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Mitte November erfaßte ein Kälteeinbruch das ganze Land. Die Leute auf der Straße redeten von ihrer Gasrechnung und vom Ende der Welt. Wenn ich mit dem Motorrad losfuhr, wurde ich ganz blau, meine Gelenke waren wie versteinert, und kaum kam ich irgendwo hin, flitzte ich zum erstbesten Heizkörper. Am liebsten war mir jener in Andreas Büro, ein altes gußeisernes Modell mit kunstvoll gearbeiteten Rippen, von dem ich nicht mehr abrückte. Ich ließ mich von den jungen Schriftstellern, die vorbeikamen und zwei, drei Worte mit mir wechselten, mit Kaffee versorgen, Typen, denen ich gerade durch meinen Opfergang das Leben rettete, die Wert darauf legten, sich bei mir zu bedanken und mich anzuspornen, und denen ich entgegnete, das sei nicht der Rede wert.

Jedermann wußte, der gute Dan mußte bluten. Andrea hatte sie allesamt eingeweiht, und ich hatte keine Hemmungen, die Sache unauffällig aufzubauschen, indem ich einige Seufzer ins Gespräch einfließen ließ und auf die bloße Erwähnung des Namens Marianne Bergen lediglich mit einem desillusionierten Lächeln reagierte.

- Meine Güte, das muß ja grausam sein, sagten sie zu mir. Sag mal, Alter, ich hoffe, du hast mein letztes Buch gelesen …?!

Nein, aber ich hoffte, daß sie sich vollverausgabten und meine Anstrengungen nicht vergeblich waren. Ich hoffte aufrichtig, daß sie nicht alle verwelkten und daß wenigstens einer von ihnen ein Schriftsteller wurde. Was ich an ihnen mochte, das war die phantastische Hoffnung, die sie darstellten, und ich war der Ansicht, wenn man, wie es mir passiert war, auf halbem Weg zu Fall kam, dann mußte man zusehen, daß man die Fackel weiterreichte. Sicher, meine Hingabe gründete sich nicht ausschließlich auf ein solch lauteres Motiv, aber etwas von dem war trotz allem vorhanden, und ich bezog daraus einigen Trost.

Als ich eines schönen Morgens von Paul kam, geriet ich in eine lausige Kälte, und während ich auf die Zufahrt zur Umgehungsstraße einbog, dachte ich daran zurück, was er mir eröffnet hatte. Es handelte sich um eine Idee, die ihn schon seit langem verfolgte, ein geheimes Verlangen, und er meinte, der Moment sei gekommen.

- Dan, jetzt oder nie. Solange ich noch Kraft habe. Ich werde diese letzte Patrone abfeuern.

- Hör mal, ich weiß nicht, ob das eine besonders tolle Idee ist …

- Ah, wie soll ich’s dir sagen … Ich weiß, daß ich es tun muß.

- Na schön. Aber auf mich brauchst du nicht zu zählen.

Ich hatte die Szene noch vor Augen. Er hatte eine Flasche hervorgeholt, um die Sache eingehend mit mir zu besprechen, dieser Schweinehund kannte mich. Plötzlich spürte ich, daß ich in der Kurve von der Fahrbahn abkam, und auf solch grausame Art in die Wirklichkeit zurückgeholt, stellte ich fest, daß die Straße ungewöhnlich glänzte und daß ich wahrhaftig dabei war, auf die Fresse zu segeln.

Der Sturz war nicht schlimm. Ich ließ das Motorrad los und sauste, auf dem Rücken liegend, davon, dabei kreiselte ich wie ein Weltmeister im Eiskunstlauf. Ich mußte mich bloß in Geduld fassen und abwarten, daß diese ärgerliche Rutschpartie ein Ende nahm. Zum Glück war die Auffahrt wie ausgestorben, und wäre nicht das leise Zirpen meines Blousons auf dem vereisten Asphalt gewesen, ich hätte glauben können, seelenruhig in meinem Bett zu liegen, die Augen zur Decke gerichtet und eingeladen zu irgendeiner Reise, deren ohnmächtiger Zuschauer ich war.

Gott sei Dank rutschte mein Kopf zwei Zentimeter an der Leitplanke vorbei. Lediglich mein Bein ging in die Brüche.

 

An diesem Tag stürzte jener Wall ein, den ich mühselig um mich herum errichtet hatte, der mich so viele Opfer gekostet hatte und dessen Geschichte nur der Widerhall herzzerreißender Trennungen und Entsagungen war. In Nullkommanichts wurde meine Bude gestürmt, ich hatte den Eindruck, sie kamen von allen Seiten zugleich. Männer, Frauen, Kinder. Frauen, ja, haargenau, mein Schwur wurde verspottet, lächerlich gemacht, zerstampft, weggefegt, bevor ich auch nur dazu kam den Mund aufzumachen.

Daran gewohnt, immer nur eine auf einmal abzuweisen, wurde ich von der Vielzahl glatt überrannt, und mit entsetztem Blick öffnete ich einer von ihnen die Tür, während eine andere in meiner Küche trällerte.

Als hätte sich die ganze Welt abgesprochen. Je öfter ich ihnen sagte, ich brauchte nichts, um so idiotischer fanden sie mich, und sie wetteiferten darin, wer meine Kissen richtete, seinen Grips bemühte, um mich zu zerstreuen. Alle Welt fühlte sich verpflichtet, den guten alten Dan aufzurichten, der durch einen finsteren Unfall in seinen vier Wänden festgehalten wurde.

Sarah schaute beinahe täglich vorbei, na gut, Sarah, das war was anderes, Sarah, nichts gegen. Aber Elsie, Marianne Bergen, Andrea, wenn sie einmal nicht mit einer ihrer Freundinnen antanzten, was sollte ich dazu sagen, was sollte ich zu all diesen Mädchen sagen, die mir am Arm ihres Freundes ins Haus schneiten? Meine Güte, ich wiederhole mich, hatte ich nicht geschworen, nie wieder werde eine Frau den Fuß über meine Schwelle setzen …?! Ah, und seien sie noch so alt oder zum Kotzen oder häßlich, so daß nicht die geringste Gefahr bestand, darum ging’s nicht, ein Schwur war schließlich ein Schwur. Was indes war jäh aus ihm geworden, sah ich sie nicht seelenruhig in meinen Sesseln Platz nehmen und die Beine übereinanderschlagen, war nicht mein Wohnzimmer von ihrem Parfüm erfüllt, faßten sie nicht alles an, konnte ich nach ihrem Aufbruch nicht feststellen, daß ein unsichtbares Chaos im Zimmer herrschte, daß selbst die Stille ob ihrer Spuren erzitterte …?

Also war mein Schmerz doppelt, mit meinem Bein war auch mein Schwur in die Brüche gegangen. Wenn man mich allein ließ, starrte ich auf meinen Gips, aber im Grunde fühlte ich mich an meinen Stuhl gefesselt, ein für allemal verraten, und das Gewicht meines Beins war nichts, verglichen mit dieser fürchterlichen Invasion. Sollte doch gleich eine ganze Busladung kommen, wenn sie schon dabei waren, samt Zahnbürsten und Schlafsäcken, dann könnte ich wenigstens mal anständig lachen, bevor ich mich einsperren ließ.

- Du bist lächerlich, sagte Sarah zu mir.

-Ja. Abgrundtief.

Einen jedoch amüsierte dieser ganze Aufmarsch, einen, der mit einem Lächeln auf den Lippen aus der Schule kam. Wenn er sich auf meine Seite geschlagen hätte, wenn er nur die geringste Verstimmung angesichts dieses ganzen Trubels gezeigt hätte, ich hätte Mittel und Wege gefunden, dieses ganze Volk rauszuwerfen, ich hätte meine Tür verriegelt, und mein Schwur wäre ungebrochen geblieben.

 – Du weißt, Hermann, du brauchst nur ein Wort zu sagen. Vergiß nicht, du bist hier zu Hause. Wenn du mich fragst, dieses ständige Kommen und Gehen …

- O nein, das ist nicht dein Ernst! Jetzt ist wenigstens was los hier …

 – Hmm, sicher … Aber ein bißchen Ruhe hat noch niemand geschadet, das kannst du mir glauben.

- Pah, es schadet auch niemand, ein paar Menschen zu sehen …

Ich wußte sehr wohl, wo das Problem lag, ich wußte, früher oder später würde es sich stellen, oder vielmehr, es hatte schon immer existiert, und es würde sich nur ausweiten. Offen gestanden, ich hatte die Nase voll, und ich verspürte seit einigen Jahren eine ernsthafte Neigung zu einer einsamen Insel, ich glaube, ich hätte nichts vermißt, oder nur sehr wenig, wenn ich’s mir recht überlegte, ich hatte keine extravaganten Bedürfnisse mehr. Doch da war ein wunder Punkt, denn in dem Maße, wie ich mich der Welt verschloß, öffnete sich ihr Hermann. Und ich hatte nicht die Absicht, mich dem zu widersetzen oder ihn zu verlassen, um meines Weges zu ziehen. Spaß machte mir das allerdings nicht.

 

Diesen Gips mit mir rumzuschleppen machte mir auch keinen Spaß. Als Gladys’ nächstes Match anstand, schwitzte ich Blut und Wasser, während ich auf die oberen Ränge klomm. Ohne Richard und Hermann, die mich links und rechts packten und ihre Kräfte nicht schonten, hätte ich es nicht geschafft. Es war ein herrlicher Tag, frisch, aber voller Licht, und für ein Viertelfinale war einiges los. Kaum hatten wir Platz genommen, kaufte ich mehrere Flaschen Bier sowie Orangensaft für Sarah, und wir grüßten Max, indem wir sie in den Himmel reckten, als er uns endlich erblickte, als er uns zuwinkte. Marianne Bergen war mit uns gekommen.

Ich hatte sie angerufen, um sie davon in Kenntnis zu setzen, daß ich heute nicht auf der Matte stehen würde, ich hatte ihr von Gladys’ Spiel erzählt, das ich auf keinen Fall verpassen dürfe, aber sie solle sich nicht aufregen, dafür würden wir uns am nächsten Tag doppelt ins Zeug legen.

- Ach du je, jetzt ist mein Tag im Eimer …. hatte sie geseufzt. Könnte ich nicht mitkommen?

Ich wußte beim besten Willen nicht, weshalb sie nicht hätte mitkommen können.

Sie saß neben den beiden Jungen, und im Sonnenlicht wirkte ihre Haut noch heller als sonst. Hermann und Richard verschlangen sie mit Blicken, und ich erinnerte mich bei dieser Gelegenheit, daß mich, als ich ungefähr in ihrem Alter war, diese kränklich aussehenden Mädchen ebenfalls angezogen hatten, weshalb, hätte ich jedoch nicht erklären können. Ich flüsterte Sarah diesen Gedanken ins Ohr, und sie anwortete mir, das sei ganz simpel, ich hätte Lust gehabt, eine Tote zu besteigen.

- Für einen jungen Kerl, der noch nie eine Frau geliebt hat, dürfte das wohl das Einfachste sein, oder täusche ich mich …? Zum Ausprobieren ist das schließlich gar nicht so schlecht …

Ich nickte bedächtig, bevor ich mich voll und ganz auf mein Bier konzentrierte, das schlicht und einfach schäumte.

Unten rückte Max seine Hose zurecht, das Spiel mußte bald beginnen, überdies schwenkten die größten Vollidioten bereits ihre Fähnchen mit den Farben der beiden Teams. Kaum betraten die Mädchen das Spielfeld, stand Marianne auf und fragte, wo das stille Örtchen sei. Es gibt Leute, die sind so. Es gibt Mädchen, die gehen einem mitten auf einer Beerdigung pinkeln, um nur ja nicht so zu sein wie alle anderen. Im allgemeinen sind das solche, deren Eltern Geld haben, solche, die ein leichtes Leben haben und aus diesem Grund hartnäckig bemüht sind, es sich zu komplizieren.

Der Weg war nicht ganz eindeutig zu beschreiben, man mußte erst wieder runter und dann durch eine ganze Reihe von Gängen. Ich fragte sie, ob das nicht warten könne, aber Richard bot an, sie zu begleiten. Sie hatte Glück. Sie stieg mit einer Entschuldigung über meinen Gips hinweg, während unten das Spiel begann.

- Komisches Mädchen …. murmelte Sarah.

- Hmm … Ich hab’s dir ja gesagt. Ich glaube, alles in allem kotzt sie mich an.

- Ach, du übertreibst, ich find sie nett …. entrüstete sich Hermann.

- Na klar ist sie nett, aber wir beide, wir sehen sie nicht mit gleichen Augen. Ich bin für ihre Reize nicht empfänglich …

Ich wußte haargenau, daß er erröten würde. Jedesmal, wenn ich den kleinen Jungen wachkitzelte, der noch in ihm steckte, erinnerte mich das daran, daß ich mit einer Frau zusammengelebt hatte, doch ich empfand bei diesen Anlässen keinerlei Bitterkeit, sondern im Gegenteil ein ganz besonderes, einfach undefinierbares Glück, das ich keineswegs zu zerrupfen suchte. Doch je mehr die Tage vergingen, um so seltener wurden diese Augenblicke, deshalb kostete ich sie unendlich behutsam mit einem seligen Lächeln aus, um auch das geringste Tröpfchen in mich aufzunehmen. Ah, und er wurde größer und größer, und wenn die Erinnerung an seine Mutter nachts an mir nagte und ich sein Zimmer betrat, um ihn im Schlaf zu betrachten, wurde mir klar, wie sehr uns alles zwischen den Fingern zerrann, wie sehr sein Körper in die Länge geschossen war, sich sein Geruch verändert hatte, und die Mähne, die er sich gegenwärtig leistete, die erstaunte mich am allermeisten, dichte und kräftige Haare, dick wie Eisendrähte, und sie wurden von Tag zu Tag dunkler, ich merkte, bald würde mich Franck endgültig verlassen haben.

Ich hatte gerade aufgehört zu strahlen, als Richard und Marianne zurückkamen. Ich nutzte die Gelegenheit, um mit zusammengekniffenen Augen einen Blick auf die Anzeigetafel zu werfen, denn auf die merkwürdigste Weise der Welt, schlimmer denn ein Spritzer Frühling, rieselte die Sonne auf uns herab, es war kaum zu glauben, daß ich ein paar Tage zuvor noch eine Eisplatte hatte finden können. Gladys’ Team hatte drei Körbe Vorsprung. Nanu, sagte ich mir, für ‘nen simplen Toilettengang waren die aber lange unterwegs, ich fragte mich, was sie noch alles ausgeheckt haben mochte, vielleicht hatte sie sich nicht entscheiden können …?

 – Wir sind in die Stadt gefahren, um Champagner zu kaufen, verkündete Richard, während er seine Sonnenbrille polierte. Ihr müßt euch bei Marianne bedanken.

Ich beugte mich vor, um sie mir anzusehen, aber sie schien ganz und gar in das Match vertieft. Sie umklammerte eines ihrer Beine, und ihr Kinn ruhte auf ihrem Knie. Im Grunde konnte ich mich dazu beglückwünschen, daß ich sie mitgebracht hatte, den beiden Jungen gefiel sie, und sie machte den Eindruck, als bliebe sie ruhig. Überdies sah ich sie zum erstenmal außerhalb der Arbeit, und seit einigen Tagen, seit sie zum Schuften bei mir vorbeikam und all meinen Bekannten begegnete, hatte ich das Gefühl, sie war neugierig, wenn nicht gar interessiert, und sobald sie den Kopf hob, um sich diesen oder jenen Neuankömmling anzusehen, nutzte ich die Gelegenheit, unauffällig ein paar dunkle Streichungen an ihrem Manuskript vorzunehmen, was ihr in der Regel ein paar spitze Schreie entlockte und uns in eine endlose Diskussion verstrickte, etwas, das ich mehr als alles fürchtete.

Schwärmte sie für Künstler, Musiker, Schriftsteller, geriet sie beim Anblick dieser ganzen Bande von Bekloppten in Wallung …? In dem Fall hatte sie ihr Fett weg, und ausgeknockt hielt es sie nicht mehr auf ihrem Stuhl, sie setzte nur mehr ein Knie darauf und warf sich in Pose.

- Oh, Marianne, darf ich Ihnen vorstellen …. und während sie sich miteinander abgaben, legte ich los wie eine Rakete, ich strich durch, kritzelte, verbreitete Schrecken auf meinem Weg, ersparte mir in wenigen Minuten stundenlange Reibereien.

Ich muß zugeben, ein solches Ambiente hatte schon etwas an sich, das sie verblüffen konnte, doch mein Fall war allseits bekannt, man wußte, daß ich auf die Nase gefallen war und daß ich praktisch niemand mehr bei mir reinließ, das war meine persönliche Marotte, es ging das Gerücht, ich sei vor Kummer halb übergeschnappt, und so bestürmte man mich nicht. Was Wunder also, daß manch einer bei mir auftauchte, hatte ich doch meine Tür beinahe fünf Jahre lang verbarrikadiert und nun endlich geöffnet. Weiß Gott, in diesem Milieu liebt man einen jeden, der noch grün hinter den Ohren war. Und für halb ausgeklinkt galt, wer noch nicht in das Heiligtum des kleinen Dan gestiefelt war.

Marianne war platt. Ich hoffte, sie würde es bleiben, zumindest, bis wir mit unserer Sache durch waren, und noch strahlte ich nicht, aber das nahm Gestalt an, fast konnte ich den Geruch des Stalles riechen.

Gladys ohne jeden Zweifel auch. Die gesamte Equipe strahlte um die Wette, und die letzten Minuten des Spiels verliefen derart spannungslos, daß ich mich beim Gähnen ertappte. Zum Glück war noch eine Flasche Bier übrig, genau das Richtige, um sich in Geduld zu fassen und besserer Dinge zu harren.

 

Wir gingen zu Max, um die Champagnerflaschen zu köpfen, denn er wohnte am nächsten, und es war noch schön genug, daß wir ein wenig laufen wollten, schön genug, daß selbst ein Typ mit Krücken Lust dazu haben konnte. Max hatte noch nichts getrunken, aber er tänzelte buchstäblich an meiner Seite.

- Herrgottsackerment, der stellvertretende Bürgermeister hat mir die Hand gedrückt, platzte er heraus. So ein Arsch, letztes Jahr war ich angeblich zu alt, aber haste den soeben gesehn, haste diese Gönnerfresse gesehn …?!

Ich entgegnete ihm, mir sei kein Jota entgangen, woraufhin er mir den Arm um die Schulter legte.

- Danny, ich muß den kassieren, diesen Pokal, verstehst du, ich will den haben! Also ehrlich, haste den gesehn, diesen armen alten Schwachkopf …?!

Es roch ständig nach Schweiß bei Max, nach kaltem Schweiß, und die Kissen waren voller Katzenhaare, und jeder noch so kleine Gegenstand wirkte müde, wenn nicht gar im tiefsten Schlaf versunken, aber es herrschte eine gewisse Ordnung. Max lebte allein, aber er versuchte sich nicht unterkriegen zu lassen.

- Eins wirst du bald merken, meinte er manchmal zu mir, je älter man wird, um so mehr fängt der Körper an zu stinken …!

In der Tat hatte ich das bereits festgestellt, der Geruch meiner Achselhöhlen beispielsweise war stärker geworden.

- Klar, aber nicht nur die Achselhöhlen, Danny … Du wirst schon sehn …

Ihm zufolge konnte man nichts dagegen machen, er konnte sich noch so oft waschen oder die Fenster aufreißen, wenn er seine Morgengymnastik trieb, der Geruch hielt an.

- Scheiße, und gegen diese ganzen Spraydinger bin ich allergisch, ungelogen …

Mir persönlich war das im Grunde piepegal, es störte mich nicht besonders. Allerdings konnte es durchaus sein, und das war Sarahs Ansicht, daß ich keinen sehr ausgeprägten Geruchssinn hatte. Was ich eben dazu sagte, das war für ihn bestimmt, wenn wir miteinander quatschten und er über seine Einsamkeit klagte.

- Ach was, erzähl mir nichts, das muß er sein, der Geruch des Todes. Den wird man nicht los …

Ich hatte ihm eines Tages gesagt, daß er uns mit seinem Alter auf die Nerven gehe, daß er so alt gar nicht sei.

- Ach nein …? Dann sag mir doch mal, mein lieber Dan, was du über diese Dinge weißt … Haste nicht Lust, mit mir zu tauschen, nur um zu wissen, was ich empfinde …?

Nun denn, jedenfalls war er so sehr entzückt, uns zu Gast zu haben, daß er über eine Minute mit den Schlüsseln hantierte, bis er endlich das Schloß aufbekam.

- Hoppla, Kinder! Macht mal schnell die Fenster auf, damit wir ein wenig Luft kriegen …! rief er sogleich, bevor wir auch nur einen Fuß in die Stube gesetzt hatten. Riechen Sie nichts, Mademoiselle …? fügte er ängstlich an Marianne Bergens Adresse gewandt hinzu.

- Nein, ich bin verschnupft.

- Bestens. Na denn, haut euch jeder in eine Ecke, ich kümmer mich in der Zeit um die Gläser … Ich glaub, das haben wir uns verdient.

Ich hatte an jenem Nachmittag ziemlich einen sitzen, so daß ich mich an nichts Großes erinnere. Es gehört nicht zu meinen Gepflogenheiten, mich am hellichten Tag zu besaufen, und ich hüte mich davor, es öffentlich zu tun, aber ich war zu lange in der Sonne geblieben, ich vermute, das war wie ein Dolchstoß in den Rücken.

Den Bullen und ihrem Vater habe ich später erzählt, wir hätten ein paar tolle Stunden verbracht, wir hätten miteinander gequatscht und gelacht, wir hätten Gladys’ Sieg praktisch bis Einbruch der Dunkelheit gefeiert, ja, und sie habe fröhlich gewirkt, statt uns die Hand zu geben, habe sie uns zum Abschied geküßt.

Apropos, auch wenn ich völlig besoffen war: diese Szene seh ich noch haargenau vor mir, und ich erinnere mich, daß ich zurückzuckte, als sie sich zu mir rüberbeugte, daß ich mich auf meinen Krücken total versteifte, nicht daß mir die Berührung ihrer Lippen unangenehm war, aber ich fand, sie war ein wenig vorschnell. Natürlich behielt ich diesen Gedanken für mich, trotzdem, die Sache hatte mich aufgeregt.

- Warte, ich helf dir rauf …. schlug mir Hermann vor.

- Nein, nicht nötig.

Ich weiß nicht, wie das bei anderen vor sich geht, mir geht es jedenfalls so, daß ich außergewöhnlich klarsichtig bleibe, wenn ich zuviel getrunken habe. Lediglich mein Körper will nichts davon wissen, und stoße ich mich zufällig an einem Möbelstück, habe ich den Eindruck, es sei über mich hergefallen. Es mißfiel mir, daß mich Hermann in einem solchen Zustand sah, mir wäre lieber gewesen, er hätte sich schlafen gelegt, statt dessen machte er mich freundlich darauf aufmerksam, daß wir noch nichts gegessen hätten, er wisse ja nicht, wie ich dazu stehe, er zumindest habe Hunger.

Ich peilte einen Sessel an, ließ meine Krücken rechts und links fallen und stieß ein leises Ächzen aus, während Hermann in die Küche abzweigte. Ich gab sogleich jeglichen Vorsatz auf, mein Schlafzimmer noch zu erreichen, ich kannte den Weg, die beiden Kurven und die siebzehn Stufen, und was tagsüber ein gelinder Witz war, konnte sich nächtens in einen fürchterlichen Parcours verwandeln, auf dem ich mir mehr als einmal fast die Gräten gebrochen hatte. Es kam überhaupt nicht in Frage, daß ich mich mit meinem eingegipsten Bein auf ein solch wahnwitziges Abenteuer einließ, zumal es reichte, daß mir Hermann eine Decke überlegte und mich von dem Schein der Deckenleuchte befreite, fast hörte ich sie kichern und ihre Stufen blank putzen, diese Teufelstreppe.

- Willst du auch was?

- Nein, mein Sohn. Es ist alles gut.

Er hatte sich ein Sandwich zubereitet, aus dem ich nur ein welkes Salatblatt hervorgucken sah, was nicht dazu angetan war, mich anderen Sinnes werden zu lassen. Er hatte sich vor mir aufgebaut und guckte mich lächelnd an.

- Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, sagte ich zu ihm. Naja, ich geb zu, ich hab mich ein wenig verausgabt …

Für einen kurzen Moment war ich versucht, ihm Gott weiß was zu erklären, aber es gab nichts zu erklären, und ich beendete meinen Satz mit einer müden Geste, worauf er geradeheraus anfing zu lachen.

- Scheiße, Hermann …. wenn deine Mutter da war …! Herrgott, weißt du, daß ich unfähig bin, einen Finger zu rühren …?!

-Ja, ich seh’s …

 – Hör mal … Ich weiß, daß ich mich zuweilen nicht besonders geschickt anstelle, das darfst du mir nicht übelnehmen … Normalerweise haßte ich ein derartiges Lamentieren.

- Jaja …. fügte ich hinzu, ich muß aber auch sagen, daß das hart ist.

Er hörte umgehend auf, mich zu betrachten, und biß kräftig in sein Sandwich. Es gab ein bestimmtes Terrain, auf das ließ er sich nur ungern zerren, und ich hatte Glück, daß ich mit ihm zusammenlebte, er wußte meinem Gejammer ein Ende zu machen. Tatsächlich verdanke ich es ihm, daß ich gelernt habe, die Zähne zusammenzubeißen. Unter anderem. Es ist unglaublich, was ein Vater alles von seinem Sohn lernen kann.

Er blieb nicht allzulange bei mir. Wahrscheinlich sah er die Mühe, die es mich kostete, ihm ein angenehmer Gesellschafter zu sein, und schließlich hatte er ein Einsehen, erbarmte er sich meiner immer mühsameren Aussprache, meines stumpfsinnigen Gesichtsausdrucks, meiner großen glasigen Augen. Er hüllte mich in eine Decke, gab sich Mühe, sie festzuklemmen, damit sie nicht zu Boden fallen konnte, aber ich gebot ihm Einhalt, ich sagte ihm, es sei schon gut so, ich käme schon klar. Ich brauchte niemanden, der sich um mich kümmere. Er richtete sich sogleich wieder auf, und ich merkte, daß ich ihn verletzt hatte. Aber ich war nicht in der Lage, irgend etwas zu reparieren. Ich war nichts wert.

Also trank ich noch ein, zwei Gläser, nachdem er mich alleingelassen hatte. Um mich zu strafen. Um zu sehen, wie erbärmlich ich war. Am liebsten wäre ich von meinem Sessel gerutscht und auf den Boden gefallen, aber ich lag wie angewurzelt in meinen Kissen, lachte vor mich hin, schüttelte den Kopf wie ein Esel. Ich konnte mir nichts vormachen.

Wie ich später erfahren sollte, geschah es ungefähr zur gleichen Stunde, da ich mich in aller Ruhe diesen trübseligen Gedanken hinsichtlich meiner wahren Natur überließ, daß Marianne Bergen irgendwo hinter dem Sportplatz, in dieser von Ginstersträuchern überwucherten Ecke, in der Max und ich bisweilen unsere Dauerläufe machten, eins übergezogen bekam und vergewaltigt wurde. Dabei spitzte ich wie gewohnt die Ohren, und ich darf behaupten, nie zuvor war die Stille so brutal wie zu dieser nächtlichen Stunde, nie zuvor hatte sie eine solche Eindringlichkeit gekannt.

 

- Das war bestimmt ein Schwarzer oder ein Araber, vertraute mir der Inspektor an.

- Womöglich eine Mischung von beiden …? schlug ich ihm vor.

Fast wäre mir mein Kaffee hochgekommen. Aber ich erwischte ihn in meinem Mund und schluckte ihn wieder hinunter.

Kaum war er fort, klingelte jemand an der Tür, und ich begriff augenblicklich, daß ich niemanden sehen wollte. Ich reagierte nicht. Es klingelte Sturm. Es gibt Leute, die lassen nicht locker.

Ich stellte mich unauffällig ans Fenster und erkannte vage einen Schriftsteller, sofern es nicht einer von Elsies Musikern war oder der Freund eines Freundes, der sich vielleicht mit der Malerei oder was weiß ich befaßte, kurz und gut, genau die Sorte von Kerl, auf die ich keine Lust hatte, ich fühlte mich nicht in der Stimmung, mir von jemandem auf die Schulter klopfen zu lassen oder mir die jüngste Story, die im Umlauf war, anzuhören. Es interessierte mich nicht, etwas über die neue Richtung der Avantgarde zu erfahren. Das erheiterte mich nicht mehr wie einst.

Als die Luft rein war, schwang ich mich auf meine Krücken und ging raus. Ich hatte das Bedürfnis, Luft zu schnappen und meinen Geist in Ruhestellung zu belassen, ihm zumindest diese sinnlosen Diskussionen zu ersparen, denen ich kein Interesse mehr entgegenbringen konnte, besonders, wenn ich mich müde fühlte. Und ich war ausgelaugt, schlug mich mit ernstzunehmenden Kopfschmerzen herum, schleppte mich schweren Schrittes in einem ekelerregenden Brodem voran. Ich mußte eine ganze Weile gehen, bis mir die frische Luft gut tat, bis meine Migräne unter der Wirkung von etwas eisigem Schweiß fast gänzlich verflog.

Ich erinnerte mich nicht, daß ich beschlossen hatte, den Weg zum Gymnasium einzuschlagen, aber ich geriet mitten darauf. Manchmal habe ich den Eindruck, ganz gleich, wo ich bin, und ohne überhaupt zu wissen, wo er ist, könnte ich aufstehen und schnurstracks Richtung Hermann gehen, das ist eine Sache, die ist mir unerklärlich, aber es ist so. Das ist komisch, und keiner wundert sich darüber mehr als ich. Es bedarf bloß einer Kleinigkeit, schon erwacht in mir dieser tierische Reflex. Meistens weiß ich nicht einmal, was ihn ausgelöst hat.

Ich erblickte Max, als ich am Gitterzaun des Sportplatzes vorbeikam. Er hatte eine ganze Klasse auf den Rücken gelegt, und die Ärmsten radelten in der Luft, die Hände hinter dem Kopf. Man sah nichts als rote Backen, Fratzen und heraushängende Zungen, ich hörte Max fragen, was sie eigentlich für Schlappschwänze seien, zumal sie noch gut fünf Minuten durchhalten müßten, aber mindestens. Trockene Blätter flogen auf und wirbelten um sie herum.

Ich rief ihn, er machte sie darauf aufmerksam, daß er seine Uhr beobachten und weiter ein wachsames Auge auf sie haben werde, selbst wenn es nicht den Anschein hatte. Dann trabte er auf mich zu.

- Du solltest halblang machen, sagte er zu mir. Ich weiß nicht, ob du dich im Spiegel betrachtet hast, aber du siehst aus, als pfiffste aus dem letzten Loch …

- Jaja, aber anders, als du denkst. Marianne Bergen, du weißt schon, das Mädchen, das gestern bei uns war, stell dir vor, die liegt im Krankenhaus. Sie ist vergewaltigt worden, man hat sie halbtot aufgefunden!

Er sperrte den Mund auf, ohne einen Ton zu sagen, dann packte er langsam die Gitterstäbe.

- Tja, jetzt siehst du auch nicht gerade gesund aus …

- Mach keinen Quatsch …

- Nein. Nicht bei solchen Dingen.

- Verdammt nochmal … Ich kann’s kaum glauben … Wie das denn …?

- Keine Ahnung. Der Typ hat ihr dermaßen eins über den Kopf gezogen, daß er sie fast umgebracht hätte.

- Ach du Scheiße …

Hinter ihm hatten seine Schüler aufgehört zu radeln, und die letzten kippten röchelnd um wie die Fliegen. Ich wollte Hermann auf keinen Fall verpassen und hatte auch nicht viel hinzuzufügen, außer daß wir uns später sähen und daß er sämtliche Einzelheiten bestimmt aus der Zeitung erfahren werde. Er nickte und warf mir einen langen, leeren Blick zu, dann wankte er wortlos zu seinem Spielfeld zurück, wo die Gymnastik in vollendeter Eintracht im gleichen Moment wieder aufgenommen wurde.

Hermann wirkte überrascht, wenn nicht gar verärgert, mich zu sehen, und er hatte guten Grund dazu. Wir standen uns unverhofft genau an der Straßenecke gegenüber, Auge in Auge, und ich war mir fast sicher, daß er im gleichen Moment Gladys’ Hand losgelassen hatte, aber ich hätte es nicht beschwören können, naja, jedenfalls waren sie zusammen, und zusammen kehrten sie zurück, und weit und breit kein Richard zu sehen. In puncto Reaktion sind die Mädchen stets eine Nasenlänge voraus, und in puncto Ablenkungsmanöver fiel mir Gladys um den Hals.

- Oh! Tag, Dan!

- Nanu, was machst du denn hier …?

- Och, nichts Besonderes. Ich bin spazieren gegangen, und ich hab mir gedacht, du gehst bestimmt vor Freude in die Luft, wenn dich dein Vater abholt … Täusche ich mich etwa?

Er entschloß sich zu lächeln. Ich hätte das gern bis zum Schluß mitbekommen, aber ich paßte auf, daß mein Blick nicht allzu eindringlich wurde.

- Sollen wir hier stehenbleiben? fragte er.

- Nein, aber versucht nicht, mich abzuhängen, sagte ich.

 

Offiziell hatte Franck mich verlassen, weil ich angefangen hatte zu trinken, sie behauptete, ich sei nicht mehr der Typ, den sie geheiratet habe, und in gewisser Weise hatte sie recht. Ich hatte mich für einen Schriftsteller gehalten, und der Erfolg tat ein übriges, ich glaubte wahrhaftig daran, bis zu dem Tag, an dem ich nicht mehr in der Lage war, auch nur eine Zeile zu schreiben, und ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, was mit mir geschehen war.

Im Grunde war es so entsetzlich nicht, kein wahrer Schriftsteller zu sein, es gibt wichtigere Dinge im Leben, aber zu jener Zeit faßte ich das sehr übel auf, ich hatte Lust, ihn gegen die Mauern zu schmettern, diesen Schädel, aus dem nichts mehr herauskommen wollte, ich heulte vor Wut und verfluchte das ganze Universum, doch ich ereiferte mich umsonst, kein Engel stieg vom Himmel herab, und meine Leser schrieben mir Briefe, um zu erfahren, was mit mir los sei.

Der Alkohol half mir zwar nicht, meine Inspiration wiederzuerlangen, aber er erlaubte es mir, mich so zu sehen, wie ich wirklich war, und Franck hatte meinen Anblick weidlich ausgenutzt.

- Wie ein Verrückter, der in einen Käfig gesperrt ist! meinte sie zu mir. Offen gestanden, du tust mir leid, du tust mir aufrichtig leid.

Das kam erst gegen Ende, daß ich ihr leid tat, als sie diesen Schwachkopf von Abel gefunden hatte, von dem sie sich trösten ließ, und wir anscheinend unsere letzten Kräfte damit aufgezehrt hatten, uns anzubrüllen.

Es war nicht ihre Schuld, niemand konnte wissen, was ich empfand, oftmals war das schlimmer noch als sterben, naja, zumindest glaubte ich das, und wer weiß, ob ich nicht doch einige Male gestorben bin, nichts spricht dagegen, ich haßte mich in einem Maße, daß ich mir ausmalte, ich würde mir den Leib aufreißen, um ihn mit Erde zu füllen.

- Du übertreibst! unterbrach mich Sarah.

- Nein, verlaß dich drauf, ich bin sogar meilenweit von der Wahrheit entfernt. Sie hatte recht, ich war vollkommen verrückt geworden. In meinen Augen mußte die Frau eines Schriftstellers imstande sein, alles zu ertragen, das Problem war nur, daß ich kein Schriftsteller mehr war, doch bis ich das erst mal kapiert hatte, das dauerte, das dauerte viel zu lang. Ganz davon zu schweigen, daß ich nicht irgendein kleines, anspruchsloses Büchlein zu schreiben gedachte, das kannst du mir glauben … Nur da, da hatte ich die Meßlatte ein wenig zu hoch angelegt. Weißt du, das Schlimmste, was einem passieren kann, ist, seine Grenzen nicht zu erkennen.

- Ja, aber mittlerweile sträubst du dich mit Händen und Füßen.

- Nein. Vielleicht fang ich in zwanzig oder dreißig Jahren wieder an. Vorher bestimmt nicht. Ich fühl mich ein wenig wie einer, der seine Frau bei einem Verkehrsunfall getötet hat. Ich werde das Steuer nicht von heute auf morgen wieder in die Hand nehmen. Ich werde warten, bis ich nichts mehr zu verlieren habe.

- Sagst du das wegen Hermann?

- Natürlich. Ich will nicht, daß er mich ein zweites Mal absinken sieht, sei unbesorgt … Vergiß nicht, ich bin sein Vater, er hat schon genug Kummer mit mir … Nein, weißt du, ich habe lange geglaubt, die Dinge könnten nicht warten, aber darüber bin ich hinweg.

- Hör mal … Paul scheint wirklich vollkommen hin und weg. Ich an deiner Stelle würde es mir überlegen.

- Jaja. Das ist alles wohlüberlegt.

- Ich versteh dich nicht. Ich find das einfach toll!

- Pfff … Wenn ich bedenke, mit dem ganzen Geld hätte man ein Bordell in Hongkong aufmachen können …

Sarah parkte den Wagen genau vor dem Gebäude, aber es regnete, und es war dunkel, man lief also nicht Gefahr, draußen sonderlich viel zu erkennen. Die Fenster unten waren erleuchtet. Ich hoffte, Paul hatte ein wenig Vorsorge getroffen, ich bekam allmählich Hunger.

- Ah, Sarah, Dan, altes Haus, DU …??!

Er war auf der Freitreppe erschienen, mit ausgebreiteten Armen, einen weißen Schal um den Hals, die Haare vom Wind zerzaust, das Gesicht erleuchtet. Er stürzte die Stufen hinab. Kaum hielt ich meinen Gips aus dem Wagen heraus, klammerte er sich mit Verschwörermiene an meinen Arm.

- Na …? Sag schon, was hältst du davon …?!

- Keine Ahnung …. munkelte ich.

- Großartig, nicht wahr? Und du hast ja keine Ahnung …!

- Jaja, das sagte ich gerade.

Er hörte mir nicht nur nicht zu, er scherte sich auch nicht um den Regen, und statt mir die Treppe hinaufzuhelfen, packte er mich an den Schultern, daß ich auf meinen Krücken schwankte. Sein Blick krallte sich in meine Augen, während die Tropfen über unsere Lider kullerten.

- Dan, wir werden verdammt was auf die Beine stellen, wir zwei!

- Nein, Paul, das sollte mich wundern …

- Ach, halt den Mund. Du bist doch noch ein Kind …

Er blickte mich so eindringlich an, daß ich Mitleid mit ihm bekam und schwieg.

- Du bist doch gekommen, hakte er nach.

- Ich bin gekommen, weil du mich darum gebeten hast, einzig und allein, um dir eine Freude zu machen. Fang nicht wieder an zu träumen. Bitte.

Sein Gesicht erschlaffte. Er knetete mir einen Moment lang die Schultern, dann seufzte er inbrünstig, aber auch voller Milde und Nachsicht, als wäre meine Sturheit vollkommen lächerlich und eigentlich nur Zeitverschwendung, mit der er sich eben abfinden mußte.

- Na komm, sagte er zu mir. Gehen wir rein.

 

Andrea wartete drinnen auf uns. Auch sie wirkte aufgeregt. Ich küßte sie, dann machten wir uns unverzüglich an die Besichtigung, ohne auch nur einen Augenblick zu verschnaufen, ohne einen Happen zu essen oder wenigstens einen Schluck zu trinken. Paul rannte kreuz und quer, er hetzte die Treppen rauf und wieder runter, um mich zu holen, er fand, ich ginge nicht schnell genug, und jedesmal, wenn er eine Tür aufmachte, meinte er, hier kommt das rein, und das da, das ist ein Büroraum, komm schon, Dan, und die Mauern hier, die reißen wir raus, das da ist auch ein Büro, wenn ich mich recht entsinne, hm, stimmt’s, Andrea?, naja, jedenfalls haben wir das vor, und erneut düste er mit Volldampf durch die Flure, verschwand, tauchte wieder auf, atemlos, mit roten Ohren und glückselig verklärtem Gesicht, Dan, kannst du dir das vorstellen, meinte er zu mir, bist du nicht auch vom Zauber dieser Räume überwältigt …?

In Wirklichkeit fühlte ich mich eher niedergeschmettert durch diesen Eindruck der Leere und Verlassenheit, und die staubige Luft griff meine Nasenlöcher an.

- Ehrlich gesagt, Paul, ich glaube, du bist dir nicht ganz im klaren … Allein die Bauarbeiten dürften ein Vermögen kosten.

Er erstarrte mitten auf der Treppe, die in den letzten Stock führte, und nach einem sekundenlangen Zögern stieg er langsam zu mir zurück. In diesem Moment kapierte ich, nichts würde ihn mehr aufhalten.

- Hör mir zu, Danny … Als ich zum erstenmal hier war, hatte ich nicht einmal Geld, um den Teppichboden zu ersetzen, und trotzdem ist mir dieser Gedanke nicht eine Sekunde lang gekommen, nein, ich wußte, hörst du, ich wußte, daß das klappen würde, das war eine Art Rendezvous mit dem Schicksal. Als ich dir davon erzählt hab, hatte ich keinen blassen Schimmer, wie man eine solche Summe zusammenkratzen sollte, ich wollte nicht einmal darüber nachdenken. Dan, noch vor ein paar Tagen hättest du denken können, ich sei verrückt, aber heute sieht die Sache anders aus, wer von uns beiden ist hier der Narr …? Wenn du mir nicht glaubst, frag doch Andrea, sie hat die Verträge in meinem Schreibtisch gesehen …!

- Es stimmt, Dan. Und die Arbeiten werden nächste Woche losgehen, Monsieur Bergen hat grünes Licht gegeben.

- Hörst du …? In einigen Monaten öffnet die Marianne-Bergen-Stiftung ihre Pforten, also frag mich nicht, was das wohl kosten wird, denn das kratzt niemanden. Wenn die Ärmste durchkommt, ist sie bestimmt für den Rest ihres Lebens gelähmt, versetz dich mal in die Lage ihres Vaters. Anscheinend war das das letzte, worüber sie mit ihm gesprochen hat … Herrgott nochmal, Dan, raff dich auf, oder machst du das mit Absicht, kapierst du denn nicht, was vorgeht …?! Wir können uns wahrhaftig nützlich machen …!!

Ich bin kein zynischer Kerl, also sah ich sie alle drei an, ohne ihnen zu sagen, was ich wirklich davon hielt, dann eröffnete ich den Rückzug in den großen Saal im Parterre, während Paul hinter mir palaverte, von wegen wir hätten ein unvergleichliches Glück, absolut, eine neue Herausforderung sei das, er werde mich, solange er lebe, nicht mehr in Ruhe lassen.

Wir teilten uns zwei Flaschen Bier und ein Päckchen Kekse, die er bei einer früheren Visite liegengelassen hatte und die nichts Knuspriges mehr an sich hatten.

- Das Beste ist, verriet er mir, daß ich Marianne Bergen nur ein einziges Mal von diesem Projekt erzählt habe, und ich hatte den Eindruck, sie hört mir gar nicht richtig zu …

- Aber der Himmel, er hat dich gehört, willst du mir das damit verklickern …?

- Naja, du mußt zugeben, das grenzt an ein Wunder!

- Und daß dieser Typ über sie herfiel, ist das auch wundersam …?

Sein Blick schweifte über meine Schulter in die Ferne. Lautlos trank ich meine Flasche aus.

- Alles fügt sich, verkündete er mir schließlich. Jedes Ding hat seinen Platz.

Ich erschauderte in meiner Ecke.

 

Die Arbeiten begannen tatsächlich eine Woche darauf. Die Kälte war unmerklich zurückgekommen und erstreckte sich wie ein unsichtbarer Fluch über das ganze Land, der Himmel war grau, und der Leib schmerzte, wenn man nur versuchte, die Nase zur Tür raus zu halten.

Paul verbrachte ganze Tage auf der Baustelle, und wie man hörte, fiel er dabei allen auf den Wecker, die Jungs beklagten sich, daß er ihnen ständig zwischen den Beinen rumtanze, zumal er von nichts ΄ne Ahnung habe, der habe sein Lebtag noch keinen Zementsack gesehn. Es war ein Glücksfall, wenn man ihn in seinem Büro antraf, ich zeigte ihm dann die Gipsspuren auf seiner Jacke, wenn er nicht gerade einen hübschen Riß in der Hose hatte. Aber er blickte kaum hoch, ob er nun über den Plänen der Stiftung hing oder dabei war, irgendein Schreiben in dieser Richtung abzufassen, das keinerlei Aufschub duldete. Die Welt um ihn herum existierte nicht mehr. Konnte man ihn nicht sogar in einem dünnen Pulli bei eisigem Wind auf die Straße treten sehen, Andrea im Schlepptau, die ihm seinen Mantel nachtrug?

Es stand inzwischen fest, daß Marianne gelähmt bleiben würde, und einige Baumaßnahmen waren entsprechend geplant worden, besonders was die Treppen betraf, damit sie sich ohne fremde Hilfe in ihrem neuen Palast bewegen konnte. Sie lehnte jeglichen Besuch ab. Dieser Entschluß war mir ganz recht, denn ich haßte es, den Fuß über die Schwelle eines Krankenhauses zu setzen. Hermann und ich hatten ihr ein paar Zeilen geschrieben, und ihre Mutter hatte uns angerufen, um uns zu danken, und wir hatten sie am anderen Ende der Leitung weinen hören, das hatte uns den Appetit verschlagen.

Die Ermittlungen hatten nichts ergeben. Den Tag, da Gladys’ Team den Sieg im Halbfinale errang, feierten wir ganz und gar nicht. Sarah war nicht mehr verliebt, sie hatte einen fürchterlichen Krach mit dem erwähnten Typen gehabt und war in einer abscheulichen Laune, so daß sich Hermann und ich schleunigst von dannen machten. Am Abend rief mich Marianne zum erstenmal seit ihrer Einlieferung ins Krankenhaus an, sie wollte das Ergebnis des Spiels erfahren. Ich fragte sie nicht, wie es ihr gehe.

Es gab Tage, da schlug die Kälte sämtliche Rekorde. Die platzenden Rohrleitungen waren nicht mehr zu zählen, die Bäume, die bis in die Wurzeln erfroren, die Vögel, die von den Ästen fielen, die gebrochenen Beine. Was letzteres anging, war ich keineswegs böse, als man mich eines schönen Tages von meinem Gips befreite, denn auch wenn Elsie und ich eine gewisse, leicht an den Haaren herbeigezogene Bumstechnik entwickelt hatten, mußten wir doch feststellen, daß unsere Beziehung stark verkümmert war, zumindest fehlte es ihr mehr und mehr an Inspiration. Unfähig, mein Bein zu knicken, und in Anbetracht der Gefahr, die so manche Position in sich barg, hatten wir uns auf schmale Kost gesetzt.

- Na, das wurde aber auch langsam Zeit! meinte Elsie zu mir, ohne sich jedoch überwinden zu können, es zu streicheln, dieses Bein, das in der Tat mager und entsetzlich weiß und düster behaart aussah.

Man konnte Elsie wahrlich nicht nachsagen, daß sie eine Klette war, aber seit ich meine Pforten der Außenwelt wieder geöffnet hatte, blieb sie manchmal zum Abendessen bei uns, und ich beobachtete Hermann aus dem Augenwinkel, um zu sehen, was er davon hielt. Daß er sich darüber gar keine Gedanken machte, erschien mir äußerst unwahrscheinlich. Und doch, ich konnte noch so oft gewisse Anspielungen machen oder hinter der Tür versteckt die Ohren spitzen, wenn ich es so eingerichtet hatte, daß sie für einige Minuten allein waren, es gelang mir nicht, mir ein klares Bild zu machen, ich wußte nicht, was er wirklich empfand. Es gab eine beträchtliche Schattenseite in ihm, die mir vollkommen schleierhaft blieb, ein Hang, der sich mir nie erhellte, aber das war ohne Zweifel der Grund, weshalb ich ihn so innig liebte.

Eines Morgens lud ich ihn auf mein Motorrad, und wir rauschten unter dem Vorwand, daß endlich ein fahler Sonnenstrahl vom Himmel auf uns fiel, durch die vereiste Landschaft. Nach einer Stunde hielten wir am Straßenrand an und gingen ein Stück spazieren, und ich sagte zu ihm, du verstehst schon, Elsie und ich haben das Verlangen, uns von Zeit zu Zeit zu sehen, ich nehm an, ich brauch dir nicht zu erklären, warum, trotzdem, ich möchte, daß du eins weißt, ich bin nicht gezwungen, sie zu uns kommen zu lassen, wir können uns auch anders behelfen, nichts einfacher als das, du hast selbstverständlich das Recht, nicht damit einverstanden zu sein, du brauchst es mir nur zu sagen, verdammt, wir beide leben zusammen, also, wenn du meinst, ich bau Scheiß, dann sag es mir, ich schaff’s nicht, mich in dich hineinzuversetzen, und ich möchte auch, daß du weißt, daß ich nicht einfach dein Kumpel bin, Hermann, so ein Spiel wollen wir gar nicht erst anfangen.

- Ich weiß, sagte er.

In einem Moment purer Ungezwungenheit ließ ich mich dazu hinreißen, ihm einen Arm um die Schultern zu legen, und er murrte keine Sekunde, und wir marschierten Seite an Seite weiter, ohne daß ich ein Wort hinzufügen konnte, denn für mich ging nichts mehr darüber.

Ein wenig später erst fiel mir auf, daß er, was Elsie betraf, seine Meinung überhaupt nicht geäußert hatte. Ich dachte darüber nach, in meinem Bett oder morgens beim Aufstehen oder wenn ich eine Runde mit dem Motorrad drehte und die Straße frei war, aber das brachte mich nicht viel weiter. Sarah fand, ich hätte eher Glück, zudem sollte ich es nicht übertreiben und von Hermann verlangen, daß er mir seinen Segen gab. Diese Bemerkung ging mir ganz schön an die Nieren, denn unter diesem Gesichtspunkt hatte ich die Sache noch gar nicht ergründet, und wenn man sie sich von nahem ansah, war es nicht ausgeschlossen, daß ich in dieser Geschichte nicht einzig danach strebte, Hermann zu schützen, sondern daß sich ein Körnchen Hinterfotzigkeit in meinem Busen eingenistet hatte.

Ich nahm mein Training mit Max wieder auf und versuchte meinen Alkoholkonsum einzuschränken, der jäh angestiegen war, seit wieder Leute bei mir einkehrten, ganz zu schweigen von meinem Gips und den Tagen, an denen ich mit einer Flasche in Reichweite wie angewurzelt in meinem Sessel sitzen blieb, denn das war nicht immer ganz einfach. Ich zwang mich also dazu, vor sechs, sieben Uhr abends keinen Tropfen anzurühren, und hatte das Gefühl, einen riesigen Schritt nach vorn getan zu haben. Oh, nichts ist besser, als von Zeit zu Zeit einen kleinen Sieg über sich selbst zu erringen.