehrere Kinder, daß mir die Kehle brutal austrocknete und ich krampfhaft anfing zu schlucken. Das war eine miese Viertelstunde für mich. Wie konnte Hermann mir verzeihen, daß er keine Mutter hatte, keinen Bruder, keine Schwester …? Am Ende hatte ich meist Tränen in den Augen und ein Glas in der Hand.

Erst als es an der Zeit war, ins Bett zu gehen, sprang einem das Ungewöhnliche der Situation ins Auge. Eine leichte, eher amüsante Unschlüssigkeit hing in der Luft, bis sich schließlich die beiden Mädchen dazu aufrafften, das Badezimmer aufzusuchen. Wir holten Laken und Decken für Richard, der in der Zeit seinen üblichen Zinnober mit Gandalf abzog und ihm irgendein Zeug in die Ohrmuschel flüsterte. Ich machte mir ein wenig Sorgen wegen meiner Blauen Chirurgenfische, und ich sagte zu ihm:

- Meinst du nicht …? und deutete mit dem Kinn auf mein Aquarium, aber er zuckte nur, wenn man so will, beruhigend mit den Schultern.

Wir klappten das Sofa auseinander. Richard ließ sich mit den Händen im Nacken darauffallen und versicherte uns, das werde gehen. Ich zweifelte keine Sekunde daran. In seinem Alter hätte ich auf einem Steinbett geschlafen.

Gladys erschien oben auf der Treppe, während wir die Laken spannten. Wir richteten uns auf. Sie war spärlich bekleidet und wahrlich entzückend, und ihr Lächeln purzelte freundlich die Stufen herunter und kullerte vor unsere Füße. Sie wollte wissen, ob ich keine Kleenex hatte. Ich bot ihr eine Rolle Zewa an.

- Nee, macht nichts, schon gut …! sagte sie und strich sich über den Nacken.

Sie trödelte ein paar Sekunden auf dem Treppenabsatz, als fragte sie sich, ob sie es sich nicht doch anders überlegen sollte, dann winkte sie uns zu und machte seelenruhig kehrt.

Hermann war bleich geworden. Es gab nichts mehr zu sehen, doch er starrte hartnäckig auf den gleichen Punkt. Ich warf Richard einen enttäuschten Blick zu und half ihm schweigend, sein Bett fertigzumachen.

Ich hörte die beiden ein paar Worte wechseln, als ich mir in der Küche einen Schluck genehmigte. Es war praktisch nicht mehr zu sehen, was sich draußen tat, denn eine Mauer aus Flocken wirbelte vor meinem Fenster, aber das Ganze erschien mir unheimlich weiß und vor allem verdammt dicht. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so viel auf einmal gesehen zu haben.

- Na schön … Ich leg mich hin …! erklärte Hermann in müdem Ton.

Fast hätte ich ihn zurückgehalten und ihm gesagt, was ich von Gladys’ Nummer hielt, daß einem das ins Auge sprang, aber eine Art Trägheit ließ mich von der Betrachtung dieses Schneegestöbers nicht loskommen, und ich nickte bloß, ohne mich umzudrehen.

Ich folgte ihm kurz darauf. Ich war eigentlich nicht müde, ich fand nur nichts Besseres zu tun, da Richard im Wohnzimmer war, zumal er das Licht ausgemacht hatte. Trotz allem, auch wenn die ganze Sache gewaltig nach Schlaflosigkeit roch, stieg ich die Treppe ohne die geringste Bitterkeit hinauf und keineswegs verärgert ob der Vorstellung, keinen Schlaf zu finden. Es störte mich nicht immer, wachzubleiben und mit offenen Augen in die Dunkelheit zu starren. Das hing davon ab, wie ich es aufnahm.

Ich bog in den Flur ein, um mir die Zähne putzen zu gehen. Ich hatte den Eindruck, alle Welt schlief, doch als ich die Badezimmertür aufmachte, stieß ich auf Sarah. Auch sie war beinahe nackt. Statt einzutreten, schloß ich leise die Tür und entschuldigte mich.

- Komm ruhig rein … Du störst mich nicht …! meinte sie, während ich mich durch den Flur entfernte. Vielleicht hätte ich sonst die Gelegenheit genutzt und mir die Augen ausgeguckt, aber es kam auch vor, daß mir sexuelle Dinge so fern waren, daß sich keiner mehr darüber wunderte als ich.

 

Am nächsten Morgen hatten wir einen Meter Schnee vor der Tür. Der Himmel war wieder blitzblank, und die Sonne glitzerte auf der makellos weißen Straße. Im Radio hieß es, so etwas habe es seit zweihundert Jahren nicht gegeben, und abgesehen von den großen Straßen sei der Verkehr fast vollständig lahmgelegt.

- Nicht einmal der Vater meines Vater hat so etwas gesehn …! murmelte ich fasziniert.

Es war kaum zu glauben. Keine Autos mehr, keine Bürgersteige, keine Bänke, nur noch ein riesiger glänzender Strom, aus dessen erstarrten Wellen bizarre Formen wie der Bogen einer Straßenlampe oder die vagen Umrisse eines Baumes mit gekrümmten Ästen emporragten.

- Hehe, mit der Schule ist heute Essig …! kicherte Richard.

In der Küche war einiges los. Der Toaster lief auf Hochtouren, die Töpfe drängelten auf dem Ofen, und wenn man wollte, konnte man Eier haben, man brauchte nur zu warten, bis man an der Reihe war. Zum Glück hatten wir es nicht eilig, jetzt jedenfalls nicht mehr, und das Frühstück zog sich in die Länge wegen der Maßnahmen, die danach anstanden.

Ich fand eine Schaufel im Keller, mehrere Paar alte Stiefel und einen Rechen. Nichts Weltbewegendes. Während sich Mutter und Tochter dem Badezimmer widmeten, unternahmen wir einen Ausfall zur Straße, um zu sehen, was dabei herumkam. Nach fünf Minuten war uns klar, daß das nicht einfach sein würde. Zwar hatten wir einen Graben bis zum Gartentor geschaufelt, aber das brachte uns nicht weiter. Ich ließ Hermann auf meine Schultern steigen. Er war so schwer, daß ich die Augen zukniff und schweigend litt, denn das war wahrscheinlich das letzte Mal, daß ich ihn so trug. Es gab bereits so viele Dinge, die ich nie wieder mit ihm tun würde, so viele kleine Flammen, die mit der Zeit erloschen, daß ich fast erschrak.

- Ach du Schande! Da rührt sich überhaupt nichts …! verkündete er uns. Die ganze Gegend ist verschüttet …!

Gegen Mittag hatten wir eine Verbindung zu Harold und Bernie hergestellt, und zwar ohne jedes Hilfsmittel, nur durch einen fairen Nahkampf mit diesen Schneemassen. Die Mädchen waren mit von der Partie. Eine fröhliche Horde, so kämpften wir uns frontal und gegen jede Logik voran, keine sauber freigelegte Passage, zum Teufel mit der öden Langeweile einer professionellen Arbeit, es galt nur: wer marschiert am schnellsten, und niemand dachte daran, sich umzudrehen, um sein Werk zu bewundern, man mußte uns bis zum ändern Ende der Straße grölen hören.

- Puh, das ist vielleicht ein Ding …! seufzte Bernie und wischte sich die Stirn ab. Grandios, aber anstrengend …!

- Tag zusammen …! rief Harold. Alles paletti …?

Der Himmel war makellos klar, aber Bernie hatte den Wetterbericht angerufen, und es sollte, wenn man sich darauf verlassen konnte, am Abend erneut schneien, und Besserung war erst in zwei, drei Tagen in Sicht.

- Kinder, wenn wir etwas unternehmen wollen, dann jetzt oder nie, fuhr er fort. Wenn wir warten, sitzen wir erst recht in der Patsche …

 - Ja, wir haben keinen einzigen Tropfen Milch mehr …! präzisierte Harold.

Wir waren auch nicht viel besser dran. Sarah indes meinte uns daran erinnern zu müssen, daß wir nicht irgendwo auf freier Strecke festsaßen und daß den letzten Berichten zufolge die Armee die Sache in die Hand genommen hatte, die würden uns in Nullkommanichts freischaufeln.

- Sicher, meine Liebe, ich wünschte, du hättest recht …. erwiderte Bernie. Aber bedenke, die Jungs erwartet ‚ne Heidenarbeit, wir dürfen nicht zuviel von denen verlangen …! Außerdem, haben wir im Moment Besseres zu tun …?

Sie gab keine Antwort, sie schloß die Augen und wandte friedlich ihr Gesicht zur Sonne. Es wurde beschlossen, einen Rettungstrupp in Richtung Supermarkt loszuschicken. Bernie wirkte dermaßen zufrieden, daß er uns Crepes mit Ahornsirup versprach. Ein jeder war bereit, loszugehen. Alle erhoben sich für Bernie Goldsteins Crepes.

 

Kurz darauf setzte sich unser kleiner Trupp in Bewegung. Lediglich Sarah ging von der Stange, sie behauptete, sie fühle sich nicht in Form und wolle lieber während unserer Abwesenheit das Lager bewachen, ich solle ihr nur ein paar Päckchen Tee mitbringen, wenn ich daran dächte. Unser Vormarsch, trotz allem ein gutes Dutzend Arme stark, verlief zufriedenstellend, wir kämpften uns unaufhaltsam die Straße entlang, während sich die Sonne, unsere Ängste bestätigend, hinter einem Wolkenschleier verbarg.

Harold legte sich mächtig ins Zeug. Diesmal hatte ich jedoch nichts dagegen einzuwenden, und hätte er doppelt soviel geschaufelt, ich hätte mit beiden Händen Beifall geklatscht. Hermann und Richard, die neben ihm schufteten, hatten Mühe, im Takt zu bleiben, und manchmal warf er seine blonden Haare nach hinten und fing an zu spötteln.

- He, ihr lahmen Krücken …! Wo bleibt ihr denn …?! stichelte er und drehte sich um, um uns zuzuzwinkern, mit Vorliebe in Richtung Gladys. Habt ihr nichts in den Armen …?!

Mit der Zeit hatte ich es aufgegeben, mich zu fragen, was Bernie mit einer solchen Nummer wollte. Ich wußte, daß er ihn liebte, aber ehrlich gesagt, ich konnte ihn nicht verstehen. Jedesmal, wenn er mit mir über Harold redete, hörte ich mit staunendem Gesicht zu. Eine Zeitlang dachte ich, er mache sich über mich lustig, aber es war ihm todernst. Wenn man ihn hörte, war Harold der reine Traumpartner. So daß ich mir, wenn mir das Verhalten seines Schützlings auf die Nerven ging, Mühe gab, im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden. Ich zwang mich, ihn nicht für den Prototyp des totalen Idioten zu halten.

Wir brauchten eine Weile, um aus der Lawine herauszukommen, aber letztlich nicht so lang, wie wir vermutet hatten. An der zweiten Kreuzung gerieten wir auf eine fast gänzlich freigeräumte Straße. Auf dem Bürgersteig lag kaum mehr als eine dünne Schneeschicht, und Typen standen auf Lastwagen und warfen mit Sand um sich. Wir kamen uns ein wenig blöd vor. Um das Maß voll zu machen, forderte man uns auf, zur Seite zu gehen und einem Schneepflug Platz zu machen, der ein Stück vor uns manövrierte und Anstalten machte, die Straße freizuräumen, über die wir gerade gekommen waren.

Unschlüssigkeit machte sich in unseren Reihen breit. Plötzlich verflüchtigte sich der heroische Touch unserer Expedition in alle Winde, und das Blut der Jugend hörte auf zu pulsieren. Wir stampften ein wenig auf der Stelle, es erhob sich die Frage, ob wir wirklich allesamt dorthin mußten und was Bernie und ich davon hielten.

Und so ließen sie uns mit den Einkaufsnetzen in der Wüste stehen. Ich sagte nichts aus einer Art Gerechtigkeitssinn, denn wir hatten beide keinen Finger krummgemacht, als es darum ging, uns einen Weg durch den großen weißen Mantel zu bahnen. Es fiel uns leicht, fair zu bleiben, weil der Laden nicht gerade am Ende der Welt lag und ein beinahe mildes Lüftchen uns hinterlistig zu umgarnen trachtete. Bernie nahm meinen Arm. Es machte mir inzwischen nichts mehr aus, Arm in Arm mit ihm durch die Gegend zu laufen, ich achtete kaum noch darauf, und wenn es mir zu Bewußtsein kam, fand ich, es war gut, einen Freund zu haben, und meine Härchen sträubten sich schon ewig nicht mehr.

Wir erledigten unsere Einkäufe in aller Ruhe, dabei redeten wir über dieses und jenes. Es war nicht viel los. Ich vermied es, mich für die Frauen zu interessieren, denen wir begegneten, denn schon manches Mal hatte ich bemerkt, daß meine Aktien ernstlich sanken, wenn ich mit ihm zusammen war. An dem eisigen Blick, den sie mir zuwarfen, spürte ich, daß sie uns in einen Topf warfen, und ich blickte ihnen nach, wenn sie stocksteif flüchteten.

- Herrje, Dan … Das tut mir wirklich leid …! raunte er mir mit einem breiten Grinsen zu, während ich das Gesicht verzog.

In der Milchabteilung schnappte sich Bernie acht Tüten auf einmal und wuchtete sich das Paket auf die Schulter.

- Scheiße, sowas Lächerliches hat die Welt noch nicht gesehn …! sagte ich.

- Pah, weißt du … So schwer ist das auch nicht.

- Hör mal, warum versuchst du ihn nicht auf Milchpulver umzustellen …?

- Ah, das ist nicht dein Ernst … Ihm graut davor!

- Jaja, aber acht Tüten, Bernie …! Was soll das …?! Darf ich dich erinnern, wir sind zu Fuß …!

- Ja, mach dir keine Sorgen …

- Verdammt, ich warne dich, ich will gehängt sein, wenn ich dir dabei helfe.

- Herrgott, ich will auf keinen Fall, daß du mir hilfst …! Ich hab Lust, sie zu tragen! Ist das so schwer zu verstehn …?

Ich verdrehte die Augen und düste in Richtung Kasse. Es wurmte mich, daß ich mich in Dinge eingemischt hatte, die mich nichts angingen, aber dieser Firlefanz mit der Milch regte mich hochgradig auf, und meine Laune verdüsterte sich wie der Himmel, der nur mehr ein fahles Licht auf die Straße warf.

- Siehst du, es wird bestimmt wieder schneien …. verkündete er mir.

Diesmal stellte ich mit dem vagen Gefühl, die Spuren zu verwischen, einen Scheck aus, statt mich meiner Karte zu bedienen. Ich wußte nicht mehr genau, von welcher Summe an ein Bankier wach wird und wie lange er einem noch vergönnt, durch die Landschaft zu pilgern, bevor er einen harpuniert, aber ich fand sein Schweigen schlimmer als alles andere. Ich hatte viel Geld verdient, damals, als ich Bücher schrieb. Ich war einer seiner liebsten Kunden gewesen. Ah, konnte es sein, daß er diese Hand, die er mir so oft und herzlich gereicht, heute dazu verwandte, mir die Kehle zuzudrücken …?

Dicke, schwarze Wolken überlappten und kugelten sich am Himmel, während der Tag zu Ende ging. Inzwischen wirkte der Schnee tot und seelenlos. Die Leute zogen den Kopf ein und zischten fluchend ab. Auch wenn sich da einiges zusammenbraute, ich hatte keine Lust, sofort nach Hause zu gehen. Ich hatte vor allem keine Lust, Bernie zuzusehen, wenn er diese Dinger den ganzen Weg schleppte, ich hatte keine Lust, dabeizusein, wenn der andere die Tür aufmachte.

- Bernie, laß dich nicht aufhalten …. erklärte ich ihm. Ich spring kurz bei Max vorbei, vielleicht braucht er auch etwas.

Er warf mir einen Blick zu, dann sagte er:

- Meine Güte, du bist wirklich furchtbar …!

Worauf ich zur Antwort gab, er irre sich gewaltig, von mir aus könne er Tag ‘für Tag Dutzende von Milchtüten nach Hause schleppen, wenn es ihm Spaß mache, ich hätte nichts dagegen, dann versicherte ich ihm, daß ich zum Glück andere Dinge im Kopf hätte, und entfernte mich eilig.

- Du glaubst wohl, ich schaff das nicht …? rief er mir nach. Stimmt’s …?!

Ich drehte mich nicht um. Ich ging die Straße in entgegengesetzter Richtung, während die Laternen aufglühten wie durchscheinende Eier und die vereiste Fahrbahn sanft anstrahlten. Es war erst fünf Uhr, trotzdem wurde es bereits dunkel.

Ich war ziemlich schlechter Laune. Ich wußte gar nicht genau, woher das kam. Diese kleine, unbedeutende Auseinandersetzung, die ich mit Bernie gehabt hatte, die konnte ich leicht aus meinem Herzen tilgen, die lastete nicht auf meinen Nerven, hatte ich sie doch praktisch vergessen, ohne daß ich mich besser fühlte. Je mehr ich nach den Ursachen meines Zustands forschte, um so mehr regte mich das Ganze auf.

Ich ging in eine Kneipe, um mich zu beruhigen. Ich wußte selbst nicht, wieso ich plötzlich an Max gedacht hatte, aber jetzt, da ich darüber nachdachte, glaubte ich kein Recht mehr zu haben, mich darum zu drücken. Mir war bewußt, daß auch ich eines Tages an die Reihe kam, daß mich das Alter an meinen Sessel fesseln und ich nicht mehr allein damit fertig werden würde. Ich kippte zwei Bourbon, ohne Luft zu holen, und machte mich schleunigst von dannen, als sei der Ort verwunschen.

Ich klopfte bei ihm. Ich hörte seine Katze im Hintergrund miauen, dann seine Füße, die über den Fußboden schlurften. Als er mir die Tür öffnete, zog ein Schwall verbrauchter Luft ins Treppenhaus und fiel über mich her wie das Gespenst von Monte-Christo. Mir wurde ganz schwindelig.

- Hello …! machte ich und trat einen Schritt zurück.

Dann kam ich wieder zu mir und bemerkte das schreckliche Aussehen, das er sich leistete.

- Ich wollte nur sehn, ob alles klar ist …. fügte ich hinzu, gleichermaßen bestürzt ob der wächsernen Blässe seiner Haut und seiner fiebrig glänzenden Augen.

- Komm rein …! antwortete er mit einer Stimme wie ein Blasebalg.

- Dir geht’s aber gar nicht gut …! behauptete ich ohne Umschweife.

Ich stellte mein Einkaufsnetz in den Eingang und drückte die Tür zu, während er zu seinem Bett latschte. Der einzige Lichtschein im Zimmer stammte von einer Nachttischlampe, deren Schirm, aus einer Kamelblase gefertigt, nur ein tristes, gelbliches Licht verbreitete, das den trostlosen Eindruck der Szenerie noch betonte. Ich spürte, wie augenblicklich eine Wolke von Mikroben um mich zerstob, ich sah sogar einige von der Größe eines Stecknadelkopfes, die sich gemächlich in dem düsteren Lichthof treiben ließen. Selbst die Katze kam mir krank vor.

- Verdammt …! Wie fühlst du dich denn …? murmelte ich und riß meine Jacke auf, um der feuchten Wärme des Raumes entgegenzuwirken. Er ließ sich auf die Kante seines zerzausten Bettes fallen und klärte mich mit einer vagen Geste auf, alldieweil ich einen Stapel Medikamente in dem Halbdunkel gewahrte.

Ich hatte ihn noch nie krank erlebt, das heißt, bettlägrig mit Fieber, und mit einemmal erschien er mir sehr alt. Seine Haare waren verfilzt, die Schulterknochen ragten durch seinen Trainingsanzug, und er sah leichenblaß aus, auch wenn seine Augen heller leuchteten als sonst und er sich Mühe gab, mich anzulächeln.

- Hast du das schon lange …? fragte ich ihn.

Er zuckte mit den Schultern, keine Ahnung, teilte er mir mit. Vielleicht fünf, sechs Tage, das sei einfach über ihn gekommen, wahrscheinlich eine heftige Grippe, glaubte er, eine, wie er sie noch nie gehabt habe, solange er zurückdenken könne.

- Scheiße, du wirst wach und kommst nicht mehr hoch, du hast nicht mal Kraft, dir ‘nen Kaffee zu kochen …!

Plötzlich, als ich ihn so sah, hatte ich die Vision eines Typen, der sich im letzten Winkel seiner Höhle verschanzt und beim Anblick des Tageslichts tot umfällt. Ich hätte meinen Kopf verwettet, daß er kein einziges Mal die Fenster aufgemacht hatte. Die Luft war so dick, so merkwürdig und intim von seinem Geruch geschwängert, daß ich kaum in der Lage war, sie in mich hinein zu schlingen.

- Menschenskind, sagte ich zu ihm, kannst du denn nicht Bescheid sagen, wenn du sowas hast …?!

Er verzog das Gesicht und stand auf.

- Scheiße, und wozu …?!

- Wie bitte, wozu …?! empörte ich mich.

Wir wechselten einen schonungslosen Blick, dann drehte er mir den Rücken zu und beugte sich über seine Medikamente. Ich spürte, daß es immer schwieriger wurde mit ihm. Das war nicht erst seit heute so, sondern mehr oder weniger seitdem man ihn vom Gymnasium gefeuert hatte. Jeder von uns hatte bemerkt, daß er den Schlag arg dramatisiert hatte, und das machte die Sache nur noch schlimmer. Schließlich war ich der einzige, der ihn noch verteidigte. Zwar joggte ich inzwischen nicht mehr so oft mit ihm, ich sah ein, daß es kein reines Vergnügen war, mit ihm zusammen zu sein, aber ich versuchte, nicht allzusehr daran zu denken, oder ich regelte das Problem auf eine alles in allem verdammt ungehörige - wenn auch in meinen Augen endgültige – Weise, indem ich mir sagte, an all dem sei das Alter schuld, zu altern sei nicht unbedingt das Beste, was einem auf Erden zustoßen könne.

- Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich für’n Zeug nehmen muß …! stöhnte er.

Ich schwieg. Ich beugte mich vor, um das Telefon aufzuheben und ließ die abgetrennte Schnur durch meine Finger gleiten.

- Ich find das nicht besonders schlau …. erklärte ich.

- Pah … Wozu soll ich mir was vorspielen …? stieß er hervor und drehte sich um. Ich bin’s leid, ständig ranzugehen und die Leute haben sich verwählt.

Er warf den Kopf zurück, um seine Tabletten zu schlucken. Ich nutzte die Pause zu der Feststellung, daß ich es nicht nötig hatte, mir Extrasorgen aufzuhalsen, und biß mir leicht auf die Lippen.

- Bis jetzt hat sich noch keiner wirklich um mich Sorgen gemacht, fuhr er fort. Daran ändert sich jetzt auch nichts mehr.

Ich zögerte einen Moment, dann machte ich mir eine Zigarette an, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er hielt sich nicht besonders sicher auf den Beinen, schaffte es aber, mich mit einem sardonischen Grinsen einzudecken.

- Max, ich bin nicht gekommen, um mit dir zu jammern und über dein Los zu klagen. Noch bin ich nicht reif für mildtätige Werke …

- Kruzifix, ich hab dich um nichts gebeten …! würgte er hervor und ballte die Faust vor seinem Herzen.

- Bitte mich jetzt um was, bitte mich, dir zu holen, was du brauchst …! Ich bin extra deswegen gekommen …!

Ich drückte meine Zigarette aus, während er in seine Ecke zurückging und an den Ärmeln seines in den Farben der Schule gestreiften Trainingsanzugs zupfte.

- Was hieltest du davon, eine Minute die Fenster zu öffnen?

- Ach, verdammt, mach doch, was du willst …!

Ich schritt eilends zur Tat und beugte mich gründlich über die Straße. Die Luft war eiskalt und so rein, daß es mir fast den Atem verschlug. Ich war schweißgebadet und zitterte einen Moment. Hier und da fielen erneut ein paar Flocken, aber auf köstliche Weise, mit einer Grazie, die einem das Herz zusammenschnürte. Ich atmete tief durch, dann schloß ich das Fenster und drehte den Espagnoletteverschluß. Aber ich rührte mich nicht von der Stelle und starrte weiter nach draußen.

- Max … Wie kriegt man das hin, sowas von allein zu sein …?! murmelte ich.

- Du bist lustig, Danny … Nichts einfacher als das …! knurrte er hinter meinem Rücken.

Ich schloß die Augen, um den Zorn, der mich plötzlich überkam, zurückzuhalten. Ich war wütend, auf ihn und auf mich, und zugleich unendlich bedrückt, was mein Gesicht kreuz und quer verzerrte. Ich mußte ihm eine schreckliche Fratze darbieten, als ich mich umdrehte, und ich brüllte, bevor meine Lippen anfingen zu beben wie Espenlaub:

- Aber ich kann mich nicht um dich kümmern, du Idiot …!! Ich hab nicht die Kraft, sowas zu tun, verstehst du das nicht …?!!

Er hatte sich aufs Bett gesetzt, und erneut drängte sich mir das Bild mit der Grotte auf. Das Licht schien von einem kleinen Feuer aus Reisig zu kommen, das vor seinen Füßen erstarb, es erhellte nicht einmal die Wände, aber Max’ Augen leuchteten darin auf und destillierten ein wildes Licht.

- Ich verlange nichts …! Ich hab dich um nichts gebeten …! stieß er mit dumpfer Stimme hervor. Ich bitte niemanden um was, geh doch und laß mich in Ruh …!!

Ich packte mich mit einer Hand am Nacken und atmete tief durch. Ich lehnte mich mit dem Hintern gegen den Tisch, die Kiefer zusammengepreßt, finsteren Blicks, geistig angespannt. Es folgte ein gräßliches Schweigen, das in regelmäßigen Abständen von seinen Atemzügen, einem höchst unheimlichen Pfeifen, unterbrochen wurde.

- Sehr gut, versuchen wir den Dingen ins Gesicht zu sehen …! seufzte ich, aber weiter ging ich nicht, denn die Gedanken schössen mir in höchster Unordnung durch den Schädel.

- Du hast keinen Grund, dich um mich zu sorgen, Danny … Glaub mir, ich hatte Zeit genug, mich damit abzufinden, ich bin praktisch mein ganzes Leben lang allein gewesen …

Du hast keinen Grund, dich um mich zu sorgen …. grum-melte er nach einer Weile.

Ich stellte erfreut fest, daß sein Gesichtsausdruck milder geworden war, aber ich kam schnell auf den Boden zurück, denn das zerstreute und traurige Lächeln, das er mir schenkte, war schlimmer als alles andere. So wie er dort saß, den Körper nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gepflanzt, so als verschleiße er seine letzten Kräfte, bevor er endgültig zusammensank, erschien er mir noch älter, noch deprimierter, noch kränker.

- Herrgott, erzähl mir nichts … Glaubst du, ich bin blind? Soll ich dir sagen, seit wann bei dir ‘ne Schraube locker ist …?

Plötzlich wurde sein Blick aufmerksamer, aber ich brachte es nicht übers Herz, Salz in die Wunden zu streuen. Das Regal über seinem Bett war voller Pokale, Fotos, Wimpel, mußte ich noch mehr sagen …?

- Max … Ich werde nicht immer da sein, wenn du ein wenig Gesellschaft brauchst, ich glaube nicht, daß ich das schaffe … Tut mir leid, wenn ich dir das so sage, aber es ist die Wahrheit …

Mir wäre lieber gewesen, er hätte mich als Schweinehund bezeichnet, leider ruhte sein Lächeln weiter auf mir, und ich fand das um so betrüblicher, als darin ein Hauch von Freundschaft schwang. Aber gesagt war gesagt.

- Ich bin heilfroh, daß du mir dein Mitleid ersparst, Danny … Weißt du, ich könnte es nicht ertragen, jemandem zur Last zu fallen, egal wem … Ich hab kein besonders interessantes Leben geführt, ich möchte nicht, daß es lächerlich zu Ende geht. Ich glaube, das wäre ungerecht, ich meine für den, der sich die Mühe macht … Ich glaube, der Himmel würde das nicht zulassen, verstehst du.

 

Als ich ihn verließ, schneite es unverschämt, die Flocken fielen dichtgedrängt auf die Straße, aber es wehte kein Lüftchen, und ihr langsames Fallen war von unendlicher Zartheit. Erfaßte ich eine von ihnen in dem Moment, wo sie an meinem Gesicht vorbeitrieb, sagen wir eine von mittlerer Größe, und ließ sie dann nicht mehr aus den Augen, hatte ich Zeit genug, langsam bis sechs zu zählen, ehe sie auf der Erde landete. Es war herrlich. Ich war so froh, draußen zu sein, daß ich mich mit einem Hagelsturm abgefunden hätte. Der Bürgersteig sang mir ein Negro-Spiritual. Ich schritt kräftig aus. Ich hatte einen Teil meiner Einkäufe auf Max’ Kühlschrank liegenlassen, und das Netz schnitt mir nicht mehr so in die Hand wie auf dem Hinweg. Nach einigen Minuten fühlte ich mich seltsam wohl. Ich schlenderte, soweit es ging, nur durch die ruhigen Sträßchen und gab mir Mühe, an nichts zu denken, auf dem ganzen Weg begegnete ich keinem Menschen, und ich blieb nur ein einziges Mal stehen, um die Ohren zu spitzen. Ah, dieser Schnee, wie sanft er fiel, das ewige Staunen des Menschen vor der Schönheit dieser Welt.

Vor der Schwelle meiner Tür schüttelte ich mich sanft. Sämtliche Lampen brannten, als ich eintrat, aber weder im Wohnzimmer noch in der Küche war jemand zu sehen. Ich dachte an meine Stromrechnung, schalt mich jedoch sogleich ob einer solchen Kleinlichkeit.

- Komm schon, Danny … Sich um Geld zu sorgen ist schön und gut, aber ist es das wert, sogleich deine Seele zu erniedrigen …?

Mich streng zur Ordnung rufend, griff ich nach einer Flasche und spendierte mir ein Glas, bevor ich die anderen aufsuchte. Ich überlegte gerade, ob ich unter diesen Umständen nicht besser das Licht ausmachen sollte, wenn ich aus dem Haus ging, mein Geist pendelte von einer Lösung zur ändern, ohne daß ich, über mein Aquarium gebeugt, sehr darauf achtete, als ich plötzlich Schritte auf der Treppe hörte. Ich drehte mich um und erblickte Sarah.

- Oh, du bist da …. sagte sie, nachdem sie meinen Blick vehement aufgefangen hatte.

Sie flitzte zum Sofa. Ich beugte mich wieder über mein Aquarium.

 - Ich frag mich, ob die blau bleiben …. murmelte ich.

Es kam mir vor, als hätten sie ein wenig Farbe verloren, seit sie bei mir waren, naja, ich war mir nicht sicher. Ich hörte Sarah geräuschvoll die Seiten einer Zeitschrift umblättern.

 - Wenn sie von den Philippinen kommen, bleiben sie blau …. fügte ich hinzu und klopfte gegen die Scheibe, um ihnen zu zeigen, wer da war. Wenn nicht, werden sie allmählich gelb …

Ich hatte es nicht eilig, zu erfahren, was mit ihr los war. Ich mochte wetten, sie hatte sich während meiner Abwesenheit nicht gerade amüsiert, und wenn ich jetzt ein falsches Wort von mir gab, war ich derjenige, der alles abbekam. Im übrigen war das bestimmt eine Sache, die ich für sie tun konnte, das wäre nicht das erste Mal gewesen, daß ich ihr meinen Rücken zur Verfügung gestellt hätte, damit sie sich abreagieren konnte, aber ehrlich gesagt schien mir, daß ich im Verlauf des Tages genug eingesteckt hatte, und ich war nicht besonders scharf darauf, wieder in den Krieg zu ziehen.

Ich hüllte mich also wohlweislich in Schweigen und tat so, als hätte ich nichts gemerkt. Manchmal legten sich diese kleinen Gewitter von selbst. Das war der einzige Wunsch, der mir in diesem Moment durch den Kopf ging. Anders als man hätte meinen können, hypnotisierte mich das sanfte Auf und Ab meiner Fische keineswegs, aber ich hielt tadellos still.

Nach einer Weile fragte ich mich, was sie da trieb. Langsam hatte ich die Nase voll von diesem Tag, ich hatte gehofft, man werde mich endlich in Ruhe lassen. Nichtsdestotrotz fiel es mir ein, einen Blick auf sie zu werfen.

Ich war überrascht, sie dösend vorzufinden, den Nacken auf die Lehne gelegt, die Augen halb geschlossen und eine Zigarette im Mund, von der ich nichts geschnuppert hatte. Sie interessierte sich offenbar nicht für mich. Das war feige von mir, aber ich atmete auf, ich rieb mir innerlich die Hände. Ich stellte fest, daß sie ein Kleid trug, das ich mochte, schwarz und am Rücken breit ausgeschnitten, und daß sie sich leicht geschminkt hatte. Ich fand, daß das eine feinfühlige Aufmerksamkeit war, selbst wenn es – vor allem, wenn es – nur darum ging, bei unserem Freund Crepes essen zu gehen.

- Na, bist du jetzt beruhigt …? meinte ich zu mir. War das vielleicht doch nur blinder Alarm …?!

Ich schritt zum Fenster, und mit unwiderstehlicher Miene verkündete ich ihr, ich sei bereit, sie auf meinen Armen zu tragen, wenn sie mir nur ein Lächeln schenke.

- Nein … Ich komm nicht mit …. antwortete sie in müdem Ton, ohne den Blick von der Decke zu wenden.

- Na schön, das Lächeln ist keine Pflicht …

- Nein, ich sagte, ich komm nicht mit … Ich werde abgeholt. Zum erstenmal, und ohne daß ich damit rechnete, empfand ich eine heftige Abneigung gegen diese Art zweites Leben, das sie führte. Ich hätte nicht sagen können, was auf einmal in mich fuhr, denn ich hatte diese Typen einen nach dem ändern vorbeiziehen sehn, ohne dem wirklich Bedeutung beizumessen. Wenn mich das zuweilen gefuchst hatte, dann nur, weil ich gern an ihrer Stelle gewesen wäre, mehr aber auch nicht, und nie hatte ich länger als fünf Minuten darüber nachgedacht.

Erschüttert versuchte ich mich zu fassen, aber vergebens. Ich schloß die Augen und riß sie schnell wieder auf, während sie aufstand und seelenruhig in der Küche verschwand.

- Also nein, was sagt man dazu …?! murmelte ich und preßte die Hände über dem Kopf zusammen. Ist das nicht der schlechteste Witz, den man sich vorstellen kann …?!

Daraufhin setzte ich mich erst einmal, meine Beine ertrugen es nicht mehr. Auf diese Weise von der Last, stehen zu müssen, befreit, packte ich die Armlehnen und schnitt nach Herzenslust Fratzen.

- Also nein, so ein Miststück …! dachte ich bei mir. Ich bereute es umgehend, daß ich ohne mein Glas losgezogen war, aber ich brachte es nicht fertig, wieder aufzustehen. Hätte sie es nicht so deichseln können, daß sie den Abend über bei uns blieb, war das so schwierig, die paar Tage, die sie unter meinem Dach verbrachte, stillzuhalten …?! Und ich, ich hatte mich noch gefragt, was sie hatte …! Jessesmaria, ich legte den Kopf in den Nacken und kicherte lautlos. Jetzt war ich es, der etwas hatte. Aber wer wollte bestreiten, daß das Leben zuweilen durch seine Absurdität glänzt …?

Düster dachte ich an Mat, ihren verstorbenen Gatten und meinen einstigen Freund, an damals, als sie vor seiner Nase ausrückte, um irgendeinen Schwachkopf zu treffen, der um die Ecke parkte. Ich hatte mir stets eingebildet, ich wüßte, was sie empfand, wie ich auch geglaubt hatte, mich in Richard hineinversetzen zu können, als er die Nachfolge angetreten hatte. Jetzt konnte ich das ganze Ausmaß meiner Dummheit auf diesem Gebiet erkennen, mir ging auf, welch lächerlicher kleiner Witzbold ich gewesen war.

Als sie zurückkam, verpaßte ich dem Dimmer meiner Stehlampe einen Tritt mit dem Absatz, allerdings nicht mit der Absicht, ein stimmungsvolles Ambiente zu schaffen – davor graut mir allein bei der Vorstellung –, sondern weil zuviel Licht brannte und weil ich nicht wollte, daß sie mich auf den Kopf zu fragte, was mit mir los war. Ich musterte den Teppich, um sie nicht ansehen zu müssen. Ich war mir nicht sicher, mich beherrschen zu können, wenn mein Blick auf sie fiel.

Sie ging an mir vorbei, um sich wieder auf dem Sofa niederzulassen. Als ich ihrem Duft sinnlos nachschnupperte, versetzte ich mir einen fürchterlichen Schlag, aber ich war derart wütend auf sie, daß ich nicht mit der Wimper zuckte. Einen Moment lang suchte ich nach beleidigenden Worten, nach dem kurzen, tödlichen Satz, der uns alle drei für ihre scheußliche Neigung rächen würde. Leider fiel mir nichts Richtiges ein, nichts, das ich verglichen mit dem, was wir erlitten, für böse genug erachtete, und wäre es mir eingefallen, ich hätte gezögert, es auszusprechen, aus Furcht, die Wut ersticke meine Stimme.

Allmählich wurde mir klar, daß ich ihr nichts zu sagen hatte. Ich stellte mir eher vor, sie am Arm zu fassen, wortlos zur Tür zu führen und ihr auf der Schwelle das verächtliche Lächeln zu schenken, das sie hundertfach verdiente. Ich hätte wer weiß was dafür gegeben, hätte ich gewußt, was sie in diesem Moment dachte. Hatte sie überhaupt gemerkt, welch dumpfe Wut mich befallen hatte? Wäre da nur das eisige Schweigen gewesen, in dem ich mir gefiel, hätte ihr mein Verhalten sogar normal erscheinen können. Aber nein, unmöglich, sie kannte mich zu gut, außerdem war ich mir sicher, daß sie mich ansah, eine ganze Hälfte meines Gesichts kribbelte.

Na schön, sollte sie doch, es machte mir überhaupt nichts. Zudem würde ich gleich aufstehen, um mich zu den anderen zu gesellen, sollte sie ruhig zum Teufel gehen. Ich hatte nicht die Absicht, sie aufzuhalten. Ich konnte ihr bloß ein eiskaltes Bad vorschlagen, mehr nicht. Große Aussichten auf Erfolg hatte das nicht. Der Typ hupte vergnügt, in kurzen, ungemein spaßigen Tönen. Ich verfluchte mich einmal mehr, daß ich noch da saß wie ein Schwachkopf und über meiner Enttäuschung brütete, während sie aufstand und erneut an mir vorüberging. Die Ankunft dieses Idioten abzuwarten und mir anzuhören:

- Ich bin weg, Dan, bis später …. und dann die Haustür, die schwer ins Schloß fiel, hieß das nicht, den Kelch bis zur Neige leeren?

Ich spitzte die Ohren, aber anscheinend hatten sie es nicht eilig, loszufahren. Schön, ich war fünfundvierzig, trotzdem zählte ich jede Sekunde, die verstrich, und wand mich auf meinem Sessel, und natürlich malte ich mir das Schlimmste aus. Ich zündete mir dennoch eine Hoyo de Monterrey an. Das war der große Unterschied zwischen einem Bengel von sechzehn Jahren und einem Kerl meines Alters. Das war eine Art Lebensphilosophie.

Als Hermann kurz darauf antanzte, hatte ich mein Glas nachgefüllt und hörte Schwanenweiß von Sibelius. Die Kleinheit meines Geistes zerging unter dem Hauch der weiten Landschaften des Nordens, meine Seele hatte sich von ihrem Schmutz gereinigt und nach und nach ihren Flug wieder aufgenommen, so daß ich diese famosen Crepes vollkommen vergessen hatte. Ich begrüßte ihn und entschuldigte mich. In dem Augenblick, da ich zu ihm sprach, war es mir praktisch gelungen, Sarah aus meinem Weg zu verbannen, indem ich mir gewisse mentale Techniken wie die Miniaturisierung oder das Rezitieren von einigen Haiku auferlegte.

 

Die lange Nacht

Das Plätschern des Wassers

sagt, was ich denke (Gochiku)

 

Er enthielt sich jeden Kommentars, als ich ihm mitteilte, sie werde nicht mit uns kommen, und bestimmt überraschte das niemanden. Ich war leicht besoffen. Ich legte für einen Moment meine Hand auf seine Schulter, die Lippen um meine Zigarre gepreßt, die Augen zusammengekniffen, dann nickte ich und schlüpfte in meine Jacke.

- Machen wir das Licht nicht aus …? fragte er mich, bevor wir gingen.

- Pah, lassen wir heut’ abend ruhig ein paar Lichter brennen … Und da er sich nach mir umdrehte, beeilte ich mich, hinzuzufügen:

- Das hat nichts zu sagen … Achte nicht drauf.

 

Als ich anderntags aufstand, war niemand im Haus. Alles lag wild durcheinander, wie nach einem Wirbelsturm, der nur die Bewohner mitnimmt und ein heilloses Tohuwabohu hinterläßt. Anscheinend war ich der einzige, der nichts Bestimmtes zu tun hatte.

Ich brachte eine ganze Weile damit zu, aufzuräumen, ruhig und ohne Bitterkeit, ging sogar so weit, den Staubsauger nach oben zu schleppen und die Betten notdürftig zu machen und die herumfliegenden Kleidungsstücke aufzuheben und zu falten, obwohl alles verquer lief, einfach alles, wohin ich mich auch wendete. Es war fast beruhigend, die Bude in Ordnung zu bringen. Wer immer mich am Werk gesehen hätte, er hätte den Hut gezogen angesichts der Quasi-Gelassenheit, die ich daraus schöpfte. Mein Laden ist ganz und gar ausgebrannt, nichts versperrt mir mehr den Blick auf den Mond, der scheint. (Masahide)

Es hatte aufgehört zu schneien, die Sonne kam zwar nicht richtig hervor, doch der Himmel war so hell, daß ich beschloß, einen Tannenbaum zu kaufen. Ich war mindestens zwei Wochen zu früh. Als Hermann noch ein kleiner Junge war, hatte ich mich regelmäßig mit Franck über dieses Thema gestritten, da sie stets bis zum letzten Moment warten wollte, sie fand es lächerlich, die Bude von den ersten Dezembertagen an zu schmücken.

- Mir reichen schon diese verdammten Läden! fauchte sie. Findest du nicht, daß die einem alles vermiesen?! Kannst du mir mal sagen, was das soll, diese Weihnachtsdekoration mitten im November?

Und da sie einmal dabei war, kam sie auf die Art zu sprechen, wie ich mich um Hermann kümmerte, nämlich überhaupt nicht, wenn man sie so hörte, oder ich übertrieb es, was auf dasselbe rauskam, was bewies, daß ich ein schlechtes Gewissen hatte. Nichts brachte mich mehr auf die Palme als dieses Thema, man hörte mich in der ganzen Bude Türen schlagen und den Himmel zum Zeugen nehmen. Glaube sie, es sei einfach, ein Buch zu schreiben, fehle es ihnen denn an etwas …?!

- Herrgott nochmal …! Der Tag ist für mich im Eimer. So eine Scheiße …!!

Ich biß mir vor Wut in die Faust.

- Was würdest du sagen, wenn ich in einem Büro arbeitete, hm …? Ich würde ihn nur abends sehen, gerade früh genug, um ihm einen Gutenachtkuß zu geben, wäre doch fein, was? Na klar, dann wäre alles bestens, kann ich mir denken …!

Wenn sie einmal aufgebracht war, gab sie keinen Millimeter nach.

- Na und, vielleicht wäre das besser als nichts! entgegnete sie. Du, du bist doch nie da, du bist da, ohne da zu sein …!

Kurz und gut, ich hatte also beschlossen, einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Dieses ganze Theater mit dem Datum scherte mich in diesem Fall wenig. Ich fand das eine ausgezeichnete Reaktion auf all den Ärger, der gegenwärtig über mich hereinbrach, eine Möglichkeit, die linke Wange zu reichen, und zugleich ein Akt der Auflehnung, das Augenzwinkern des Opfers gegenüber dem Henker.

Ich wollte keines dieser mickrigen, bereiften Dinger, ich wollte eine Tanne von mindestens zwei Meter Höhe und einer anständigen Spannweite. Schweren Herzens, denn die Luft schien so rein wie ein Gebirgsbach, verzichtete ich darauf, das Motorrad hervorzuholen, und ließ mich in die Stadt kutschieren. Kleine, zerbeulte Blechschilder an dem Sitz des Fahrers ersuchten einen, nicht das Wort an ihn zu richten, nicht zu rauchen, nicht auf den Boden zu spucken, die Fenster nicht zu öffnen, doch nichts konnte meinen Schwung bremsen, nicht einmal der kalte Blick, den er mir im Rückspiegel zuwarf und der ein Pferd in die Knie gezwungen hätte.

Ich verbrachte ungefähr eine Stunde in der Abteilung für Christbaumschmuck. Ich hatte mir fest vorgenommen, piano vorzugehen, aber schon bald hatte ich meine guten Vorsätze vergessen, denn es gab da eine beträchtliche Auswahl und alles glitzerte einem vor Augen, alles war voll im Licht aufgereiht, daß einem die Ohren sausten. Binnen kurzer Zeit hatte ich mir einen solchen Vorrat an Kugeln zugelegt, eine schöner als die andere, daß zwei Christbäume nicht gereicht hätten. Ich war mir dessen voll und ganz bewußt, aber ich war wie im Rausch. Ich hatte mir eine riesige Garbe von diesen schimmernden, raupenförmigen Girlanden um den Hals geschlungen, und ein Typ in Zivil strich um mich herum und beobachtete mich unauffällig, und ich grinste ihn an. Die Kassiererin brauchte minutenlang, um sämtliche Preise abzulesen, und ich nutzte die Zeit, um beiläufig ein paar Sachen hinzuzufügen, dann zahlte ich mit meiner Karte, hütete mich aber, einen Blick auf die Summe zu werfen, und flitzte ins Erdgeschoß, um mir einen Baum auszusuchen.

Gegen Mittag stand ich mit meiner Tanne und einem großen Karton, dessen Inhalt in der Sonne funkelte, auf dem Bürgersteig. Der Himmel war kaum noch verschleiert, und schöne goldene Strahlen drangen seelenruhig durch die Wolken. Ich war dafür durchaus empfänglich, aber nach fünf Minuten wurde mir die Zeit allmählich zu lang.

Sobald sie an mir vorbeikamen, fuhren die Taxis schneller. Diese Bande von Saukerlen, ich traute meinen Augen nicht. Konnte es sein, daß man mir einen solchen Streich spielte, aufgeschmissen, wie ich es war? Sollte ich hier warten, bis ich schwarz wurde, gab es denn keinen, den mein Martyrium rührte?

Ich schäumte im wahrsten Sinne des Wortes, als eine prächtige Limousine vor mir anhielt, aber ich hatte noch einen ganzen Schwall von Flüchen auf den Lippen und nahm sie ohne große Freude zur Kenntnis. Die Scheiben waren getönt wie die Gläser eines Blinden. Ich setzte ein Gesicht auf, liebenswürdig wie eine Gefängnistür, als sich eine von ihnen mit entwaffnender Sanftmut senkte. Das Mädchen, das ich innendrin erblickte, war Marianne Bergen, und sie sagte zu mir: Oh, guck mal, wer da ist …! während ich mich zu einem Lächeln zwang.

- Dan … Hast du Schwierigkeiten …?

Einige Minuten später war alles geregelt. Und weitaus besser, als ich zu hoffen gewagt hatte, denn nun durchkreuzte ich die Stadt mit einem Glas Bourbon in der Hand, die Beine übereinandergeschlagen, frohgemut und quietschfidel in ein Gespräch mit Marianne Bergen vertieft. Alles lief wie geschmiert. Ich hatte meinen Baum gegen eine Straßenlaterne gelehnt, und Hans, der Chauffeur, sollte ihn abholen, nachdem er uns abgesetzt hatte, was fürwahr die ideale Lösung war, das Leben konnte nicht anders sein, dachte ich.

Als ich ihr erklärt hatte, ich hätte die Absicht, die Bude zu schmücken, war Marianne in helle Begeisterung ausgebrochen und hatte sogleich kundgetan, sie habe nichts Dringendes zu erledigen. Worauf ich ihr erwiderte, der Himmel müsse uns auf den gleichen Weg geschickt haben oder aber ich hätte keine Ahnung von nichts.

Ich beglückwünschte sie zu ihrem Wagen, während wir an den verschneiten Bürgersteigen entlangbrausten und ich meine Schätze zwischen uns auf dem weichen Leder der Rückbank ausbreitete. Marianne ergriff sie und nahm sie einzeln m Augenschein, denn schon der geringste Lampion war, wie gesagt, einen Blick wert.

- Oh, mein Vater hat ihn mir zu meinem zweiunddreißigsten Geburtstag geschenkt, antwortete sie. Was sagst du dazu …?!

Ich fragte mich, was ihr der Kerl wohl zu Weihnachten schenkte.

Kaum vor meinem Haus angekommen, hüpfte Hans aus dem Wagen und flitzte zum Kofferraum, um sich Mariannes Rollstuhl zu schnappen. Wir baten ihn, unterwegs nicht zu bummeln, denn ich konnte es kaum erwarten, den Baum endlich aufzubauen.

Ich schob Marianne ins Wohnzimmer.

- Ich war schon lang nicht mehr hier …. bemerkte sie. Oh, dein Aquarium kenne ich ja noch gar nicht …

Ich erklärte ihr, daß sie mit der Zeit ihre Farbe verlieren konnten, selbst wenn man achtgab, daß der pH-Wert des Wassers nicht zu tief lag. Danach strich ich mir übers Kinn und baute mich mitten im Zimmer auf, ich fragte mich, wo wir anfangen sollten.

- Wenn es dich nicht stört, würde ich mich lieber in einen normalen Sessel setzen …. meinte sie sanft zu mir.

Ich nickte und wappnete mich mit einem hollywoodreifen Lächeln.

- Aber sicher …. sagte ich.

Ich hob sie im Handumdrehen hoch. Sie schlang einen Arm um meinen Hals – was die Verwirrung, die mich sogleich ergriffen hatte, nur verstärkte, eine Verwirrung, die ich auf die große sexuelle Einöde schob, die ich durchquerte und die mich hypersensibel für jeden weiblichen Kontakt machte –, während ich sie fragte, ob sie einen bestimmten wünsche.

Sie wählte den, der in der Nähe des Fensters stand. Das war mein Lieblingssessel, alle Welt suchte ihn sich aus, ohne daß ich so recht verstand, weshalb eigentlich. Ich legte sie also darauf ab, nicht ohne jedoch auf mein Kreuz achtzugeben und auf eine - wie ich einräumen muß - lächerliche Weise in die Hocke zu gehen, aber ich brauchte mir nichts mehr zu beweisen und mied auf diese Art jedweden Fallstrick. Danach fuhr ich schleunigst den Rollstuhl hinaus, ich parkte ihn im Eingang, wo er unseren Blicken entzogen war. Ich sah sie wieder durch dieses Zimmer eilen oder von ihrem Stuhl aufspringen, ich erinnerte mich, als sei es gestern gewesen.

Das war das erste Mal seit ihrem »Unfall«, daß wir unter vier Augen beisammensaßen. Ich war angenehm überrascht, mit welcher Leichtigkeit wir diesen Schritt getan hatten und wieviel Vergnügen es mir bereitete, mit ihr zusammen zu sein. Ich hatte sie weiß Gott zum Kotzen gefunden, als wir gemeinsam an diesem verdammten Drehbuch bosselten, und oft genug schier unerträglich, sie war weiß Gott nicht der Typ Mädchen, um den meine Gedanken Tag und Nacht kreisten. Erst später, als die Monate verstrichen und wir uns hier und dort begegneten, hatte ich allmählich meine Meinung geändert, durch meine Weigerung indes, in der Stiftung zu arbeiten, hatte sich ein Graben zwischen uns aufgetan, und seither begnügte ich mich damit, gewisse Details zu verzeichnen, die mein Interesse weckten. Überdies war ich nicht der einzige, der fand, sie blühe auf, so unglaublich dies auch erscheinen mag.

Sie hatte begonnen, aus Garn ein System anzufertigen, an dem die Kugeln aufgehängt werden konnten. Ich befestigte einige an der Decke, um mich einzustimmen, dann prüfte ich, ob die elektrischen Kerzen auch alle funktionierten. Während wir miteinander plauderten, hatte ich Gelegenheit, sie nach Belieben zu beobachten. Man konnte sagen, daß sie sich verdammt nochmal gemacht hatte, wenn man das von einem Mädchen sagen kann, das auf immer an einen Rollstuhl gefesselt ist. Diese Stiftung zu leiten, trug bestimmt einiges dazu bei, Paul war voller Bewunderung, ihm zufolge konnte ich mir gar nicht vorstellen, wieviel Arbeit sie sich machte:

- Danny, du wirst es mir nicht glauben, aber dieses Mädchen ist eine Heilige …!

Ohne gleich soweit gehen zu wollen, räumte ich gern ein, daß sie anziehender geworden war, jedenfalls in gewisser Hinsicht, und ich fand sie durchaus gefällig an diesem Nachmittag und ganz und gar nicht zum Kotzen.

Als wir darauf zu sprechen kamen, womit ich – von Tannenbäumen abgesehen – meine Tage verbrachte, gestand ich ihr, daß ich seit einiger Zeit überhaupt nichts mehr tat, daran aber noch nicht gestorben sei.

- Machst du Witze …?! fragte sie mich.

- Beileibe nicht, ich fürchte, das ist alles andere als ein Witz … Plötzlich fühlte ich mich in einer mitteilsamen Stimmung. Ich setzte sie von meinen Problemen in Kenntnis. Aber das Tageslicht war so weich, daß ich außerstande war, alles in düsteren Farben zu schildern, und sehr schnell beruhigte ich sie, es bestehe kein Anlaß, sich den Kopf zu zermartern.

- Das ist nichts, rein gar nichts, verglichen mit dem großen Geheimnis des Lebens …. monologisierte ich.

- Dan … Du weißt, ich bin bereit, dir zu helfen … Naja, du weißt es sehr gut, und nicht erst seit heute …

- Hmm, ich danke dir … Ach, ich weiß nicht … Ich hab noch keinen Entschluß gefaßt. Und außerdem, als was könnte ich dir schon nutzen …?

- Oh, keine Bange … Ich finde schon etwas.

- Weißt du, Marianne, ich habe nichts Besonderes gelernt … In diesem Moment klingelte es an der Tür. Es war Hans, mit meinem Tannenbaum. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber ich spürte, daß ihm die Spazierfahrt nicht zugesagt hatte.

- Tränen sind besser als Lachen, denn das Unglück läutert das Herz, sagte ich ihm, allein er tat, als hätte er nicht verstanden, und kehrte wortlos zu seinem Wagen zurück.

- Dan, ich kann dich nicht zwingen, für mich zu arbeiten …. setzte sie wieder an, als ich mit dem Tannenbaum auf der Schulter durchs Wohnzimmer zog. Aber würdest du mir endlich sagen, warum nicht …?

Ich stellte meine Last in eine Ecke und merkte, daß ich mich ein wenig verschätzt hatte: die Spitze schrammte böse gegen die Decke, bildete einen häßlichen Winkel. Während ich dieses Problem zerstreut bedachte, antwortete ich ihr, ich wisse es selbst nicht, dann drehte ich mich um und blickte sie lächelnd, mit ausgebreiteten Armen an.

- Marianne, ich glaub, im Grunde möchte ich für niemanden arbeiten …

Ohne mich aus den Augen zu lassen, reichte sie mir eine Traube von Kugeln, die sie am Schwanz hielt, und neigte leicht den Kopf.

- Wenn ich recht verstanden habe, hindert dich nichts daran, mich wieder zu besuchen, sobald du wieder Fuß gefaßt hast …

Ich war bereits wieder losgezogen und fing an, sie da und dort, und zwar nicht ganz geschmacklos, aufzuhängen.

- Täusche ich mich …? drängte es sie nachzufragen.

Ich war nicht in der Lage, sie zum Teufel zu schicken. Ihre Stimme war sanft und freundlich, und das nahende Weihnachtsfest verpflichtete mich zu mehr Liebenswürdigkeit, ebenso die Aussicht auf die fürchterlichen Scherereien, die mich erwarteten, wenn ich nicht bald einen Weg fand, sie zu umgehen.

- Oh, oh …! gurrte ich. Also nein, sollte ich ein unersetzbares Talent haben, eine Fähigkeit, von der ich bislang nichts ahnte …?

- Und warum nicht?

Da ich die letzte der ersten Serie aufgehängt hatte, lockerte ich meine Schultern und drehte mich gelassen einmal um die Achse. Ich war zufrieden, denn der Raum nahm allmählich Gestalt an.

- Ich glaube, du machst dir falsche Vorstellungen über mich …. seufzte ich vergnügt. Weißt du, das einzige, was mich im Leben wirklich gereizt hat, war, Bücher zu schreiben, verglichen damit kommt mir alles andere nur fad vor. Insofern würde es mich wundern, wenn ich für die Stiftung ein wertvoller Zuwachs wäre, soviel solltest du wissen …

- Wer weiß … Vielleicht bitte ich dich, eines zu schreiben …? Ich lachte mich schief. Ich entschied, der Moment sei gekommen, einen Schluck zu trinken.

- Diese Gnade wird mir schon lange nicht mehr zuteil, feixte ich, während ich nach dem Bourbon griff. Ich fürchte, du mußt dir ‘nen anderen Job ausdenken, der meinen Horizont nicht übersteigt …

Sie wirkte nicht gerade überzeugt, aber das war ihre ureigene Sache. Vor ihr hatten sich schon andere damit abfinden müssen, daß mich die Gute Fee ein für allemal verlassen hatte und nichts daran zu ändern war. Ich wäre entzückt gewesen, hätte ich ihr das Gegenteil verkünden können. Am schlimmsten war dieses Gefühl, daß man mir Vorwürfe machte, als nähme man mir übel, daß ich nicht mehr war, was ich einst gewesen. Glaubten sie allen Ernstes, mir mache das Spaß, und ich brauchte nur mit den Fingern zu schnippen …?!

Ich lachte immer noch, als sie schon längst fort war. Ich hatte die Ausschmückung des Zimmers beendet und überlegte, daß es trotz allem ein Segen war, so etwas erlebt zu haben.

- Schade, daß es so kurz war …. sagte ich mir mit einer Unze Melancholie, schade, daß sie mich so schnell verlassen hat …!

Dabei dachte ich keineswegs an Marianne. Im Grunde war ich nicht verbittert. Hätte ich nur genug Geld für meine alten Tage beiseite gelegt, ich hätte all dem keine Träne nachgeweint.

Ich war mit meiner Arbeit letzten Endes nicht unzufrieden, und ohne mich mit Blumen bestreuen zu wollen, mußte ich mir lassen, daß ich mich gut geschlagen hatte und das Ergebnis sehr überzeugend ausfiel. Ich schaltete im letzten Licht des Tages meine Kerzen an, eine wahre Augenweide, ein echter Glücksfall, wie ich ihn mir erhofft hatte, ein Moment, der wunderbar gewählt war, beispielsweise Skriabin zu hören.